Natürliche Ressourcen in der Schweiz - BAFU
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1 | 2022 Natürliche Ressourcen in der Schweiz Streifzug durch die Umwelt Wie Lösungen für drängende Umweltprobleme gesucht werden
2 EDITORIAL Ermutigende Zeichen und grosse Herausforderungen Ein junger Mann in Zürich hat eine Idee: In seinem Lehrbetrieb müssen Lasthaken auch dann komplett ausgetauscht werden, wenn nur die kleine Sicherungsvorrichtung nicht mehr richtig funktioniert. Warum, so fragt er sich, wechseln wir eigentlich immer den ganzen Lasthaken aus und nicht nur dieses Sicherungs-Teil? Damit liesse sich doch Material und Geld sparen. Eine gute Frage. Und eine gute Idee, die in seinem Betrieb auf offene Ohren stösst. Der junge Mann macht seine Lehre in einer Seilerei, seine Idee erarbeitete er in der Berufsfachschule mit dem vom BAFU geförderten Online-Lernprogramm Future Perfect. Damit sollen die jungen Berufsleute die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft kennenlernen und diese im Berufsalltag umsetzen. Die ganze Geschichte lesen Sie auf Seite 47 dieser Ausgabe. Jetzt können Sie natürlich einwenden, das sei eine Petitesse, ein unbedeutender Beitrag im Kampf gegen die Verschwendung von Ressourcen. Das mag sein. Für mich sind solche Bild: BAFU kleinen, privaten Initiativen hingegen nötige und ermutigende Zeichen. Selbstverständlich braucht es zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und zur Bekämpfung anderer Umwelt- probleme staatliche Richtlinien. Aber mindestens genauso wichtig sind verantwortungs- bewusste Betriebe. Freiwillige Vereinbarungen und Verpflichtungen müssen gerade innerhalb von Unternehmen und Branchen eine immer grössere Rolle spielen. So wird etwa das Prinzip der Kreislaufwirtschaft seit einigen Jahren von Unternehmen immer öfter berücksichtigt, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch wirtschaftlich davon profitieren. Die Schweiz als rohstoffarmes Land verfolgt bereits seit Mitte der 1980er-Jahre Ansätze hin zu einer Kreislaufwirtschaft. Und es ist ihr gelungen, gewisse Kreisläufe zumindest teilweise zu schliessen. Unterstützende regulatorische Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle. Zurzeit diskutiert die Umweltkommission des Nationalrates aufgrund der parlamentarischen Initiative «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» eine Gesetzes- anpassung. Aber die Herausforderungen bleiben gross und vielfältig. Das gilt längst nicht nur für die Kreislaufwirtschaft. Das Gebot der Stunde ist die Schonung natürlicher Ressourcen wie des Wassers, der Wälder oder der Artenvielfalt. Drängend sind selbstverständlich auch die Bemühungen um ein besseres Klima. Aus diesem Grund verfügt diese Ausgabe des Magazins «die umwelt» ausnahmsweise nicht über ein Schwerpunktthema, sondern zeigt die Vielfalt der vom BAFU abgedeckten Umweltthemen: Sie umfasst den Schutz der Umwelt, der Biodiversität und der natürlichen Ressourcen, die Sicherheit und Gefahren- prävention, aber auch die Ökobilanzen und die nachhaltige Entwicklung. Damit bieten wir Ihnen ein vielfältiges Panorama drängender Umweltthemen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Katrin Schneeberger | Direktorin BAFU die umwelt 1 | 22
INHALTSVERZEICHNIS 3 360° SCHUTZ VON UMWELT UND RENDEZ-VOUS NATÜRLICHEN RESSOURCEN 4 Tipps 10 Holzwirtschaft Wie es dem illegalen Holzhandel 6 Unterwegs an den Kragen geht 53 International 14 Boden Warum wir Böden kennen müssen, 54 Vor Ort um sie zu schützen 56 Bildung 57 Recht SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT 58 Aus dem BAFU 20 Biodiversität Wo das Fernweh der Schmetterlinge 59 Meine Natur ergründet wird 60 Vorschau 25 Artenschutz Wie Vögel vor dem Stromtod bewahrt werden SICHERHEIT UND GEFAHRENPRÄVENTION 30 Gefahrenprävention Wie die Schweiz Störfallrisiken bei Erdgasleitungen senkt 34 Biotechnologie Wie die Sicherheit in Hochrisiko- labors gewährleistet wird Illustration: Noémie Cédille Klimawandel, Kreislaufwirtschaft, Schutz der natürlichen Ressourcen: Die aktuellen Umwelt-Herausforderungen ÖKOBILANZEN UND sind gross. Diese zeigen gleichzeitig die Vielfalt der vom BAFU NACHHALTIGE ENTWICKLUNG abgedeckten Umweltthemen auf. Sie reichen von der Bio- 40 Wirtschaft und Konsum diversität über die Gefahrenprävention bis zur nachhaltigen Wie sich Umweltbelastungen Entwicklung. Dazu hat die französische Künstlerin und umfassend bemessen lassen Grafikerin Noémie Cédille eigens vier doppelseitige Illustra- tionen erstellt (S. 8, 18, 28, 38). 44 Wirtschaft und Konsum Wie der Staat nachhaltig einkauft 47 Umweltbildung Wie Nachhaltigkeit im Arbeitsalltag GRATISABOS UND IM INTERNET ankommt ADRESSÄNDER UNGEN bafu.admin.ch/magazin bafu.admin.ch/ 50 Wirtschaft und Konsum leserservice TITELBILD Wie Homeoffice das Klima verbessert Illustration: KONTAKT Noémie Cédille magazin@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 22
4 360° RENDEZ-VOUS Tipps E Guete, Schweiz! Was sind die Geheimnisse der Herstellung von farina bóna im Onsernone-Tal? Was ist der Birnel, dieses halbindustrielle und doch so typisch schweizerische Produkt? Wer hat die Tradition des Butten- mosts bewahrt, der ursprünglich in Hochwald im Kanton Solothurn hergestellt wurde? In diesem Buch stellen die Journalistin Tania Brasseur, Mitglied des Kulinarischen Erbes der Schweiz und von Slow Food CH, und die Köchin Marina Kienast Gobet 10 traditionelle Schweizer Lebensmittel vor und 40 feine und gesunde Gerichte, die sich daraus zubereiten lassen. Das Buch ist aber auch eine Reise durch die Schweiz: zu den Produzentinnen und Produzenten der Lebensmittel sowie zu deren spannenden Geschichten. «E Guete, Schweiz», Tania Brasseur und Marina Kienast Gobet, Helvetiq, ISBN: 978-3-907293-35-5, CHF 39.– Bild: zVg Geheimnis Emme Wie fliesst der Strom? Nachhaltig geprägt Warum ist die Emme für den Wie viel Prozent der Elektri- Wie kann ich umweltbewuss- Biber nur eine «Autobahn»? zität eines Landes stammt ter einkaufen? Der Nachhal- Wann wird man den Lachs an aus der Kernenergie? Wie tigkeitskompass hilft, Ent- der Emme wieder beobachten viel aus Wasserkraft, Wind- scheidungen zu treffen, die können? Mit der App «EinflussEmme» lässt oder Solarenergie? Die App «Electricity- nachhaltiger sind und damit ökologi- sich die Solothurner Emme entdecken. Map» zeigt, wie hoch die aktuellen CO2 - scher, sozialer und ökonomischer. Die App Grafiken, Audio- und Videobeiträge, inter- Emissionen des Stromverbrauchs und «Sustainability Compass» basiert auf aktive Spielelemente sowie zahlreiche Tipps der Stromproduktion eines Landes sind. einem philosophischen Ansatz und erläu- zum Forschen und Entdecken bieten span- Zudem gibt sie Aufschluss darüber, aus tert die verschiedenen Kriterien und nende Erlebnisse für Familien und Schul- welcher Region die Elektrizität stammt Dimensionen der Nachhaltigkeit. Die In- klassen. Die App ist im Auftrag des Amts und in welches Land sie exportiert wird. halte sind inspiriert von zwei wissen- für Umwelt Solothurn entstanden. Seit 2021 ist auch die Schweiz auf der schaftlichen Ansätzen: The Natural Step Plattform integriert. (FSSD) und Human Scale Development. Gratis | für Android und iPhone Gratis | Open Source | für Android und iPhone Gratis | für Android und iPhone EinflussEmme.so.ch app.electricitymap.org/map compass-for-sustainability.net Wann ist das Leben gut? Was macht hohe Lebensqualität aus? Welche Aspekte sind für eine hohe Lebensqualität wichtig? Und wie geht diese mit Nachhaltigkeit zusammen? Diesen Fragen widmet sich die Ausstellung «We love Äntlibuech» und legt den Fokus auf das Entlebuch mit seinen Einwohnerinnen und Ein- wohnern. Die Ausstellung basiert auf dem Forschungsprojekt «Nachhal- tige Lebensqualität in Pärken von nationaler Bedeutung» der Universität Bern. Dieses hat gezeigt, dass im Entlebuch die durchschnittliche Lebens- qualität sehr hoch ist – noch höher als in anderen Regionen der Schweiz. Bis 20. März 2022, im Entlebucherhaus in Schüpfheim (LU), gratis Mittwoch, Samstag, Sonntag, 14 bis 18 Uhr | biosphaere.ch Bild: UNESCO Biosphäre Entlebuch die umwelt 1 | 22
360° RENDEZ-VOUS 5 Igels Blick Lachs aus Rüebli Bequem und Grün Wie wichtig Natur für unser Glück ist, Effektive Hausmittel gegen stinkende ging vielen nicht zuletzt in den vergan- Schuhe? Oder Sauerkraut fermentieren? genen Monaten so richtig auf. Trotzdem Das Ideenportal smarticular.net bietet hat die Landschaft nach wie vor eine ver- einen Strauss voller Tipps und Tricks für gleichsweise bescheidene Lobby. Das ein einfaches und nachhaltiges Leben. Buch «Das Weltbild der Igel» tritt für die Täglich veröffentlicht die Plattform neue Schönheit der Natur ein. Es hält ein ethi- Lösungen, Anleitungen und Alternativen. sches Plädoyer für ein Weltbild, das Tiere Die besten Tipps und Rezepte des und Natur mehr ins Zentrum rückt – und deutschen Online- und Sachbuchverlags dem Menschen Zurückhaltung ans Herz smarticular gibts in Büchern wie «Fünf legt. Eingestreut werden literarische Hausmittel ersetzen eine Drogerie» oder Passagen aus Peter Kurzecks Roman «Wirf mich nicht weg – Das Lebensmittel- «Vorabend». sparbuch». «Das Weltbild der Igel», Angelika Krebs smarticular.net Schwabe Verlag Basel | ISBN: 3796544142 CHF 28.– Faire Shirts Das Schweizer Fair-Trade-Unternehmen gebana und das nachhaltige Modelabel Klimaneutral essen Nikin bieten faire T-Shirts für Männer und Frauen an: Das TreeShirt besteht aus 100 Prozent zertifizierter Biobaumwolle aus Burkina Faso und wird unter fairen Bedingungen in Griechenland und Nord- mazedonien hergestellt. Die Biobaumwolle Bild: zVg ist mit natürlichen Markierungsstoffen versehen und kann so bis zur Ausliefe- Nach dem Motto «Lasst die Fische rung rückverfolgt werden. Pro verkauf- schwimmen» gründete Juval Kürzi 2020 tes TreeShirt wird ein Baum gepflanzt. das Schweizer Start-up Wild Foods und Bei 500 bestellten TreeShirts pro Farbe schafft damit eine vegane Alternative zu kommt eine Bestellung zustande. Lachs. Das Produkt «Wood Smoked» be- Bild: zVg steht aus rein pflanzlichen Zutaten und gebana.com/shirt-burkina basiert auf geräucherten Karotten. Das Das Zunfthaus Weisser Wind im Zürcher Berner Start-up setzt dabei auf eine Niederdorf kompensiert neuerdings seine nachhaltige und lokale Produktion und CO2 -Emissionen und wird klimaneut ral. Dafür hat das Restaurant gemeinsam mit Zukunft hören unterstützt regionale Bauern und Klein- der Stiftung myclimate den ökologischen betriebe. Geräuchert werden die Karotten Das deutsche Wirtschaftsmagazin im betriebseigenen Ofen. Die Zutaten- Fussabdruck berechnet: Trotz saisonaler «enorm», das sich nach eigenen Angaben liste ist kurz: Um den veganen Lachs und regionaler Küche verursacht der dem gesellschaftlichen Wandel verschrie- herzustellen, braucht Kürzi lediglich Gastrobetrieb jährlich rund 460 Tonnen ben hat, bietet kostenlos ausgewählte Ar- Karotten, Sonnenblumenöl, Apfelessig CO2. Dieses gleicht das Restaurant nun tikel als Podcast an. Behandelt werden und Meersalz. Ursprünglich als Weih- mithilfe von betrieblichen Massnahmen auch internationale Umweltthemen: Dazu nachtsidee entstanden, gibt es «Wood und Kompensationsbeiträgen in Klima- gehören Insekten beim Plastikrecycling, Smoked» mittlerweile in verschiedenen schutzprojekte aus. Durch einen kleinen vegane Tattoos oder ein Unterwasser Biogeschäften und Coop-Filialen. Aufpreis kompensiert auch die Kund- museum im Mittelmeer. schaft über ein Projekt in Kenia ihre Konsumation. enorm-magazin.de/enorm-magazin-podcast- zukunft-hoerst-du-hier-an wildfoods.ch weisserwind.ch die umwelt 1 | 22
6 360° RENDEZ-VOUS Unterwegs Ländliche Flussidylle an einem schönen Tag im März. Bild: Beat Jordi Am Doubs entlang über die grüne Grenze Beidseitig von bewaldeten Anhöhen und Felskreten der Grossstadt, sondern die ländliche Flussidylle. Kurz vor geschützt, beginnt der Frühling im Tal des Doubs bei der Einfahrt in den Bahnhof öffnet sich vom Zugfenster Saint-Ursanne (JU) vergleichsweise früh. Vom mittel- aus ein weiter Blick ins tiefer gelegene Doubs-Tal mit den alterlichen Städtchen führt ein idyllischer Weg am linken Windungen des Flusslaufs. Flussufer nach Frankreich. Text: Beat Jordi Die Station von Saint-Ursanne liegt östlich des Städt- chens am Südhang des Mont Terri. Am Rand dieses Wer mit der Eisenbahn vom jurassischen Hauptort Delsberg Hügelzugs betrieb eine lokale Kalkbrennerei bis 1993 nach Saint-Ursanne reist, ahnt, weshalb das Städtchen an ein Bergwerk, in dem auf zwei Stockwerken Riffkalke der markanten Schleife des Talflusses Doubs seinen mittel- aus dem Fels gesprengt wurden. Im Lauf von fast 90 Jah- alterlichen Charakter und Charme bis heute bewahren ren holte man hier rund 1 Million Kubikmeter Material konnte. Mehrere Tunnelbauten und Brücken sowie ein aus dem Berg und legte mit den ausgebrochenen Kaver- landschaftsprägender Viadukt waren erforderlich, um den nen und Zufahrten ein unterirdisches Streckennetz von abgelegenen Ort im Jahr 1877 ans Eisenbahnnetz anzu- etwa 12 Kilometern an. schliessen. Vorher war der Stadtkern durch die Juraketten Nach der Stilllegung des Kalkbergwerks lagerte eine des Lomont im Norden und des Clos du Doubs im Süden landesweit bekannte Entsorgungsfirma in der Abbau- weitgehend von der Umwelt abgeschnitten. stätte über 10 000 Tonnen Sonderabfälle ein – wie etwa mit Schwermetallen belastete Galvanikschlämme, die Ländliche Flussidylle sie später mit Zement verfestigen wollte. Doch noch Doch inzwischen sind es keine 50 Zugminuten mehr zum bevor es dazu kam, widerrief der Kanton Jura die provi- TGV-Bahnhof im französischen Meroux. Dank einer re- sorische Betriebsbewilligung. Gestützt auf Färbversu- aktivierten Bahnlinie zwischen der Schweiz und Frank- che in den Kavernen, kam eine vom Standortkanton ein- reich ist man von Saint-Ursanne aus mit den besten Zug- gesetzte Expertengruppe nämlich zum Schluss, dass verbindungen nun in dreieinhalb Stunden in Paris. Doch eine hydraulische Verbindung der Stollen zum Grund- wir suchen an diesem Märztag nicht die Betriebsamkeit wasserschutzgebiet von Saint-Ursanne besteht. Wegen die umwelt 1 | 22
360° RENDEZ-VOUS 7 der Durchlässigkeit der zerklüfteten Kalkformationen halb des mittelalterlichen Stadtkerns sind keine Augen- hätten ausgewaschene Schadstoffe somit direkt ins weide, doch bald einmal liegt das Siedlungsgebiet hin- Trinkwasser gelangen können. ter uns, und wir treten in eine 200 bis 500 Meter breite Nach dem Bankrott der Firma blieb der Kanton Jura auf Ebene ein. einer millionenteuren Altlast sitzen, konnte beim Aufräu- Abgesehen von zwei Stromschwellen fliesst der zumeist men aber auf die Hilfe des Bundes zählen. So wurden die träge Doubs hier still dahin. Bis ins etwa 10 Kilometer ehemaligen Bergwerksstollen von allen Abfällen befreit entfernte und flussabwärts gelegene französische Dorf und schliesslich mit sauberen Aushubmaterialien aus dem Brémoncourt beträgt die überwundene Höhendifferenz Bau der Autobahn Transjurane verfüllt. Im Jahr 2014 nur ungefähr 20 Meter. Einzelne Bauernhöfe, zwei Cam- vermeldete der Kanton Jura den offiziellen Abschluss pingplätze und einsame Wochenendhäuschen säumen das dieser Arbeiten und die Streichung des Standorts aus dem gegenüberliegende Ufer, die Strasse befindet sich in eini- Altlastenkataster. gem Abstand dazu. Die Landschaft in dieser einsamen Gegend wird weitgehend von der dominierenden Milch- Kohlendioxid speichern wirtschaft im Talgrund und den bewaldeten Flanken mit Auch ohne das Bergwerk wird im Untergrund freilich ihren Felsbädern geprägt. Bisweilen ragen die Äste der am weiterhin gebohrt. Denn in 300 Metern Tiefe unter der Ufer stehenden Weiden weit ins Flussbett hinein. Doch Erdoberfläche befindet sich das Felslabor Mont Terri. Hier diese Naturidylle trügt, denn vor allem Abschwemmungen erkundet eine Forschungsgemeinschaft mit Projektpart- von Düngemitteln aus der Landwirtschaft setzen den Fisch- nern aus aller Welt die Eigenschaften des vor 180 Millionen beständen stark zu – so etwa dem seltenen Roi du Doubs. Jahren entstandenen Opalinustons. Er gilt in der Schweiz Nach dem Bauerndorf Ocourt, wo eine hydrometrische als einziges bestätigtes Wirtgestein für die mögliche Station des BAFU die wichtigsten Wasserdaten erfasst, Tiefenlagerung von hochradioaktiven Abfällen. Die im kürzt ein Feldweg die sonst immer dem Flussufer folgende Felslabor gewonnenen Erkenntnisse stehen auch anderen Strecke über die buchstäblich grüne Grenze nach Brémon- Forschungszweigen zur Verfügung. Beispiele dafür sind court ab. Hier ist nicht viel los – ebenso wenig wie im etwa die Tiefengeothermie oder die Speicherung des Schweizer Weiler La Motte, auf der anderen Seite der Treibhausgases Kohlendioxid. Doubs-Brücke, wo aber zumindest an Werktagen immer- Nach dem kurzen Abstieg vom Bahnhof in die Altstadt hin dreimal täglich ein öffentlicher Bus zurück nach Saint- von Saint-Ursanne verlassen wir den Ort über eine vier Ursanne fährt. bogige Steinbrücke, um ans linke Ufer des Doubs zu ge- Für die Stadtbesichtigung sollte man sich mindestens langen. Der Fluss holt hier zu einer weiten Halbdrehung zwei Stunden Zeit nehmen. Zu den Höhepunkten gehören aus, die das 60 Quadratkilometer umfassende Gebiet der die gegen Ende des 12. Jahrhunderts nach burgundischem Gemeinde Clos du Doubs umschliesst. Mit dieser markan- Vorbild erbaute Stiftskirche sowie der gotische Kreuz- ten Drehung nach Westen fliesst der Doubs der Saône und gang des angrenzenden Klosters mit seinem begrünten damit dem Mittelmeer zu. Die Bauten am Flussufer ausser- Innenhof und den Spitzbögen aus dem 14. Jahrhundert. Der Weg (in Rot) führt von Saint-Ursanne nach Brémoncourt. Bild: swisstopo die umwelt 1 | 22
360° RENDEZ-VOUS 9 SCHUTZ VON UMWELT UND NATÜRLICHEN RESSOURCEN 14 Warum wir Böden kennen müssen, um sie zu schützen die umwelt 1 | 22
Illegal geschlagenes Mahagoni-Holz, das von Greenpeace und der brasilianischen Bild: Daniel Beltrá | Greenpeace Umweltbehörde entdeckt wurde. Illegaler Holzhandel «Sie müssen wissen, dass sie früher oder später auffliegen» Der Import von illegal geerntetem Holz in die Schweiz war bisher nicht riskant. Seit dem 1. Januar 2022 ist dies anders: Die neu in Kraft getretene Holzhandelsverordnung (HHV) erlaubt Importeuren nur noch, legal geschlagene Bäume und daraus produzierte Holzprodukte einzuführen. Text: Vera Bueller Ob als Baumaterial für Esstische, Parkett- und Bäume, die in den Welthandel kommen, entweder Terrassenböden, Küchen oder Gebäude – der Werk- ohne Lizenz gefällt worden oder verfügen über eine stoff Holz ist begehrt. Nicht immer ist klar, ob die gefälschte, erschwindelte oder mit Schmiergeld be- entsprechenden Produkte tatsächlich aus legal zahlte Lizenz. Für die Tropenholzregionen in Afrika, geschlagenen Bäumen hergestellt wurden. Denn die Asien und Südamerika beziffern die Polizei- und Holzlieferketten sind komplex: Oft erfolgt die Ver- UNEP-Fachleute diesen Anteil sogar auf bis zu arbeitung nicht im eigentlichen Herkunftsland der 90 Prozent. Aber auch in einigen osteuropäischen Bäume. Und nicht selten exportieren skrupellose Ländern werden Wälder illegal abgeholzt. Dies be- Personen, korrupte Beamte und zwielichtige Zwi- legen Untersuchungen von Nichtregierungsorgani- schenhändler die Stämme auf gewundenen Wegen sationen sowie der Kommission der Europäischen in Nachbarländer. Union (EU). Wie gross dieser graue Markt mit illegal geschla- genem Holz ist, zeigt eine Studie von Interpol und Erfolge gegen illegale Holzimporte dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen Allerdings gibt es erste Erfolge im Kampf gegen (UNEP). Demnach sind 15 bis 30 Prozent aller solch kriminelle Machenschaften. Sie sind vor allem die umwelt 1 | 22
360° HOLZWIRTSCHAFT 11 auf strenge Gesetze in den USA (2008), in Australien mentieren, dass sie Informationen beschafft, Risi- (2012) und in der EU (2013) zurückzuführen. Diese ken systematisch bewertet und auf ein vernachläs- verbieten das Inverkehrbringen von illegalem Holz sigbares Mass reduziert haben.» (Siehe Box S. 12) und verlangen von den Importeuren und Verarbeitern, Davon betroffen sind auch Händler, die bereits in die legale Herkunft sowie den Handel des Holzes Verkehr gebrachtes Holz erwerben oder weiterver- mit grösster Sorgfalt abzuklären. kaufen, denn sie müssen dessen Rückverfolgbarkeit In der Schweiz fehlte bisher eine entsprechende sicherstellen. Ein grosser Anteil der Holzerzeugnisse Regelung. Zwar besteht hierzulande seit 2010 eine unterliegt der HHV: Holz, Papier, Halbfabrikate, Deklarationspflicht für Holz und Holzprodukte. Sie Brennholz, Holzwerkstoffe, Bauholz sowie Möbel stellt sicher, dass die Konsumentinnen und Konsu- und vorgefertigte Gebäude aus Holz. Die Verord- menten beim Kauf Informationen zur Art und Her- nung gilt jedoch nicht für Recyclingprodukte aus kunft des Holzes erhalten. Die Händler konnten Altholz oder für Bambus. jedoch jedes Holz einführen, es sei denn, Baumarten sind durch die Bestimmungen des internationalen Aufbau der Kontrollen Artenschutzabkommen CITES geschützt. 2017 be- In der Schweiz importierten im Jahr 2019 rund auftragte das Parlament den Bundesrat, eine 36 000 Unternehmen Produkte aus der EU, die neu strengere Regelung auszuarbeiten, die der europäi- der Holzhandelsverordnung unterliegen. Ihr Wert schen Verordnung «European Timber Regulation» beläuft sich auf 5 Milliarden Franken. Aus Dritt- (EUTR) entspricht. staaten, die nicht der EU angehören, führten rund Gleichzeitig mit dem dafür revidierten Umwelt- 4500 Unternehmen Holzprodukte im Gegenwert schutzgesetz (USG) ist am 1. Januar 2022 die von 371 Millionen Franken ein. EUTR-identische Holzhandelsverordnung (HHV) Alfred Kammerhofer weist darauf hin, dass sich in Kraft getreten. Sie verlangt von allen Markt die Organisation der Kontrolle dieser Betriebe noch akteuren, dafür zu sorgen, dass kein Holz aus illega- im Aufbau befinde, wobei man auf den Erfahrungen lem Holzeinschlag und Handel auf den Markt ge- aus der EU aufbauen könne. Das BAFU nutzt für langt. «Wer in der Schweiz als Erster Holz und seine risikobasierte Überwachungstätigkeit primär Holzerzeugnisse in Verkehr bringt, ist verantwortlich Zolldaten der Einfuhren von Holz und entsprechen- dafür, dass diese legal geerntet und gehandelt den Produkten und wird zudem auch begründeten wurden», erläutert Alfred Kammerhofer, Chef der Hinweisen Dritter nachgehen. Grundsätzlich gilt Holz BAFU-Sektion Holz- und Waldwirtschaft, die neue als legal, wenn dessen Nutzung und Handel mit den Regelung. «Die Erstinverkehrbringer müssen doku- relevanten Rechtsvorschriften eines Landes oder Was umfasst die Sorgfaltspflicht? Die Erstinverkehrbringer müssen ein System für die Einhaltung der Sorgfaltspflicht aufbauen, dieses anwenden und regelmässig aktualisieren. Dabei sind folgende Punkte zu beachten: • Beschaffung aller für eine Risikobewertung notwendigen Informationen und Dokumentationen • Bewertung des Risikos • Sind die Risiken für illegal geerntetes Holz oder illegalen Holzhandel nicht vernachlässigbar, müssen die Unternehmen Massnahmen zur Risikoreduktion ergreifen und diese auch dokumentieren. • Sie müssen zudem aufzeichnen, von wem sie Holz oder Holzerzeugnisse erhalten und an wen sie diese weitergegeben haben. die umwelt 1 | 22
12 360° HOLZWIRTSCHAFT einer Region im Einklang stehen. Die Legalität Risiken identifizieren muss über die gesamte Handelskette sichergestellt und bewerten sein, und in Ländern mit einer hohen Korruptions- rate kann es angezeigt sein, eine Einschätzung von unabhängigen Dritten einzuholen. Die Unternehmen müssen das Risiko bewerten, ob eingeführtes Holz oder Holzerzeugnisse aus System der Sorgfaltspflicht illegalem Einschlag oder nicht rechtskonformem Um die HHV einzuhalten, müssen die betroffenen Handel stammen. Diese Bewertung erfolgt – Marktteilnehmer belegen können, dass sie ihre basierend auf den eingeholten Informationen – Sorgfaltspflicht erfüllen und das Risiko einer ille- nach folgenden Kriterien: galen Herkunft damit auf ein vernachlässigbares Mass reduziert haben. «Das System der Sorgfalts- • ie Einhaltung der Rechtsvorschriften D pflicht besteht aus drei Stufen: der Informations- des Ursprungslandes ist zugesichert beschaffung, der Risikobewertung und den Mass- und liegt vor – zum Beispiel über eine nahmen zur Minderung der Gefahren, illegales Holz Zertifizierung oder über sonstige von und nicht rechtskonforme Holzerzeugnisse in Verkehr Dritten überprüfte Regelungen. zu bringen», erklärt Alfred Kammerhofer. «All dies muss nachvollziehbar dokumentiert werden.» Je • äufigkeit des illegalen Holzeinschlags H nach Land und Region gelte natürlich eine unter- bei betroffenen Baumarten schiedliche Bewertung der Risiken. So besteht etwa • äufigkeit des illegalen Holzeinschlags H im Schweizer Wald ein geringes Risiko für illegale im Ursprungsland oder in der jeweiligen Holzeinschläge. Heikler ist die Bewertung hingegen Region des Ursprungslandes – auch bei Hölzern aus Entwicklungsländern oder auch aus unter Berücksichtigung der Häufigkeit Staaten mit einem erhöhten Risiko für Korruption. von bewaffneten Konflikten Als verlässlicher Massstab für die Risikobewer- tung gilt der weltweit bekannteste Korruptionsindi- • llfällige Sanktionen der Vereinten A kator Corruption Perceptions Index (CPI). Dieser Nationen, der Europäischen Union wird vom Sekretariat von Transparency International oder der Schweiz im Zusammenhang erstellt und listet Länder nach dem Grad der in Politik mit der Ein-, Aus- und Durchfuhr von und Verwaltung wahrgenommenen Korruption auf. Holz und Holzerzeugnissen Der CPI 2020 umfasst derzeit 180 Länder, die auf • omplexität der Lieferkette von K einer Skala von 0 (mit einem hohen Mass an wahr- Holz und Holzerzeugnissen unter genommener Korruption) bis 100 (ohne ersichtliche Berücksichtigung von Zwischen- Bestechlichkeit) erfasst sind. «Bei Lieferungen aus händlern und Verarbeitern, durch die Regionen mit einem CPI unter 50 bestehen im Wald illegales Holz in die Lieferkette und entlang der Lieferketten besonders hohe Risi- gelangen kann ken», erklärt Alfred Kammerhofer. «Hier reichen staatliche Dokumente denn auch nicht aus, um die • orruptionsrisiko in den Herkunfts- K Legalität nachzuweisen, weshalb es eine unabhän- ländern sowie andere anerkannte gige Überprüfung der Informationsquellen braucht.» Indikatoren der guten Regierungs- Weltweit betrachtet, betrifft dies mehr als zwei führung Drittel aller Länder, aus denen freilich nur wenige Prozente der Holzeinfuhren in die Schweiz gelangen. Nur wenn das Risiko illegaler Praktiken vernach- bafu.admin.ch/holzhandel lässigbar ist, dürfen die Produkte in der Schweiz – wie auch in der EU – auf den Markt kommen. die umwelt 1 | 22
Aktivisten aus 12 europäischen Ländern markieren Holz, das im polnischen Białowieża-Urwald, Bild: Greenpeace einer UNESCO-Schutzzone, geschlagen wurde. Abbau von Handelshemmnissen weltweite Entwaldung sowie die damit einher Trotz der neuen Vorschriften verspricht sich die gehenden Verluste an Biodiversität zu bekämpfen. Holzbranche von der HHV einen Abbau von Handels- Kein anderes Ökosystem an Land beherbergt auch hemmnissen und bürokratischen Hürden, weil die nur annähernd so viele Pflanzen-, Tier- und Pilzarten. rechtlichen Rahmenbedingungen nun denjenigen in Ausserdem spielen die Wälder eine Schlüsselrolle der EU entsprechen. Damit fallen zwar nicht alle bei der Regulierung des Weltklimas. Und da sei Schranken. Doch europäische Staaten dürften das allein schon das Vorhandensein von Kontrollen Risiko von Holzprodukten aus der Schweiz künftig wichtig, betont Alfred Kammerhofer: «Die illegalen tief bewerten, was sie attraktiver macht. Umgekehrt Holzlieferanten müssen wissen, dass sie früher oder haben es auch Einfuhren mit geringem Risiko aus später auffliegen.» dem europäischen Raum leichter – falls der Nach- weis des Erstinverkehrbringens in der EU vorliegt. «Diese Regelung ist für die Schweiz insofern wichtig, als rund 95 Prozent der Importe aus dem EU-Raum kommen», sagt Alfred Kammerhofer. «Gleichzeitig gehen rund 90 Prozent der Exporte unserer Holz- erzeugnisse in die EU.» Link zum Artikel Im Kern geht es bei der HHV mit ihren Bestim- bafu.admin.ch/magazin2022-1-02 mungen zur Erfüllung der Sorgfaltspflicht und der Rückverfolgbarkeit jedoch um mehr als bloss um Alfred Kammerhofer | Chef der Sektion Holzwirtschaft und den Abbau von Handelshemmnissen im Holzhan- Waldwirtschaft | BAFU del. Ein Hauptziel besteht nämlich auch darin, die alfred.kammerhofer@bafu.admin.ch | holzhandel@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 22
14 360° BODEN Feldbodenkartierung Bohren für den Schutz des Bodens Unverbautes Land steht unter Druck. Siedlungen dehnen sich aus, und Verkehrswege beanspruchen immer mehr Platz. Dies geht zulasten von kostbarem Boden, auf den wir dringend angewiesen sind. Flächendeckende Bodendaten legen die Basis, um unverbaute Flächen künftig besser zu schützen und die Böden als zentrale Lebens- grundlage nachhaltiger zu nutzen. Text: Lucienne Rey Mag die Erde auch an den Schuhsohlen kleben, so es sich um anderthalb Meter tiefe Gräben auf einer fällt es dank der Feuchtigkeit immerhin leichter, Fläche von rund einem Quadratmeter. «Wir achten mit dem Hohlmeisselbohrer in die Tiefe zu dringen. darauf, die Gruben in der Nähe von Wegen anzu- Die Feldaufnahmen der Bodeninformationen sind legen, damit wir mit dem Bagger nicht zu weit ins nämlich auch auf weichem Grund ziemlich schweiss- Feld fahren müssen», erläutert Martin Zürrer. treibend, zumal die Augustsonne die Szenerie Etwa 40 Bodenprofilgruben hat das Team der bescheint. Der Ingenieur-Agronom Martin Zürrer – myx GmbH auf dem rund 700 Hektaren grossen Geschäftsleiter der auf bodenkundliche Arbeiten Areal ausgehoben, für dessen Kartierung es zu- spezialisierten myx GmbH – und die Journalistin ständig ist. Ein solches Profil gestattet es, anhand stehen in der «Witi». Die weite Ebene zwischen einer präzisen Anleitung den jeweiligen Boden zu Grenchen (SO) und Solothurn stösst gegen Norden klassifizieren: Anteile von Ton, Schluff und Sand an den Jurasüdfuss und steigt im Süden zum in den verschiedenen Schichten, die in der Fach- Bucheggberg hin an. In das Grillenzirpen mischt sprache «Horizonte» heissen, sowie Kalkgehalt, sich ab und zu das Brummen der Kleinflugzeuge, Einfluss des Wassers, Gefüge, vorhandenes Ge- die den nahe gelegenen Flugplatz nutzen und sich stein – all diese und zahlreiche weitere Kriterien den Luftraum mit den Störchen aus Altreu (SO) bestimmen den Bodentyp. Damit gestatten sie teilen. Wie mit dem Lineal gezogen, verlaufen die auch Rückschlüsse auf wichtige Merkmale wie Wege im rechten Winkel zueinander, und ebenso zum Beispiel die «pflanzennutzbare Gründigkeit». akkurat angelegt sind die Äcker. Mindestens 50 Zentimeter muss sie in die Tiefe Die Kulturen hingegen weichen von der Gleich- reichen, damit ein Boden als Fruchtfolgefläche mässigkeit ab. Zuckerrüben, Soja und Mais stehen (siehe Box, S. 16) angerechnet werden kann. nahe am Weg hoch und dicht; in der Feldmitte aber Wie die Beobachtung einer Feldbeprobung zeigt, sehen die Pflänzchen kümmerlich aus. Dem Fach- gibt es bei dieser Arbeit einen gewissen Ermes- mann geben sie Hinweise auf Stellen, die allen- sensspielraum. Daher besprechen alle an einer falls stärker vernässt sind. Denn der Zustand der Erhebung der Bodeneigenschaften Beteiligten in Gewächse widerspiegelt die Beschaffenheit des mehreren Umgängen ihre Ergebnisse, um eine Erdreichs. deckungsgleiche Beurteilung sicherzustellen. «Es gibt Fragen, die immer wieder zur Sprache kom- Umfangreiche Vorarbeiten men», erzählt Anna Plotzki, die beim Amt für Den bevorstehenden Erhebungen mit dem Hand- Umwelt des Kantons Solothurn für die Boden bohrer gingen aufwendige Abklärungen voraus. kartierung zuständig ist. «Die Wasserverhältnisse Anhand von geologischen Karten, Entwässerungs- sind beispielsweise nicht immer eindeutig, sodass plänen sowie Flugaufnahmen und ersten Probe- unklar ist, ob ein Boden eher von Stau- oder bohrungen galt es, zuerst günstige Standorte für Grundwasser beziehungsweise von Hangwasser die Bodenprofilgruben auszusuchen. Dabei handelt geprägt ist.» die umwelt 1 | 22
Umweltberater und Bodenökologe Martin Zürrer entnimmt eine Bodenprobe. Bild: Kilian J. Kessler | Ex-Press | BAFU die umwelt 1 | 22
16 360° BODEN Nun also stehen wir in einem Zuckerrübenacker. Sickerwasser gebildet hat. Einige auf die Probe Für die erste Probe schraubt Martin Zürrer seinen geträufelte Tropfen Salzsäure beginnen zu schäu- Bohrstock an einer feucht schimmernden Stelle mit men und zeigen damit das Vorkommen von Kalk an. mickrigen Pflänzchen in die Tiefe. Die herausge- Der Seebodenlehm liegt jeweils gut 10 Zentimeter bohrten Erdzylinder zeigen eine obere, gräulich- tiefer als am vorgängig untersuchten Standort. In- braune und stark tonhaltige Lage, auf die ab einer folgedessen konnte das Wasser besser abfliessen, Tiefe von 40 Zentimetern ein dunkelgrauer und was der Vegetation zugutekommt. Entsprechend äusserst kompakter Horizont folgt. Er sei zunächst tiefer reicht die pflanzennutzbare Gründigkeit. ratlos gewesen, wie er dieses Material benennen Es sei spannend, anhand der Bodenbeschaffenheit solle, erzählt Martin Zürrer. Geologische Angaben die Entstehungsgeschichte der Landschaft nach- halfen weiter: Nach der letzten Eiszeit hinterliess der zuzeichnen, findet Martin Zürrer. Denn die ver- Rhonegletscher den sogenannten Solothurnersee, gleichsweise mächtige fruchtbare Bodenschicht ist von dem letzte Reste als Bieler-, Neuenburger- und auf Material zurückzuführen, das die Aare nach dem Murtensee fortbestehen. Die dichte schwärzliche Verschwinden des Solothurnersees angeschwemmt Schicht wurde demzufolge als Seebodenlehm hat. Bis zur Feldmitte vermochte der Fluss seine identifiziert. Fracht aber nicht zu transportieren, sodass sich dort die Nässe staut. Spiegel der Landschaftsentwicklung Die zwei nächsten Bohrungen folgen etwa 50 Flächendeckend informiert respektive 100 Meter weiter im Feld. Die Zucker- Die heute vorgenommenen Bohrungen dienen dazu, rüben gedeihen immer besser; allmählich streifen die Bodenbeschaffenheit an Standorten zwischen ihre sattgrünen Blätter unsere Knie, und die Pflan- den bereits analysierten Bodenprofilen zu ermitteln. zenreihen schliessen sich. Auch bei diesen Proben Auf einem Luftbild markiert Martin Zürrer die Bohr- besteht die oberste Schicht aus einem braungrauen stellen und vermerkt dazu die Codes der Boden Material mit rötlichem Schimmer. Der Fachmann eigenschaften. Aufmerksam mustert er die Vegetation, erkennt darin Spuren von Eisen, das im wechsel- denn sie gibt ihm Hinweise darauf, wo die Grenzen weisen Kontakt mit Wasser und Luft zu Rost oxidiert von Gebieten mit ähnlicher Bodenbeschaffenheit ist. Es handelt sich dabei um einen typischen Gley- verlaufen. Später werden die Angaben im Büro Boden, der sich unter dem Einfluss von Grund- und digital erfasst. Die Arbeit wird schliesslich in eine Anerkanntes Informationsbedürfnis Der im Mai 2020 vom Bundesrat beschlossene «Sachplan ment für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Fruchtfolgeflächen» zielt darauf ab, in der Schweiz so viel (UVEK) im Mai 2020 damit betraut, in Zusammenarbeit mit Kulturland zu erhalten, dass unser Land in der Lage wäre, dem Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung seine Bevölkerung im Notfall selbst zu ernähren. Jedem (WBF) ein Konzept für eine nationale Bodenkartierung zu Kanton ist ein verbindliches Kontingent an Kulturland zu- erstellen. gewiesen, das er langfristig bewahren muss – und zwar so, Der Bund, das Kompetenzzentrum Boden und die Kanto- dass dessen Qualität erhalten bleibt. ne sind aber nicht nur konzeptionell, sondern auch praktisch Überprüfen lässt sich diese «Qualitätssicherung» nur, tätig. So planen sie für die nächsten Jahre Umsetzungs- wenn verlässliche Bodeninformationen vorliegen. Allerdings projekte, welche die Möglichkeiten und Grenzen neuer – fehlen für die meisten Böden schweizweit aktuelle, nach insbesondere datengestützter – Methoden der Bodenkar- einheitlichen Kriterien erhobene Bodenkarten im erforder- tierung aufzeigen sollen. lichen Massstab. Daher hat der Bundesrat das Departe- die umwelt 1 | 22
360° BODEN 17 Karte münden, welche die Bodeninformationen des Fachmann. Dies verteuert die Bohrungen, sodass untersuchten Areals flächendeckend darstellt. «Bis am Ende weniger gebohrt werde, was zu weniger in gut 10 Jahren soll der ganze Kanton Solothurn verlässlichen Bodeninformationen führe. Mehr Po- bodenkundlich kartiert sein», bestätigt Anna Plotzki tenzial zur Unterstützung der Feldarbeit ortet der vom Amt für Umwelt. Alle Interessierten können die Bodenexperte in Langzeit-Satellitenbildreihen, bereits erhobenen Daten auf dem kantonalen Geo- deren Auflösung zurzeit noch zu grob sei, sich aber portal abfragen. Sowohl Flächendaten als auch laufend verfeinere. Allerdings gelte es, eine zu Profilstandorte lassen sich im Internet anklicken, und strenge Arbeitsteilung zwischen IT-Fachleuten es erscheinen die bodenkundlichen Informationen. einerseits und der Bodenkunde andererseits zu Diese Angaben sind vielseitig verwendbar, ins- vermeiden. Es wäre nämlich fatal, die spannende besondere für das Ausscheiden der Fruchtfolge- Auseinandersetzung mit der Boden- und Land- flächen. Von den verschiedenen Anwendungskarten schaftsentstehung an die Geoinformatik zu über- zeigt beispielsweise die Verdichtungsempfindlich- tragen und die bodenkundliche Arbeit im Gelände keitskarte, welche Böden im nassen Zustand be- zur reinen Routinearbeit verkommen zu lassen. sonderer Schonung bedürfen. Und erfordert ein «Dann wäre kaum mehr Personal für Felderhebun- grösseres Bauvorhaben einen Bodenabtrag, so weiss gen zu gewinnen», findet Martin Zürrer. man dank der vorhandenen Informationen, welche Fabio Wegmann sieht durchaus Potenzial in der Massnahmen zu ergreifen sind, um das Material Unterstützung durch Fahrzeuge, denkt aber nicht, andernorts für Bodenverbesserungen einzusetzen. dass sich die Handarbeit im Gelände ganz durch Roboter ersetzen lässt: «Auch die moderne Boden- Lohnender Aufwand kartierung braucht Fachleute, die aufgrund ihrer Aus Sicht von Fabio Wegmann von der Sektion Ausbildung und Erfahrung die Grundlagendaten Boden des BAFU sind präzise Angaben über die Be- und die Landschaft zu lesen verstehen, um so den schaffenheit des Bodens unabdingbar. «Nur was Entstehungsprozess und die Eigenschaften des man kennt, will und kann man schützen», ist er Bodens zu erkennen.» Weitere Möglichkeiten, um die überzeugt. Noch wisse unsere Gesellschaft viel zu Bodenkartierung zu beschleunigen und ihre Kos- wenig über die vielfältigen Funktionen und über die ten zu senken, sieht er unter anderem bei Arbeiten, Empfindlichkeit des Bodens. Abgesehen von seiner die im Nachgang zur Feldarbeit im Labor erfolgen. Rolle für die Landwirtschaft, hat er einen grossen Dank fortgeschrittener Sensoren können hier ge- Einfluss auf die Biodiversität. Auch seine Bedeutung wisse aufwendige chemische Analysen entfallen. für den Klimawandel ist kaum zu überschätzen: In der Solothurner «Witi» zeigt sich die Vielfalt So hat das Nationale Forschungsprogramm «Res- unseres Landes auf kleinem Raum: Ebenen mit source Boden» NFP 68 gezeigt, dass der Ausstoss fruchtbarem Ackerland lösen sich ab mit den an- von Kohlendioxid aus Torfböden in der Schweiz rund grenzenden steileren, felsig durchsetzten Hängen. 14 Prozent der von der Landwirtschaft emittierten Diese Landschaft bietet aus bodenkundlicher Sicht Treibhausgase ausmacht. allemal eine spannende Lektüre. Doch liessen sich – im Zeitalter von Robotik und künstlicher Intelligenz – Bodendaten nicht schneller und kostengünstiger erheben als von Hand? Martin Zürrer ist skeptisch. Zwar gibt es mittlerweile Fahr- zeuge für den Transport eines mit Sensoren aus- gestatteten Bohrers, der den Bohrkern scannen Link zum Artikel kann. «Diese Bohrfahrzeuge funktionieren aber nur bafu.admin.ch/magazin2022-1-03 dort, wo es nicht zu steil ist, keine Kulturen wach- sen, keine Steine im Boden sind und schon relativ Fabio Wegmann | Sektion Boden | BAFU viel über den Boden bekannt ist», erläutert der fabio.wegmann@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 22
18 360° RENDEZ-VOUS 25 Wie Vögel vor dem Stromtod bewahrt werden die umwelt 1 | 22
360° RENDEZ-VOUS 19 SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT 20 Wo das Fernweh der Schmetterlinge ergründet wird die umwelt 1 | 22
20 360° BIODIVERSITÄT Migration von Insekten Schmetterlinge mit Fernweh Weltweit begeben sich jedes Jahr Billionen von Insekten auf Wanderschaft. Erst langsam beginnt die Wissenschaft die ökologischen Zusammenhänge dieses Phänomens zu verstehen. Ein wichtiger Forschungsstandort befindet sich auf dem Col de Bretolet, wo die Schweizerische Vogelwarte seit gut 50 Jahren eine Station betreibt. Text: Mirella Wepf Ende Februar und Anfang März kehren die ersten Reise in Etappen Zugvögel aus ihren Winterquartieren im Süden Marco Thoma vom Institut für Ökologie und Evolution zurück. Der breiten Öffentlichkeit ist jedoch kaum der Universität Bern hat das Wanderverhalten des bekannt, dass im März auch Schmetterlinge wie der Admirals in den letzten Jahren untersucht. Im Herbst Admiral (Vanessa atalanta) die Alpen überqueren. fliegen Millionen dieser Wanderfalter in Richtung Dieser zarte «Sommervogel» ist relativ häufig und Südeuropa. Die Migrationsbewegung beginnt Ende dank seiner schwarzen Flügel mit orangen Streifen August – mit einem Höhepunkt gegen Ende Sep- und weissen Flecken leicht erkennbar. Im Spät- tember und Anfang Oktober. Laut Marco Thoma sommer kann man ihn oft unter Obstbäumen ent- handelt es sich dabei um die Nachkommen derje- decken, denn Fallobst gehört dann zu seinen wich- nigen Falter, die im Frühling vom Süden her kamen. tigsten Nahrungsquellen. Pflaumen und Zwetschgen Dort können die Tiere der Kälte im Norden aus- mag er besonders gern. weichen und sich im Winterquartier fortpflanzen. Insektenforscher Marco Thoma fängt Schmetterlinge auf dem Col de Bretolet. Bild: sda-ky die umwelt 1 | 22
360° BIODIVERSITÄT 21 Im darauffolgenden Frühling sind es dann wiederum Nachtfaltern, wie zum Beispiel der Gammaeule die Nachkommen der Herbstzieher, welche nach (Autographa gamma) oder des Windenschwärmers Norden aufbrechen. «Man nennt dies Generationen- (Agrius convolvuli). wanderung, weil jede Generation nur einen Teil der Reise unternimmt», erklärt der Insektenforscher. Gaukler in grosser Höhe Wie beim Vogelzug lagen die genauen Reiserouten Eine damals noch an der Universität Bern ange- der Insekten für die Wissenschaft lange im Dunkeln. siedelte Forschungsgruppe griff die Arbeit von Doch schon seit den 1960er-Jahren ist bekannt, Jacques Aubert im Jahr 2015 wieder auf. Die dass der Col de Bretolet im Unterwallis auch für «Insect Migration & Ecology Research Group» Insekten einen wichtigen Korridor bildet. Der Ge- wurde vom australischen Insektenwissenschaftler birgspass an der Grenze zwischen der Schweiz und Myles Menz sowie von Marco Thoma gegründet. dem französischen Département Haute-Savoie liegt 2016 konnten die beiden Biologen nachweisen, auf 1923 Metern über Meer. Hier werden seit 1953 dass auch Admirale den Col de Bretolet als Reise- zwischen Juli und Oktober bis zu 20 000 Vögel route nutzen und dabei mit einer Geschwindigkeit gefangen, um sie zu beringen und ihr Zugverhalten von bis zu 20 Kilometern pro Stunde fliegen. Um zu erforschen. Lanciert hat diese Forschungs dies herauszufinden, fingen sie mit einem Team von arbeiten die Organisation Nos Oiseaux. Seit 1958 rund 30 Personen auf dem benachbarten Pass leitet nun die Schweizerische Vogelwarte die Be- Col de la Croix rund 5000 Admirale ein und mar- ringungsstation. Vögel und Insekten nutzen auch kierten sie. Auf dem Col de Bretolet versuchten sie andere Pässe, aber auf dem Col de Bretolet steht die ausgesetzten Schmetterlinge dann mit Erfolg den Forschenden dank der Netze und Unterkünfte wieder einzufangen. Doch einfach war diese Auf- die nötige Infrastruktur für ihre Untersuchungen zur gabe nicht: «Den Fang eines markierten Insekts Verfügung. feierten wir jeweils wie einen Lottogewinn!», erinnert sich Myles Menz. Radar und Internetportale Anders als Jacques Aubert, der seinerzeit Schweb- «Den Fang eines markierten fliegen markierte, um mehr über ihr Zugverhalten Insekts feierten wir jeweils zu erfahren, arbeiten Forscherinnen und Forscher heute manchmal auch mit speziell entwickelten wie einen Lottogewinn!» Radargeräten. Marco Thoma wählte für seine Ar- Myles Menz | Insektenforscher beit noch eine weitere Forschungsmethode: Citizen Science. Er rief Interessierte dazu auf, ihm über geeignete Online-Portale sämtliche Beobachtun- gen von Admiralen – sei es als Falter, Raupen oder Eier – zu melden. Dafür arbeitete er mit mehr als Der 1995 verstorbene Insektenforscher Jacques 40 Meldestellen in 21 Ländern zusammen. Für Aubert, der in Lausanne früher das kantonale Beobachtungen aus der Schweiz waren dies das Zoologie-Museum leitete, erfuhr von Ornithologen, Portal von info fauna, ornitho.ch der Schweizeri- dass sie auf dem Bretolet-Pass auch deutlich sicht- schen Vogelwarte und die App NaturaList von bare Insektenwanderungen beobachten konnten. Biolovision. Nach ersten Vorstudien liess er dort eine Beo- Diese Datensammlung ermöglicht es, die Wander- bachtungshütte bauen und führte während fast bewegungen des Admirals in bislang nicht gekannter 16 Jahren Forschungsprojekte durch. Er konzen Auflösung über weite Teile Europas zu verfolgen. trierte sich dabei vor allem auf das Migrations- Zudem lässt sich das Vorkommen dieser Schmetter- verhalten von Schwebfliegen (Syrphidae) und lingsart in Abhängigkeit der Umweltbedingungen die umwelt 1 | 22
22 360° BIODIVERSITÄT untersuchen. Insgesamt sind Marco Thoma mehr als Deutlicher Rückgang von Schwebfliegen eine halbe Million Meldungen übermittelt worden – Der Biologe hat sich in seinen Forschungsarbeiten zusammengetragen von Tausenden Beobachterin- vor allem auf Schwebfliegen konzentriert. Diese nen und Beobachtern. «Die gesammelten Daten Zweiflügler sind nebst den Bienen die zweitwich- zeigen eine klare Nord-Süd-Bewegung der Admi- tigsten Bestäuber von Pflanzen. Eine im Frühling rale innerhalb Europas mit Anzeichen, dass Skan- 2020 publizierte Untersuchung über die Befruchtung dinavien im Frühling sprunghaft besiedelt wird», von 105 weltweit relevanten Nahrungspflanzen zieht Marco Thoma eine erste Zwischenbilanz. zeigt, dass Schwebfliegen mehr als die Hälfte da- Ausserdem zeichne sich im Vergleich zu Daten aus von besuchen und damit als Befruchter einen Wert den 1990er-Jahren eine Verschiebung der Über- von über 300 Milliarden Dollar pro Jahr generieren. winterungsgrenze nach Norden ab. «Es ist nahe- liegend, dass dies mit höheren Wintertemperaturen in Verbindung steht» erklärt der Insektenforscher. Eine umfassende Analyse dazu ist allerdings bis- lang noch nicht erfolgt. Einen speziellen Rekord verzeichnete gemäss Marco Thoma übrigens ein Insgesamt sind Marco Thoma mehr Admiral, der auf seiner Reise den Gipfel der Jung- als eine halbe Million Meldungen frau in einer Höhe von 4000 Metern überflog. übermittelt worden – zusammen- Distelfalter schlägt Monarch getragen von Tausenden freiwilligen Ebenfalls als rekordverdächtiger Langstreckenzieher Beobachterinnen und Beobachtern. gilt der Distelfalter (Vanessa cardui). Anders als der Admiral – sein naher Verwandter – ist er auf dem Col de Bretolet jedoch selten zu beobachten: Der Distelfalter zieht von Skandinavien bis in die Win- terquartiere südlich der Sahara. Dabei legt die Schmetterlingsart mehr Kilometer zurück als der Insgesamt gibt es rund 6000 bekannte Schweb- weltbekannte Amerikanische Monarch (Danaus fliegenarten. In der Schweiz kommen etwa 450 vor; plexippus). Auch Distelfalter reisen in mehreren ein Dutzend davon zählt zu den migrierenden Arten Generationen. Auf ihrer Route scheinen sie die Alpen – so etwa die Mistbiene (Eristalis tenax) oder die mehrheitlich eher links und rechts zu umfliegen – Hainschwebfliege (Episyrphus balteatus). Auf dem eine Strategie, die auch bei manchen Vogelarten zu Col de Bretolet fängt Myles Menz die Schwebfliegen beobachten ist. Um die Routen der Distelfalter zu unter anderem mit einem selbst gebauten Fangzelt ergründen, haben internationale Forschungsteams von rund zwei Metern Höhe und vier Metern Breite. die Flügel und Gewebe der Schmetterlinge auf Es handelt sich dabei um eine Rekonstruktion der Wasserstoff-Isotope untersucht. Deren Zusammen- Falle von Jacques Aubert. Vergleicht man die An- setzung zeigt an, in welchem Gebiet ein Insekt zahl der gefangenen Insekten von damals mit den aufgewachsen ist. aktuellen Zählungen, so zeigt sich, dass heutzutage Vom Distelfalter weiss man mittlerweile, dass er deutlich weniger Schwebfliegen in die Falle gehen. über einen inneren Sonnenkompass verfügt. Dies «Dies ist vermutlich auf die Intensivierung der Land- gilt vermutlich auch für andere tagaktive Arten. wirtschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren zu- «Nachtfalter orientieren sich vermutlich eher am rückzuführen», mutmasst Myles Menz. Aktuellere Magnetfeld der Erde und an visuellen Reizen – wie Datenreihen, die er selbst und andere Schweb etwa der Horizontlinie», erklärt Myles Menz. Die fliegenforschende in den letzten Jahren erhoben Erforschung des Orientierungssinns von Insekten haben, deuteten aber glücklicherweise darauf hin, stehe allerdings noch ganz am Anfang. dass die Population derzeit nicht weiter zurückgehe. die umwelt 1 | 22
Forscher Myles Menz bei seiner Insektenfalle auf dem Col de Bretolet. Bild: Mirella Wepf Mit Filzstift markierter Admiral. Bild: sda-ky Fangstation auf dem Col de Bretolet. Bild: Christian Marti die umwelt 1 | 22
24 360° BIODIVERSITÄT Langfristige Trends der Biodiversität aufzeigen Das BAFU ist gesetzlich verpflichtet, die landesweite und Tierarten erhoben. Der Fokus liegt dabei nicht in erster Entwicklung der Biodiversität zu beobachten. Zu diesem Linie auf Naturschutzgebieten, sondern auf der Entwicklung Zweck lancierte das Amt 2001 das Programm Biodiversi- von häufigen und verbreiteten Landschaften, in denen ein tätsmonitoring Schweiz (BDM). Das BDM ist ein lang- Grossteil unserer Bevölkerung lebt. fristiges Umweltbeobachtungsprojekt, vergleichbar mit dem Im Bereich Insekten werden Tagfalter und Gewässer- Landesforstinventar (LFI), der Nationalen Daueruntersu- insekten wie Steinfliegen, Köcherfliegen und Eintagsfliegen chung der Fliessgewässer (NADUF) oder der Nationalen genauer beobachtet. Die regelmässigen Erhebungen zeigen Bodenbeobachtung (NABO). insbesondere im Mittelland grosse Defizite. Zudem besteht Auf einem dichten Netz an vordefinierten Stichproben- eine Tendenz zur Vereinheitlichung der natürlichen Lebens- flächen wird im Rahmen des BDM schweizweit die langfris- räume, was einem Verlust an biologischer Vielfalt gleich- tige Entwicklung der Artenvielfalt ausgewählter Pflanzen- kommt. Nährstoff- und Pollentransport arten und der Totenkopfschwärmer (Acherontia Gemeinsam mit einem internationalen Forschungs- atropos)», sagt Myles Menz. Letzterer ist ein sel- team hat Myles Menz 2019 mithilfe von Radar- tener Nachtfalter, der sich mit Vorliebe von Honig monitorings aufgezeigt, dass jedes Jahr bis zu vier ernährt und bei Bedrohung laute quietschende Milliarden Schwebfliegen zwischen Grossbritannien Töne von sich gibt. Bekannt geworden ist das fast und dem europäischen Kontinent hin- und herpen- handtellergrosse Tier durch den Oscar-gekrönten deln. Die Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass Hollywood-Thriller «Das Schweigen der Lämmer». sich mit jeder dieser Reisen auch tonnenweise Über seine Lebensweise im wahren Leben weiss Nährstoffe hin- und herbewegen, und dass die Tiere man indes noch längst nicht alles. dabei Milliarden von Pollenkörnern transportieren. Die ökologischen Zusammenhänge dieser beein- druckenden Leistung sind noch nicht abschliessend geklärt. «Wir arbeiten im Moment daran, entspre- chende Zahlen für die Schweiz zu ermitteln», erklärt Myles Menz. Im Winter 2021 kehrte der Wissenschaftler wegen eines Jobangebots an der James-Cook-Universität in Queensland nach Australien zurück. Er will die Forschungsarbeiten auf dem Bretolet-Pass jedoch fortführen. «Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Insek- tenbeobachtung auf dem Col de Bretolet als Er- gänzung zum allgemeinen Biodiversitätsmonitoring in der Schweiz weiterzuführen», meint Jan von Rönn, der die Beringungszentrale der Schweizerischen Vogelwarte leitet. «Die Vogelwarte würde ein sol- ches Vorhaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerne unterstützen.» Link zum Artikel Zu entdecken gäbe es auf dem Col de Bretolet mit bafu.admin.ch/magazin2022-1-04 Bestimmtheit noch einiges. «Wir wissen, dass hier unter anderem jedes Jahr Tausende von Winden- Claudio de Sassi | Sektion Biodiversitätspolitik | BAFU schwärmern vorbeiziehen, ebenso einige Libellen- claudio.de-sassi@bafu.admin.ch die umwelt 1 | 22
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