101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...

Die Seite wird erstellt Paul-Luca Herzog
 
WEITER LESEN
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
Silke Franke (Hrsg.)

FACHKRÄFTESICHERUNG
IM LÄNDLICHEN RAUM

101               Argumente und Materialien
                  zum Zeitgeschehen

   www.hss.de
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
Silke Franke (Hrsg.)

FACHKRÄFTESICHERUNG
IM LÄNDLICHEN RAUM
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
Impressum

ISBN                             978-3-88795-497-0
Herausgeber                      Copyright 2015, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München
                                 Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. +49 (0)89 / 1258-0
                                 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de
Vorsitzende                      Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.
Hauptgeschäftsführer             Dr. Peter Witterauf
Leiter der Akademie für          Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser
Politik und Zeitgeschehen
Leiter PRÖ / Publikationen       Hubertus Klingsbögl
Redaktion                        Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.)
                                 Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin)
                                 Susanne Berke, Dipl.-Bibl. (Redakteurin)
                                 Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin)
                                 Marion Steib (Redaktionsassistentin)
Druck                            Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München
Männliche / weibliche Form       Die in der vorliegenden Publikation verwendete männliche Form impliziert selbstverständlich
                                 auch die weibliche Form. Auf die Verwendung beider Geschlechtsformen wird lediglich mit
                                 Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes
darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns-
Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Davon ausgenommen sind Teile, die als Creative Commons gekennzeichnet sind. Das Copyright für diese Publikation liegt bei
der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des
Herausgebers wieder.
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
INHALT

 5   EINFÜHRUNG
     Silke Franke

     ANALYSE

9    DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG
     Ein Vergleich Bayerns mit Gesamtdeutschland
     Johann Fuchs / Brigitte Weber

19   FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN
     Hanno Kempermann

29   FACHKRÄFTESICHERUNG IN LÄNDLICHEN RÄUMEN
     Handlungsoptionen für kleine und mittlere Unternehmen
     Hans Hercksen

     IMPULSE AUS DER PRAXIS VOR ORT

37   EUROPÄISCHE METROPOLREGION NÜRNBERG
     Aktivitäten und Projekte im Bereich Fachkräftesicherung
     Christa Standecker

45   REGIONALER SPIELMACHER IM LANDKREIS DONAU-RIES
     Klemens Heininger

53   FRÜHE POTENZIALFÖRDERUNG UND INTEGRATION ALS BESONDERE
     CHANCE FÜR DEN LÄNDLICHEN RAUM
     Heidemarie Bartl

     DISKUSSION: WIRTSCHAFTLICHE DYNAMIK IM LÄNDLICHEN RAUM

61   DAS HANDWERK IN BAYERN – STARK IM LÄNDLICHEN RAUM!
     Georg Schlagbauer

69   WARUM WIR BAYERN ALS GANZES ENTWICKELN MÜSSEN
     Markus Blume

           ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101     3
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
EINFÜHRUNG
SILKE FRANKE || Die Verfügbarkeit von Fachkräften – ob Akademiker oder Personen mit einer ab-
geschlossenen Berufsausbildung – ist ein nicht zu unterschätzender Faktor sowohl für die Wettbe-
werbsfähigkeit von Unternehmen als auch den Wohlstand von Regionen. Der „Fachkräftemangel“
ist in aller Munde. Daher hat sich die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-
Stiftung im Frühjahr 2015 in einer Tagung mit dem Thema auseinandergesetzt, wobei insbesondere
die Situation für ländliche Räume in Bayern im Fokus stand. Die vorliegende Publikation bietet nun
in schriftlicher Form einen Einblick in die Inhalte, die Prognosen, Handlungsempfehlungen und
Praxisbeispiele umfassen.

   Der erste Teil gibt einen Überblick über die    Alter und unter Berücksichtigung von Trends
aktuellen Prognosen und Handlungsfelder:           wie Urbanisierung, Akademisierung und Digi-
∙ Mit welchem Arbeitskräfteangebot ist auf-        talisierung.
   grund der Bevölkerungsentwicklung zu rech-
   nen – quantitativ wie qualitativ? (Johann          Der zweite Teil beschreibt, was vor Ort in
   Fuchs / Brigitte Weber vom Institut für         den Regionen bereits unternommen wird, um
   Arbeitsmarkt und Berufsforschung)               Fachkräfte zu gewinnen und zu binden.1
∙ Was kennzeichnet die unternehmerische Pro-       ∙ „Heimat für Kreative“ – Willkommenskultur,
   duktivität in ländlichen Räumen? Wie wirkt         Zukunftscoaches und Fachkräfte-Allianz in
   sich die Digitalisierung auf die Arbeitswelt       der Europäischen Metropolregion Nürnberg
   aus? (Hanno Kempermann vom Institut der            (Christa Standecker)
   deutschen Wirtschaft)                           ∙ „Glückstreffer“ – mit Regionalmanagement
∙ Mit welchen Handlungsoptionen können                und Regionalmarketing gemeinsam Fachkräf-
   kleine und mittlere Unternehmen in ländli-         tesicherung sichern im Landkreis Donau-
   chen Räumen einem Fachkräftemangel be-             Ries (Klemens Heininger)
   gegnen? (Hans Hercksen vom Kompetenz-           ∙ „Passgenau“ – frühe Potenzialförderung von
   zentrum für ländliche Entwicklung / Bundes-        Kindern, Jugendlichen und Zuwanderern
   anstalt für Landwirtschaft und Ernährung)          im Landkreis Passau (Heidemarie Bartl)

   Tatsächlich, das zeigen die Daten, gibt es in      Einigkeit besteht darin, dass eine gemeinsa-
manchen Berufen, Branchen und Regionen Eng-        me Aufgabe von Kommunen, Unternehmen und
pässe, so dass hier Strategien entwickelt werden   Einrichtungen darin besteht, ein eigenes Profil
müssen, wie der Bedarf gedeckt und Lücken          herauszuarbeiten, die Bedürfnisse zu klären und
geschlossen werden können. Dies ist auch an-       eine Willkommenskultur aufzubauen. Bereits
gezeigt angesichts eines weiter anhaltenden        die Bewusstseinsbildung ist ein wichtiger Schritt
Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen        zur Problemlösung.

                                ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                   5
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
SILKE FRANKE

   Abgerundet wird das Thema im dritten Teil
mit Beiträgen aus Sicht des Handwerks (Georg
Schlagbauer) und der Politik (Markus Blume).
Hier liegt der Schwerpunkt darin aufzuzeigen,
was für die wirtschaftliche Dynamik nicht nur
im ländlichen Raum wichtig ist.

||   SILKE FRANKE, DIPL.-GEOGR.

     Referentin für Umwelt und Klima, Ländlichen
     Raum, Ernährung und Verbraucherschutz in der
     Akademie für Politik und Zeitgeschehen der
     Hanns-Seidel-Stiftung, München;
     Geschäftsführerin der Bayerischen Akademie
     Ländlicher Raum

ANMERKUNG
1
     Weitere Praxisbeispiele, konkrete Handlungsvor-
     schläge, Ansprechpartner und Kontaktadressen lie-
     fern unter anderem: Bayerisches Staatsministerium
     für Wirtschaft und Medien, Energie und Technolo-
     gie (Hrsg.): Informationsbroschüre Fachkräfteweg-
     weiser Bayern: Für mittelständische Unternehmen
     und Handwerk in Bayern, München 2015 und das
     vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
     geförderte „Kofa – Kompetenzzentrum Fachkräfte-
     sicherung für kleine und mittlere Unternehmen“,
     www.kofa.de

6      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
ANALYSE

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101   7
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND
FACHKRÄFTEENTWICKLUNG
Ein Vergleich Bayerns mit Gesamtdeutschland

JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER || In Deutschland wird es künftig aus demographischen Gründen
weniger Arbeitskräfte geben als heute. Außerdem wird sich die Alterszusammensetzung ändern:
weniger jüngere und mehr ältere Arbeitskräfte. Zugleich dürften sich regionale Disparitäten ver-
schärfen, weil prosperierende Regionen von Zuzügen aus dem In- und Ausland profitieren, während
dies für schwächere Regionen nicht der Fall ist. Der Beitrag zeigt, dass dies auch für Bayern gilt.

EINLEITUNG                                          spiel zeigt zum einen die Gemeinsamkeiten der
    Ende April 2014 veröffentlichte das Statisti-   Bevölkerungsentwicklung mit dem Bund, zum
sche Bundesamt (StBA) die 13. koordinierte          anderen die Bedeutung regionaler Unterschiede,
Bevölkerungsvorausschätzung.1 Sie bestätigt frü-    insbesondere im Hinblick auf die Migrations-
here Bevölkerungsprojektionen, wonach vor           einflüsse.
allem die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
schrumpfen wird.2
    Im Folgenden werden die Konsequenzen für        DEMOGRAPHIE
das sogenannte Arbeitskräfteangebot diskutiert.
Dabei werden neben der rein demographischen         Analyse gesamtdeutscher Bevölkerungstrends
Bevölkerungsentwicklung – Geburten, Sterbe-             Die künftige Bevölkerung wird ausschließ-
fälle sowie altersstrukturelle Verschiebungen –     lich von den Geburten, den Sterbefällen und
auch Zuwanderung aus dem Ausland und die            der Migration determiniert. Ihre Relevanz für
Beteiligung der Bevölkerung am Erwerbsleben         den Arbeitsmarkt ist jedoch unterschiedlich.
berücksichtigt. Der Umfang der Bevölkerung          Geburten sind für die langfristige Betrachtung
im erwerbsfähigen Alter (15-74 Jahre) ergibt        entscheidend, Migration wirkt sich dagegen
zusammen mit dem Erwerbsverhalten das Ar-           vor allem kurz- und mittelfristig aus, während
beitskräfteangebot. Dieses entspricht der Zahl      die Sterblichkeit für den Arbeitsmarkt praktisch
an Arbeitskräften, die den Betrieben in Deutsch-    keine Rolle spielt.3
land zur Verfügung steht. Trotz hoher Zuwan-            Die Geburtenentwicklung zeigt sich in der
derung und steigender Erwerbsbeteiligung wird       Altersgliederung der Bevölkerung Deutschlands
für Deutschland aufgrund der demographischen        in Abbildung 1. Mitte der 1960er-Jahre wurden
Entwicklung ein schrumpfendes und alterndes         in Deutschland mit etwas weniger als 1,4 Mil-
Arbeitskräfteangebot prognostiziert.                lionen jährlich gut doppelt so viele Kinder ge-
    Außerdem geht unser Beitrag auf die be-         boren wie derzeit. Die damals Geborenen – die
sondere bayerische Situation ein, die durch Zu-     Generation der Babyboomer – sind nun um die
züge aus dem Ausland und auch aus anderen           50 Jahre alt. Ebenfalls erkennbar ist der Ein-
Bundesländern geprägt ist. Das bayerische Bei-      bruch bei den Geburtenzahlen in den frühen

                                ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                   9
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER

1970er-Jahren, der sich 2013 in deutlich kleiner           schaft- und Finanzkrise enorm zu. Zum anderen
besetzten Altersjahrgängen der 35-Jährigen und             erreichen die Zuzüge aus Nicht-EU-Ländern –
Jüngeren äußert. Seit Mitte der 1970er-Jahre ist           aktuell vor allem aufgrund der Flüchtlings-
die zusammengefasste Geburtenrate mit rund                 ströme – Höchststände. Für das Jahr 2013 gibt
1,4 Kindern pro Frau für den langfristigen Be-             die amtliche Wanderungsstatistik des StBA ei-
völkerungserhalt viel zu niedrig. Dafür bräuchte           nen Wanderungssaldo von 450.000 Personen
man eine um 50 % höhere Geburtenrate.                      an, d. h. die Zahl der Zuzüge überstieg die Zahl
    Heute spüren wir die Konsequenzen: Am                  der Fortzüge um diesen Wert. Für 2014 wird
Arbeitsmarkt fehlen jüngere Arbeitskräfte, die             der Wanderungssaldo sogar auf mindestens
Älteren dominieren. Beispielsweise vollendeten             470.000 Personen geschätzt.4
im Jahr 2014 die 1964 Geborenen ihr 50. Le-                    Der Wanderungssaldo sollte auch vor dem
bensjahr. Diese Geburtskohorte ist der gebur-              Hintergrund langfristiger Trends bewertet wer-
tenstärkste Jahrgang. Es folgen die Jahrgänge              den: Nach den Daten des StBA sind zwischen
der 1963 und 1965 Geborenen. Folglich zählen               1960 und 2013 durchschnittlich pro Jahr
inzwischen die stärksten Jahrgänge zu den „Äl-             160.000 Ausländer und 45.000 Deutsche netto
teren“ am Arbeitsmarkt und in wenigen Jahren               zugezogen; im Zeitraum 1991 und 2013 waren es
werden sie in Rente gehen. Diese heute schon               177.000 Ausländer und 55.000 Deutsche, und
vorhersehbare und statistisch gesicherte Ent-              von 2004 bis 2013 sind jährlich netto 166.000
wicklung prägt den Arbeitsmarkt bereits jetzt              Ausländer nach Deutschland zugezogen. Bei
und wird ihn künftig noch stärker prägen.                  den Deutschen ist der jährliche Saldo seit 2005
    In den letzten Jahren rückte die Migration             sogar durchwegs negativ. In der Vergangenheit
in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion.            war der durchschnittliche Wanderungssaldo
Zum einen nahm die Zahl der Zuzüge aus EU-                 damit nicht einmal halb so hoch wie in den
Ländern nach Deutschland aufgrund der Wirt-                letzten beiden Jahren.

Abbildung 1: Altersstruktur der Bevölkerung, 2013, 2030, 2050

Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des Statistischen Bundesamtes: 13. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung,
Wiesbaden 2015 (Daten der Variante 2 mit stärkerer Zuwanderung).

10      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG

    Mit einer sich bessernden wirtschaftlichen               Bayerische Bevölkerungstrends
Lage in wichtigen EU-Ländern dürfte insbeson-                    Die Altersstruktur Bayerns unterscheidet sich
dere der Zuzug aus EU-Ländern wieder schwä-                  kaum von der im Bund (vgl. Abb. 2). Insofern
cher werden.5 Denn in der Vergangenheit war                  steht Bayern vor ähnlichen demographischen
der jährliche Wanderungssaldo mit EU-Ländern                 Herausforderungen, insbesondere der Alterung.
meist ausgeglichen. Darüber hinaus belegen                       Vorteilhaft sind aus bayerischer Sicht die Zu-
ökonometrisch basierte Schätzungen, dass die                 wanderungsströme. Nach Bayern ziehen nicht
ungünstige demographische Lage in vielen EU-                 nur Menschen aus dem Ausland, sondern auch
Ländern auf Dauer Zuzüge aus diesen Ländern                  aus anderen Bundesländern. In den vergangenen
hemmen wird.6                                                20 Jahren haben die innerdeutschen Zuzüge,
    Zusammen mit nur geringfügigen Verände-                  mit durchschnittlich fast 31.000 Personen,
rungen von Fertilität und Mortalität bewirkt ins-            die Zuzüge aus dem Ausland mit weniger als
besondere der gegebene Altersaufbau einen lang-              20.000 überwogen.8 Aber die aktuell hohen
fristig stabilen Trend in Zahl und Struktur der              Zuzugszahlen kehren das Bild um: Nach den
Bevölkerung. Der Altersaufbau in Abbildung 1                 letzten verfügbaren Daten aus der Wanderungs-
verschiebt sich in den kommenden Jahren nach                 statistik sind 2013 mehr als 83.000 Personen
rechts, d. h. die geburtenstarken Jahrgänge                  aus dem Ausland nach Bayern gezogen, jedoch
wachsen zunehmend ins Rentenalter hinein. Je                 nur gut 14.000 aus dem übrigen Bundesgebiet.
nach Umfang der jährlichen Migration werden                      Die Zuzüge verteilen sich innerhalb Bayerns
die Bevölkerung insgesamt und die Bevölkerung                recht unterschiedlich. Folgt man der Prognose
im erwerbsfähigen Alter mehr oder weniger                    des Bayerischen Landesamtes für Statistik und
stark sinken. Ihre Altersstruktur – und im Üb-               Datenverarbeitung, dann sind es vor allem die
rigen auch die Struktur nach dem Geschlecht –                wirtschaftlich stärkeren Regionen, z. B. Ober-
wird sich dagegen langfristig kaum ändern.7                  bayern, die von Zuzügen profitieren werden

Abbildung 2: Altersstruktur der Bevölkerung

           Vergleich* Deutschland Insgesamt – Bayern, 31.12.2013

           * Prozentuiert auf die gesamte Bevölkerung Deutschlands resp. Bayerns

Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des Bayerischen Landesamtes für Statistik (GENESIS-Online, Tabelle 12411-007s,
17.3.2015) und des Statistisches Bundesamtes: 13. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung, Wiesbaden 2015.

                                   ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                              11
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER

(siehe die prozentuale Veränderung aus Tab. 1).9             Tabelle 1 klar erkennbar: Je höher der (relative)
In schwächeren Regionen im Norden Bayerns                    Wanderungsgewinn, umso niedriger das Ge-
sind die relativen Zuwanderungsgewinne klei-                 burtendefizit. So begünstigen die hohen Zu-
ner. Indirekt reduziert Zuwanderung auch das                 wanderungsgewinne Oberbayerns dessen demo-
Geburtendefizit. Dieser „Zweitrundeneffekt“ er-              graphische Struktur, während in Oberfranken
gibt sich, weil Zuwanderer meist jünger als die              die vergleichsweise wenigen Zuzüge das Gebur-
ansässige Bevölkerung sind. Der Effekt ist in                tendefizit nicht kompensieren können.

Tabelle 1: Regionale Bevölkerungsprognose für Bayern, 2012-2032

                                    Geburtendefizit*              Wanderungen                   Insgesamt

                                                         Veränderungen in % von 2012

 Bayern Insgesamt                            -5,1                        7,9                          2,8

 Oberbayern                                 -0,8                        10,9                        10,1

 Niederbayern                               -7,8                         8,9                          1,1

 Oberpfalz                                  -7,6                         5,9                         -1,7

 Oberfranken                                -11,2                         3,1                        -8,1

 Mittelfranken                              -5,8                          7,7                         1,9

 Unterfranken                               -8,4                          3,2                        -5,2

 Schwaben                                    -5,1                        7,9                          2,8

 * Geburtendefizit: Geborene minus Gestorbene

Quelle: Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, Statistische Berichte, Wanderungen in Bayern 2013.

ENTWICKLUNG DES ARBEITSKRÄFTEANGEBOTS                        quoten. Mit den nach Geschlecht und Alter
                                                             vorliegenden Erwerbsquoten wird die Erwerbs-
Projektion des gesamtdeutschen                               beteiligung der Bevölkerung gemessen.
Erwerbspersonenpotenzials bis 2050                              Für das Erwerbspersonenpotenzial wird in
   Das Angebot an Arbeitskräften wird im Fol-                den kommenden Jahrzehnten ein massiver
genden mit dem Erwerbspersonenpotenzial ge-                  Rückgang prognostiziert. Aus rein demographi-
messen, wozu die Erwerbstätigen, die Arbeits-                schen Gründen würde das Erwerbspersonen-
losen und die Stille Reserve zählen. Dieses                  potenzial von derzeit 45,7 Millionen (2014) auf
Potenzial gibt die maximale Zahl an Arbeitskräf-             37,5 Millionen Arbeitskräfte im Jahr 2030 und
ten an, die den Betrieben in Deutschland unter               auf unter 30 Millionen in 2050 sinken.10 Dieser
gegebenen Rahmenbedingungen zur Verfügung                    Rückgang um fast 16 Millionen Personen ist
steht. Das Erwerbspersonenpotenzial ist auf                  eine Folge der Alterung – die Älteren gehen in
das Altersintervall 15 bis 74 Jahre beschränkt.              Rente und der Nachwuchs ist zahlenmäßig
Errechnet wird es aus einer multiplikativen                  deutlich kleiner als die gegenwärtig im Erwerbs-
Verknüpfung von Bevölkerung und Erwerbs-                     leben stehenden Alterskohorten.

12     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG

    Sofern die Erwerbsbeteiligung von Frauen                 (siehe Variante mit Wanderungssaldo 200.000
weiter steigt – obwohl sie im europäischen                   in Abb. 3). Für das Jahr 2050 ist bei diesem
Vergleich bereits auf hohem Niveau liegt – und               Wanderungssaldo ein Erwerbspersonenpoten-
unter Berücksichtigung der geltenden Renten-                 zial im Umfang von 36,9 Millionen zu erwar-
gesetzgebung, die dazu führen wird, dass Ältere              ten.
länger arbeiten, ergeben sich zusätzliche Erwerbs-               Damit wäre das Erwerbspersonenpotenzial
potenziale. Diese reichen aber mit beispielswei-             im Jahr 2030 merklich kleiner als die Zahl der
se gut 1,3 Millionen Personen im Jahr 2030 bei               heutigen Erwerbstätigen. Für den Mai 2015 mel-
weitem nicht aus, um den negativen demogra-                  dete das Statistische Bundesamt 42,7 Millionen
phischen Trend merklich zu bremsen oder gar                  Erwerbstätige.12 Mit anderen Worten, selbst
zu stoppen.11                                                wenn das gesamte Erwerbspersonenpotenzial
    Das aktuelle Zuwanderungsgeschehen spricht               beschäftigt wäre, es also keine Arbeitslosen und
zwar für auch in Zukunft hohe Migrations-                    keine Stille Reserve gäbe, könnte die Zahl der
ströme, aber einer genauen Prognose entzieht                 verfügbaren Arbeitskräfte im Jahr 2030 unter
sich das Wanderungsgeschehen. Die Vergan-                    Umständen nicht ausreichen, um den in Köp-
genheit kann allerdings Anhaltspunkte für die                fen gemessenen Arbeitskräftebedarf der Betriebe
mittel- und längere Frist liefern.                           zu decken – sofern der unverändert hoch bleibt.
    Nimmt man beispielsweise an, die jahres-                 Ein stärkerer Rückgang des Arbeitskräftebedarfs
durchschnittliche Nettozuwanderung hätte künf-               allerdings ist derzeit weder absehbar noch wün-
tig denselben Umfang wie in den vergangenen                  schenswert. Man sollte bedenken, wenn die
60 Jahren (wie erwähnt waren das pro Jahr rund               Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen sinkt, dann
200.000 Personen), würde das Erwerbsperso-                   müssten weniger Beschäftigte unter anderem
nenpotenzial auf dieser Grundlage bis 2030 um                die steigenden Ausgaben für die sozialen Siche-
3,5 Millionen auf 42,2 Millionen zurückgehen                 rungssysteme finanzieren.13

Abbildung 3: Erwerbspersonenpotenzial bis 2050

   in Mio. Personen

Quelle: Eigene Berechnung mit Daten des IAB-FB A2 (siehe Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf, 2015).

                                   ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                               13
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER

    Bei einer doppelt so hohen Nettozuwande-              Das Erwerbspersonenpotenzial der 30- bis
rung, also bei 400.000 Personen pro Jahr, fiele       49-Jährigen zählte 2014 über 20,6 Millionen.
der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials            Im Jahr 2030 sind es nach der Prognose noch
sichtbar schwächer aus (Abb. 3). Im Jahr 2050         19,3 Millionen, in 2050 knapp über 16,2 Mil-
hätte das Erwerbspersonenpotenzial dann im-           lionen.
merhin noch einen Umfang von knapp 42 Mil-                Das in Abbildung 3 dargestellte Szenario be-
lionen. Wie jedoch bereits angedeutet wurde,          rücksichtigt die Verschiebung der Altersgren-
dürfte eine dauerhafte Zuwanderung in dieser          zen der gesetzlichen Rente. Dadurch steigt die
Höhe unrealistisch sein.                              Erwerbsbeteiligung Älterer. Ausgehend von
    Erheblich verändern wird sich die Alterszu-       fast 15,6 Millionen im Jahr 2014 bleibt das Er-
sammensetzung der Arbeitskräfte.14 Sie folgt im       werbspersonenpotenzial der 50- bis 74-Jähri-
Wesentlichen der Struktur der Bevölkerung.            gen lange Zeit fast unverändert stark: Für 2030
    Es wird künftig erheblich weniger Erwerbs-        werden etwas unter 15,5 Millionen vorausge-
personen im jüngeren und mittleren Alter geben        schätzt. Aber mit dem Ausscheiden der Baby-
als heute. Im Folgenden wird die Prognose-            boomer in Rente sinkt auch ihre Zahl, so dass
variante mit 200.000 Nettozuwanderung pro             z. B. für 2050 nur noch 14,1 Millionen ältere
Jahr zugrunde gelegt.                                 Erwerbspersonen prognostiziert werden.
    Waren im Jahr 2014 noch fast 9,6 Millionen
Erwerbspersonen jünger als 30 Jahre, werden           Projektion des bayerischen
für 2030 weniger als 7,5 Millionen und für 2050       Arbeitskräfteangebots
knapp über 6,6 Millionen prognostiziert. Damit           Ähnlich wie bei den gesamtdeutschen Tenden-
sinkt der Anteil der 15- bis 29-Jährigen am ge-       zen folgen die Veränderungen beim bayerischen
samten Erwerbspersonenpotenzial von 20,7 %            Arbeitskräfteangebot der Bevölkerungsentwick-
in 2014 auf unter 18 % in 2050. Im Jahr 1990          lung in Bayern. Insofern ist es wieder die regio-
betrug der Anteil übrigens 32,2 %.                    nale Verteilung, die besonders zu beachten ist

Abbildung 4: Erwerbspersonenentwicklung in ausgewählten bayerischen Regionen

     Prozentuale Veränderung 2010/2030

Quelle: BBSR, Raumordnungsprognose 2030, Bonn 2012.

14      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG

(Abb. 4). Entsprechend der Trends dürfte Nord-              bedingt mit welcher Qualifikation aus? Eine
bayern der Verlierer des demographischen Wan-               erste Antwort liefert Abbildung 5. So war 2012
dels sein. Der starke prozentuale Rückgang bei              die Bevölkerungszahl der 55- bis 64-Jährigen
den Erwerbspersonen, die sich im Rahmen der                 mit einer mittleren Qualifikation, d. h. mit einer
Raumordnungsprognose des Bundesinstituts für                abgeschlossenen Berufsausbildung mit 7,3 Mil-
Bau-, Städte- und Raumforschung (BBSR) für den              lionen größer als die Zahl der Kinder im Alter
Zeitraum 2010 bis 2030 ergeben, spricht eine                von 5 bis 14 Jahren. Wenn man gedanklich die
deutliche Sprache und deckt sich mit dem de-                Balken der Abbildung nach rechts verschiebt,
mographischen Trend. Während die Raumord-                   erkennt man das Problem, das daraus in etwa
nungsprognose des BBSR für Bayern insgesamt                 zehn bis zwanzig Jahren resultiert: Ohne Zu-
im angegebenen Zeitraum 2 % weniger Erwerbs-                wanderung reicht die Bevölkerung nicht aus, um
personen prognostiziert, sind es für Wunsiedel              ausscheidende Fachkräfte mit einer mittleren
-25 %.15 Dagegen bleibt das Umland von Mün-                 Qualifikation zu ersetzen.
chen ein Magnet für Arbeitskräfte und gewinnt                   Bei den Akademikern sieht es günstiger aus.
der Prognose zufolge gut 20 %. Dies ist im We-              Von den 1,3 Millionen 25- bis 34-Jährigen, die
sentlichen eine Folge von Zuzügen und dem                   noch in Ausbildung stehen (vgl. Abb. 5), dürf-
bereits angesprochenen „Zweitrundeneffekt“.                 ten die meisten einen Hochschulabschluss an-
                                                            streben. Dies deutet sich derzeit schon an den
                                                            jährlich steigenden Studentenzahlen an. Inso-
QUALIFIKATION UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG
                                                            fern scheinen auch längerfristig Engpässe bei
Gesamtdeutsche Situation                                    den Hochqualifizierten weniger wahrscheinlich
   Hinsichtlich der Fachkräfteentwicklung muss              zu sein.
man zwei Fragen beantworten: Wie viele Men-                     Die Gruppe ohne Berufsausbildung ist in
schen treten in den Arbeitsmarkt mit welcher                allen Altersgruppen relativ vergleichbar hoch.
Ausbildung neu ein? Wie viele scheiden alters-              Wenn man bedenkt, dass die Ausbildung nor-

Abbildung 5: Bevölkerung nach Alter und Qualifikation, 2012

   in Mio. Personen

Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten des Mikrozensus (Statistisches Bundesamt).

                                   ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                         15
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER

malerweise in jungen Jahren erfolgt, dann deutet               QUALIFIKATIONSSTRUKTUR DER
dies auf erhebliche Versäumnisse im Bildungs-                  BAYERISCHEN BEVÖLKERUNG
bereich hin. In Deutschland verließen 2012                         Aktuell unterscheidet sich die Bevölkerung
noch etwa 50.000 Jugendliche (6 %) ohne                        in Bayern hinsichtlich der Qualifikation kaum
Abschluss die Schule. Um eine spätere Qualifi-                 vom gesamtdeutschen Durchschnitt. Beim Ver-
zierung bzw. auch eine Höherqualifizierung zu                  gleich der Abbildungen 5 und 6 für Gesamt-
ermöglichen, sollte das Bildungssystem deshalb                 deutschland respektive Bayern ist allerdings zu
möglichst durchlässig organisiert werden.                      beachten, dass sie nicht vollständig kompatibel
    Eine in 2015 erschienene Studie von Zika                   sind. In Abbildung 6 umfasst die Gruppe der
u. a. prognostiziert für Deutschland erhebliche                Personen ohne Berufsabschluss sowohl diejeni-
Engpässe für die mittlere Qualifikationsebene.16               gen, die noch in Ausbildung (Schule, Studium,
Letztlich ist das eine Folge des Ausscheidens                  Lehre) stehen, als auch diejenigen, die weder
der Baby-Boom-Generation, von denen viele                      Ausbildung haben noch zum gegebenen Zeit-
eine Lehre abgeschlossen haben (vgl. z. B. die                 punkt eine anstreben. Dennoch lässt sich aus
Gruppe der 45- bis 54-Jährigen in Abb. 5). Für                 den Abbildungen 5 und 6 ein vergleichbares
das Jahr 2030 wird ein ungedeckter „rein rech-                 Grundmuster für die Gegenwart erkennen.
nerischer Bedarf“ von 710.000 Fachkräften vor-                     Die Studie von Hänisch und Kalinowski, aus
ausgeschätzt – d. h. nicht alle an sich vorhan-                der die Daten für Bayern stammen, enthält dar-
denen Arbeitsplätze können durch qualifizierte                 über hinaus auch eine Projektion bis zum Jahr
Fachkräfte besetzt werden. Dagegen wird ein                    2030.17 Die Zuwanderung nach Bayern scheint
Überangebot an Akademikern gesehen (ca. eine                   die fehlenden jüngeren Jahrgänge wenigstens
Mio.). Insofern sind Verdrängungseffekte denk-                 teilweise kompensieren zu können, wobei
bar. Akademiker werden Positionen einnehmen                    trotzdem die Zahl der beruflich Qualifizierten
müssen, für die sie überqualifiziert sind.                     in 2030 unter der in 2010 liegt. Ein erfreulicher

Abbildung 6: Bevölkerung in Bayern nach Alter und Qualifikation

in Mio. Personen

Quelle: Hänisch / Kalinowski: Regionalisierte Projektion des Arbeitsangebotes nach Qualifikationsstufen und Berufsfeldern
bis 2030, S. 162 (dankenswerterweise wurden uns die exakten Daten für Abb. 6 bereitgestellt).

16      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG

Aspekt ist, dass die Angaben für die Älteren (ab    verringern, erreicht wird. Denn bereits ein
dem 35. Lebensjahr) auf einen Rückgang der          Hauptschulabschluss vermindert das Arbeitslo-
beruflich nicht Qualifizierten schließen lassen.    sigkeitsrisiko selbst für Personen ohne Berufs-
    Die zitierte Studie von Zika u. a. kommt        ausbildung um die Hälfte. In der zweiten Stufe
deshalb für Bayern zu einem ähnlichen Schluss       spielt eine qualifizierte Berufsausbildung eine
wie für Gesamtdeutschland: Unter Berücksich-        wichtige Rolle. Je höherqualifiziert diese ist,
tigung der guten wirtschaftlichen Entwicklung       umso größer ist auch die Chance auf einen Ar-
droht Bayern ein Fachkräftemangel und ein           beitsplatz; dies gilt vor allem für Meister- und
Akademikerüberhang.18 Möglicherweise müs-           Technikerausbildungen. Zugleich erfordern die
sen sich auch in Bayern Akademiker mit nicht-       immer schneller wechselnden Anforderungen im
adäquaten Arbeitsplätzen abfinden.19                Berufsleben und die sich verlängernde Lebens-
                                                    arbeitszeit eine kontinuierliche Weiterbildung.
FAZIT                                               Nicht zuletzt müssen Arbeitslose durch ziel-
     Nach den vorliegenden Projektionen wird        gerichtete und nachhaltig angelegte Qualifizie-
das Erwerbspersonenpotenzial demographisch          rungsmaßnahmen wieder an den Arbeitsmarkt
bedingt abnehmen. Zuwanderung aus dem               herangeführt werden.21
Ausland kann diesen Trend nur abschwächen,
denn auch Migranten werden älter.                   ||   DR. JOHANN FUCHS
     Regionale Disparitäten dürften verschärft           Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
auftreten, weil vor allem starke, prosperierende         Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB),
Regionen sowohl von Zuzügen aus dem Aus-                 Nürnberg, Forschungsbereich Prognosen und
land als auch aus dem Inland profitieren, wäh-           Strukturanalysen, Dozent an der International
                                                         Business School Nürnberg
rend benachteiligte Regionen noch mehr auf die
Verliererstraße gedrängt werden könnten. Die
                                                    ||   BRIGITTE WEBER
Gefahr eines die nationale wie auch die interna-
tionale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen-            Dipl.-Sozialwirtin (Univ.), Mitarbeiterin am
                                                         Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung
den Fachkräftemangels dürfte somit regional              (IAB), Nürnberg, Forschungsbereich Prognosen
noch höher einzuschätzen sein als auf gesamt-            und Strukturanalysen
deutscher Ebene. Bayern steht derzeit wirt-
schaftlich hervorragend da, steht aber auch vor
denselben demographischen Problemen wie das
übrige Deutschland.                                 ANMERKUNGEN
     Neben der Frage, wie einzelne Regionen und     1
                                                         Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung
Deutschland insgesamt Zuwanderung fördern                Deutschlands bis 2060. 13. koordinierte Bevölke-
können, stellt sich auch die Frage, wie zusätzli-        rungsvorausberechnung, Wiesbaden 2015.
che, heimische Erwerbspotenziale zu erschließen     2
                                                         Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bezieht
sind. Solche Potenziale sind in einer steigenden         sich meist auf das Altersintervall 15 bis 64 Jahre,
Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren zu             inzwischen reicht es häufig auch bis zum 67. Le-
sehen. Vorliegende Analysen belegen allerdings           bensjahr. Für Fragen des Arbeitskräfteangebots ist
                                                         ein Intervall 15 bis 74 angemessener, weil es eine
eine nachlassende Wirkung dieser Potenziale,
                                                         durchaus nennenswerte Anzahl von Personen gibt,
denn ihre Basis, die Bevölkerung im erwerbsfä-           die auch nach dem 64. bzw. 66. Lebensjahr noch
higen Alter, schrumpft.20 Umso mehr stellt sich          arbeitet.
das Problem, Angebot und Nachfrage auch in          3
                                                         Erwartet wird im Allgemeinen ein weiteres Absin-
qualifikatorischer Hinsicht zusammenzubringen            ken der Sterblichkeit; siehe Eisenmenger, Matthias /
und insbesondere auch vorhandene Potenziale              Emmerling, Dieter: Amtliche Sterbetafeln und Ent-
fit für den Arbeitsmarkt zu machen.                      wicklung der Sterblichkeit, in: Wirtschaft und Statis-
                                                         tik, März 2011, S. 219-238. Weil die altersspezifischen
     So muss mit mehr Vehemenz versucht wer-
                                                         Sterbeziffern der 15- bis 64-Jährigen sehr niedrig
den, dass das eigentlich bereits für 2015 be-            sind, wirken sich Änderungen in der Mortalität auf
schlossene Ziel, den Anteil der Schüler, die die         die Erwerbsbevölkerung und damit auf das Ar-
Schule ohne Abschluss verlassen, auf 4 % zu              beitskräfteangebot jedoch kaum aus. Eine größere

                               ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                              17
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER

     Rolle spielt die Mortalität jedoch indirekt beim Ar-        Wiesbaden 2011, http:// www.sachverstaendigenrat-
     beitskräftebedarf. Da mit steigender Lebenserwar-           wirtschaft.de; Stand: 14.12.2014; vgl. auch Brücker /
     tung die Zahl der Älteren und Hochbetagten in der           Brunow / Fuchs u. a.: Fachkräftebedarf in Deutsch-
     Gesellschaft zunimmt, resultiert daraus ein zusätz-         land.
     licher Bedarf an spezifischen Leistungen (Pflege,      14
                                                                 Fuchs, Johann / Söhnlein, Doris / Weber, Brigitte:
     medizinische Versorgung), zugleich aber auch die            Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050.
     Notwendigkeit, diesen Bedarf finanziell zu decken.          Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhal-
4
     Diese und die folgenden Wanderungsdaten findet              ten, IAB-Kurzbericht 16/2011, Nürnberg 2011 (mit
     man auf der Homepage des Statistischen Bundes-              aktualisierten Daten).
     amts (StBA). Differenzierte Wanderungsstatistiken      15
                                                                 Für Deutschland wird eine Abnahme um 8 % pro-
     lieferte das StBA auf Anfrage, wofür wir dem StBA           gnostiziert. In einer Neuauflage wird der Prognose-
     sehr danken.                                                horizont erweitert. Für Bayern wird bis 2035 ein
5
     Vgl. Brücker, Herbert / Brunow, Stephan / Fuchs,            Rückgang von -4,9 % angegeben. Allerdings liegen
     Johann u. a.: Fachkräftebedarf in Deutschland. Zur          die Prognosedaten nicht für Kreise vor. Vgl. Raum-
     kurz- und langfristigen Entwicklung von Fachkräfte-         ordnungsprognose des Bundesinstitut für Bau-,
     angebot und -nachfrage, Arbeitslosigkeit und Zu-            Städte- und Raumforschung (BBSR) 2030 bzw.
     wanderung. IAB-Stellungnahme, 1/2013, Nürnberg              2035, z. B. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/
     2013. http://www.iab.baintern.de/import/publikati           Raumbeobachtung/UeberRaumbeobachtung/Kom
     on/IAB-Stellungnahme/publikation_2902495_IAB-               ponenten/Raumordnungsprognose/Download_RO
     Stellungnahme-*-01-2013_Fachkräftebedarf-in-Deu             P2035/DL_ROP2035_uebersicht.html?nn=395966,
     tschlan.html                                                Stand: 16.6.2015.
6
     Siehe Fuchs, Johann / Kubis, Alex / Schneider, Lutz:   16
                                                                 Zika, Gerd / Maier, Tobias / Hummel, Markus /
     Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutsch-             Helmrich, Robert: Entwicklung von Arbeitskräfte-
     land bis 2050. Szenarien für ein konstantes Erwerbs-        angebot und -bedarf bis 2030 in sechs Regionen, in:
     personenpotenzial – unter Berücksichtigung der zu-          Qualifikation und Beruf in Deutschlands Regionen
     künftigen inländischen Erwerbsbeteiligung und der           bis 2030. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der
     EU-Binnenmobilität, hrsg. von der Bertelsmann Stif-         BIBB-IAB-Projektionen, hrsg. von Gerd Zika und
     tung, Gütersloh 2015.                                       Tobias Maier, Bielefeld 2015 (IAB-Bibliothek, 353),
7
     Dies zeigt ein Vergleich von Projektionsvarianten           S. 9-68.
     mit unterschiedlichen Wanderungsannahmen, z. B.        17
                                                                 Hänisch, Carsten / Kalinowski, Michael: Regionali-
     Statistisches Bundesamt, 13. koordinierte Bevölke-          sierte Projektion des Arbeitsangebotes nach Qualifi-
     rungsvorausberechnung, 2015.                                kationsstufen und Berufsfeldern bis 2030 auf Basis
8
     Bayerisches Landesamt für Statistik: Wanderungen            des BIBB-FIT-Modells, in: Qualifikation und Beruf
     über Landesgrenzen, aus: GENESIS-Online Tabellen            in Deutschlands Regionen bis 2030. Konzepte, Me-
     12711-131z und 12711-141z, Stand: 17.3.2015.                thoden und Ergebnisse der BIBB-IAB-Projektionen,
9
     Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenver-           hrsg. von Gerd Zika und Tobias Maier, Bielefeld
     arbeitung: Regionalisierte Bevölkerungsvorausbe-            2015, S. 113-166.
                                                            18
     rechnung für Bayern bis 2032, Beiträge zur Statistik        Zika / Maier / Hummel / Helmrich: Entwicklung
     Bayerns, Heft 546, München 2014, https://www.sta            von Arbeitskräfteangebot und -bedarf bis 2030,
     tistik.bayern.de/statistik/byrbz/09.pdf,    Stand:          S. 50 ff.
     30.6.2015.                                             19
                                                                 Eine weitere Untergliederung nach einzelnen Aus-
10
     Vgl. Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf          bildungsrichtungen / -berufen zum einen und der
     aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, S. 26-27.         entsprechend gegliederten Nachfrage nach Arbeits-
11
     So zählten 2010 beispielsweise 88 % der 30- bis 49-         kräften zum anderen ist statistisch schwierig und
     jährigen Frauen zum Arbeitskräftepotenzial. Für das         prognostisch kritisch zu sehen; vgl. Maier, Tobias /
     Jahr 2025 wird der Wert auf 90 %, für 2050 sogar            Mönnig, Anke / Zika, Gerd: Labour demand in
     auf gut 93 % vorausgeschätzt; vgl. dazu Fuchs /             Germany by industrial sector, occupational field and
     Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf aus Dritt-            qualification until 2025. Model calculations using
     staaten in Deutschland bis 2050, 2015, S. 17-19.            the IAB/inforge model, in: Economic Systems Re-
12
     Statistisches Bundesamt: Mai 2015: Anstieg der Er-          search 1/2015, S. 19-42.
                                                            20
     werbstätigkeit im Vorjahresvergleich schwächt sich          Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf
     weiter ab. Pressemitteilung Nr. 240/15.                     aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, S. 27-30.
13                                                          21
     Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt-            Hausner, Karl Heinz / Söhnlein, Doris / Weber,
     wirtschaftlichen Entwicklung: Herausforderungen             Brigitte / Weber, Enzo: Qualifikation und Arbeits-
     des demografischen Wandels. Expertise im Auftrag            markt: Bessere Chancen mit mehr Bildung, in: IAB-
     der Bundesregierung. Expertise vom Mai 2011,                Kurzbericht 11/2015.

18       ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN
IN LÄNDLICHEN RÄUMEN
HANNO KEMPERMANN || Ländliche Räume stehen in den nächsten Jahren vor zwei großen Heraus-
forderungen: dem demographischen Wandel und den massiven Impulsen der Digitalisierung auf den
Strukturwandel. Beides stellt eine Notwendigkeit aktiver Gestaltung mit Blick auf die Fachkräfte-
situation in ländlichen Räumen dar. Für die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand Deutschlands
ist es entscheidend, dass die ländlichen Räume ihre Stabilisierungsfunktion aufrechterhalten. Fast
die Hälfte der Unternehmen in ländlichen Räumen hat indes schon heute Schwierigkeiten, geeignete
Fachkräfte zu rekrutieren. Deshalb müssen Unternehmen und regionale Akteure gezielte Maßnahmen
erarbeiten, um diesen sich verstärkenden Trends entgegenzuwirken.

HETEROGENITÄT LÄNDLICHER RÄUME UND                       Nach dieser Definition waren 2013 über
IHRE CHARAKTERISTIKA                                 70 Prozent aller Industriebeschäftigten in Unter-
    Derzeit besteht noch eine Balance zwischen       nehmen auf dem Land tätig, obwohl nur 56 Pro-
Ballungsräumen und ländlichen Räumen in              zent aller Beschäftigten dort arbeitet. Deshalb
Deutschland. In ländlichen Räumen Deutsch-           liegt auch die Industriequote in ländlichen Räu-
lands sind zwei Drittel aller sozialversicherungs-   men höher als in städtischen Gebieten. Trugen
pflichtig Beschäftigten tätig, die wiederum zwei     die Industrieunternehmen in städtischen Räu-
Drittel des Bruttoinlandprodukts erwirtschaften.     men 2012 nur 17,6 Prozent zur Bruttowert-
Dies zeigt, dass die Peripherie längst nicht mehr    schöpfung bei, lag der Anteil auf dem Land bei
von Landwirtschaft und Tourismus geprägt ist.        26,3 Prozent. Dabei finden sich die hochpro-
Vielmehr sind auch auf dem Land hoch innova-         duktiven Unternehmen eher in den städtischen
tive und produktive Unternehmen beheimatet –         Gebieten, während in peripher gelegenen Räu-
beispielsweise die viel zitierten hidden cham-       men eher Unternehmen mit einer geringeren
pions, die als größere Unternehmen Weltmarkt-        Produktivität zu finden sind. So liegen bei-
führer in ihrem Bereich, aber dennoch relativ        spielsweise mehr als 15 Prozent Unterschied
unbekannt sind.                                      zwischen der erzielten Produktivität in Ballungs-
    Gleichwohl unterscheiden sich ländliche Räu-     räumen im Vergleich zu der in verdichteten und
me erheblich in der Ausstattung mit Erfolgsfak-      gering verdichteten ländlichen Räumen.
toren wie einer wettbewerbsfähigen Wirtschafts-          Tabelle 1 zeigt diese Disparitäten noch wei-
struktur oder eine positive demographischen          ter regional aufgefächert. Hier wird deutlich,
Prognose. Abbildung 1 zeigt die in der vorlie-       dass Unternehmen in verdichteten und gering
genden Studie verwendete Abgrenzung ländli-          verdichteten ländlichen Räumen ein Defizit bei
cher Räume, die auf Basis von Schwellenwerten        Forschung und Entwicklung aufweisen. Auch
bei Einwohneranzahl und Einwohnerdichte er-          die Akademiker- und Ingenieurquoten sind dort
arbeitet wurde. Hier zeigt sich eindrücklich die     lediglich unterdurchschnittlich ausgeprägt. Hier
ländliche Prägung Bayerns, während Nordrhein-        spiegeln sich die geringeren Produktivitätswerte
Westfalen sehr dicht besiedelt ist.                  wider.

                                ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                    19
HANNO KEMPERMANN

Abbildung 1: Regionstypen in Deutschland

Quelle: Eigene Berechnungen

20      ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN

Tabelle 1: Charakteristika der Regionstypen

                                               Städte                      Ländliche Räume
                                                                                                         Deutsch-
                         Jahr                                                                              land
                                    Ballungs-                    hoch ver-      ver-         gering      Gesamt
                                                   Kernstadt
                                      raum                        dichtet      dichtet     verdichtet

 Anzahl                  2015             67             43         101           128            63          402

 Produktivität
                         2012        68.271         59.108        67.123      59.024         57.405      64.084
 in Euro

 Industriequote
                         2012           16,5            27,0        27,2         26,7          24,8          22,4
 in % an BWS

 FuE-Personal-
                         2011            9,9             9,2        12,1           5,7          4,4              8,7
 quote in %

 Akademiker-
                         2014           19,3            12,4        12,1          9,3           8,3          13,8
 quote in %

 Ingenieurquote
                         2014            3,2             2,9         2,9          2,0           1,9              2,7
 in % der SVB

Quelle: VGR der Länder, Bundesagentur für Arbeit, Statistisches Bundesamt, Stifterverband, eigene Berechnungen

    Die Gefahr ist offensichtlich: Wenn Unter-                 aus, wodurch Innovationsimpulse entstehen und
nehmen in ländlichen Räumen außerhalb der                      Lieferketten effizient organisiert werden kön-
Speckgürtel nicht den Sprung zu einem höhe-                    nen.1 Ländliche Räume üben damit derzeit eine
ren Maße von Digitalisierung, Vernetzung und                   wichtige Stabilisierungsfunktion in Deutschland
Produktivität schaffen, werden die an sie ge-                  aus und tragen signifikant zur Wettbewerbsfä-
stellten Herausforderungen noch schwieriger                    higkeit und zum Wohlstand bei. Entscheidend
von ihnen zu lösen sein. Dies wiederum hätte                   für das Geschäftsmodell Deutschland ist des-
negative Effekte auf die Heimatregionen dieser                 halb, diese Herausforderungen in ländlichen
Unternehmen. In Zukunft wird es aufgrund des                   Räumen zu meistern.
zunehmenden globalen Wettbewerbs immer
wichtiger, Produktivitätssteigerungen zu erzie-                DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND
len, ergänzende Geschäftsmodelle zu imple-                     DIGITALISIERUNG
mentieren (beispielsweise mit Blick auf Digita-                    Insbesondere zwei Megatrends wirken sich
lisierung) und Kooperationen zu Forschung                      massiv auf die Entwicklung von Regionen aus:
und Innovation zu schließen. Diese Aspekte                     der demographische Wandel und die Digitali-
bilden eine entscheidende Grundlage für Wett-                  sierung. Regionen müssen schon heute aktiv
bewerbsvorsprünge, die das vergleichsweise                     Gestaltungsmaßnahmen erarbeiten, um auch
hohe Lohnniveau in Deutschland rechtfertigen                   in Zukunft wettbewerbsfähig und attraktiv für
können.                                                        Einwohner und Unternehmen sein zu können.
    Die Unternehmen in peripher gelegenen                      Eine maßgebliche Chance liegt darin begrün-
ländlichen Räumen strahlen über Innovations-                   det, dass beide Trends auch auf kleinräumiger
netzwerke und Zulieferbeziehungen auf die                      Ebene gestaltet werden können, ohne entschei-
Wertschöpfungsstrukturen in ganz Deutschland                   dend abhängig von Bundes- und Landespolitik

                                    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                                    21
HANNO KEMPERMANN

sein zu müssen. Die Kehrseite der Medaille ist      und sinkender Wohlstand bis hin zur Auflösung
indes, dass damit implizit auch das Risiko ver-     der regionalen Identität. Die Attraktivität peri-
bunden ist, den Anschluss bei Untätigkeit zu        pher gelegener ländlicher Räume würde durch
verpassen.                                          eine solche Negativspirale weiter dezimiert
    Der demographische Wandel in Deutschland        werden, wodurch die Stabilisierungsfunktion
wirkt sich in den nächsten Jahren auf vielfältige   dieser Räume in Frage gestellt wäre.
Art und Weise aus. Die Bevölkerung schrumpft            Eine leistungsfähige Breitbandinfrastruktur
und altert. Insbesondere für das Flächenland        ist Grundvoraussetzung für eine attraktive Re-
Bayern, in dem flächenmäßig Baden-Württem-          gion. Die Chance für ländliche Räume besteht
berg und Nordrhein-Westfalen mit ihren insge-       darin, dass die Bedeutung des Internets immer
samt knapp 29 Mio. Einwohnern Platz finden,         stärker zunimmt und in Zukunft ein Stück weit
bedeutet diese Entwicklung starke gegenläufige      die unzureichende Verkehrsinfrastrukturausstat-
Effekte. Insgesamt soll die Einwohnerzahl in        tung kompensieren wird. Studien zeigen, dass
Bayern bis 2032 zwar um 2,8 Prozent auf             die Zahlungsbereitschaft potenzieller Immobi-
knapp 12,9 Mio. wachsen2 – die regionalen           lienkäufer rapide sinkt, wenn kein Breitband-
Unterschiede sind gleichwohl erheblich. Wäh-        internet verfügbar ist.
rend abgelegene Regionen wie beispielsweise in          Ein erhebliches Problem beim Breitbandaus-
Oberfranken mit einem Einwohnerverlust von          bau ist jedoch, dass die Kosten mit Abnahme
bis zu knapp 20 Prozent bis 2032 rechnen müs-       der Bevölkerungsdichte steigen. Ein eigenwirt-
sen, haben ländliche Räume in der Nähe von          schaftlicher Ausbau ist in vielen ländlichen
Großstädten, die „Speckgürtel“, voraussichtlich     Räumen nicht möglich. Gerade Bayern als Flä-
hohe Einwohnerzuwächse zu verzeichnen. Für          chenland betrifft dieses Problem in besonderem
die Landkreise München und Ebersberg wird           Maße. Deshalb hat die Bayerische Staatsregie-
beispielsweise ein Wachstum von jeweils knapp       rung auch als einzige in Deutschland ein hoch
11 Prozent prognostiziert.                          dotiertes Förderprogramm mit einem Volumen
    Die Wanderungsbewegungen der Bevölke-           von 1,5 Mrd. Euro aufgelegt, um die ländlichen
rung verstärken die Herausforderungen für pe-       Räume anzuschließen. Dies ist eine Grund-
ripher gelegene ländliche Räume. So lag Ende        voraussetzung dafür, die Negativspirale von
2013 das Durchschnittsalter der Bevölkerung         Abwanderung und sinkender Attraktivität zu
im Kreis Freising bei 40,7 Jahren (Bestwert in      durchbrechen. Eine leistungsfähige Breitband-
Deutschland), während es in Wunsiedel im            versorgung kann zudem die Verbreitung von
Fichtelgebirge bei 47,7 Jahren liegt. Am ältes-     Zukunftsthemen wie eLearning, eHealth oder
ten in die Bevölkerung mit 50,2 Jahren im           die Durchsetzung neuer Mobilitätskonzepte
Durchschnitt im thüringischen Suhl.3 Vor die-       (shared mobility) begünstigen, die wiederum ein
sem Hintergrund müssen vor allem die Unter-         Stück weit die Lagenachteile ländlicher Räume
nehmen in eher abgelegenen ländlichen Räu-          kompensieren können.
men bereits heute Strategien entwickeln, um             Weitere Chancen liegen in der Etablierung
Fachkräfteengpässen entgegenwirken zu kön-          eines digital entrepreneurship, also einer digitalen
nen. Ansonsten droht eine Negativspirale durch      Gründerkultur, die neue Geschäftsmodelle er-
den Bevölkerungsverlust. Ab einer kritischen        folgreich im Markt platziert. Bayern geht hier mit
Einwohnerdichte kann das öffentliche Leben          dem Aufbau der beiden Initiativen Zentrum
nicht mehr aufrechterhalten werden. Kinder-         Digitalisierung.Bayern und Gründerland.Bayern
tagesstätten können nicht ausgelastet werden,       im Rahmen der Strategie Bayern Digital voraus
wodurch die Vereinbarkeit von Familie und Be-       und schafft damit verbesserten Finanzierungs-
ruf leidet, Partner finden schwieriger attraktive   angeboten attraktive Rahmenbedingungen für
Jobangebote, Schulen müssen schließen und           private Gründungsinitiativen. Auf dieser Basis
die Kosten der Infrastruktur steigen pro Kopf       können peripher gelegene ländliche Regionen
(sogenannte Remanenzkosten, beispielsweise          aufbauen, indem sie die Vernetzungs- und
bei der Wasserversorgung). Daraus resultieren       Kooperationskomponenten in ihren Strategien
Geschäftsaufgaben, sinkende Immobilienpreise        akzentuieren.

22     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN

    Hier zeigen sich deutlich die vollkommen            Das Risiko besteht darin, dass Länder wie
neuen Chancen und Risiken, die sich durch die       Südkorea oder die USA (mit dem IIC – indus-
Digitalisierung für die ländlichen Räume in         trial internet consortium) schneller und mit grö-
Deutschland ergeben. Unternehmerseitig läuft        ßerem Ressourceneinsatz fit für Industrie 4.0
derzeit vor diesem Hintergrund eine intensive       werden. Die Herausforderungen beginnen bei
Diskussion unter dem Schlagwort Industrie 4.0.      der Breitbandversorgung, gehen über wettbe-
Neue digitale Geschäftsmodelle und erhebliche       werbsfähige IT-Unternehmen und eine leben-
Produktivitätsvorteile können bei richtiger Aus-    dige Gründungskultur bis hin zu einem adäquat
gestaltung Wettbewerbsvorsprünge induzieren         gestalteten Bildungssystem und der Definition
und große Wertschöpfungspotenziale freiset-         von Branchenstandards, einem geeigneten
zen. Dabei versetzt das Phänomen Industrie 4.0      Rechtsrahmen und einer adäquaten IT-Sicher-
Mensch und Maschine miteinander und unter-          heit.
einander in die Lage, über Webtechnologien in           Mit der umfassenden Vernetzung geht ein-
Echtzeit zu kommunizieren und selbststeuernd        her, dass Unternehmen in ländlichen Räumen
zu agieren.                                         Bayerns noch stärker mit global orientierten
    Auf Basis umfassender Vernetzungen ent-         nationalen und internationalen Unternehmen
steht eine völlig neue Produktionslogik mit bis-    konkurrieren müssen. Der Wettbewerb wird
her nicht gekannten Formen an Flexibilität und      damit noch anspruchsvoller, schneller und
Autonomie. Die Produkte und Werkstücke spei-        technologisch versierter. Deshalb müssen die
chern Wissen, sind eindeutig identifizierbar,       Unternehmen diesen Wandel aktiv gestalten –
jederzeit lokalisierbar und können miteinander      und zwar sowohl in der technologischen als
interagieren, sich gegenseitig konfigurieren und    auch in der qualifikatorischen Dimension.
selbststeuern. Klassische Produktionsprozesse           Fachkräfte werden sich deutlich stärker in
werden so digitalisiert. Fabriken werden zu so-     den MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik,
genannten cyber-physischen Systemen (CPS),          Naturwissenschaft, Technik) qualifizieren müs-
die auf Basis von Plattformen die Informations-     sen – eine Gruppe, die schon heute zu klein,
ströme verarbeiten und organisieren. Aus tradi-     gemessen am Bedarf der Unternehmen, ist.
tionellen Wertschöpfungsketten werden durch         Während von Anfang 2015 bis Ende 2020 ein
die Vernetzung der Fabriken in einem letzten        Gesamtbedarf von rund 2,9 Mio. MINT-Fach-
Schritt integrierte, in Echtzeit gesteuerte Wert-   kräften prognostiziert wird, liegt das voraus-
schöpfungsnetzwerke.4 Insbesondere Unter-           sichtliche Angebot bei lediglich 1,6 Mio. Fach-
nehmen in ländlichen Räumen können sich so          kräften. Der ungedeckte Bedarf beträgt für
noch besser in Wertschöpfungsnetzwerke ein-         diesen Zeitraum 1,3 Mio. Fachkräfte. Auch
betten und davon profitieren, dass so die Nach-     hier werden die größten Lücken im beruflichen
teile räumlicher Distanzen ein gutes Stück weit     Angebot gesehen.7
ausgehebelt werden. Die überdurchschnittlich
ausgeprägte industrielle Struktur in ländlichen     FACHKRÄFTEENGPÄSSE IN
Räumen begünstigt die Vernetzungspotenziale         LÄNDLICHEN RÄUMEN
und kann damit die Wettbewerbsfähigkeit die-            Knapp die Hälfte aller Unternehmen in
ser Regionen signifikant erhöhen.                   Deutschland, die Fachkräfte suchen, haben
    Studien rechnen bei der richtigen und zügi-     Schwierigkeiten, ihren Bedarf zu decken.8 Be-
gen Ausgestaltung von Industrie 4.0 mit bis zu      sonderen Herausforderungen sehen sich Un-
210 Mrd. Euro zusätzlicher Wertschöpfung bis        ternehmen in ländlichen Räumen und solche
zum Jahr 2025.5 Damit einher geht ein Wandel        gegenüber, die vor allem Beschäftigte mit be-
in der Qualifikationsstruktur – hin zu mehr         ruflicher Bildung benötigen.
technisch orientierten Ausbildungs- und Studi-          Hier spielen drei Faktoren eine herausragen-
engängen.6 Deshalb müssen die Unternehmen           de Rolle: die geringere Attraktivität ländlicher
sich aktiv mit diesen Entwicklungen auseinan-       Räume, der Trend zur Akademisierung und der –
dersetzen, um nicht im globalen Wettbewerb          bereits beschriebene – demographische Wandel,
den Anschluss zu verlieren.                         auf den deshalb hier nicht nochmals gesondert

                               ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101                    23
HANNO KEMPERMANN

eingegangen wird. Während erstgenannter                 Die genannten Aspekte führen dazu, dass
Trend regional gestaltbar ist, müssen mit Blick     bereits heute 55,8 Prozent der Unternehmen in
auf die Akademisierung eher reaktive Strate-        ländlichen Räumen große Probleme bei der
gien entwickelt werden, mit denen die Unter-        Rekrutierung geeigneter Mitarbeiter mit Berufs-
nehmensbedürfnisse bestmöglich in Einklang          ausbildung und sogar 61 Prozent bei potenziellen
mit den neuen Entwicklungen gebracht wer-           Mitarbeitern mit Fortbildung (bspw. Meister)
den.                                                haben – jeweils rund 10 Prozentpunkte mehr
∙ Attraktivität ländlicher Räume: Unterneh-         Unternehmen in städtischem Umfeld (Tab. 2).
   men in ländlichen Räumen bewerten ihr            Bei den Auszubildenden hat ebenfalls mehr als
   Umfeld schlechter als Unternehmen in städ-       die Hälfte Schwierigkeiten – hier beträgt der
   tischen Räumen. Während letztere beispiels-      Unterschied zu städtischen Regionen sogar
   weise die Ausstattung mit sozio-kulturellen      mehr als 10 Prozentpunkte. Dazu hat jedes
   Einrichtungen durchschnittlich mit einer         zweite Unternehmen mit Akademikerbedarf
   2,1 auf einer Schulnotenskala bewerten,          Probleme, offene Stellen adäquat zu besetzen.
   vergeben erstere lediglich eine 3,1. Sowohl      Lediglich der Markt für Mitarbeiter ohne Be-
   das wirtschaftliche als auch das Wohnum-         rufsausbildung ist noch nicht angespannt. Im
   feld werden ebenfalls in verstädterten Räu-      Ergebnis kann bereits heute jedes zweite Unter-
   men attraktiver eingeschätzt als in ländlichen   nehmen nicht sein eigentliches Umsatzpotenzial
   Räumen. Das wirtschaftliche Umfeld wird          entfalten.
   in Städten mit einer 2,4 benotet – ländliche         Diese Schwierigkeiten werden in Zukunft an
   Unternehmen vergeben auch hier nur eine          Bedeutung zunehmen – und zwar in beschleu-
   3,1. Im Wohnumfeld liegt die Diskrepanz          nigtem Maße, weil zwei gegenläufige Effekte in
   bei 2,0 in den Städten zu 2,5 in ländlichen      ländlichen Räumen zu beobachten sind. Erstens
   Räumen.9 Das führt dazu, dass auch das           wirkt sich hier der demographische Wandel
   Image der Regionen unterschiedlich bewer-        wie beschrieben besonders stark aus. Zweitens
   tet wird. Unternehmen im städtischen Um-         gehen die Unternehmen von steigendem Per-
   feld geben mit einer 2,3 eine gute Note, Un-     sonalbedarf in den nächsten Jahren aus. Die
   ternehmen in ländlichen Räumen bewerten          Unternehmen planen demnach, nicht nur die
   ihr Umfeld mit einer 2,9 lediglich befriedi-     in Ruhestand gehende Belegschaft zu ersetzen,
   gend.                                            sondern zusätzliche Beschäftigte einzustellen.
∙ Akademisierung: Lag 2000 die Studienan-           Fast die Hälfte der Unternehmen in ländlichen
   fängerquote – also die Jugendlichen, die mit     Räumen erwarten in den nächsten Jahren einen
   (Fach-)Hochschulreife ein Studium begin-         steigenden Personalbedarf bei Fachkräften mit
   nen – noch bei einem Drittel, stieg sie bis      Berufsausbildung, also derjenigen Gruppe, bei
   2014 auf 57,3 Prozent.10 Deshalb sind Fach-      der schon heute teilweise massive Engpässe
   kräfteengpässe bei Auszubildenden und bei        festzustellen sind. Mehr als jedes dritte Unter-
   Beschäftigten mit beruflicher Bildung beson-     nehmen plant zusätzliche Fachkräfte mit spezi-
   ders evident. Dies birgt Gefahren für das        fischen Qualifikationen aus Weiterbildungen
   erfolgreiche Bildungssystem in Deutschland       (wie Meister- und Technikerabschlüsse) einzu-
   und damit für die Wettbewerbsfähigkeit der       stellen.
   Unternehmen. Die Herausforderungen des
   digitalen Wandels bringen ein stärkeres unter-
   nehmensseitiges Arbeitsangebot mit MINT-
   Hintergrund und interdisziplinärem Blick-
   winkel mit sich. Darauf müssen sowohl im
   Rahmen beruflicher Bildungsangebote als
   auch in der besseren fortlaufenden Einbin-
   dung von Bachelor-Studenten in Unterneh-
   men Antworten gefunden werden.

24     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
Sie können auch lesen