Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU

Die Seite wird erstellt Jannik Löffler
 
WEITER LESEN
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
1 | 2022

Natürliche Ressourcen in der Schweiz

Streifzug durch die Umwelt
Wie Lösungen für drängende Umweltprobleme gesucht werden
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
2   EDITORIAL

Ermutigende Zeichen und grosse Herausforderungen

                                 Ein junger Mann in Zürich hat eine Idee: In seinem Lehrbetrieb müssen Lasthaken auch
                                 dann komplett ausgetauscht werden, wenn nur die kleine Sicherungsvorrichtung nicht
                                 mehr richtig funktioniert. Warum, so fragt er sich, wechseln wir eigentlich immer den
                                 ganzen Lasthaken aus und nicht nur dieses Sicherungs-Teil? Damit liesse sich doch
                                 Material und Geld sparen. Eine gute Frage. Und eine gute Idee, die in seinem Betrieb auf
                                 offene Ohren stösst. Der junge Mann macht seine Lehre in einer Seilerei, seine Idee
                                 erarbeitete er in der Berufsfachschule mit dem vom BAFU geförderten Online-Lernprogramm
                                 Future Perfect. Damit sollen die jungen Berufsleute die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft
                                 kennenlernen und diese im Berufsalltag umsetzen. Die ganze Geschichte
                                 lesen Sie auf Seite 47 dieser Ausgabe.

                                 Jetzt können Sie natürlich einwenden, das sei eine Petitesse, ein unbedeutender Beitrag
                                 im Kampf gegen die Verschwendung von Ressourcen. Das mag sein. Für mich sind solche
                    Bild: BAFU   kleinen, privaten Initiativen hingegen nötige und ermutigende Zeichen. Selbstverständlich
                                 braucht es zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und zur Bekämpfung anderer Umwelt-
                                 probleme staatliche Richtlinien. Aber mindestens genauso wichtig sind verantwortungs-
                                 bewusste Betriebe. Freiwillige Vereinbarungen und Verpflichtungen müssen gerade
                                 innerhalb von Unternehmen und Branchen eine immer grössere Rolle spielen. So wird
                                 etwa das Prinzip der Kreislaufwirtschaft seit einigen Jahren von Unternehmen immer
                                 öfter berücksichtigt, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch wirtschaftlich davon profitieren.
                                 Die Schweiz als rohstoffarmes Land verfolgt bereits seit Mitte der 1980er-Jahre Ansätze
                                 hin zu einer Kreislaufwirtschaft. Und es ist ihr gelungen, gewisse Kreisläufe zumindest
                                 teilweise zu schliessen. Unterstützende regulatorische Rahmenbedingungen spielen
                                 eine wichtige Rolle. Zurzeit diskutiert die Umweltkommission des Nationalrates aufgrund
                                 der parlamentarischen Initiative «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» eine Gesetzes-
                                 anpassung.

                                 Aber die Herausforderungen bleiben gross und vielfältig. Das gilt längst nicht nur für die
                                 Kreislaufwirtschaft. Das Gebot der Stunde ist die Schonung natürlicher Ressourcen
                                 wie des Wassers, der Wälder oder der Artenvielfalt. Drängend sind selbstverständlich auch
                                 die Bemühungen um ein besseres Klima. Aus diesem Grund verfügt diese Ausgabe des
                                 Magazins «die umwelt» ausnahmsweise nicht über ein Schwerpunktthema, sondern zeigt
                                 die Vielfalt der vom BAFU abgedeckten Umweltthemen: Sie umfasst den Schutz der
                                 Umwelt, der Biodiversität und der natürlichen Ressourcen, die Sicherheit und Gefahren-
                                 prävention, aber auch die Ökobilanzen und die nachhaltige Entwicklung.

                                 Damit bieten wir Ihnen ein vielfältiges Panorama drängender Umweltthemen.
                                 Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

                                 Katrin Schneeberger | Direktorin BAFU

    die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
INHALTSVERZEICHNIS                                                                                             3

360°
SCHUTZ VON UMWELT UND                        RENDEZ-VOUS
NATÜRLICHEN RESSOURCEN
                                             4      Tipps
10     Holzwirtschaft
       Wie es dem illegalen Holzhandel       6      Unterwegs
       an den Kragen geht
                                             53     International
14     Boden
       Warum wir Böden kennen müssen,        54     Vor Ort
       um sie zu schützen
                                             56     Bildung

                                             57     Recht
SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT
                                             58     Aus dem BAFU
20     Biodiversität
       Wo das Fernweh der Schmetterlinge     59     Meine Natur
       ergründet wird
                                             60     Vorschau
25     Artenschutz
       Wie Vögel vor dem Stromtod
       bewahrt werden

SICHERHEIT UND
GEFAHRENPRÄVENTION
30     Gefahrenprävention
       Wie die Schweiz Störfallrisiken
       bei Erdgasleitungen senkt

34     Biotechnologie
       Wie die Sicherheit in Hochrisiko-
       labors gewährleistet wird                                                      Illustration: Noémie Cédille

                                             Klimawandel, Kreislaufwirtschaft, Schutz der natürlichen
                                             Ressourcen: Die aktuellen Umwelt-Herausforderungen
ÖKOBILANZEN UND
                                             sind gross. Diese zeigen gleichzeitig die Vielfalt der vom BAFU
NACHHALTIGE ENTWICKLUNG
                                             abgedeckten Umweltthemen auf. Sie reichen von der Bio-
40     Wirtschaft und Konsum                 diversität über die Gefahrenprävention bis zur nachhaltigen
       Wie sich Umweltbelastungen            Entwicklung. Dazu hat die französische Künstlerin und
       umfassend bemessen lassen             Grafikerin Noémie Cédille eigens vier doppelseitige Illustra-
                                             tionen erstellt (S. 8, 18, 28, 38).
44     Wirtschaft und Konsum
       Wie der Staat nachhaltig einkauft

47     Umweltbildung
       Wie Nachhaltigkeit im Arbeitsalltag   GRATISABOS UND                    IM INTERNET
       ankommt                               ADRESSÄNDE­R UNGEN                bafu.admin.ch/magazin
                                             bafu.admin.ch/
50     Wirtschaft und Konsum                 leserservice                      TITELBILD
       Wie Homeoffice das Klima verbessert                                     Illustration:
                                             KONTAKT                           Noémie Cédille
                                             magazin@bafu.admin.ch

die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
4            360° RENDEZ-VOUS

            Tipps
                                                                               E Guete, Schweiz!
                                                                               Was sind die Geheimnisse der Herstellung von farina bóna im
                                                                               Onsernone-Tal? Was ist der Birnel, dieses halbindustrielle und doch
                                                                               so typisch schweizerische Produkt? Wer hat die Tradition des Butten-
                                                                               mosts bewahrt, der ursprünglich in Hochwald im Kanton Solothurn
                                                                               hergestellt wurde? In diesem Buch stellen die Journalistin Tania
                                                                               Brasseur, Mitglied des Kulinarischen Erbes der Schweiz und von
                                                                               Slow Food CH, und die Köchin Marina Kienast Gobet 10 traditionelle
                                                                               Schweizer Lebensmittel vor und 40 feine und gesunde Gerichte, die
                                                                               sich daraus zubereiten lassen. Das Buch ist aber auch eine Reise
                                                                               durch die Schweiz: zu den Produzentinnen und Produzenten der
                                                                               Lebensmittel sowie zu deren spannenden Geschichten.

                                                                               «E Guete, Schweiz», Tania Brasseur und Marina Kienast Gobet, Helvetiq, ISBN:
                                                                               978-3-907293-35-5, CHF 39.–
                                                               Bild: zVg

Geheimnis Emme                                          Wie fliesst der Strom?                               Nachhaltig geprägt
             Warum ist die Emme für den                              Wie viel Prozent der Elektri-                        Wie kann ich umweltbewuss-
             Biber nur eine «Autobahn»?                              zität eines Landes stammt                            ter einkaufen? Der Nachhal-
             Wann wird man den Lachs an                              aus der Kernenergie? Wie                             tigkeitskompass hilft, Ent-
             der Emme wieder beobachten                              viel aus Wasserkraft, Wind-                          scheidungen zu treffen, die
können? Mit der App «EinflussEmme» lässt                oder Solarenergie? Die App «Electricity-             nachhaltiger sind und damit ökologi-
sich die Solothurner Emme entdecken.                    Map» zeigt, wie hoch die aktuellen CO2 -             scher, sozialer und ökonomischer. Die App
Grafiken, Audio- und Videobeiträge, inter-              Emissionen des Stromverbrauchs und                   «Sustainability Compass» basiert auf
aktive Spielelemente sowie zahlreiche Tipps             der Stromproduktion eines Landes sind.               einem philosophischen Ansatz und erläu-
zum Forschen und Entdecken bieten span-                 Zudem gibt sie Aufschluss darüber, aus               tert die verschiedenen Kriterien und
nende Erlebnisse für Familien und Schul-                welcher Region die Elektrizität stammt               Dimensionen der Nachhaltigkeit. Die In-
klassen. Die App ist im Auftrag des Amts                und in welches Land sie exportiert wird.             halte sind inspiriert von zwei wissen-
für Umwelt Solothurn entstanden.                        Seit 2021 ist auch die Schweiz auf der               schaftlichen Ansätzen: The Natural Step
                                                        Plattform integriert.                                (FSSD) und Human Scale Development.

Gratis | für Android und iPhone                         Gratis | Open Source | für Android und iPhone       Gratis | für Android und iPhone
EinflussEmme.so.ch                                      app.electricitymap.org/map                          compass-for-sustainability.net

Wann ist das Leben gut?
Was macht hohe Lebensqualität aus? Welche Aspekte sind für eine hohe
Lebensqualität wichtig? Und wie geht diese mit Nachhaltigkeit zusammen?
Diesen Fragen widmet sich die Ausstellung «We love Äntlibuech» und
legt den Fokus auf das Entlebuch mit seinen Einwohnerinnen und Ein-
wohnern. Die Ausstellung basiert auf dem Forschungsprojekt «Nachhal-
tige Lebensqualität in Pärken von nationaler Bedeutung» der Universität
Bern. Dieses hat gezeigt, dass im Entlebuch die durchschnittliche Lebens-
qualität sehr hoch ist – noch höher als in anderen Regionen der Schweiz.

Bis 20. März 2022, im Entlebucherhaus in Schüpfheim (LU), gratis
Mittwoch, Samstag, Sonntag, 14 bis 18 Uhr | biosphaere.ch
                                                                                                                           Bild: UNESCO Biosphäre Entlebuch

             die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
360° RENDEZ-VOUS                                                                                                      5

Igels Blick                                  Lachs aus Rüebli                             Bequem und Grün
Wie wichtig Natur für unser Glück ist,                                                    Effektive Hausmittel gegen stinkende
ging vielen nicht zuletzt in den vergan-                                                  Schuhe? Oder Sauerkraut fermentieren?
genen Monaten so richtig auf. Trotzdem                                                    Das Ideenportal smarticular.net bietet
hat die Landschaft nach wie vor eine ver-                                                 einen Strauss voller Tipps und Tricks für
gleichsweise bescheidene Lobby. Das                                                       ein einfaches und nachhaltiges Leben.
Buch «Das Weltbild der Igel» tritt für die                                                Täglich veröffentlicht die Plattform neue
Schönheit der Natur ein. Es hält ein ethi-                                                Lösungen, Anleitungen und Alternativen.
sches Plädoyer für ein Weltbild, das Tiere                                                Die besten Tipps und Rezepte des
und Natur mehr ins Zentrum rückt – und                                                    deutschen Online- und Sachbuchverlags
dem Menschen Zurückhaltung ans Herz                                                       smarticular gibts in Büchern wie «Fünf
legt. Eingestreut werden literarische                                                     Hausmittel ersetzen eine Drogerie» oder
Passagen aus Peter Kurzecks Roman                                                         «Wirf mich nicht weg – Das Lebensmittel-
«Vorabend».                                                                               sparbuch».

«Das Weltbild der Igel», Angelika Krebs                                                   smarticular.net
Schwabe Verlag Basel | ISBN: 3796544142
CHF 28.–

Faire Shirts
Das Schweizer Fair-Trade-Unternehmen
gebana und das nachhaltige Modelabel                                                      Klimaneutral essen
Nikin bieten faire T-Shirts für Männer
und Frauen an: Das TreeShirt besteht aus
100 Prozent zertifizierter Biobaumwolle
aus Burkina Faso und wird unter fairen
Bedingungen in Griechenland und Nord-
mazedonien hergestellt. Die Biobaumwolle
                                                                              Bild: zVg
ist mit natürlichen Markierungsstoffen
versehen und kann so bis zur Ausliefe-       Nach dem Motto «Lasst die Fische
rung rückverfolgt werden. Pro verkauf-       schwimmen» gründete Juval Kürzi 2020
tes TreeShirt wird ein Baum gepflanzt.       das Schweizer Start-up Wild Foods und
Bei 500 bestellten TreeShirts pro Farbe      schafft damit eine vegane Alternative zu
kommt eine Bestellung zustande.              Lachs. Das Produkt «Wood Smoked» be-                                           Bild: zVg
                                             steht aus rein pflanzlichen Zutaten und
gebana.com/shirt-burkina
                                             basiert auf geräucherten Karotten. Das       Das Zunfthaus Weisser Wind im Zürcher
                                             Berner Start-up setzt dabei auf eine         Niederdorf kompensiert neuerdings seine
                                             nachhaltige und lokale Produktion und        CO2 -Emissionen und wird klimaneu­t ral.
                                                                                          Dafür hat das Restaurant gemeinsam mit
Zukunft hören                                unterstützt regionale Bauern und Klein-
                                                                                          der Stiftung myclimate den ökologischen
                                             betriebe. Geräuchert werden die Karotten
Das deutsche Wirtschaftsmagazin              im betriebseigenen Ofen. Die Zutaten-        Fussabdruck berechnet: Trotz saisonaler
«enorm», das sich nach eigenen Angaben       liste ist kurz: Um den veganen Lachs         und regionaler Küche verursacht der
dem gesellschaftlichen Wandel verschrie-     herzustellen, braucht Kürzi lediglich        Gastrobetrieb jährlich rund 460 Tonnen
ben hat, bietet kostenlos ausgewählte Ar-    Karotten, Sonnenblumenöl, Apfelessig         CO2. Dieses gleicht das Restaurant nun
tikel als Podcast an. Behandelt werden       und Meersalz. Ursprünglich als Weih-         mithilfe von betrieblichen Massnahmen
auch internationale Umweltthemen: Dazu       nachtsidee entstanden, gibt es «Wood         und Kompensationsbeiträgen in Klima-
gehören Insekten beim Plastikrecycling,      Smoked» mittlerweile in verschiedenen        schutzprojekte aus. Durch einen kleinen
vegane Tattoos oder ein Unterwasser­         Biogeschäften und Coop-Filialen.             Aufpreis kompensiert auch die Kund-
museum im Mittelmeer.                                                                     schaft über ein Projekt in Kenia ihre
                                                                                          Konsumation.
enorm-magazin.de/enorm-magazin-podcast-
zukunft-hoerst-du-hier-an                    wildfoods.ch                                 weisserwind.ch

            die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
6          360° RENDEZ-VOUS

           Unterwegs

Ländliche Flussidylle an einem schönen Tag im März.                                                                     Bild: Beat Jordi

      Am Doubs entlang über die grüne Grenze
      Beidseitig von bewaldeten Anhöhen und Felskreten             der Grossstadt, sondern die ländliche Flussidylle. Kurz vor
      geschützt, beginnt der Frühling im Tal des Doubs bei         der Einfahrt in den Bahnhof öffnet sich vom Zugfenster
      Saint-Ursanne (JU) vergleichsweise früh. Vom mittel-         aus ein weiter Blick ins tiefer gelegene Doubs-Tal mit den
      alterlichen Städtchen führt ein idyllischer Weg am linken    Windungen des Flusslaufs.
      Flussufer nach Frankreich. Text: Beat Jordi                    Die Station von Saint-Ursanne liegt östlich des Städt-
                                                                   chens am Südhang des Mont Terri. Am Rand dieses
      Wer mit der Eisenbahn vom jurassischen Hauptort Delsberg     Hügelzugs betrieb eine lokale Kalkbrennerei bis 1993
      nach Saint-Ursanne reist, ahnt, weshalb das Städtchen an     ein Bergwerk, in dem auf zwei Stockwerken Riffkalke
      der markanten Schleife des Talflusses Doubs seinen mittel-   aus dem Fels gesprengt wurden. Im Lauf von fast 90 Jah-
      alterlichen Charakter und Charme bis heute bewahren          ren holte man hier rund 1 Million Kubikmeter Material
      konnte. Mehrere Tunnelbauten und Brücken sowie ein           aus dem Berg und legte mit den ausgebrochenen Kaver-
      landschaftsprägender Viadukt waren erforderlich, um den      nen und Zufahrten ein unterirdisches Streckennetz von
      abgelegenen Ort im Jahr 1877 ans Eisenbahnnetz anzu-         etwa 12 Kilometern an.
      schliessen. Vorher war der Stadtkern durch die Juraketten      Nach der Stilllegung des Kalkbergwerks lagerte eine
      des Lomont im Norden und des Clos du Doubs im Süden          landesweit bekannte Entsorgungsfirma in der Abbau-
      weitgehend von der Umwelt abgeschnitten.                     stätte über 10 000 Tonnen Sonderabfälle ein – wie etwa
                                                                   mit Schwermetallen belastete Galvanikschlämme, die
      Ländliche Flussidylle                                        sie später mit Zement verfestigen wollte. Doch noch
      Doch inzwischen sind es keine 50 Zugminuten mehr zum         bevor es dazu kam, widerrief der Kanton Jura die provi-
      TGV-Bahnhof im französischen Meroux. Dank einer re-          sorische Betriebsbewilligung. Gestützt auf Färbversu-
      aktivierten Bahnlinie zwischen der Schweiz und Frank-        che in den Kavernen, kam eine vom Standortkanton ein-
      reich ist man von Saint-Ursanne aus mit den besten Zug-      gesetzte Expertengruppe nämlich zum Schluss, dass
      verbindungen nun in dreieinhalb Stunden in Paris. Doch       eine hydraulische Verbindung der Stollen zum Grund-
      wir suchen an diesem Märztag nicht die Betriebsamkeit        wasserschutzgebiet von Saint-Ursanne besteht. Wegen

           die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
360° RENDEZ-VOUS                                                                                                           7

der Durch­lässigkeit der zerklüfteten Kalkformationen         halb des mittelalterlichen Stadtkerns sind keine Augen-
hätten ausgewaschene Schadstoffe somit direkt ins             weide, doch bald einmal liegt das Siedlungsgebiet hin-
Trinkwasser gelangen können.                                  ter uns, und wir treten in eine 200 bis 500 Meter breite
  Nach dem Bankrott der Firma blieb der Kanton Jura auf       Ebene ein.
einer millionenteuren Altlast sitzen, konnte beim Aufräu-       Abgesehen von zwei Stromschwellen fliesst der zumeist
men aber auf die Hilfe des Bundes zählen. So wurden die       träge Doubs hier still dahin. Bis ins etwa 10 Kilometer
ehemaligen Bergwerksstollen von allen Abfällen befreit        entfernte und flussabwärts gelegene französische Dorf
und schliesslich mit sauberen Aushubmaterialien aus dem       Brémoncourt beträgt die überwundene Höhendifferenz
Bau der Autobahn Transjurane verfüllt. Im Jahr 2014           nur ungefähr 20 Meter. Einzelne Bauernhöfe, zwei Cam-
vermeldete der Kanton Jura den offiziellen Abschluss          pingplätze und einsame Wochenendhäuschen säumen das
dieser Arbeiten und die Streichung des Standorts aus dem      gegenüberliegende Ufer, die Strasse befindet sich in eini-
Altlastenkataster.                                            gem Abstand dazu. Die Landschaft in dieser einsamen
                                                              Gegend wird weitgehend von der dominierenden Milch-
Kohlendioxid speichern                                        wirtschaft im Talgrund und den bewaldeten Flanken mit
Auch ohne das Bergwerk wird im Untergrund freilich            ihren Felsbädern geprägt. Bisweilen ragen die Äste der am
weiterhin gebohrt. Denn in 300 Metern Tiefe unter der         Ufer stehenden Weiden weit ins Flussbett hinein. Doch
Erdoberfläche befindet sich das Felslabor Mont Terri. Hier    diese Naturidylle trügt, denn vor allem Abschwemmungen
erkundet eine Forschungsgemeinschaft mit Projektpart-         von Düngemitteln aus der Landwirtschaft setzen den Fisch-
nern aus aller Welt die Eigenschaften des vor 180 Millionen   beständen stark zu – so etwa dem seltenen Roi du Doubs.
Jahren entstandenen Opalinustons. Er gilt in der Schweiz        Nach dem Bauerndorf Ocourt, wo eine hydrometrische
als einziges bestätigtes Wirtgestein für die mögliche         Station des BAFU die wichtigsten Wasserdaten erfasst,
Tiefenlagerung von hochradioaktiven Abfällen. Die im          kürzt ein Feldweg die sonst immer dem Flussufer folgende
Felslabor gewonnenen Erkenntnisse stehen auch anderen         Strecke über die buchstäblich grüne Grenze nach Brémon-
Forschungszweigen zur Verfügung. Beispiele dafür sind         court ab. Hier ist nicht viel los – ebenso wenig wie im
etwa die Tiefengeothermie oder die Speicherung des            Schweizer Weiler La Motte, auf der anderen Seite der
Treibhausgases Kohlendioxid.                                  Doubs-Brücke, wo aber zumindest an Werktagen immer-
  Nach dem kurzen Abstieg vom Bahnhof in die Altstadt         hin dreimal täglich ein öffentlicher Bus zurück nach Saint-
von Saint-Ursanne verlassen wir den Ort über eine vier­       Ursanne fährt.
bogige Steinbrücke, um ans linke Ufer des Doubs zu ge-          Für die Stadtbesichtigung sollte man sich mindestens
langen. Der Fluss holt hier zu einer weiten Halbdrehung       zwei Stunden Zeit nehmen. Zu den Höhepunkten gehören
aus, die das 60 Quadratkilometer umfassende Gebiet der        die gegen Ende des 12. Jahrhunderts nach burgundischem
Gemeinde Clos du Doubs umschliesst. Mit dieser markan-        Vorbild erbaute Stiftskirche sowie der gotische Kreuz-
ten Drehung nach Westen fliesst der Doubs der Saône und       gang des angrenzenden Klosters mit seinem begrünten
damit dem Mittelmeer zu. Die Bauten am Flussufer ausser-      Innenhof und den Spitzbögen aus dem 14. Jahrhundert.

Der Weg (in Rot) führt von Saint-Ursanne nach Brémoncourt.                                                   Bild: swisstopo

    die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
8   360° RENDEZ-VOUS

                        10   Wie es dem illegalen
                             Holzhandel an den
                             Kragen geht

    die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
360° RENDEZ-VOUS                              9

 SCHUTZ VON UMWELT UND
NATÜRLICHEN RESSOURCEN

                      14   Warum wir Böden
                           kennen müssen,
                           um sie zu schützen

  die umwelt 1 | 22
Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
Illegal geschlagenes Mahagoni-Holz, das von Greenpeace und der brasilianischen                             Bild: Daniel Beltrá | Greenpeace
Umweltbehörde entdeckt wurde.

Illegaler Holzhandel

«Sie müssen wissen, dass sie früher
oder später auffliegen»
Der Import von illegal geerntetem Holz in die Schweiz war bisher nicht riskant. Seit dem 1. Januar 2022
ist dies anders: Die neu in Kraft getretene Holzhandelsverordnung (HHV) erlaubt Importeuren nur noch,
legal geschlagene Bäume und daraus produzierte Holzprodukte einzuführen. Text: Vera Bueller

           Ob als Baumaterial für Esstische, Parkett- und           Bäume, die in den Welthandel kommen, entweder
           Terrassenböden, Küchen oder Gebäude – der Werk-          ohne Lizenz gefällt worden oder verfügen über eine
           stoff Holz ist begehrt. Nicht immer ist klar, ob die     gefälschte, erschwindelte oder mit Schmiergeld be-
           entsprechenden Produkte tatsächlich aus legal            zahlte Lizenz. Für die Tropenholzregionen in Afrika,
           geschlagenen Bäumen hergestellt wurden. Denn die         Asien und Südamerika beziffern die Polizei- und
           Holzlieferketten sind komplex: Oft erfolgt die Ver-      UNEP-Fachleute diesen Anteil sogar auf bis zu
           arbeitung nicht im eigentlichen Herkunftsland der        90 Prozent. Aber auch in einigen osteuropäischen
           Bäume. Und nicht selten exportieren skrupellose          Ländern werden Wälder illegal abgeholzt. Dies be-
           Personen, korrupte Beamte und zwielichtige Zwi-          legen Untersuchungen von Nichtregierungsorgani-
           schenhändler die Stämme auf gewundenen Wegen             sationen sowie der Kommission der Europäischen
           in Nachbarländer.                                        Union (EU).
             Wie gross dieser graue Markt mit illegal geschla-
           genem Holz ist, zeigt eine Studie von Interpol und       Erfolge gegen illegale Holzimporte
           dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen                Allerdings gibt es erste Erfolge im Kampf gegen
           (UNEP). Demnach sind 15 bis 30 Prozent aller             solch kriminelle Machenschaften. Sie sind vor allem

           die umwelt 1 | 22
360° HOLZWIRTSCHAFT                                                                                             11

       auf strenge Gesetze in den USA (2008), in Australien    mentieren, dass sie Informationen beschafft, Risi-
       (2012) und in der EU (2013) zurückzuführen. Diese       ken systematisch bewertet und auf ein vernachläs-
       verbieten das Inverkehrbringen von illegalem Holz       sigbares Mass reduziert haben.» (Siehe Box S. 12)
       und verlangen von den Importeuren und Verarbeitern,       Davon betroffen sind auch Händler, die bereits in
       die legale Herkunft sowie den Handel des Holzes         Verkehr gebrachtes Holz erwerben oder weiterver-
       mit grösster Sorgfalt abzuklären.                       kaufen, denn sie müssen dessen Rückverfolgbarkeit
         In der Schweiz fehlte bisher eine entsprechende       sicherstellen. Ein grosser Anteil der Holzerzeugnisse
       Regelung. Zwar besteht hierzulande seit 2010 eine       unterliegt der HHV: Holz, Papier, Halbfabrikate,
       Deklarationspflicht für Holz und Holzprodukte. Sie      Brennholz, Holzwerkstoffe, Bauholz sowie Möbel
       stellt sicher, dass die Konsumentinnen und Konsu-       und vorgefertigte Gebäude aus Holz. Die Verord-
       menten beim Kauf Informationen zur Art und Her-         nung gilt jedoch nicht für Recyclingprodukte aus
       kunft des Holzes erhalten. Die Händler konnten          Altholz oder für Bambus.
       jedoch jedes Holz einführen, es sei denn, Baumarten
       sind durch die Bestimmungen des internationalen         Aufbau der Kontrollen
       Artenschutzabkommen CITES geschützt. 2017 be-           In der Schweiz importierten im Jahr 2019 rund
       auftragte das Parlament den Bundesrat, eine             36 000 Unternehmen Produkte aus der EU, die neu
       strengere Regelung auszuarbeiten, die der europäi-      der Holzhandelsverordnung unterliegen. Ihr Wert
       schen Verordnung «European Timber Regulation»           beläuft sich auf 5 Milliarden Franken. Aus Dritt-
       (EUTR) entspricht.                                      staaten, die nicht der EU angehören, führten rund
         Gleichzeitig mit dem dafür revidierten Umwelt-        4500 Unternehmen Holzprodukte im Gegenwert
       schutzgesetz (USG) ist am 1. Januar 2022 die            von 371 Millionen Franken ein.
       EUTR-identische Holzhandelsverordnung (HHV)               Alfred Kammerhofer weist darauf hin, dass sich
       in Kraft getreten. Sie verlangt von allen Markt­        die Organisation der Kontrolle dieser Betriebe noch
       akteuren, dafür zu sorgen, dass kein Holz aus illega-   im Aufbau befinde, wobei man auf den Erfahrungen
       lem Holzeinschlag und Handel auf den Markt ge-          aus der EU aufbauen könne. Das BAFU nutzt für
       langt. «Wer in der Schweiz als Erster Holz und          seine risikobasierte Überwachungstätigkeit primär
       Holzerzeugnisse in Verkehr bringt, ist verantwortlich   Zolldaten der Einfuhren von Holz und entsprechen-
       dafür, dass diese legal geerntet und gehandelt          den Produkten und wird zudem auch begründeten
       wurden», erläutert Alfred Kammerhofer, Chef der         Hinweisen Dritter nachgehen. Grundsätzlich gilt Holz
       BAFU-Sektion Holz- und Waldwirtschaft, die neue         als legal, wenn dessen Nutzung und Handel mit den
       Regelung. «Die Erstinverkehrbringer müssen doku-        relevanten Rechtsvorschriften eines Landes oder

Was umfasst die Sorgfaltspflicht?
Die Erstinverkehrbringer müssen ein System für die Einhaltung der Sorgfaltspflicht aufbauen, dieses anwenden
und regelmässig aktualisieren. Dabei sind folgende Punkte zu beachten:
    •    Beschaffung aller für eine Risikobewertung notwendigen Informationen und Dokumentationen
    •    Bewertung des Risikos
    •    Sind die Risiken für illegal geerntetes Holz oder illegalen Holzhandel nicht vernachlässigbar,
          müssen die Unternehmen Massnahmen zur Risikoreduktion ergreifen und diese auch dokumentieren.
    •     Sie müssen zudem aufzeichnen, von wem sie Holz oder Holzerzeugnisse erhalten und an wen
           sie diese weitergegeben haben.

       die umwelt 1 | 22
12    360° HOLZWIRTSCHAFT

                                                         einer Region im Einklang stehen. Die Legalität
     Risiken identifizieren                              muss über die gesamte Handelskette sichergestellt
     und bewerten                                        sein, und in Ländern mit einer hohen Korruptions-
                                                         rate kann es angezeigt sein, eine Einschätzung von
                                                         unabhängigen Dritten einzuholen.
     Die Unternehmen müssen das Risiko bewerten,
     ob eingeführtes Holz oder Holzerzeugnisse aus       System der Sorgfaltspflicht
     illegalem Einschlag oder nicht rechtskonformem      Um die HHV einzuhalten, müssen die betroffenen
     Handel stammen. Diese Bewertung erfolgt –           Marktteilnehmer belegen können, dass sie ihre
     basierend auf den eingeholten Informationen –       Sorgfaltspflicht erfüllen und das Risiko einer ille-
     nach folgenden Kriterien:                           galen Herkunft damit auf ein vernachlässigbares
                                                         Mass reduziert haben. «Das System der Sorgfalts-
         •     ie Einhaltung der Rechtsvorschriften
              D                                          pflicht besteht aus drei Stufen: der Informations-
              des Ursprungslandes ist zugesichert        beschaffung, der Risikobewertung und den Mass-
              und liegt vor – zum Beispiel über eine     nahmen zur Minderung der Gefahren, illegales Holz
              Zertifizierung oder über sonstige von      und nicht rechtskonforme Holzerzeugnisse in Verkehr
              Dritten überprüfte Regelungen.             zu bringen», erklärt Alfred Kammerhofer. «All dies
                                                         muss nachvollziehbar dokumentiert werden.» Je
         •     äufigkeit des illegalen Holzeinschlags
              H
                                                         nach Land und Region gelte natürlich eine unter-
              bei betroffenen Baumarten
                                                         schiedliche Bewertung der Risiken. So besteht etwa
         •     äufigkeit des illegalen Holzeinschlags
              H                                          im Schweizer Wald ein geringes Risiko für illegale
              im Ursprungsland oder in der jeweiligen    Holzeinschläge. Heikler ist die Bewertung hingegen
              Region des Ursprungslandes – auch          bei Hölzern aus Entwicklungsländern oder auch aus
              unter Berücksichtigung der Häufigkeit      Staaten mit einem erhöhten Risiko für Korruption.
              von bewaffneten Konflikten                   Als verlässlicher Massstab für die Risikobewer-
                                                         tung gilt der weltweit bekannteste Korruptionsindi-
         •     llfällige Sanktionen der Vereinten
              A
                                                         kator Corruption Perceptions Index (CPI). Dieser
              Nationen, der Europäischen Union
                                                         wird vom Sekretariat von Transparency International
              oder der Schweiz im Zusammenhang
                                                         erstellt und listet Länder nach dem Grad der in Politik
              mit der Ein-, Aus- und Durchfuhr von
                                                         und Verwaltung wahrgenommenen Korruption auf.
              Holz und Holzerzeugnissen
                                                         Der CPI 2020 umfasst derzeit 180 Länder, die auf
         •     omplexität der Lieferkette von
              K                                          einer Skala von 0 (mit einem hohen Mass an wahr-
              Holz und Holzerzeugnissen unter            genommener Korruption) bis 100 (ohne ersichtliche
              Berücksichtigung von Zwischen-             Bestechlichkeit) erfasst sind. «Bei Lieferungen aus
              händlern und Verarbeitern, durch die       Regionen mit einem CPI unter 50 bestehen im Wald
              illegales Holz in die Lieferkette          und entlang der Lieferketten besonders hohe Risi-
              gelangen kann                              ken», erklärt Alfred Kammerhofer. «Hier reichen
                                                         staatliche Dokumente denn auch nicht aus, um die
         •     orruptionsrisiko in den Herkunfts-
              K
                                                         Legalität nachzuweisen, weshalb es eine unabhän-
              ländern sowie andere anerkannte
                                                         gige Überprüfung der Informationsquellen braucht.»
              Indikatoren der guten Regierungs-
                                                         Weltweit betrachtet, betrifft dies mehr als zwei
              führung
                                                         Drittel aller Länder, aus denen freilich nur wenige
                                                         Prozente der Holzeinfuhren in die Schweiz gelangen.
                                                         Nur wenn das Risiko illegaler Praktiken vernach-
     bafu.admin.ch/holzhandel                            lässigbar ist, dürfen die Produkte in der Schweiz –
                                                         wie auch in der EU – auf den Markt kommen.

      die umwelt 1 | 22
Aktivisten aus 12 europäischen Ländern markieren Holz, das im polnischen Białowieża-Urwald,                                        Bild: Greenpeace
einer UNESCO-Schutzzone, geschlagen wurde.

           Abbau von Handelshemmnissen                               weltweite Entwaldung sowie die damit einher­
           Trotz der neuen Vorschriften verspricht sich die          gehenden Verluste an Biodiversität zu bekämpfen.
           Holzbranche von der HHV einen Abbau von Handels-          Kein anderes Ökosystem an Land beherbergt auch
           hemmnissen und bürokratischen Hürden, weil die            nur annähernd so viele Pflanzen-, Tier- und Pilzarten.
           rechtlichen Rahmenbedingungen nun denjenigen in           Ausserdem spielen die Wälder eine Schlüsselrolle
           der EU entsprechen. Damit fallen zwar nicht alle          bei der Regulierung des Weltklimas. Und da sei
           Schranken. Doch europäische Staaten dürften das           allein schon das Vorhandensein von Kontrollen
           Risiko von Holzprodukten aus der Schweiz künftig          wichtig, betont Alfred Kammerhofer: «Die illegalen
           tief bewerten, was sie attraktiver macht. Umgekehrt       Holzlieferanten müssen wissen, dass sie früher oder
           haben es auch Einfuhren mit geringem Risiko aus           später auffliegen.»
           dem europäischen Raum leichter – falls der Nach-
           weis des Erstinverkehrbringens in der EU vorliegt.
           «Diese Regelung ist für die Schweiz insofern wichtig,
           als rund 95 Prozent der Importe aus dem EU-Raum
           kommen», sagt Alfred Kammerhofer. «Gleichzeitig
           gehen rund 90 Prozent der Exporte unserer Holz-
           erzeugnisse in die EU.»
                                                                     Link zum Artikel
              Im Kern geht es bei der HHV mit ihren Bestim-          bafu.admin.ch/magazin2022-1-02
           mungen zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht und der
           Rückverfolgbarkeit jedoch um mehr als bloss um
                                                                     Alfred Kammerhofer | Chef der Sektion Holzwirtschaft und
           den Abbau von Handelshemmnissen im Holzhan-               Waldwirtschaft | BAFU
           del. Ein Hauptziel besteht nämlich auch darin, die        alfred.kammerhofer@bafu.admin.ch | holzhandel@bafu.admin.ch

           die umwelt 1 | 22
14       360° BODEN

Feldbodenkartierung

Bohren für den Schutz des Bodens
Unverbautes Land steht unter Druck. Siedlungen dehnen sich aus, und Verkehrswege beanspruchen immer mehr
Platz. Dies geht zulasten von kostbarem Boden, auf den wir dringend angewiesen sind. Flächendeckende
Bodendaten legen die Basis, um unverbaute Flächen künftig besser zu schützen und die Böden als zentrale Lebens-
grundlage nachhaltiger zu nutzen. Text: Lucienne Rey

         Mag die Erde auch an den Schuhsohlen kleben, so      es sich um anderthalb Meter tiefe Gräben auf einer
         fällt es dank der Feuchtigkeit immerhin leichter,    Fläche von rund einem Quadratmeter. «Wir achten
         mit dem Hohlmeisselbohrer in die Tiefe zu dringen.   darauf, die Gruben in der Nähe von Wegen anzu-
         Die Feldaufnahmen der Bodeninformationen sind        legen, damit wir mit dem Bagger nicht zu weit ins
         nämlich auch auf weichem Grund ziemlich schweiss-    Feld fahren müssen», erläutert Martin Zürrer.
         treibend, zumal die Augustsonne die Szenerie           Etwa 40 Bodenprofilgruben hat das Team der
         bescheint. Der Ingenieur-Agronom Martin Zürrer –     myx GmbH auf dem rund 700 Hektaren grossen
         Geschäftsleiter der auf bodenkundliche Arbeiten      Areal ausgehoben, für dessen Kartierung es zu-
         spezialisierten myx GmbH – und die Journalistin      ständig ist. Ein solches Profil gestattet es, anhand
         stehen in der «Witi». Die weite Ebene zwischen       einer präzisen Anleitung den jeweiligen Boden zu
         Grenchen (SO) und Solothurn stösst gegen Norden      klassifizieren: Anteile von Ton, Schluff und Sand
         an den Jurasüdfuss und steigt im Süden zum           in den verschiedenen Schichten, die in der Fach-
         Bucheggberg hin an. In das Grillenzirpen mischt      sprache «Horizonte» heissen, sowie Kalkgehalt,
         sich ab und zu das Brummen der Kleinflugzeuge,       Einfluss des Wassers, Gefüge, vorhandenes Ge-
         die den nahe gelegenen Flugplatz nutzen und sich     stein – all diese und zahlreiche weitere Kriterien
         den Luftraum mit den Störchen aus Altreu (SO)        bestimmen den Bodentyp. Damit gestatten sie
         teilen. Wie mit dem Lineal gezogen, verlaufen die    auch Rückschlüsse auf wichtige Merkmale wie
         Wege im rechten Winkel zueinander, und ebenso        zum Beispiel die «pflanzennutzbare Gründigkeit».
         akkurat angelegt sind die Äcker.                     Mindestens 50 Zentimeter muss sie in die Tiefe
           Die Kulturen hingegen weichen von der Gleich-      reichen, damit ein Boden als Fruchtfolgefläche
         mässigkeit ab. Zuckerrüben, Soja und Mais stehen     (siehe Box, S. 16) angerechnet werden kann.
         nahe am Weg hoch und dicht; in der Feldmitte aber      Wie die Beobachtung einer Feldbeprobung zeigt,
         sehen die Pflänzchen kümmerlich aus. Dem Fach-       gibt es bei dieser Arbeit einen gewissen Ermes-
         mann geben sie Hinweise auf Stellen, die allen-      sensspielraum. Daher besprechen alle an einer
         falls stärker vernässt sind. Denn der Zustand der    Erhebung der Bodeneigenschaften Beteiligten in
         Gewächse widerspiegelt die Beschaffenheit des        mehreren Umgängen ihre Ergebnisse, um eine
         Erdreichs.                                           deckungsgleiche Beurteilung sicherzustellen. «Es
                                                              gibt Fragen, die immer wieder zur Sprache kom-
         Umfangreiche Vorarbeiten                             men», erzählt Anna Plotzki, die beim Amt für
         Den bevorstehenden Erhebungen mit dem Hand-          Umwelt des Kantons Solothurn für die Boden­
         bohrer gingen aufwendige Abklärungen voraus.         kartierung zuständig ist. «Die Wasserverhältnisse
         Anhand von geologischen Karten, Entwässerungs-       sind beispielsweise nicht immer eindeutig, sodass
         plänen sowie Flugaufnahmen und ersten Probe-         unklar ist, ob ein Boden eher von Stau- oder
         bohrungen galt es, zuerst günstige Standorte für     Grundwasser beziehungsweise von Hangwasser
         die Bodenprofilgruben auszusuchen. Dabei handelt     geprägt ist.»

         die umwelt 1 | 22
Umweltberater und Bodenökologe Martin Zürrer entnimmt eine Bodenprobe.   Bild: Kilian J. Kessler | Ex-Press | BAFU

           die umwelt 1 | 22
16           360° BODEN

             Nun also stehen wir in einem Zuckerrübenacker.            Sickerwasser gebildet hat. Einige auf die Probe
             Für die erste Probe schraubt Martin Zürrer seinen         geträufelte Tropfen Salzsäure beginnen zu schäu-
             Bohrstock an einer feucht schimmernden Stelle mit         men und zeigen damit das Vorkommen von Kalk an.
             mickrigen Pflänzchen in die Tiefe. Die herausge-          Der Seebodenlehm liegt jeweils gut 10 Zentimeter
             bohrten Erdzylinder zeigen eine obere, gräulich-          tiefer als am vorgängig untersuchten Standort. In-
             braune und stark tonhaltige Lage, auf die ab einer        folgedessen konnte das Wasser besser abfliessen,
             Tiefe von 40 Zentimetern ein dunkelgrauer und             was der Vegetation zugutekommt. Entsprechend
             äusserst kompakter Horizont folgt. Er sei zunächst        tiefer reicht die pflanzennutzbare Gründigkeit.
             ratlos gewesen, wie er dieses Material benennen              Es sei spannend, anhand der Bodenbeschaffenheit
             solle, erzählt Martin Zürrer. Geologische Angaben         die Entstehungsgeschichte der Landschaft nach-
             halfen weiter: Nach der letzten Eiszeit hinterliess der   zuzeichnen, findet Martin Zürrer. Denn die ver-
             Rhonegletscher den sogenannten Solothurnersee,            gleichsweise mächtige fruchtbare Bodenschicht ist
             von dem letzte Reste als Bieler-, Neuenburger- und        auf Material zurückzuführen, das die Aare nach dem
             Murtensee fortbestehen. Die dichte schwärzliche           Verschwinden des Solothurnersees angeschwemmt
             Schicht wurde demzufolge als Seebodenlehm                 hat. Bis zur Feldmitte vermochte der Fluss seine
             identifiziert.                                            Fracht aber nicht zu transportieren, sodass sich
                                                                       dort die Nässe staut.
             Spiegel der Landschaftsentwicklung
             Die zwei nächsten Bohrungen folgen etwa 50                Flächendeckend informiert
             respektive 100 Meter weiter im Feld. Die Zucker-          Die heute vorgenommenen Bohrungen dienen dazu,
             rüben gedeihen immer besser; allmählich streifen          die Bodenbeschaffenheit an Standorten zwischen
             ihre sattgrünen Blätter unsere Knie, und die Pflan-       den bereits analysierten Bodenprofilen zu ermitteln.
             zenreihen schliessen sich. Auch bei diesen Proben         Auf einem Luftbild markiert Martin Zürrer die Bohr-
             besteht die oberste Schicht aus einem braungrauen         stellen und vermerkt dazu die Codes der Boden­
             Material mit rötlichem Schimmer. Der Fachmann             eigenschaften. Aufmerksam mustert er die Vegetation,
             erkennt darin Spuren von Eisen, das im wechsel-           denn sie gibt ihm Hinweise darauf, wo die Grenzen
             weisen Kontakt mit Wasser und Luft zu Rost oxidiert       von Gebieten mit ähnlicher Bodenbeschaffenheit
             ist. Es handelt sich dabei um einen typischen Gley-       verlaufen. Später werden die Angaben im Büro
             Boden, der sich unter dem Einfluss von Grund- und         digital erfasst. Die Arbeit wird schliesslich in eine

     Anerkanntes Informationsbedürfnis
     Der im Mai 2020 vom Bundesrat beschlossene «Sachplan              ment für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
     Fruchtfolgeflächen» zielt darauf ab, in der Schweiz so viel       (UVEK) im Mai 2020 damit betraut, in Zusammenarbeit mit
     Kulturland zu erhalten, dass unser Land in der Lage wäre,         dem Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
     seine Bevölkerung im Notfall selbst zu ernähren. Jedem            (WBF) ein Konzept für eine nationale Bodenkartierung zu
     Kanton ist ein verbindliches Kontingent an Kulturland zu-         erstellen.
     gewiesen, das er langfristig bewahren muss – und zwar so,            Der Bund, das Kompetenzzentrum Boden und die Kanto-
     dass dessen Qualität erhalten bleibt.                             ne sind aber nicht nur konzeptionell, sondern auch praktisch
        Überprüfen lässt sich diese «Qualitätssicherung» nur,          tätig. So planen sie für die nächsten Jahre Umsetzungs-
     wenn verlässliche Bodeninformationen vorliegen. Allerdings        projekte, welche die Möglichkeiten und Grenzen neuer –
     fehlen für die meisten Böden schweizweit aktuelle, nach           insbesondere datengestützter – Methoden der Bodenkar-
     einheitlichen Kriterien erhobene Bodenkarten im erforder-         tierung aufzeigen sollen.
     lichen Massstab. Daher hat der Bundesrat das Departe-

             die umwelt 1 | 22
360° BODEN                                                                                                     17

Karte münden, welche die Bodeninformationen des          Fachmann. Dies verteuert die Bohrungen, sodass
untersuchten Areals flächendeckend darstellt. «Bis       am Ende weniger gebohrt werde, was zu weniger
in gut 10 Jahren soll der ganze Kanton Solothurn         verlässlichen Bodeninformationen führe. Mehr Po-
bodenkundlich kartiert sein», bestätigt Anna Plotzki     tenzial zur Unterstützung der Feldarbeit ortet der
vom Amt für Umwelt. Alle Interessierten können die       Bodenexperte in Langzeit-Satellitenbildreihen,
bereits erhobenen Daten auf dem kantonalen Geo-          deren Auflösung zurzeit noch zu grob sei, sich aber
portal abfragen. Sowohl Flächendaten als auch            laufend verfeinere. Allerdings gelte es, eine zu
Profilstandorte lassen sich im Internet anklicken, und   strenge Arbeitsteilung zwischen IT-Fachleuten
es erscheinen die bodenkundlichen Informationen.         einerseits und der Bodenkunde andererseits zu
   Diese Angaben sind vielseitig verwendbar, ins-        vermeiden. Es wäre nämlich fatal, die spannende
besondere für das Ausscheiden der Fruchtfolge-           Auseinandersetzung mit der Boden- und Land-
flächen. Von den verschiedenen Anwendungskarten          schaftsentstehung an die Geoinformatik zu über-
zeigt beispielsweise die Verdichtungsempfindlich-        tragen und die bodenkundliche Arbeit im Gelände
keitskarte, welche Böden im nassen Zustand be-           zur reinen Routinearbeit verkommen zu lassen.
sonderer Schonung bedürfen. Und erfordert ein            «Dann wäre kaum mehr Personal für Felderhebun-
grösseres Bauvorhaben einen Bodenabtrag, so weiss        gen zu gewinnen», findet Martin Zürrer.
man dank der vorhandenen Informationen, welche             Fabio Wegmann sieht durchaus Potenzial in der
Massnahmen zu ergreifen sind, um das Material            Unterstützung durch Fahrzeuge, denkt aber nicht,
andernorts für Bodenverbesserungen einzusetzen.          dass sich die Handarbeit im Gelände ganz durch
                                                         Roboter ersetzen lässt: «Auch die moderne Boden-
Lohnender Aufwand                                        kartierung braucht Fachleute, die aufgrund ihrer
Aus Sicht von Fabio Wegmann von der Sektion              Ausbildung und Erfahrung die Grundlagendaten
Boden des BAFU sind präzise Angaben über die Be-         und die Landschaft zu lesen verstehen, um so den
schaffenheit des Bodens unabdingbar. «Nur was            Entstehungsprozess und die Eigenschaften des
man kennt, will und kann man schützen», ist er           Bodens zu erkennen.» Weitere Möglichkeiten, um die
überzeugt. Noch wisse unsere Gesellschaft viel zu        Bodenkartierung zu beschleunigen und ihre Kos-
wenig über die vielfältigen Funktionen und über die      ten zu senken, sieht er unter anderem bei Arbeiten,
Empfindlichkeit des Bodens. Abgesehen von seiner         die im Nachgang zur Feldarbeit im Labor erfolgen.
Rolle für die Landwirtschaft, hat er einen grossen       Dank fortgeschrittener Sensoren können hier ge-
Einfluss auf die Biodiversität. Auch seine Bedeutung     wisse aufwendige chemische Analysen entfallen.
für den Klimawandel ist kaum zu überschätzen:              In der Solothurner «Witi» zeigt sich die Vielfalt
So hat das Nationale Forschungsprogramm «Res-            unseres Landes auf kleinem Raum: Ebenen mit
source Boden» NFP 68 gezeigt, dass der Ausstoss          fruchtbarem Ackerland lösen sich ab mit den an-
von Kohlendioxid aus Torfböden in der Schweiz rund       grenzenden steileren, felsig durchsetzten Hängen.
14 Prozent der von der Landwirtschaft emittierten        Diese Landschaft bietet aus bodenkundlicher Sicht
Treibhausgase ausmacht.                                  allemal eine spannende Lektüre.
  Doch liessen sich – im Zeitalter von Robotik und
künstlicher Intelligenz – Bodendaten nicht schneller
und kostengünstiger erheben als von Hand? Martin
Zürrer ist skeptisch. Zwar gibt es mittlerweile Fahr-
zeuge für den Transport eines mit Sensoren aus-
gestatteten Bohrers, der den Bohrkern scannen            Link zum Artikel
kann. «Diese Bohrfahrzeuge funktionieren aber nur        bafu.admin.ch/magazin2022-1-03
dort, wo es nicht zu steil ist, keine Kulturen wach-
sen, keine Steine im Boden sind und schon relativ        Fabio Wegmann | Sektion Boden | BAFU
viel über den Boden bekannt ist», erläutert der          fabio.wegmann@bafu.admin.ch

die umwelt 1 | 22
18   360° RENDEZ-VOUS

                     25   Wie Vögel vor
                          dem Stromtod
                          bewahrt werden

     die umwelt 1 | 22
360° RENDEZ-VOUS                              19

SCHUTZ DER
BIODIVERSITÄT

                     20   Wo das Fernweh
                          der Schmetterlinge
                          ergründet wird

 die umwelt 1 | 22
20         360° BIODIVERSITÄT

Migration von Insekten

Schmetterlinge mit Fernweh
Weltweit begeben sich jedes Jahr Billionen von Insekten auf Wanderschaft. Erst langsam beginnt die Wissenschaft
die ökologischen Zusammenhänge dieses Phänomens zu verstehen. Ein wichtiger Forschungsstandort befindet sich
auf dem Col de Bretolet, wo die Schweizerische Vogelwarte seit gut 50 Jahren eine Station betreibt. Text: Mirella Wepf

           Ende Februar und Anfang März kehren die ersten           Reise in Etappen
           Zugvögel aus ihren Winterquartieren im Süden             Marco Thoma vom Institut für Ökologie und Evolution
           zurück. Der breiten Öffentlichkeit ist jedoch kaum       der Universität Bern hat das Wanderverhalten des
           bekannt, dass im März auch Schmetterlinge wie der        Admirals in den letzten Jahren untersucht. Im Herbst
           Admiral (Vanessa atalanta) die Alpen überqueren.         fliegen Millionen dieser Wanderfalter in Richtung
           Dieser zarte «Sommervogel» ist relativ häufig und        Südeuropa. Die Migrationsbewegung beginnt Ende
           dank seiner schwarzen Flügel mit orangen Streifen        August – mit einem Höhepunkt gegen Ende Sep-
           und weissen Flecken leicht erkennbar. Im Spät-           tember und Anfang Oktober. Laut Marco Thoma
           sommer kann man ihn oft unter Obstbäumen ent-            handelt es sich dabei um die Nachkommen derje-
           decken, denn Fallobst gehört dann zu seinen wich-        nigen Falter, die im Frühling vom Süden her kamen.
           tigsten Nahrungsquellen. Pflaumen und Zwetschgen         Dort können die Tiere der Kälte im Norden aus-
           mag er besonders gern.                                   weichen und sich im Winterquartier fortpflanzen.

Insektenforscher Marco Thoma fängt Schmetterlinge auf dem Col de Bretolet.                                                 Bild: sda-ky

           die umwelt 1 | 22
360° BIODIVERSITÄT                                                                                             21

     Im darauffolgenden Frühling sind es dann wiederum      Nachtfaltern, wie zum Beispiel der Gammaeule
     die Nachkommen der Herbstzieher, welche nach           (Autographa gamma) oder des Windenschwärmers
     Norden aufbrechen. «Man nennt dies Generationen-       (Agrius convolvuli).
     wanderung, weil jede Generation nur einen Teil der
     Reise unternimmt», erklärt der Insektenforscher.       Gaukler in grosser Höhe
        Wie beim Vogelzug lagen die genauen Reiserouten     Eine damals noch an der Universität Bern ange-
     der Insekten für die Wissenschaft lange im Dunkeln.    siedelte Forschungsgruppe griff die Arbeit von
     Doch schon seit den 1960er-Jahren ist bekannt,         Jacques Aubert im Jahr 2015 wieder auf. Die
     dass der Col de Bretolet im Unterwallis auch für       «Insect Migration & Ecology Research Group»
     Insekten einen wichtigen Korridor bildet. Der Ge-      wurde vom australischen Insektenwissenschaftler
     birgspass an der Grenze zwischen der Schweiz und       Myles Menz sowie von Marco Thoma gegründet.
     dem französischen Département Haute-Savoie liegt       2016 konnten die beiden Biologen nachweisen,
     auf 1923 Metern über Meer. Hier werden seit 1953       dass auch Admirale den Col de Bretolet als Reise-
     zwischen Juli und Oktober bis zu 20 000 Vögel          route nutzen und dabei mit einer Geschwindigkeit
     gefangen, um sie zu beringen und ihr Zugverhalten      von bis zu 20 Kilometern pro Stunde fliegen. Um
     zu erforschen. Lanciert hat diese Forschungs­          dies herauszufinden, fingen sie mit einem Team von
     arbeiten die Organisation Nos Oiseaux. Seit 1958       rund 30 Personen auf dem benachbarten Pass
     leitet nun die Schweizerische Vogelwarte die Be-       Col de la Croix rund 5000 Admirale ein und mar-
     ringungsstation. Vögel und Insekten nutzen auch        kierten sie. Auf dem Col de Bretolet versuchten sie
     andere Pässe, aber auf dem Col de Bretolet steht       die ausgesetzten Schmetterlinge dann mit Erfolg
     den Forschenden dank der Netze und Unterkünfte         wieder einzufangen. Doch einfach war diese Auf-
     die nötige Infrastruktur für ihre Untersuchungen zur   gabe nicht: «Den Fang eines markierten Insekts
     Verfügung.                                             feierten wir jeweils wie einen Lottogewinn!», erinnert
                                                            sich Myles Menz.

                                                            Radar und Internetportale
                                                            Anders als Jacques Aubert, der seinerzeit Schweb-
«Den Fang eines markierten                                  fliegen markierte, um mehr über ihr Zugverhalten
Insekts feierten wir jeweils                                zu erfahren, arbeiten Forscherinnen und Forscher
                                                            heute manchmal auch mit speziell entwickelten
wie einen Lottogewinn!»                                     Radargeräten. Marco Thoma wählte für seine Ar-
Myles Menz | Insektenforscher
                                                            beit noch eine weitere Forschungsmethode: Citizen
                                                            Science. Er rief Interessierte dazu auf, ihm über
                                                            geeignete Online-Portale sämtliche Beobachtun-
                                                            gen von Admiralen – sei es als Falter, Raupen oder
                                                            Eier – zu melden. Dafür arbeitete er mit mehr als
     Der 1995 verstorbene Insektenforscher Jacques          40 Meldestellen in 21 Ländern zusammen. Für
     Aubert, der in Lausanne früher das kantonale           Beobachtungen aus der Schweiz waren dies das
     Zoologie-Museum leitete, erfuhr von Ornithologen,      Portal von info fauna, ornitho.ch der Schweizeri-
     dass sie auf dem Bretolet-Pass auch deutlich sicht-    schen Vogelwarte und die App NaturaList von
     bare Insektenwanderungen beobachten konnten.           Biolovision.
     Nach ersten Vorstudien liess er dort eine Beo-            Diese Datensammlung ermöglicht es, die Wander-
     bachtungshütte bauen und führte während fast           bewegungen des Admirals in bislang nicht gekannter
     16 Jahren Forschungsprojekte durch. Er konzen­         Auflösung über weite Teile Europas zu verfolgen.
     trierte sich dabei vor allem auf das Migrations-       Zudem lässt sich das Vorkommen dieser Schmetter-
     verhalten von Schwebfliegen (Syrphidae) und            lingsart in Abhängigkeit der Umweltbedingungen

     die umwelt 1 | 22
22   360° BIODIVERSITÄT

     untersuchen. Insgesamt sind Marco Thoma mehr als         Deutlicher Rückgang von Schwebfliegen
     eine halbe Million Meldungen übermittelt worden –        Der Biologe hat sich in seinen Forschungsarbeiten
     zusammengetragen von Tausenden Beobachterin-             vor allem auf Schwebfliegen konzentriert. Diese
     nen und Beobachtern. «Die gesammelten Daten              Zweiflügler sind nebst den Bienen die zweitwich-
     zeigen eine klare Nord-Süd-Bewegung der Admi-            tigsten Bestäuber von Pflanzen. Eine im Frühling
     rale innerhalb Europas mit Anzeichen, dass Skan-         2020 publizierte Untersuchung über die Befruchtung
     dinavien im Frühling sprunghaft besiedelt wird»,         von 105 weltweit relevanten Nahrungspflanzen
     zieht Marco Thoma eine erste Zwischenbilanz.             zeigt, dass Schwebfliegen mehr als die Hälfte da-
     Ausserdem zeichne sich im Vergleich zu Daten aus         von besuchen und damit als Befruchter einen Wert
     den 1990er-Jahren eine Verschiebung der Über-            von über 300 Milliarden Dollar pro Jahr generieren.
     winterungsgrenze nach Norden ab. «Es ist nahe-
     liegend, dass dies mit höheren Wintertemperaturen
     in Verbindung steht» erklärt der Insektenforscher.
     Eine umfassende Analyse dazu ist allerdings bis-
     lang noch nicht erfolgt. Einen speziellen Rekord
     verzeichnete gemäss Marco Thoma übrigens ein             Insgesamt sind Marco Thoma mehr
     Admiral, der auf seiner Reise den Gipfel der Jung-       als eine halbe Million Meldungen
     frau in einer Höhe von 4000 Metern überflog.
                                                              übermittelt worden – zusammen-
     Distelfalter schlägt Monarch                             getragen von Tausenden freiwilligen
     Ebenfalls als rekordverdächtiger Langstreckenzieher      Beobachterinnen und Beobachtern.
     gilt der Distelfalter (Vanessa cardui). Anders als der
     Admiral – sein naher Verwandter – ist er auf dem
     Col de Bretolet jedoch selten zu beobachten: Der
     Distelfalter zieht von Skandinavien bis in die Win-
     terquartiere südlich der Sahara. Dabei legt die
     Schmetterlingsart mehr Kilometer zurück als der          Insgesamt gibt es rund 6000 bekannte Schweb-
     weltbekannte Amerikanische Monarch (Danaus               fliegenarten. In der Schweiz kommen etwa 450 vor;
     plexippus). Auch Distelfalter reisen in mehreren         ein Dutzend davon zählt zu den migrierenden Arten
     Generationen. Auf ihrer Route scheinen sie die Alpen     – so etwa die Mistbiene (Eristalis tenax) oder die
     mehrheitlich eher links und rechts zu umfliegen –        Hainschwebfliege (Episyrphus balteatus). Auf dem
     eine Strategie, die auch bei manchen Vogelarten zu       Col de Bretolet fängt Myles Menz die Schwebfliegen
     beobachten ist. Um die Routen der Distelfalter zu        unter anderem mit einem selbst gebauten Fangzelt
     ergründen, haben internationale Forschungsteams          von rund zwei Metern Höhe und vier Metern Breite.
     die Flügel und Gewebe der Schmetterlinge auf             Es handelt sich dabei um eine Rekonstruktion der
     Wasserstoff-Isotope untersucht. Deren Zusammen-          Falle von Jacques Aubert. Vergleicht man die An-
     setzung zeigt an, in welchem Gebiet ein Insekt           zahl der gefangenen Insekten von damals mit den
     aufgewachsen ist.                                        aktuellen Zählungen, so zeigt sich, dass heutzutage
       Vom Distelfalter weiss man mittlerweile, dass er       deutlich weniger Schwebfliegen in die Falle gehen.
     über einen inneren Sonnenkompass verfügt. Dies           «Dies ist vermutlich auf die Intensivierung der Land-
     gilt vermutlich auch für andere tagaktive Arten.         wirtschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren zu-
     «Nachtfalter orientieren sich vermutlich eher am         rückzuführen», mutmasst Myles Menz. Aktuellere
     Magnetfeld der Erde und an visuellen Reizen – wie        Datenreihen, die er selbst und andere Schweb­
     etwa der Horizontlinie», erklärt Myles Menz. Die         fliegenforschende in den letzten Jahren erhoben
     Erforschung des Orientierungssinns von Insekten          haben, deuteten aber glücklicherweise darauf hin,
     stehe allerdings noch ganz am Anfang.                    dass die Population derzeit nicht weiter zurückgehe.

     die umwelt 1 | 22
Forscher Myles Menz bei seiner Insektenfalle auf dem Col de Bretolet.                                            Bild: Mirella Wepf

Mit Filzstift markierter Admiral.                       Bild: sda-ky    Fangstation auf dem Col de Bretolet.   Bild: Christian Marti

            die umwelt 1 | 22
24          360° BIODIVERSITÄT

     Langfristige Trends der Biodiversität aufzeigen
     Das BAFU ist gesetzlich verpflichtet, die landesweite           und Tierarten erhoben. Der Fokus liegt dabei nicht in erster
     Entwicklung der Biodiversität zu beobachten. Zu diesem          Linie auf Naturschutzgebieten, sondern auf der Entwicklung
     Zweck lancierte das Amt 2001 das Programm Biodiversi-           von häufigen und verbreiteten Landschaften, in denen ein
     tätsmonitoring Schweiz (BDM). Das BDM ist ein lang-             Grossteil unserer Bevölkerung lebt.
     fristiges Umweltbeobachtungsprojekt, vergleichbar mit dem         Im Bereich Insekten werden Tagfalter und Gewässer-
     Landesforstinventar (LFI), der Nationalen Daueruntersu-         insekten wie Steinfliegen, Köcherfliegen und Eintagsfliegen
     chung der Fliessgewässer (NADUF) oder der Nationalen            genauer beobachtet. Die regelmässigen Erhebungen zeigen
     Bodenbeobachtung (NABO).                                        insbesondere im Mittelland grosse Defizite. Zudem besteht
        Auf einem dichten Netz an vordefinierten Stichproben-        eine Tendenz zur Vereinheitlichung der natürlichen Lebens-
     flächen wird im Rahmen des BDM schweizweit die langfris-        räume, was einem Verlust an biologischer Vielfalt gleich-
     tige Entwicklung der Artenvielfalt ausgewählter Pflanzen-       kommt.

            Nährstoff- und Pollentransport                           arten und der Totenkopfschwärmer (Acherontia
            Gemeinsam mit einem internationalen Forschungs-          atropos)», sagt Myles Menz. Letzterer ist ein sel-
            team hat Myles Menz 2019 mithilfe von Radar-             tener Nachtfalter, der sich mit Vorliebe von Honig
            monitorings aufgezeigt, dass jedes Jahr bis zu vier      ernährt und bei Bedrohung laute quietschende
            Milliarden Schwebfliegen zwischen Grossbritannien        Töne von sich gibt. Bekannt geworden ist das fast
            und dem europäischen Kontinent hin- und herpen-          handtellergrosse Tier durch den Oscar-gekrönten
            deln. Die Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass       Hollywood-Thriller «Das Schweigen der Lämmer».
            sich mit jeder dieser Reisen auch tonnenweise            Über seine Lebensweise im wahren Leben weiss
            Nährstoffe hin- und herbewegen, und dass die Tiere       man indes noch längst nicht alles.
            dabei Milliarden von Pollenkörnern transportieren.
            Die ökologischen Zusammenhänge dieser beein-
            druckenden Leistung sind noch nicht abschliessend
            geklärt. «Wir arbeiten im Moment daran, entspre-
            chende Zahlen für die Schweiz zu ermitteln», erklärt
            Myles Menz.
               Im Winter 2021 kehrte der Wissenschaftler wegen
            eines Jobangebots an der James-Cook-Universität
            in Queensland nach Australien zurück. Er will die
            Forschungsarbeiten auf dem Bretolet-Pass jedoch
            fortführen. «Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Insek-
            tenbeobachtung auf dem Col de Bretolet als Er-
            gänzung zum allgemeinen Biodiversitätsmonitoring
            in der Schweiz weiterzuführen», meint Jan von Rönn,
            der die Beringungszentrale der Schweizerischen
            Vogelwarte leitet. «Die Vogelwarte würde ein sol-
            ches Vorhaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten
            gerne unterstützen.»                                     Link zum Artikel
               Zu entdecken gäbe es auf dem Col de Bretolet mit      bafu.admin.ch/magazin2022-1-04
            Bestimmtheit noch einiges. «Wir wissen, dass hier
            unter anderem jedes Jahr Tausende von Winden-            Claudio de Sassi | Sektion Biodiversitätspolitik | BAFU
            schwärmern vorbeiziehen, ebenso einige Libellen-         claudio.de-sassi@bafu.admin.ch

            die umwelt 1 | 22
Sie können auch lesen