Von Chemie umgeben - Natürliche Ressourcen in der Schweiz - Wie Chemikalien unser Leben prägen und ihre Risiken gemindert werden - BAFU
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4 | 2018 Natürliche Ressourcen in der Schweiz Von Chemie umgeben Wie Chemikalien unser Leben prägen und ihre Risiken gemindert werden
2 EDITORIAL Wissen, wie mit Risiken umgehen Täglich nutzen wir eine breite Palette von Produkten, für deren Herstellung entweder Chemikalien verwendet werden oder die solche enthalten: Computerchips, Mobiltelefone, Kunststoffe, Farben und Lacke, Textilien und Bekleidung, Klebstoffe, Wasch- und Reini- gungsmittel oder Kosmetika, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Unser hoher Lebens- standard wäre ohne Chemikalien nicht möglich. Chemikalien bieten einerseits Chancen für nachhaltige Lösungen zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse. Sie können aber auch gesundheitliche und ökologische Risiken bergen – bestehende, mit denen wir umzugehen gelernt haben, und solche, von denen wir noch gar nichts wissen. Damit Stoffe ohne Schaden für die menschliche Gesundheit und die Umwelt genutzt werden können, hat der Bund gesetzliche Vorschriften erlassen. Bild: zVg Die schweizerische chemisch-pharmazeutische Industrie ist eine international ausgerich- tete Exportindustrie und zählt zu den bedeutendsten Industriebranchen für die hiesige Wirtschaft. Die von ihr entwickelten und produzierten Chemikalien werden über vernetz- te Lieferketten weltweit gehandelt. Deshalb hat unser Land in Bezug auf die Sicherheitsan- forderungen auch eine grosse Verantwortung. Um dies zu gewährleisten, haben die an der Umsetzung der Schweizer Chemikalienpolitik beteiligten Bundesstellen gemeinsam eine «Strategie Chemikaliensicherheit» formuliert. Grundlage dieser Strategie ist eine Vision: Die Stoffe sollen während ihres gesamten Lebenszyklus keine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit von Menschen haben. Dies lässt sich aber nur errei- chen, wenn sich Industrie, Lehr- und Forschungsinstitutionen, Konsumenten und Konsu- mentinnen sowie Behörden in ihren Bereichen gleichermassen engagieren und ihre Beiträge zur Weiterentwicklung der Chemikaliensicherheit leisten. Chemikalien dürfen nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie hinsichtlich physika- lisch-chemischer, toxikologischer und ökotoxikologischer Eigenschaften geprüft und für die vorgesehenen Verwendungen als «sicher» für Menschen und Umwelt beurteilt worden sind. Die Verantwortung dafür liegt meistens bei den Herstellerfirmen; einzig bei Biozidprodukten und Pflanzenschutzmitteln entscheiden die Bundesbehörden über die Zulassung. Substanzen mit Risiken für Gesundheit oder Umwelt müssen, wo immer möglich, durch risikoärmere Alternativen ersetzt werden. Unternehmen und Personen, die Chemikalien verwenden, müssen vom Lieferanten die erforderlichen Informationen erhalten und über die nötigen Kenntnisse verfügen, die es für einen sicheren Umgang damit braucht. Sie sollen sich aber auch ihrer eigenen Verantwortung bewusst sein. Paul Steffen | Vizedirektor BAFU die umwelt 4 | 18
INHALTSVERZEICHNIS 3 Dossier 360° CHEMIKALIEN 9 Wie Mensch und Umwelt 44 Konsum geschützt werden Leben für drei Erden 14 Wie ein Abkommen 48 Abfallwirtschaft die Ozonschicht rettete Digitale Grenzkontrollen 16 Was eine Babuschka mit Sicherheit 52 Biotechnologie zu tun hat Mit Gentechnik Malaria bekämpfen 21 Wie man Biozide sinnvoll einsetzt 56 Naturgefahren Hilfe gegen unterschätzte Wassergefahr 24 Wie sich Behörden und Wirtschaft verständigen 59 Gewässerschutz Mit Plaketten gegen Fischsterben 30 Was die grüne Chemie bewirkt 33 Wie Problemstoffe verschwinden 37 Was die Forschung beiträgt RENDEZ-VOUS 4 Tipps 6 Bildung 7 Unterwegs 40 Vor Ort 42 International 43 Recht 62 Aus dem BAFU 62 Impressum 63 Meine Natur 64 Vorschau GRATIS ABONNIEREN FACEBOOK-FANPAGE www.bafu.admin.ch/ www.facebook.com/ Bild: Key leserservice UmweltMag Die Menschen wollen die Vorteile von wasserundurchlässigen Textilien KONTAKT TITELBILD nutzen. Für deren Herstellung werden aber teilweise toxische und sehr magazin@bafu.admin.ch Ein Wanderer auf dem langlebige Stoffe eingesetzt, die in die Umwelt gelangen können. Auf Schwirengrat blickt zum den Seiten des Dossiers finden sich Bilder zum Lebenszyklus von IM INTERNET wolkenverhangenen Chemikalien (von der Forschung bis zur Entsorgung). www.bafu.admin.ch/ Oberbauenstock. magazin die umwelt 4 | 18
4 360° RENDEZ-VOUS Tipps Verschwende nicht meine Energie «Don’t waste my energy!» Unter diesem Motto publizieren Lernende aus der Schweiz und dem Ausland ihre Umweltprojekte auf der Website save-energy.tips. Etwa zu folgenden Fragen: Könnten weggeworfene Lebens- mittel die Zürcher Bevölkerung ernähren? Wie wirkt biologischer Anbau auf türkische Schüler in Izmir? Den Projekten zugrunde liegt das Konzept «The horse», eine orts- und geräteübergreifende, einfach gehaltene webbasierte Arbeitsumgebung mit individuellen Accounts. Sie wird ergänzt durch die öffentlich zugängliche Web- site mit den Projektresultaten. Lernende erstellen Videos, Interviews und Um- fragen, dabei werden Recherche-, Medien- und Teamkompetenzen sowie die Kreativität gefördert. teachingweb.org, save-energy.tips Bild: zVg Wie schmeckt E104? Auf Kurs! Die neuste Flora Wer zu einem abgepack- ie Kantone Glarus, D ie «Flora Helveti- D ten Lebensmittel greift, Schwyz, St. Gallen und ca»-App enthält Artpor- liest im Kleingedruckten Zürich haben gemeinsam träts von mehr als 3000 Auf Kurs von den E-Nummern. die App «Auf Kurs» für den in der Schweiz wachsen- E104? Was bedeutet das? Wer genau Zürichsee, den Linthkanal und den den Pflanzen. Mithilfe von zwei ver- wissen will, mit welchen Stoffen er es Walensee entwickelt. Wassersportle- schiedenen Methoden lassen sich die zu tun hat und ob sie gar schädlich rinnen oder Touristen können zum Pflanzen bestimmen. 2018 wurden alle sind, kann sich die App «E-Num- Beispiel ihre aktuelle Position auf der Artporträts entsprechend der neusten mern-Finder» herunterladen. Dort Karte und ihre Geschwindigkeit ermit- Auflage der Flora Helvetica (Lauber, erfährt er oder sie nach Eingabe der teln und sich über Häfen, Anlegestel- Wagner & Gygax, 2018) und sämt- Nummer alles Wissenswerte. E104 ist len, Regeln, Signale oder Ufersperr- liche Verbreitungskarten und -daten übrigens ein synthetischer Farbstoff und Sportverbotszonen informieren. aktualisiert. (Chinolingelb). Insbesondere Letzteres trägt zu einem sorgsamen Umgang mit der Natur bei. CHF 100.– (mit verschiedenen Zusatz- Gratis, für Android und iPhone paketen), für Android und iPhone, flora-helvetica.ch Gratis, für Android und iPhone; Download: stva.zh.ch > Suche «Auf Kurs» Intelligente Bäume Können Bäume tatsächlich miteinander sprechen? Ist es wahr, dass Mutter- bäume sich liebevoll um ihre Kinder und um alte und kranke Nachbarn kümmern? Gibt es so etwas wie Freundschaft unter Bäumen? Leben die Bäume eines Waldes in einer funktionierenden Gemeinschaft, die sich zusammen gegen Angreifer stellt und sie erfolgreich verjagt? Die kanadische Forstwissenschaftlerin Dr. Suzanne Simard (The University of British Columbia) und der Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben haben die Sprache der Bäume untersucht – und dabei durchaus erstaunliche Entde- ckungen gemacht. Der Dokumentarfilm kann auf DVD gekauft und auf verschie- denen Plattformen gestreamt und heruntergeladen werden. Bild: zVg. intelligent-trees.com, in E und D, Preis beim Kauf: CHF 15.– die umwelt 4 | 18
360° RENDEZ-VOUS 5 Wo das Wild ruht Die Patenschaft Füttern im Winter? Für viele Skifahrer oder Snowboar Das Füttern von Vögeln im Winter ist derinnen ist es der ultimative Genuss, beliebt. Doch ist dieser Eingriff in die Kurven durch jungfräuliche Hänge Natur aus naturschützerischer Sicht zu ziehen. Sie geraten dabei schnell auch sinnvoll? Vogelarten, die den in Konflikt mit Wildtieren, die gerade Winter in der Schweiz verbringen, sind im Winter durch Störungen viel eigentlich gut an die Verhältnisse in Energie verlieren. Auf der Seite Bild: zVg unseren Breitengraden angepasst. wildruhezonen.ch des BAFU gibt Die Schweizerische Vogelwarte Sem- es Informationen zum Thema pach hat ein Merkblatt dazu verfasst. (u. a. Rechtsgrundlagen) und einen Sicher ist: Bei Dauerfrost, Eisregen aktuellen Überblick über die Wild oder geschlossener Schneedecke ruhezonen. kann die Fütterung eine Überlebens- hilfe sein. wildruhezonen.ch vogelwarte.ch > Suche: Füttern im Winter Bild: zVg. Hotspot Furka Auch über 2300 m Höhe liegt in der Vogel-Knigge Schweiz ein enormer Reichtum an Le- ben. Diese Vielfalt ist wichtig, da sie unter anderem steile Hänge vor Ero- Bild: IGSU sion sichert. In einer neuen Publikation haben rund 50 Expertinnen und Ex- perten im Gebiet des Furkapasses die Littering wird zwar intensiv be- Biodiversität der Flora und Fauna ge- kämpft, ist aber nach wie vor ein naustens dokumentiert und damit ein Problem. Es führt zu erhöhten Rei- zeitloses Inventar geschaffen. Das nigungskosten und schadet der Le- Projekt wurde vom BAFU unterstützt. bensqualität und dem Ruf eines Or- tes. Um die Situation zu verbessern, Download und Bestellung: alpfor.ch können Gemeinden oder Schulen Raumpatenschafts-Projekte orga- nisieren. Innerhalb des Projekts übernehmen sogenannte Raumpa- Bild: Markus Forte | Ex-Press | BAFU ten (Einzelpersonen oder Gruppen) Neue Gesamtschau die Verantwortung für ein festge- legtes Gebiet, das sie regelmässig Vögel zu beobachten ist faszinierend. Immer mehr Leute beschäftigen sich Der neue Brutvogelatlas (2013–2016) säubern. Die Massnahme ist kos- in ihrer Freizeit damit. Das birgt aber der Schweizerischen Vogelwarte Sem- tengünstig und entlastet den Reini- auch Gefahren: Je mehr Menschen in pach ist da: In vier Jahren haben mehr gungsdienst. der Natur unterwegs sind, desto wich- als 3000 Vogelkundlerinnen und Vo- Mit dem Instrument «My Raum- tiger ist es, dass sich alle verantwor- gelkundler während knapp 35 000 patenschaft» bietet die IG Saubere tungsvoll verhalten. Das Wohl der Stunden 215 Brutvogelarten entdeckt Umwelt (IGSU) Schulen oder Ge- Vögel und die Erhaltung der Natur und dabei zu Fuss über 400 000 km meinden eine kostenlose Organisa- sollten immer an erster Stelle stehen. zurückgelegt. Daraus ergibt sich eine tionshilfe für solche Patenschaften. Deshalb haben BirdLife Schweiz und aktualisierte Gesamtschau zur Lage Auf der Seite kann man sich auch die Schweizerische Vogelwarte Sem- der Vogelwelt in der Schweiz und damit als Raumpate melden. Das Angebot pach einen Verhaltenskodex formuliert, indirekt auch zum Zustand ihrer Le- wird vom BAFU unterstützt. der als Merkblatt erhältlich ist. bensräume. www.raumpatenschaft.ch Kostenloser Download: atlas.vogelwarte.ch www.birdlife.ch/ratgeber (D) die umwelt 4 | 18
6 360° RENDEZ-VOUS Bildung Was wirkt? Was macht gute Unterrichtsmateria - lien aus? Worauf sollte man bei deren Ausarbeitung achten? Am 15. Januar 2019 (9.30 bis 16.00 Uhr) findet die Veranstaltung «Qualität und Wirkung in der Umweltbildung» der Fachkonferenz Umweltbildung in Solothurn statt. Sie steht allen Interessierten offen. Bild: Linie-e www.education21.ch/de/fub-cee Wasser und Energie erleben Strom, Wärme und Trinkwasser sind für uns so selbstverständlich, dass wir uns kaum eingehend damit beschäftigen. Welche Infrastruktur dafür nötig ist, wissen die wenigs- Alles über Abfall ten. Die Besucherplattform Linie-e vom Verein Energie Zukunft Schweiz öffnet deshalb Eine umfassende Diplomweiterbildung in die Türen von 20 Energie- und Trinkwasseranlagen für Firmen, Vereine und Schulklas- der Abfallwirtschaft? Inputs für Optimie- sen, um die Bevölkerung für einen bewussten Energie- und Wasserkonsum zu sensi- rungen in der eigenen Organisation? Eine bilisieren. «Wir bieten spannende Einblicke hinter die Kulissen von regionalen Energie- hilfreiche Wissensbasis für Neu- oder und Wasserversorgern. Das authentische Erlebnis vor Ort steht dabei im Mittelpunkt», Quereinsteiger? Die Weiterbildungen der erklärt Corinne Gasser von Energie Zukunft Schweiz. Die Führungen werden in den Allianz Abfallkurse vermitteln den gegen- Regionen Basel, Olten, Solothurn und Zug angeboten. Zusätzlich zu den Führungen wärtigen Stand der Technik in der Abfall- bietet die Linie-e Schulmodule für das Klassenzimmer. wirtschaft und richten sich sowohl an Mitarbeitende wie an Leiterinnen und Preise, Angebote und Anmeldung: linie-e.ch Leiter von kommunalen oder betrieblichen Sammelstellen. Die Kurse werden im Auf- trag des BAFU angeboten und erfüllen die Anforderungen und Auflagen der neu- en Verordnung über die Vermeidung und Bilanz einer Jacke Voll Holz die Entsorgung von Abfällen (VVEA) im Bereich der Sammelstellen. Wo eine Winterjacke kaufen? Sich via Schülerinnen und Schüler üben den Am 9. Januar 2019 startet der 12-tägi- Internet verschiedene Modelle bestel- Umgang mit Forschungsutensilien, ge Diplomkurs Leitung Abfall und Recy- len und dann zu Hause auswählen? protokollieren ihre Erkenntnisse und cling, der Leitende von Sammelstellen in Oder direkt in ein Geschäft gehen? können Zusammenhänge erklären: 6 praxisorientierten Modulen ausbildet. Vor allem: Welche der beiden Ein- «Voll Holz» ist ein auf dem Lehrplan21 Behandelt werden zum einen massge- kaufsstrategien erhöht die Chance, basierendes Schulprogramm (4. bis bende Prozesse für das Tagesgeschäft dass es im Winter auch Schnee gibt? 6. Klasse), bei dem die Kinder Holz als sowie die Bereiche Arbeitssicherheit und Mit dem Mystery «Online-Shopping, nachwachsende und regionale Res- Personalplanung. Zum anderen werden Energie und Klimawandel» gehen Ju- source entdecken. Das halbtägige strategisch wichtige Faktoren themati- gendliche (ab 10 Jahren) der Frage Modul wird von einer Waldfachperson siert, welche für den langfristigen Betrieb nach, wie (Online-)Shopping Energie- durchgeführt, die Teilnahme ist für entscheidend sind. verbrauch und Umwelt beeinflusst. Schulklassen kostenlos. Angeboten wird es derzeit nur in der Region Basel. Nächster Diplomkurs: 9. Januar – 8. Mai 2019, Gratis-Download und Bestellung: 12 Tage, Ort: Zug, Kosten: CHF 5850.– inkl. Kurs éducation21.ch > Suche: «Mystery Online- www.bl.ch/waldmobil; Anfragen aus ande- unterlagen und Zwischenverpflegung; Infos und Shopping, Energie und Klimawandel» ren Kantonen: milena.conzetti@bluewin.ch Anmeldung: abfallkurse.ch die umwelt 4 | 18
360° RENDEZ-VOUS 7 Unterwegs Überreste des Canal d’Entreroches, der das Mittelmeer mit der Nordsee verbinden sollte. Bild: Christian Kleis Auf den Spuren eines verrückten Traums Der Canal d’Entreroches sollte das Mittelmeer Um ein genaueres Bild des verrückten Unterfangens zu via Rhone, Aare und Rhein mit der Nordsee erlangen, lohnen sich der Gang zum Haus des Schleu- verbinden. Die Wanderung von Eclépens senwärters und ein Halt unter der gigantischen Linde über den Hügelzug Mormont nach La Sarraz über der Ebene von Orbe. Von hier aus kann man den in der Waadt folgt den Spuren des paneuro- alten Verlauf des Kanals leicht erahnen. Wo sich einst päischen Traums aus dem 17. Jahrhundert. ein grosses Moor ausbreitete, wurden die Torfböden von Text: Cornélia Mühlberger de Preux Entreroches zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgebeutet und ab den 1930er-Jahren als Kulturland genutzt. Vom Bahnhof Eclépens (VD) folgen wir den Wanderweg- Für den Weg zum Mormont kehren wir an die weisern und gelangen in rund 10 Minuten zum Canal Weggabelung zurück, die uns zuvor in Kanalnähe d’Entreroches. Von dem einstigen Mammutprojekt, das führte. Diesmal steigen wir jedoch links hinauf. Zuerst eine schiffbare Verbindung von der Nordsee zum Mittel- queren wir Wald und weite Felder, kommen dann zu meer – oder genauer gesagt zwischen Rhein und Rhone – einem verlassenen Hof, erreichen wieder den Wald und vorsah, sind nur noch wenige Relikte übriggeblieben. schliesslich die Spitze des Hügels, wo einst eine keltische Wir gehen durch eine von wilder Natur und hohen Kultstätte stand. Bäumen bewachsene Klus. Das Ambiente mutet ge- Der Weg zurück nach Eclépens führt entlang eines heimnisvoll an, da und dort zeugen noch vermooste grossen Steinbruchs, der das Holcim-Zementwerk Mauerstücke vom alten paneuropäischen Traum. Schon vor Ort mit Kalk versorgt. Der Rundgang dauert bald wird unsere Neugier durch eine kleine Freiluftaus- rund 2 ½ Stunden. Wer weiter nach La Sarraz wandert, stellung zur Geschichte des Kanals gestillt. Dieses aus braucht etwa 15 Minuten länger, wird aber mit dem sergewöhnliche Abenteuer nahm im Jahr 1635 seinen Blick auf einen wunderschönen Rebberg und das Anfang und endete 1829 mit der Ankunft der Eisenbahn Schloss belohnt. in der Region. Heute gilt der Abschnitt als historisches Denkmal. morges-tourisme.ch/de/V199/eclepens-canal-d-entreroches die umwelt 4 | 18
DESIGN UND FORSCHUNG Hydrofluorolefine (Bild) wurden als Ersatz für die ozonschichtabbauenden und treibhauswirksamen Kältemittel ent- wickelt. Jedoch sind auch sie aufgrund ihrer Abbauprodukte nicht unproble matisch für die Umwelt. Daher sind eine Risikobeurteilung und das Monitoring in der Umwelt essenziell. Mehr dazu im Artikel auf Seite 14. Bild: Yves Roth | Ex-Press | BAFU
DOSSIER CHEMIK ALIEN 9 Integrale Strategie Mehr Sicherheit und weniger Risiko für Mensch und Umwelt Chemikalien sind aus unserem Leben nicht wegzudenken. Aber sie bergen auch Risiken. Gefährdungen, die von industriell hergestellten chemischen Stoffen ausgehen können, zeigen sich mitunter erst im Nachhinein. Mit einer integralen Strategie zur Chemikaliensicherheit will der Bund Mensch und Umwelt schützen. Text: Kaspar Meuli Mehr als 10 000 Schweizer Schulklassen haben sich Produkte wie Biozide und Pflanzenschutzmittel, in den letzten Jahren Flaschen aus dem Putzschrank deren Wirkung auf Lebewesen in der Umwelt be- ganz genau angesehen. Nicht die Vorderseite mit absichtigt ist. Sie sollen so eingesetzt werden, «dass den klingenden Namen, sondern die Rückseite mit (möglichst) keine schädlichen Nebenwirkungen den Produkteinformationen. Zum Beispiel einen auftreten». «Superreiniger mit Activ-Power» für verschmutzte Backöfen. Auf solchen Produkten sind seit spätes- Jährlich 400 Millionen Tonnen Chemikalien tens 2017 neue Gefahrensymbole zu sehen. Im Fall des Backofenreinigers ein Ausrufezeichen und ein Wie allgegenwärtig chemische Produkte und verendeter Fisch. Die Symbole warnen vor Gefahren Technologien sind, belegen Zahlen wie diese: für die menschliche Gesundheit und der Schädi- 1930 wurden weltweit 1 Million Tonnen Chemi gung von Wasserlebewesen. Die Schullektion ist kalien hergestellt, heute sind es 400 Millionen Teil einer Kampagne zum verantwortungsvollen Tonnen jährlich. Oder: In Europa werden mehr als Umgang mit chemischen Produkten im Alltag, mit 21 000 chemische Stoffe in Mengen über 1 Tonne der verschiedene Bundesämter in den vergangenen pro Jahr auf den Markt gebracht – und laufend kom- Jahren über die neue Gefahrenkennzeichnung für men neue dazu. Aus diesen Stoffen wird eine schier chemische Produkte GHS informiert haben. Initiiert unüberblickbare Fülle unterschiedlichster Produkte wurde das «Globally Harmonized System» von der fabriziert. Auch wenn uns das oft nicht bewusst UNO. ist, prägen Chemikalien alle Bereiche unseres Le- Die Bekanntmachung der neuen Gefahrensymbo- bens und stellen eine Grundlage für unseren hohen le fügt sich in die «Strategie Chemikaliensicherheit» Lebensstandard dar. Doch ihr Potenzial ist noch ein, die das BAFU, das Bundesamt für Gesundheit längst nicht ausgeschöpft. Die Energiewende etwa (BAG) und das Staatssekretariat für Wirtschaft ist ohne chemische Innovationen nicht denkbar: (SECO) gemeinsam erarbeitet haben. «Diese Stra- Das reicht von der Herstellung effizienterer Batte- tegie verfolgt eine Vision», sagt Martin Schiess, rien über die Entwicklung synthetischer Treibstoffe Chef der Abteilung Luftreinhaltung und Chemika- aus CO2 oder aus erneuerbaren Rohstoffen bis zur lien beim BAFU. «Ziel ist, dass sich Chemikalien Produktion von Solarzellen und zum Bau energie- während ihres ganzen Lebenszyklus nicht mehr sparender Häuser. schädlich auf die Umwelt und die Gesundheit von Die Schweizer Chemie- und Pharmabranche Menschen auswirken.» Es gibt aber auch chemische spielt bei der Entwicklung und Herstellung von die umwelt 4 | 18
10 DOSSIER CHEMIK ALIEN Chemikalien traditionell eine wichtige Rolle. Ne- gesundheitsschädigend. PBT-Stoffe verursachen ben der starken Position in den Bereichen Pharma- vielfältige Schädigungen. Sie beeinflussen das Im- zeutika, Diagnostika und Vitamine wird auch bei mun-, Nerven- und Hormonsystem, führen zur Stö- Agrochemikalien, Aroma- und Riechstoffen sowie rung von Fruchtbarkeit und Fortpflanzungsfähig- Feinchemikalien eine Ausrichtung auf Produkte keit oder verursachen Krebs. Kommt dazu, dass sie mit hoher Wertschöpfung angestrebt. Und dies mit sich entlang von Nahrungsketten anreichern. Tiere grossem Erfolg. Die miteinander verwandten Be- an deren Ende, wie etwa Greifvögel, Raubfische und reiche Chemie, Pharma und Biotech stehen bei den Raubtiere, sind mit den höchsten Konzentrationen schweizerischen Exporten «unangefochten an der belastet. Spitze», wie ihr Wirtschaftsverband scienceindust- Ähnlich negative Folgen haben langlebige, organi- ries schreibt. Zusammen sind sie für 45 Prozent der sche Schadstoffe, die über weite Strecken transpor- Ausfuhren verantwortlich und exportierten 2017 tiert werden können, sogenannte persistent organic Waren im Wert von über 98 Milliarden Franken. pollutants (POP). Ein internationales Abkommen, das Stockholmer Übereinkommen, hat zum Ziel, Vergiftungen: 10 000 Anfragen diese Stoffe langfristig weltweit aus der Produk- tion zu eliminieren und Einträge in die Umwelt So viel zu den Sonnenseiten. Die Schattenseiten: zu minimieren. Diese Übereinkunft ist nur eine Chemikalien bergen Gefahren für Mensch und von zahlreichen Bemühungen der internationalen Umwelt. Bestimmte chemische Stoffe können zum Staatengemeinschaft, globale Probleme mit Chemi- Beispiel den Zustand von Gewässern ernsthaft und kalien gemeinsam anzugehen. «Die Schweiz spielt langfristig beeinträchtigen oder die menschliche bei der Weiterentwicklung dieser Abkommen eine Gesundheit schädigen. sehr aktive Rolle», sagt Felix Wertli, Chef der Sek- tion Globales beim BAFU. «Wir setzen uns für ein umfassendes und effizientes internationales Che- «Auch Konsumentinnen und Konsu- mikalienregime ein.» Die Schweizer Gesetzgebung menten können umweltfreundlichen orientiert sich aktuell an derjenigen der EU, der Schrittmacherin in Sachen Chemikalienregulie- Lösungen zum Erfolg verhelfen.» rung, setzt aber auch Vorgaben aus internationalen Abkommen um. Martin Schiess | BAFU Neue Erkenntnisse Tox Info Suisse, die nationale Informationsstelle für Vergiftungsfälle, beantwortet jährlich über 10 000 Das Chemikalienrecht wird nicht nur international Anfragen zu im Haushalt und in der Arbeitswelt weiterentwickelt. Auch in der Schweiz wird es lau- genutzten Produkten. Da es keine Meldepflicht von fend angepasst und wurde im Verlauf der Zeit deut- Vergiftungen gibt, dürfte die tatsächliche Anzahl lich verschärft. Das hat einerseits damit zu tun, dass Vorfälle mit chemischen Produkten weit höher neue Erkenntnisse über gefährliche Eigenschaften liegen. und Risiken von Stoffen, die einst als unbedenk- Für die Umwelt – und damit indirekt auch für die lich galten, verfügbar sind. Andrerseits ging man Menschen – sind besonders Chemikalien problema- bis vor wenigen Jahrzehnten generell viel weniger tisch, die persistent, bioakkumulierbar und toxisch vorsichtig mit Chemikalien und Abfällen um. Davon (sogenannte PBT-Stoffe) sind. Das bedeutet: Sie sind zeugen nicht zuletzt die rund 38 000 belasteten langlebig, können sich in Lebewesen anreichern Standorte in der Schweiz, von denen voraussichtlich und sind bereits in sehr geringen Konzentrationen 4000 von den Altlasten befreit und saniert werden die umwelt 4 | 18
DOSSIER CHEMIK ALIEN 11 müssen – von Hinterhöfen, in denen Firmen früher Bedeutung kommt denn auch dem Chemikalien- chlorierte Kohlenwasserstoffe (CKW) entsorgten, management zu. die sie zum Entfetten von Metallteilen brauchten, Spezielle Vorschriften gelten für Pflanzenschutz- bis zur Sondermülldeponie von Kölliken (AG), deren mittel (PSM) und für Biozidprodukte. Für diese Sanierung gegen 1 Milliarde Franken kostete. Produktgruppen gilt eine Zulassungspflicht, das Zahlreiche durch Chemikalien verursachte grosse heisst, sie dürfen nur vermarktet werden, nachdem Umweltprobleme konnten erkannt und gelöst wer- sie von den Bundesbehörden, gestützt auf die vom den. Doch die Öffentlichkeit bleibt skeptisch, denn Gesuchsteller vorgelegten Prüfdaten, für sicher be- in der Vergangenheit wurde sie immer wieder mit funden und zugelassen worden sind. Im Rahmen neuen katastrophalen Auswirkungen konfrontiert, des Zulassungsverfahrens beurteilt das BAFU, ob die Produktion und Verwendung von Chemikalien Biozidprodukte, die neu auf den Markt gebracht für Gesundheit und Umwelt haben können. Dazu werden, nur akzeptable Auswirkungen auf die Um- gehören der Dioxinskandal in Seveso (IT) in den welt haben. 2016 waren in der Schweiz rund 260 Bio 1970er-Jahren oder der Chemieunfall von Schwei- zidwirkstoffe und 330 PSM-Wirkstoffe auf dem zerhalle (BL) 1986. Damit sich dies ändert, bemühen Markt. Davon kommen 39 Stoffe sowohl als Pflan- sich Umweltschutz- und Entwicklungsorganisatio- zenschutzmittel wie auch als Biozid zum Einsatz. nen gemeinsam mit Unternehmen in verschiedenen Initiativen darum, zum Beispiel die Bedingungen in Umgang «stark verbessert» der gesamten Wertschöpfungskette der Textilindus trie zu verbessern. Das Ziel ist, dass weniger CO2 Die Bundesbehörden kontrollieren aber auch, ob die freigesetzt und weniger Wasser verbraucht wird, Industrie die Vorschriften über die Selbstkontrolle weniger Chemikalien in die Umwelt gelangen und bei Industriechemikalien, die keiner Zulassungs- der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verbessert pflicht unterstellt sind, beachten. So wurde kürzlich wird. eine schweizweite Überprüfung der Einstufung von Ablaufreinigern durchgeführt, weil bei deren Hersteller verantwortlich «Zu Recht erwartet die Bevölkerung vom Staat, dass Chemikalien so reguliert werden, dass die Risiken Weltweit werden jährlich für Umwelt und Gesundheit kontrolliert sind», sagt Kaspar Schmid, Chef des Ressorts Chemikalien und 400 Millionen Tonnen Arbeit im SECO. Chemikalien hergestellt. Dank laufend weiterentwickelter Vorschriften, so Schmid, würden die Risiken minimiert. Vom Gesetzgeber wird in erster Linie die Industrie in die Pflicht genommen. Denn seit 2005 gilt in der Verwendung gefährliche Gase entstehen können. Schweiz das Prinzip der Selbstkontrolle. Will heis Dabei zeigte sich, dass die Hersteller bei vielen der sen: Die Hersteller sind für die Sicherheit der von geprüften Produkte die gefährlichen Eigenschaften ihnen hergestellten oder importierten Chemikalien nicht korrekt ermittelt hatten. In der Folge mussten selbst verantwortlich. Sie müssen nachweisen, dass sie die Einstufung und Gefahrenkennzeichnung ihre Produkte weder Menschen noch die Umwelt anpassen. Die Kantone ihrerseits überprüfen durch gefährden, und sie müssen berufliche Verwender Stichproben, ob auf den Markt gebrachte Produkte sowie Konsumenten und Konsumentinnen über den den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, etwa sicheren Umgang damit informieren. Eine zentrale bezüglich ihrer Kennzeichnung. die umwelt 4 | 18
12 DOSSIER CHEMIK ALIEN Derartigen Verfehlungen zum Trotz sieht Steffen Wengert, Leiter der Abteilung Chemikalien im BAG, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte positiv: «Die Sicherheit im Umgang mit Chemikalien hat sich stark verbessert. Zeichnen sich jedoch neue Risi- ken ab, müssen wir diese immer wieder sorgfältig beurteilen.» Doch wo lauern diese Gefahren? Wäre beispiels- weise der Grossbrand von Schweizerhalle mit sei- nen katastrophalen Auswirkungen auf den Rhein heute noch denkbar? «Solche Unfälle werden sich hoffentlich in der Schweiz dank der Störfallvor sorge nicht mehr ereignen», sagt Martin Schiess vom BAFU. Ein anderes Thema, das uns in den nächsten Jahren beschäftigen werde, seien mögliche chronische Wirkungen von einzelnen Stoffen und deren Kombinationen in niedrigen Konzentrationen auf Umwelt und Gesundheit. «Über solche Auswir- kungen ist noch wenig bekannt, und sie werden bei der Bewertung von Risiken kaum betrachtet.» Auf dem Weg zu einer Chemie ganz ohne schädliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, so betont Schiess in seiner Bilanz, seien aber nicht nur Indus- trie und Behörden gefragt: «Auch Konsumentinnen und Konsumenten können nachhaltigen Lösungen zum Erfolg verhelfen.» Link zum Artikel www.bafu.admin.ch/magazin2018-4-01 Martin Schiess | Abteilungschef Luftreinhaltung und Chemikalien | BAFU martin.schiess@bafu.admin.ch Kaspar Schmid | Ressortleiter Chemikalien und Arbeit | SECO kaspar.schmid@seco.admin.ch Steffen Wengert | Abteilungsleiter Chemikalien | BAG steffen.wengert@bag.admin.ch die umwelt 4 | 18
PRODUKTION Eine gute Planung und Organisation von Produktionsanlagen dient dem Umwelt- schutz, der Sicherheit und der Gesundheit – nicht zuletzt jener der Arbeitnehmenden (im Bild: Chemiewerk in Monthey, VS). Bild: Peter Fuchs Copyright: Huntsman
14 DOSSIER CHEMIK ALIEN Montrealer Protokoll Die Geschichte eines Vorzeigeabkommens Sie zerstörten die Ozonschicht und wurden ab 1989 schrittweise verboten: die Fluorchlorkohlenwasser- stoffe (FCKW). Doch auch die Ersatzstoffe sind schädlich, und ihre Verwendung muss gedrosselt werden. Die Geschichte des Montrealer Protokolls zeigt, wie wichtig Vorsorge ist. Text: Bettina Jakob Nichts Geringeres als ein Wundermittel schien Montrealer Protokoll war das erste Abkommen, das Thomas Midgley Jr., Chemiker bei General Motors, von allen 197 Mitgliedsstaaten der Vereinten Natio- 1929 gefunden zu haben: Er stellte erstmals Flu- nen ratifiziert wurde», sagt Henry Wöhrnschimmel orchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) her und revolu- von der Abteilung Luftreinhaltung und Chemikalien tionierte die Kältetechnik. Anders als gefährliche des BAFU. Der Umweltnaturwissenschaftler gehört Kältemittel wie Ammoniak oder Schwefeldioxid zur Delegation des BAFU, die die Schweiz bei den wiesen die FCKW perfekte Eigenschaften auf: un- Verhandlungen der Vertragsstaaten vertritt. giftig, unbrennbar, geruchlos und stabil. Da leicht zu handhaben, wurden die Gase auch als Treibgas Millionen Krebsfälle verhindert in Sprays oder als Lösungs- und Löschmittel ver- wendet. Was jahrzehntelang niemand merkte: Die Doch bis zum Verbot hat es gedauert. Schon in FCKW zerstörten die Ozonschicht, die uns vor der den 1970er-Jahren hatten Forschende davor ge- gefährlichen UV-Strahlung aus dem All schützt. warnt, dass UV-Strahlung in der Stratosphäre die FCKW-Moleküle aufknacken könne und dass die Chlorradikale das Ozon zerstörten. Mit drama- «Das Montrealer Protokoll wurde tischen Folgen: Die UV-Strahlung trifft ungehindert auf die Erde und schädigt die Erbsubstanz von Men- als erstes Abkommen von allen schen, Tieren und Pflanzen. Zudem verursacht sie 197 UNO-Mitgliedsstaaten ratifiziert.» Hautkrebs und Grauen Star. Doch dem Warnruf folgten nur einige Bundesstaaten der USA, die Henry Wöhrnschimmel | BAFU FCKW in Sprays verboten. In Europa und bei der Industrie traf er auf taube Ohren. Erst als 1985 das Ozonloch in der Natur nachgewiesen wurde, Über der Antarktis klaffte bereits ein riesiges Ozon- reagierte die Staatengemeinschaft – dafür prompt: loch, als die Vereinten Nationen 1987 begannen, die Bereits zwei Jahre später stand das Montrealer Pro- drohende globale Umweltkatastrophe abzuwenden. tokoll, und bis 2010 wurden schrittweise alle FCKW Sie beschlossen das Montrealer Protokoll, das vor- verboten. Wissenschaftliche Modelle gehen davon schreibt, ozonschichtabbauende Stoffe, die Chlor aus, dass es ohne Montrealer Protokoll um das Jahr enthalten oder auch Brom (die sogenannten Halone), 2030 jährlich zwei Millionen Hautkrebsfälle mehr schrittweise zu reduzieren und abzuschaffen. «Das geben würde. die umwelt 4 | 18
DOSSIER CHEMIK ALIEN 15 Das Montrealer Protokoll gilt als Erfolgsgeschichte umzusteigen. Doch um diese Stoffe zu nutzen – in der Umweltdiplomatie. Für Flavio Malaguerra, einige davon sind brennbar oder giftig –, braucht es Umweltingenieur beim BAFU, haben dabei ver- sichere technische Anlagen. Solche Technologien schiedene Faktoren «ideal zusammengespielt»: die stehen denn auch für immer zahlreichere Anwen- wissenschaftlichen Fakten, der Druck von Politik dungen zur Verfügung. So lassen sich heute neben und Öffentlichkeit inklusive wirkungsvoller Bot- Haushaltskühlschränken auch Gewerbekühlgeräte schaft (Ozonloch über unseren Köpfen) und eine mit Propan und Butan betreiben. In der Schweiz kooperierende Industrie, welche schliesslich ihre prüft das BAFU gemeinsam mit den Branchenver- Chance in der Herstellung von Ersatzprodukten bänden den Stand der Technik und regelt, wo um- erkannte. Ausserdem betraf die Regelung nur we- weltfreundliche Technologien wie Anlagen mit na- nige Hersteller: «Es ist bedeutend schwieriger, das türlichen Kältemitteln verwendet werden müssen. Verbraucherverhalten von Millionen von Menschen zu korrigieren, wie dies für die CO2-Reduktion nötig Hilfe für Entwicklungsländer ist.» Allen Erfolgen zum Trotz: Die Ozonschicht wird erst um 2060 wieder den Zustand von 1980 Das Montrealer Protokoll hat zwar erfolgreich die erreichen, da die FCKW sehr langlebig sind. FCKW verboten, führte aber auch zum Einsatz von klimaschädlichen Ersatzstoffen. Welche Bilanz lässt Ersatzstoffe sind klimaschädlich sich also zum 30. Geburtstag des Abkommens zie- hen? «Das Ziel war, möglichst rasch eine weitere Und es stehen bereits neue Probleme an, denn Schädigung der Ozonschicht zu stoppen», erklärt auch die Ersatzstoffe der FCKW entpuppten sich Henry Wöhrnschimmel, «und das hat man erreicht.» als umweltschädlich. «Die teilfluorierten Kohlen- Inzwischen sei auch die Problematik der Ersatz- wasserstoffe (HFKW) sind starke Treibhausgase», stoffe erkannt und über das Kigali-Amendment führt Henry Wöhrnschimmel aus. Einige Wissen- geregelt worden. Das Montrealer Protokoll hat für schaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter sein den BAFU-Experten deshalb nach wie vor Vorbild- Vorgänger beim BAFU, Blaise Horisberger, wollten charakter – gerade auch bei seiner Umsetzung: «Die sie daher schon in den 1990er-Jahren ebenfalls ins Massnahmen greifen global, da die Entwicklungs- Montrealer Protokoll aufnehmen. Gelungen ist dies länder über einen Fonds von den Industrieländern erst 2016 an einer Konferenz im ruandischen Kigali. finanziell unterstützt werden.» Zudem stelle eine Ab 2019 werden nun auch Herstellung und Ver- strenge Kontrolle sicher, dass alle Länder ihre Auf- brauch der HFKW schrittweise reduziert. lagen einhielten. Vorsorge besser als Nachsehen Gesucht sind somit abermals neue Kältemittel. «Die synthetischen Ersatzstoffe, die sich bereits auf dem Link zum Artikel Markt befinden, sind nicht unproblematisch», mahnt www.bafu.admin.ch/magazin2018-4-02 Umweltingenieur Flavio Malaguerra. So reicherten sich etwa Abbauprodukte der Hydro-Fluor-Olefine Henry Wöhrnschimmel | Sektion Biozide (HFO) in Oberflächengewässern an. Die Auswir- und Pflanzenschutzmittel | BAFU kungen dieses Prozesses auf die Umwelt müssten henry.woehrnschimmel@bafu.admin.ch beobachtet werden. Flavio Malaguerra | Sektion Biozide Ziel ist deshalb, möglichst auf natürliche Kälte- und Pflanzenschutzmittel | BAFU mittel wie Kohlendioxid, Propan oder Ammoniak flavio.malaguerra@bafu.admin.ch die umwelt 4 | 18
16 DOSSIER CHEMIK ALIEN Störfallverordnung Das Babuschka-Sicherheitsprinzip Dank hochaktiver Substanzen lassen sich die Nebenwirkungen von Medikamenten minimieren – beispielsweise in der Krebstherapie. Der Umgang mit den potenten Wirkstoffen ist für die Pharmaindustrie aber auch mit neuen Problemstellungen verbunden. Bei der Produktion gelten maximale Sicherheitsvorschriften. Text: Kaspar Meuli Rendez-vous am Fuss des höchsten Gebäudes der hohe Wirksamkeit. Bei einer Freisetzung können Schweiz, dem Roche-Turm. Wir sind nach Basel ge- bereits sehr kleine Mengen negative Auswirkungen reist, um zu verstehen, wie die Pharmaindustrie mit auf die menschliche Gesundheit haben. Teilwei- hochaktiven Stoffen umgeht. Diese Wirkstoffe wer- se sind auch langfristige Folgen möglich. Deshalb den bei der Medikamentenherstellung immer wich- müssen die Mitarbeitenden am Arbeitsplatz und tiger – und sie bringen neue Herausforderungen für die Bevölkerung besonders gut geschützt werden. die Sicherheit von Personal und Bevölkerung mit Genau das ist das Gebiet von Walter Spieler. «Wir sich. Unsere Begleiter auf dem Betriebsrundgang gehen davon aus, dass Substanzen – darunter auch sind Claude Schlienger, Leiter der Sicherheitsabtei- hochaktive – über die Lunge in den Körper und so lung, Walter Spieler, zuständig für die Arbeitshy in den Blutkreislauf gelangen können», erläutert giene, und der Kommandant der Betriebsfeuerwehr der Arbeitshygiene-Spezialist die Gesundheitsrisi- Roche Basel, Martin Karrer. ken für die Mitarbeitenden in der Produktion. Die Stoffe werden vor allem in Pulverform hergestellt. Es muss also verhindert werden, dass Pulverpartikel in die Luft gelangen und bei der Arbeit eingeatmet «Bei einem Störfall sollen alle werden können. Oder, falls doch, nur in so kleinen austretenden Stoffe im Produktions- Mengen, dass sie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern während eines ganzen Arbeitslebens bereich bleiben.» keine Gesundheitsschäden anrichten. Das Personal einfach mit Atemschutzmasken auszurüsten, sagt Claude Schlienger | Roche Walter Spieler, komme nicht infrage: «Die konzern- weiten Richtlinien bei Roche schreiben vor, dass unsere Leute immer durch technische Massnahmen Die drei Herren werden uns erläutern, wie der Phar- zu schützen sind.» mariese – allein in Basel arbeiten gegen 12 000 Men- schen bei Roche – die Verordnung über den Schutz Grosse Wirkung, kleine Dosierung vor Störfällen umsetzt. Diese gesetzlichen Bestim- mungen wurden nach dem Brand von Schweizerhal- Der Umstand, dass hochaktive Stoffe ihre Wirkung le (BL) vom 1. November 1986 erlassen und sollen bereits in kleinsten Mengen entfalten, macht sie Mensch und Umwelt vor schweren Schädigungen so interessant. Dadurch lassen sich Medikamen- schützen. Seit 2015 regelt diese Verordnung auch te herstellen, die im Körper bei niedrigster Dosie- den Umgang mit hochaktiven Stoffen. Die grosse rung wirken und deren Nebenwirkungen damit Herausforderung bei diesen Substanzen ist ihre minimiert werden können – ein Durchbruch etwa die umwelt 4 | 18
Die Betriebsfeuerwehr von Roche ist auch für Einsätze bei einem Unfall ausgerüstet, bei dem hochaktive Stoffe frei werden. Bild: Kilian Kessler | Ex-Press | BAFU
18 DOSSIER CHEMIK ALIEN in der Krebstherapie. Und ein neues Kapitel für betroffen wäre, kam noch nie in einem Ernstfall die Pharmaindustrie. Wurden früher tonnenweise zum Einsatz. Wirkstoffe hergestellt, braucht es von den hochak- tiven Substanzen nur noch einige 100 Kilogramm. Ein Haus im Haus Das macht moderne Produktionsanlagen nötig und verlangt nach neuen Sicherheitsüberlegungen. Nun stehen wir vor dem «Bau 50», in dem seit zwei «Unser wichtigstes Ziel ist, dass gar nichts nach Jahren in einer neuen Anlage hochaktive Wirkstoffe aussen gelangt», erklärt Claude Schlienger, «bei unter anderem für Krebsmedikamente hergestellt einem Störfall sollen alle austretenden Stoffe im Pro- werden. Von aussen unterscheidet er sich nicht von duktionsbereich bleiben.» Doch ganz ausschliessen, den übrigen Produktionsgebäuden auf dem weitver- dass hochaktive Stoffe ins Freie gelangen, lässt zweigten Werksgelände. Das Besondere zeigt uns sich nicht. Deshalb, so der Sicherheitschef, fordere Sicherheitschef Claude Schlienger zusammen mit die Störfallverordnung neben präventiven Sicher- dem Betriebsleiter Roland Wilhelm im Innern. Nach heitsmassnahmen auch ein gut funktionierendes dem Betreten geht es gleich noch mal durch eine «Ereignismanagement». Eingangstür. Wie bei einer russischen Babusch- Eine wichtige Rolle spielt dabei Martin Karrer. ka-Puppe umgibt eine Hülle die nächste. Haus-in- Als Kommandant der Betriebsfeuerwehr steht er Haus nennt sich dieses Sicherheitsprinzip. Dabei einer Mannschaft von 80 Feuerwehrleuten vor – 23 wurden auf drei Stockwerken über 40 einzelne Räu- davon Profis, die übrigen Mitarbeitende von Roche me eingebaut, die alle mit speziellen Luftfiltern aus anderen Bereichen. Der Feuerwehrkomman- ausgerüstet sind, welche verhindern, dass kleinste dant zeigt uns eine Auswahl der Gerätschaften, Partikel nach draussen gelangen. Die Absicht hinter mit denen seine Leute ausrücken, wenn bei einem diesem Konstruktionsprinzip: Werden irgendwo in Unfall hochaktive Stoffe im Spiel sind. Die Präsen- der «SLF 50» genannten Produktionsanlage hochak- tation reicht vom sogenannten ABC-Fahrzeug, das tive Substanzen freigesetzt, soll möglichst nur ein mit Material zum Auffangen, Eindämmen und Um- einzelner Raum kontaminiert werden. Das erleich- pumpen von Schadstoffen ausgerüstet ist, bis hin tert nicht nur das Eindämmen der Gefahr, sondern zur mobilen Dekontaminationsstelle. Mindestens später auch die Reinigung. ebenso wichtig wie das Material sind im Notfall Es ist auffallend ruhig bei der Medikamentenher- aber Spezialisten und Spezialistinnen, die darüber stellung der neusten Generation. Zu vernehmen ist Auskunft geben können, welche Stoffe freigesetzt nur ein leichtes Brummen, Menschen sind keine wurden, welchen Schaden sie anrichten können zu sehen. Die Ruhe hat damit zu tun, dass die und mit welchen Mitteln sie sich neutralisieren 80 Millionen Franken teure Produktionsanlage am lassen. Tag unseres Besuchs für die Herstellung von neuen Das Wissen dieser beratenden Fachpersonen steht Chargen eines Wirkstoffes vorbereitet wird. Aber dem Einsatzleiter rund um die Uhr zur Verfügung, auch bei Normalbetrieb ist kaum jemand zu sehen. ist aber dank der hohen Sicherheitsstandards eher Mehr als vier Personen arbeiten hier nie gleichzei- selten gefragt. Zwar rückt die Betriebsfeuerwehr auf tig, dafür rund um die Uhr an sieben Tagen in der dem quartiergrossen Roche-Gelände rund 1200 Mal Woche. pro Jahr aus, doch in den allermeisten Fällen handelt es sich um Fehlalarme. Beispielsweise, wenn ein Maximaler Schutz Rauchmelder auf Staub reagiert. Auch undichte Wasserleitungen und ausgelaufene Lösungsmittel Wir machen in einem der Verbindungsgänge halt, kommen vor, aber der grosse Störfall bleibt aus. Das und der Betriebsleiter zeigt uns eine ganze Batterie Krisenmanagement für ein Unglück, bei dem Basel von Messgeräten. Sie überwachen den Luftdruck. die umwelt 4 | 18
DOSSIER CHEMIK ALIEN 19 Dieser nimmt in der Produktionsanlage gegen innen Und ein Unfall, bei dem die Sirenen auf den Ro- von Raum zu Raum ab – der Unterdruck verhin- che-Gebäuden losheulen würden, weil Gefahr für dert bei einem Unfall, dass freigesetzte Substanzen die Bevölkerung von Basel besteht? «Wir üben zwar durchs Gebäude nach aussen gelangen können. Und periodisch solche Worst-Case-Szenarien, um die noch einer Sicherheitsvorkehrung begegnen wir Abläufe im Ereignisfall auch mit dem Krisenstab der immer wieder auf unserem Rundgang: Edelstahlge- Stadt zu proben», versichert Sicherheitschef Claude häusen mit kreisförmigen Öffnungen in der gläser- Schlienger, «doch ein Grossunfall, bei dem hochakti- nen Frontscheibe, an denen Kunststoffhandschuhe ve Stoffe freigesetzt werden, ist wenig realistisch.» montiert sind. Isolatoren nennen sich diese Vorrich- Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass sich tungen. Ihr Zweck: Menschen vor dem Kontakt mit Pharmafirmen immer mehr von der Grossproduk- gefährlichen Stoffen oder Organismen zu schützen. tion verabschieden. In Basel werden nur noch Spezia- Was, so wollen wir von unseren Begleitern litäten hergestellt, und dies in kleinen Mengen. Wie zum Schluss der Besichtigung wissen, wäre der die hochaktiven Wirkstoffe im «Bau 50». schlimmste Unfall, der sich hier in der «SLF 50» ereignen könnte? Die Spezialisten müssen keine Sekunde überlegen – selbstverständlich ist ihnen dieses Szenario aus unzähligen Risikoanalysen und Modellrechnungen vertraut: Eine chemische Reaktion in einem Kessel gerät ausser Kontrolle. Der Druck im System steigt, bis eine dafür vor- Link zum Artikel gesehene Bruchstelle am Reaktor birst. Nun ent- www.bafu.admin.ch/magazin2018-4-03 weicht das Reaktionsgemisch über eine Leitung und wird in einem dafür vorgesehenen Sicherheitstank Michael Hösli | Sektion Störfall- und Erdbebenvorsorge | BAFU aufgefangen. michael.hoesli@bafu.admin.ch Reaktorbehälter in der Produktionsanlage «SLF 50» von Roche in Basel. Bild: Kilian Kessler | Ex-Press | BAFU Hier werden hochaktive Stoffe hergestellt.
NUTZUNG Chemikalien zur Desinfektion von Bade wasser und für den Holzschutz sollen möglichst wirksam sein, dürfen aber weder die Menschen noch die Umwelt gefährden. Bild: Key
DOSSIER CHEMIK ALIEN 21 Biozidprodukte Das Dilemma mit dem Rattengift Bei der Zulassung von Biozidprodukten arbeitet die Schweiz eng mit den europäischen Ländern zusammen. Behörden, Produzenten und Anwender stehen gemeinsam in der Pflicht, um die Risiken für Mensch und Umwelt so gering wie möglich zu halten. Text: Lukas Denzler Rebekka Baumgartner kommt eben aus Brüssel Rattengift: schlecht abbaubar zurück. An einem Workshop haben Teilnehmende aus ganz Europa die Weiterentwicklung einer Um- Nicht ganz unproblematisch ist der Einsatz von weltsoftware besprochen, die bei der Zulassung Bioziden zur Bekämpfung von Mäusen und Rat- und Risikoabschätzung von Bioziden eingesetzt ten. Zugelassen sind sie, weil sich die Nager nicht wird. Die Umweltnaturwissenschaftlerin arbeitet immer mit Fallen fangen lassen. Bloss: Biozidpro- in der Sektion Biozide und Pflanzenschutzmittel dukte enthalten hochgiftige Wirkstoffe, die sich des BAFU. Es ist die Aufgabe des Bundesamtes, in der Umwelt schlecht abbauen. Fressen Katzen zusammen mit den europäischen Ländern Biozid- oder Füchse vergiftete Ratten oder Mäuse oder produkte bezüglich ihrer Risiken für Mensch und gar die Giftköder, nehmen sie diese Substanzen Umwelt zu beurteilen. auf und können daran verenden. Deshalb dürfen in Privatpersonen und professionelle Anwender der Schweiz nur ausgebildete Fachleute Rattengift setzen Biozidprodukte für verschiedenste Zwecke im Freien einsetzen. ein. Oft dienen sie der Bekämpfung von Schad Biozidprodukte gegen Spinnen und Ameisen organismen. «Das können Pilze, Algen, Mäuse, hingegen sind auch Privatpersonen zugänglich – Ameisen oder andere Insekten sein», erläutert und sie werden in unerwarteten Situationen Rebekka Baumgartner. Die Konsumenten und a ngewandt. Vor zwei Jahren stellten die Kan- tone beispielsweise fest, dass einige Produkte grossflächig auf Fassaden aufgetragen wurden, «Anwenderinnen und Anwender um Spinnen zu bekämpfen. Da die verwendeten Insektizide als umweltgefährlich eingestuft sind, müssen immer zuerst Alternativen hat das BAFU inzwischen Einschränkungen für zu Bioziden prüfen – ob privat oder deren Anwendung erlassen. So dürfen die Produk- te an Hausfassaden nur noch punktuell, etwa in im Beruf.» Ritzen, eingesetzt werden. Die behandelten Stel- len dürfen zudem nicht der Witterung ausgesetzt Christoph Moor | BAFU sein, damit die Stoffe nicht mit dem Regenwasser in die Gewässer oder die Kanalisation gelangen. Auch bei den Produkten gegen Ameisen gelten Konsumentinnen würden Biozide auch rund um Einschränkungen. Oft handelt es sich bei diesen Gebäude einsetzen, beispielsweise um Fassaden Mitteln nämlich um unspezifische Insektengif- sauber zu halten, als Bestandteil von Lasuren für te, die unter Umständen auch Bienen oder an- Holzteile oder auf Terrassen und Sitzplätzen gegen dere Nützlinge schädigen. Deshalb sind sie di- herumkrabbelnde Schaben oder Ameisen. rekt im Ameisennest oder bei dessen Eingang die umwelt 4 | 18
22 DOSSIER CHEMIK ALIEN anzuwenden. Die behandelten Stellen müssen ab- erwartenden Konzentrationen von Wirkstoffen in gedeckt werden, damit keine Bienen mit den Biozi der Umwelt schädliche Auswirkungen auf andere den in Kontakt kommen können. Dies ist nur eine Lebewesen zur Folge haben, wird ein Produkt von zahlreichen Massnahmen der vom BAFU nicht bewilligt. Zugelassen werden Produkte üb- entwickelten Risikominderungsstrategie. Eine rigens nur, wenn sie für den vorgesehenen Zweck weitere ist, die Produktpackungen zu verkleinern. auch tatsächlich wirksam sind. Damit soll der unsachgemässen Entsorgung von Resten vorgebeugt werden. Letztlich aber sind Alternativen prüfen die Anwenderinnen und Anwender selbst für den korrekten Einsatz von Bioziden verantwortlich. Ganz ohne Risiko für die Umwelt ist der Einsatz von Biozidprodukten allerdings nie. Es sei deshalb Europäische Zusammenarbeit wichtig, betont Christoph Moor, Chef der Sek- tion Biozide und Pflanzenschutzmittel im BAFU, Bei der Zulassung von Biozidprodukten arbeitet dass Biozide nur dann eingesetzt würden, wenn die Schweiz eng mit der Europäischen Union zu- es auch wirklich nötig sei. Anwenderinnen und sammen; Grundlage dafür bilden die bilateralen Anwender seien aufgefordert, immer Alternati- Verträge I mit der EU. Ein Hersteller kann aus- ven zu prüfen – ganz gleich, ob privat oder im wählen, in welchem europäischen Land er die Beruf. Gebe es keinen Ersatz, müssten Biozid- Zulassung für ein Produkt beantragen will. Die- produkte verantwortungsvoll eingesetzt und die ses Land ist dann federführend, und alle anderen Gebrauchsanweisungen strikt beachtet werden. Staaten werden informiert und können sich zum «Bei starkem und wiederkehrendem Befall durch Antrag äussern. Die Liste der genehmigten Wirk- unerwünschte Organismen», erklärt Christoph stoffe gilt automatisch für alle Länder, die natio- Moor, «empfehlen wir zudem, Fachleute mit der nalen Zulassungen der Produkte hingegen müssen Schädlingsbekämpfung zu beauftragen.» zuerst auf andere Länder übertragen werden. Ein Prozess, bei dem die Schweiz den Mitgliedsstaaten der EU gleichgestellt ist. Jährlich werden mehrere Hundert Gesuche für neue Produkte eingereicht. Die damit verbundenen Überprüfungen lassen sich nur durch eine europaweite Zusammenarbeit bewältigen. Die Beurteilungsstellen in ganz Europa prüfen bei Biozidprodukten zuerst die Wirkstoffe. «Be- sonders kritisch sind krebserregende Stoffe oder solche, die schlecht abbaubar sind, andere Lebe- wesen schädigen und sich in der Nahrungskette Link zum Artikel anreichern», erläutert Rebekka Baumgartner. Pro- www.bafu.admin.ch/magazin2018-4-04 dukte mit derartigen Wirkstoffen werden nicht zugelassen. Eine Ausnahme ist das Rattengift, Christoph Moor | Sektionschef Biozide weil es dafür noch keine geeignete Alternative und Pflanzenschutzmittel | BAFU gibt. In einem zweiten Schritt werden die Pro- christoph.moor@bafu.admin.ch dukte selbst beurteilt. Unter anderem werden für Rebekka Baumgartner | Sektion Biozide jedes Biozidprodukt die Risiken abgeschätzt. Für und Pflanzenschutzmittel | BAFU den Umweltbereich bedeutet dies: Falls die zu rebekka.baumgartner@bafu.admin.ch die umwelt 4 | 18
NUTZUNG Farben und Lacke kommen aus opti- schen und funktionellen Gründen zur Anwendung. Solche Produkte können Lösungsmittel und Biozide enthalten. Sie müssen deshalb überlegt gewählt und vorschriftsgemäss eingesetzt werden. Bild: Key
24 DOSSIER CHEMIK ALIEN Nutzen und Gefahren «Wir müssen ganzheitliche Lösungen anstreben» Medikamente, Reinigungsmittel oder Dünger sind von grossem Nutzen, können aber für die Umwelt auch problematisch sein. Im Gespräch mit Marc Chardonnens, Direktor des BAFU, und Stephan Mumenthaler, Direktor von scienceindustries, lotet «die umwelt» das Spannungsfeld zwischen Nutzen und Risiken von Chemikalien aus. Interview: Lucienne Rey Herr Mumenthaler, Herr Chardonnens, in der Marc Chardonnens: In der Umweltpolitik folgen wir Schweiz werden immer wieder Fälle von Altlas- dem Grundsatz, im Sinne der Vorsorge an der Quel- ten bekannt. So zeigte sich Anfang Juni dieses le der Belastungen anzusetzen, damit keine Prob- Jahres, dass im Kanton Wallis in Visp und Raron leme für die kommenden Generationen geschaffen weit grössere Flächen mit Quecksilber aus der werden. Denn heute müssen wir die Folgen von Chemieproduktion belastet sind als ursprünglich Substanzen bewältigen, die in der Vergangenheit gedacht. Beunruhigt Sie die Vorstellung, dass wir verwendet wurden. Es gibt Stoffe, die vor Jahrzehn- heute möglicherweise nicht alle Gefahren erken- ten als sehr gut galten, so etwa die polychlorierten nen, die uns in Zukunft Probleme verursachen Biphenyle (PCB), die sich dank ihrer vorteilhaften könnten? technischen Eigenschaften hervorragend als Iso- Stephan Mumenthaler: Bei der Strassengesetzge- lier- und Kühlmedium für Transformatoren und bung ist es auch nicht möglich, jeden Unfall zu ver- Kondensatoren eigneten. In den 1930er-Jahren war hindern. Vielmehr geht es darum, die grösstmög- noch nicht bekannt, dass sie sich in der Nahrungs- liche Sicherheit herzustellen und trotzdem noch kette akkumulieren. Unzählige Stoffe haben exzel- Verkehr zuzulassen. Regulierungen in anderen Be- lente Eigenschaften in einem bestimmten Bereich, reichen sind ähnlich. Aber Unfälle lassen sich nie aber wir müssen sie mit den neuen Erkenntnissen zu 100 Prozent vermeiden. der Wissenschaft über gefährliche Eigenschaften Behörde trifft Wirtschaft Marc Chardonnens schloss sein Studium als Ingeni- Stephan Mumenthaler ist Ökonom und promovierte eur-Agronom an der ETH Zürich ab und erwarb zu- an der Universität Basel im Bereich Aussenhandel. dem am Institut des Hautes Etudes en Administra- Nach verschiedenen Stationen in Verwaltung, Bera- tion Publique (IDHEAP) der Universität Lausanne tung und Industrie im In- und Ausland ist er seit den Titel eines Master of Public Administration. Anfang Mai 2018 als Direktor bei scienceindustries Nachdem er über 10 Jahre das Amt für Umwelt in der tätig – dem Verband Chemie Pharma Biotech der Raumplanungs-, Umwelt- und Baudirektion des Kan- Schweiz. tons Freiburg geleitet hatte, ernannte ihn der Bun- desrat im Januar 2016 zum Direktor des BAFU. die umwelt 4 | 18
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