101 FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM - Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen - Hanns ...
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Silke Franke (Hrsg.) FACHKRÄFTESICHERUNG IM LÄNDLICHEN RAUM 101 Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen www.hss.de
Impressum ISBN 978-3-88795-497-0 Herausgeber Copyright 2015, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. +49 (0)89 / 1258-0 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ / Publikationen Hubertus Klingsbögl Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl.-Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin) Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München Männliche / weibliche Form Die in der vorliegenden Publikation verwendete männliche Form impliziert selbstverständlich auch die weibliche Form. Auf die Verwendung beider Geschlechtsformen wird lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns- Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Davon ausgenommen sind Teile, die als Creative Commons gekennzeichnet sind. Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.
INHALT 5 EINFÜHRUNG Silke Franke ANALYSE 9 DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG Ein Vergleich Bayerns mit Gesamtdeutschland Johann Fuchs / Brigitte Weber 19 FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN Hanno Kempermann 29 FACHKRÄFTESICHERUNG IN LÄNDLICHEN RÄUMEN Handlungsoptionen für kleine und mittlere Unternehmen Hans Hercksen IMPULSE AUS DER PRAXIS VOR ORT 37 EUROPÄISCHE METROPOLREGION NÜRNBERG Aktivitäten und Projekte im Bereich Fachkräftesicherung Christa Standecker 45 REGIONALER SPIELMACHER IM LANDKREIS DONAU-RIES Klemens Heininger 53 FRÜHE POTENZIALFÖRDERUNG UND INTEGRATION ALS BESONDERE CHANCE FÜR DEN LÄNDLICHEN RAUM Heidemarie Bartl DISKUSSION: WIRTSCHAFTLICHE DYNAMIK IM LÄNDLICHEN RAUM 61 DAS HANDWERK IN BAYERN – STARK IM LÄNDLICHEN RAUM! Georg Schlagbauer 69 WARUM WIR BAYERN ALS GANZES ENTWICKELN MÜSSEN Markus Blume ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 3
EINFÜHRUNG SILKE FRANKE || Die Verfügbarkeit von Fachkräften – ob Akademiker oder Personen mit einer ab- geschlossenen Berufsausbildung – ist ein nicht zu unterschätzender Faktor sowohl für die Wettbe- werbsfähigkeit von Unternehmen als auch den Wohlstand von Regionen. Der „Fachkräftemangel“ ist in aller Munde. Daher hat sich die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel- Stiftung im Frühjahr 2015 in einer Tagung mit dem Thema auseinandergesetzt, wobei insbesondere die Situation für ländliche Räume in Bayern im Fokus stand. Die vorliegende Publikation bietet nun in schriftlicher Form einen Einblick in die Inhalte, die Prognosen, Handlungsempfehlungen und Praxisbeispiele umfassen. Der erste Teil gibt einen Überblick über die Alter und unter Berücksichtigung von Trends aktuellen Prognosen und Handlungsfelder: wie Urbanisierung, Akademisierung und Digi- ∙ Mit welchem Arbeitskräfteangebot ist auf- talisierung. grund der Bevölkerungsentwicklung zu rech- nen – quantitativ wie qualitativ? (Johann Der zweite Teil beschreibt, was vor Ort in Fuchs / Brigitte Weber vom Institut für den Regionen bereits unternommen wird, um Arbeitsmarkt und Berufsforschung) Fachkräfte zu gewinnen und zu binden.1 ∙ Was kennzeichnet die unternehmerische Pro- ∙ „Heimat für Kreative“ – Willkommenskultur, duktivität in ländlichen Räumen? Wie wirkt Zukunftscoaches und Fachkräfte-Allianz in sich die Digitalisierung auf die Arbeitswelt der Europäischen Metropolregion Nürnberg aus? (Hanno Kempermann vom Institut der (Christa Standecker) deutschen Wirtschaft) ∙ „Glückstreffer“ – mit Regionalmanagement ∙ Mit welchen Handlungsoptionen können und Regionalmarketing gemeinsam Fachkräf- kleine und mittlere Unternehmen in ländli- tesicherung sichern im Landkreis Donau- chen Räumen einem Fachkräftemangel be- Ries (Klemens Heininger) gegnen? (Hans Hercksen vom Kompetenz- ∙ „Passgenau“ – frühe Potenzialförderung von zentrum für ländliche Entwicklung / Bundes- Kindern, Jugendlichen und Zuwanderern anstalt für Landwirtschaft und Ernährung) im Landkreis Passau (Heidemarie Bartl) Tatsächlich, das zeigen die Daten, gibt es in Einigkeit besteht darin, dass eine gemeinsa- manchen Berufen, Branchen und Regionen Eng- me Aufgabe von Kommunen, Unternehmen und pässe, so dass hier Strategien entwickelt werden Einrichtungen darin besteht, ein eigenes Profil müssen, wie der Bedarf gedeckt und Lücken herauszuarbeiten, die Bedürfnisse zu klären und geschlossen werden können. Dies ist auch an- eine Willkommenskultur aufzubauen. Bereits gezeigt angesichts eines weiter anhaltenden die Bewusstseinsbildung ist ein wichtiger Schritt Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen zur Problemlösung. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 5
SILKE FRANKE Abgerundet wird das Thema im dritten Teil mit Beiträgen aus Sicht des Handwerks (Georg Schlagbauer) und der Politik (Markus Blume). Hier liegt der Schwerpunkt darin aufzuzeigen, was für die wirtschaftliche Dynamik nicht nur im ländlichen Raum wichtig ist. || SILKE FRANKE, DIPL.-GEOGR. Referentin für Umwelt und Klima, Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz in der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, München; Geschäftsführerin der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum ANMERKUNG 1 Weitere Praxisbeispiele, konkrete Handlungsvor- schläge, Ansprechpartner und Kontaktadressen lie- fern unter anderem: Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technolo- gie (Hrsg.): Informationsbroschüre Fachkräfteweg- weiser Bayern: Für mittelständische Unternehmen und Handwerk in Bayern, München 2015 und das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte „Kofa – Kompetenzzentrum Fachkräfte- sicherung für kleine und mittlere Unternehmen“, www.kofa.de 6 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG Ein Vergleich Bayerns mit Gesamtdeutschland JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER || In Deutschland wird es künftig aus demographischen Gründen weniger Arbeitskräfte geben als heute. Außerdem wird sich die Alterszusammensetzung ändern: weniger jüngere und mehr ältere Arbeitskräfte. Zugleich dürften sich regionale Disparitäten ver- schärfen, weil prosperierende Regionen von Zuzügen aus dem In- und Ausland profitieren, während dies für schwächere Regionen nicht der Fall ist. Der Beitrag zeigt, dass dies auch für Bayern gilt. EINLEITUNG spiel zeigt zum einen die Gemeinsamkeiten der Ende April 2014 veröffentlichte das Statisti- Bevölkerungsentwicklung mit dem Bund, zum sche Bundesamt (StBA) die 13. koordinierte anderen die Bedeutung regionaler Unterschiede, Bevölkerungsvorausschätzung.1 Sie bestätigt frü- insbesondere im Hinblick auf die Migrations- here Bevölkerungsprojektionen, wonach vor einflüsse. allem die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpfen wird.2 Im Folgenden werden die Konsequenzen für DEMOGRAPHIE das sogenannte Arbeitskräfteangebot diskutiert. Dabei werden neben der rein demographischen Analyse gesamtdeutscher Bevölkerungstrends Bevölkerungsentwicklung – Geburten, Sterbe- Die künftige Bevölkerung wird ausschließ- fälle sowie altersstrukturelle Verschiebungen – lich von den Geburten, den Sterbefällen und auch Zuwanderung aus dem Ausland und die der Migration determiniert. Ihre Relevanz für Beteiligung der Bevölkerung am Erwerbsleben den Arbeitsmarkt ist jedoch unterschiedlich. berücksichtigt. Der Umfang der Bevölkerung Geburten sind für die langfristige Betrachtung im erwerbsfähigen Alter (15-74 Jahre) ergibt entscheidend, Migration wirkt sich dagegen zusammen mit dem Erwerbsverhalten das Ar- vor allem kurz- und mittelfristig aus, während beitskräfteangebot. Dieses entspricht der Zahl die Sterblichkeit für den Arbeitsmarkt praktisch an Arbeitskräften, die den Betrieben in Deutsch- keine Rolle spielt.3 land zur Verfügung steht. Trotz hoher Zuwan- Die Geburtenentwicklung zeigt sich in der derung und steigender Erwerbsbeteiligung wird Altersgliederung der Bevölkerung Deutschlands für Deutschland aufgrund der demographischen in Abbildung 1. Mitte der 1960er-Jahre wurden Entwicklung ein schrumpfendes und alterndes in Deutschland mit etwas weniger als 1,4 Mil- Arbeitskräfteangebot prognostiziert. lionen jährlich gut doppelt so viele Kinder ge- Außerdem geht unser Beitrag auf die be- boren wie derzeit. Die damals Geborenen – die sondere bayerische Situation ein, die durch Zu- Generation der Babyboomer – sind nun um die züge aus dem Ausland und auch aus anderen 50 Jahre alt. Ebenfalls erkennbar ist der Ein- Bundesländern geprägt ist. Das bayerische Bei- bruch bei den Geburtenzahlen in den frühen ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 9
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER 1970er-Jahren, der sich 2013 in deutlich kleiner schaft- und Finanzkrise enorm zu. Zum anderen besetzten Altersjahrgängen der 35-Jährigen und erreichen die Zuzüge aus Nicht-EU-Ländern – Jüngeren äußert. Seit Mitte der 1970er-Jahre ist aktuell vor allem aufgrund der Flüchtlings- die zusammengefasste Geburtenrate mit rund ströme – Höchststände. Für das Jahr 2013 gibt 1,4 Kindern pro Frau für den langfristigen Be- die amtliche Wanderungsstatistik des StBA ei- völkerungserhalt viel zu niedrig. Dafür bräuchte nen Wanderungssaldo von 450.000 Personen man eine um 50 % höhere Geburtenrate. an, d. h. die Zahl der Zuzüge überstieg die Zahl Heute spüren wir die Konsequenzen: Am der Fortzüge um diesen Wert. Für 2014 wird Arbeitsmarkt fehlen jüngere Arbeitskräfte, die der Wanderungssaldo sogar auf mindestens Älteren dominieren. Beispielsweise vollendeten 470.000 Personen geschätzt.4 im Jahr 2014 die 1964 Geborenen ihr 50. Le- Der Wanderungssaldo sollte auch vor dem bensjahr. Diese Geburtskohorte ist der gebur- Hintergrund langfristiger Trends bewertet wer- tenstärkste Jahrgang. Es folgen die Jahrgänge den: Nach den Daten des StBA sind zwischen der 1963 und 1965 Geborenen. Folglich zählen 1960 und 2013 durchschnittlich pro Jahr inzwischen die stärksten Jahrgänge zu den „Äl- 160.000 Ausländer und 45.000 Deutsche netto teren“ am Arbeitsmarkt und in wenigen Jahren zugezogen; im Zeitraum 1991 und 2013 waren es werden sie in Rente gehen. Diese heute schon 177.000 Ausländer und 55.000 Deutsche, und vorhersehbare und statistisch gesicherte Ent- von 2004 bis 2013 sind jährlich netto 166.000 wicklung prägt den Arbeitsmarkt bereits jetzt Ausländer nach Deutschland zugezogen. Bei und wird ihn künftig noch stärker prägen. den Deutschen ist der jährliche Saldo seit 2005 In den letzten Jahren rückte die Migration sogar durchwegs negativ. In der Vergangenheit in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. war der durchschnittliche Wanderungssaldo Zum einen nahm die Zahl der Zuzüge aus EU- damit nicht einmal halb so hoch wie in den Ländern nach Deutschland aufgrund der Wirt- letzten beiden Jahren. Abbildung 1: Altersstruktur der Bevölkerung, 2013, 2030, 2050 Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des Statistischen Bundesamtes: 13. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung, Wiesbaden 2015 (Daten der Variante 2 mit stärkerer Zuwanderung). 10 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG Mit einer sich bessernden wirtschaftlichen Bayerische Bevölkerungstrends Lage in wichtigen EU-Ländern dürfte insbeson- Die Altersstruktur Bayerns unterscheidet sich dere der Zuzug aus EU-Ländern wieder schwä- kaum von der im Bund (vgl. Abb. 2). Insofern cher werden.5 Denn in der Vergangenheit war steht Bayern vor ähnlichen demographischen der jährliche Wanderungssaldo mit EU-Ländern Herausforderungen, insbesondere der Alterung. meist ausgeglichen. Darüber hinaus belegen Vorteilhaft sind aus bayerischer Sicht die Zu- ökonometrisch basierte Schätzungen, dass die wanderungsströme. Nach Bayern ziehen nicht ungünstige demographische Lage in vielen EU- nur Menschen aus dem Ausland, sondern auch Ländern auf Dauer Zuzüge aus diesen Ländern aus anderen Bundesländern. In den vergangenen hemmen wird.6 20 Jahren haben die innerdeutschen Zuzüge, Zusammen mit nur geringfügigen Verände- mit durchschnittlich fast 31.000 Personen, rungen von Fertilität und Mortalität bewirkt ins- die Zuzüge aus dem Ausland mit weniger als besondere der gegebene Altersaufbau einen lang- 20.000 überwogen.8 Aber die aktuell hohen fristig stabilen Trend in Zahl und Struktur der Zuzugszahlen kehren das Bild um: Nach den Bevölkerung. Der Altersaufbau in Abbildung 1 letzten verfügbaren Daten aus der Wanderungs- verschiebt sich in den kommenden Jahren nach statistik sind 2013 mehr als 83.000 Personen rechts, d. h. die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Ausland nach Bayern gezogen, jedoch wachsen zunehmend ins Rentenalter hinein. Je nur gut 14.000 aus dem übrigen Bundesgebiet. nach Umfang der jährlichen Migration werden Die Zuzüge verteilen sich innerhalb Bayerns die Bevölkerung insgesamt und die Bevölkerung recht unterschiedlich. Folgt man der Prognose im erwerbsfähigen Alter mehr oder weniger des Bayerischen Landesamtes für Statistik und stark sinken. Ihre Altersstruktur – und im Üb- Datenverarbeitung, dann sind es vor allem die rigen auch die Struktur nach dem Geschlecht – wirtschaftlich stärkeren Regionen, z. B. Ober- wird sich dagegen langfristig kaum ändern.7 bayern, die von Zuzügen profitieren werden Abbildung 2: Altersstruktur der Bevölkerung Vergleich* Deutschland Insgesamt – Bayern, 31.12.2013 * Prozentuiert auf die gesamte Bevölkerung Deutschlands resp. Bayerns Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des Bayerischen Landesamtes für Statistik (GENESIS-Online, Tabelle 12411-007s, 17.3.2015) und des Statistisches Bundesamtes: 13. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung, Wiesbaden 2015. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 11
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER (siehe die prozentuale Veränderung aus Tab. 1).9 Tabelle 1 klar erkennbar: Je höher der (relative) In schwächeren Regionen im Norden Bayerns Wanderungsgewinn, umso niedriger das Ge- sind die relativen Zuwanderungsgewinne klei- burtendefizit. So begünstigen die hohen Zu- ner. Indirekt reduziert Zuwanderung auch das wanderungsgewinne Oberbayerns dessen demo- Geburtendefizit. Dieser „Zweitrundeneffekt“ er- graphische Struktur, während in Oberfranken gibt sich, weil Zuwanderer meist jünger als die die vergleichsweise wenigen Zuzüge das Gebur- ansässige Bevölkerung sind. Der Effekt ist in tendefizit nicht kompensieren können. Tabelle 1: Regionale Bevölkerungsprognose für Bayern, 2012-2032 Geburtendefizit* Wanderungen Insgesamt Veränderungen in % von 2012 Bayern Insgesamt -5,1 7,9 2,8 Oberbayern -0,8 10,9 10,1 Niederbayern -7,8 8,9 1,1 Oberpfalz -7,6 5,9 -1,7 Oberfranken -11,2 3,1 -8,1 Mittelfranken -5,8 7,7 1,9 Unterfranken -8,4 3,2 -5,2 Schwaben -5,1 7,9 2,8 * Geburtendefizit: Geborene minus Gestorbene Quelle: Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, Statistische Berichte, Wanderungen in Bayern 2013. ENTWICKLUNG DES ARBEITSKRÄFTEANGEBOTS quoten. Mit den nach Geschlecht und Alter vorliegenden Erwerbsquoten wird die Erwerbs- Projektion des gesamtdeutschen beteiligung der Bevölkerung gemessen. Erwerbspersonenpotenzials bis 2050 Für das Erwerbspersonenpotenzial wird in Das Angebot an Arbeitskräften wird im Fol- den kommenden Jahrzehnten ein massiver genden mit dem Erwerbspersonenpotenzial ge- Rückgang prognostiziert. Aus rein demographi- messen, wozu die Erwerbstätigen, die Arbeits- schen Gründen würde das Erwerbspersonen- losen und die Stille Reserve zählen. Dieses potenzial von derzeit 45,7 Millionen (2014) auf Potenzial gibt die maximale Zahl an Arbeitskräf- 37,5 Millionen Arbeitskräfte im Jahr 2030 und ten an, die den Betrieben in Deutschland unter auf unter 30 Millionen in 2050 sinken.10 Dieser gegebenen Rahmenbedingungen zur Verfügung Rückgang um fast 16 Millionen Personen ist steht. Das Erwerbspersonenpotenzial ist auf eine Folge der Alterung – die Älteren gehen in das Altersintervall 15 bis 74 Jahre beschränkt. Rente und der Nachwuchs ist zahlenmäßig Errechnet wird es aus einer multiplikativen deutlich kleiner als die gegenwärtig im Erwerbs- Verknüpfung von Bevölkerung und Erwerbs- leben stehenden Alterskohorten. 12 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG Sofern die Erwerbsbeteiligung von Frauen (siehe Variante mit Wanderungssaldo 200.000 weiter steigt – obwohl sie im europäischen in Abb. 3). Für das Jahr 2050 ist bei diesem Vergleich bereits auf hohem Niveau liegt – und Wanderungssaldo ein Erwerbspersonenpoten- unter Berücksichtigung der geltenden Renten- zial im Umfang von 36,9 Millionen zu erwar- gesetzgebung, die dazu führen wird, dass Ältere ten. länger arbeiten, ergeben sich zusätzliche Erwerbs- Damit wäre das Erwerbspersonenpotenzial potenziale. Diese reichen aber mit beispielswei- im Jahr 2030 merklich kleiner als die Zahl der se gut 1,3 Millionen Personen im Jahr 2030 bei heutigen Erwerbstätigen. Für den Mai 2015 mel- weitem nicht aus, um den negativen demogra- dete das Statistische Bundesamt 42,7 Millionen phischen Trend merklich zu bremsen oder gar Erwerbstätige.12 Mit anderen Worten, selbst zu stoppen.11 wenn das gesamte Erwerbspersonenpotenzial Das aktuelle Zuwanderungsgeschehen spricht beschäftigt wäre, es also keine Arbeitslosen und zwar für auch in Zukunft hohe Migrations- keine Stille Reserve gäbe, könnte die Zahl der ströme, aber einer genauen Prognose entzieht verfügbaren Arbeitskräfte im Jahr 2030 unter sich das Wanderungsgeschehen. Die Vergan- Umständen nicht ausreichen, um den in Köp- genheit kann allerdings Anhaltspunkte für die fen gemessenen Arbeitskräftebedarf der Betriebe mittel- und längere Frist liefern. zu decken – sofern der unverändert hoch bleibt. Nimmt man beispielsweise an, die jahres- Ein stärkerer Rückgang des Arbeitskräftebedarfs durchschnittliche Nettozuwanderung hätte künf- allerdings ist derzeit weder absehbar noch wün- tig denselben Umfang wie in den vergangenen schenswert. Man sollte bedenken, wenn die 60 Jahren (wie erwähnt waren das pro Jahr rund Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen sinkt, dann 200.000 Personen), würde das Erwerbsperso- müssten weniger Beschäftigte unter anderem nenpotenzial auf dieser Grundlage bis 2030 um die steigenden Ausgaben für die sozialen Siche- 3,5 Millionen auf 42,2 Millionen zurückgehen rungssysteme finanzieren.13 Abbildung 3: Erwerbspersonenpotenzial bis 2050 in Mio. Personen Quelle: Eigene Berechnung mit Daten des IAB-FB A2 (siehe Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf, 2015). ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 13
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER Bei einer doppelt so hohen Nettozuwande- Das Erwerbspersonenpotenzial der 30- bis rung, also bei 400.000 Personen pro Jahr, fiele 49-Jährigen zählte 2014 über 20,6 Millionen. der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials Im Jahr 2030 sind es nach der Prognose noch sichtbar schwächer aus (Abb. 3). Im Jahr 2050 19,3 Millionen, in 2050 knapp über 16,2 Mil- hätte das Erwerbspersonenpotenzial dann im- lionen. merhin noch einen Umfang von knapp 42 Mil- Das in Abbildung 3 dargestellte Szenario be- lionen. Wie jedoch bereits angedeutet wurde, rücksichtigt die Verschiebung der Altersgren- dürfte eine dauerhafte Zuwanderung in dieser zen der gesetzlichen Rente. Dadurch steigt die Höhe unrealistisch sein. Erwerbsbeteiligung Älterer. Ausgehend von Erheblich verändern wird sich die Alterszu- fast 15,6 Millionen im Jahr 2014 bleibt das Er- sammensetzung der Arbeitskräfte.14 Sie folgt im werbspersonenpotenzial der 50- bis 74-Jähri- Wesentlichen der Struktur der Bevölkerung. gen lange Zeit fast unverändert stark: Für 2030 Es wird künftig erheblich weniger Erwerbs- werden etwas unter 15,5 Millionen vorausge- personen im jüngeren und mittleren Alter geben schätzt. Aber mit dem Ausscheiden der Baby- als heute. Im Folgenden wird die Prognose- boomer in Rente sinkt auch ihre Zahl, so dass variante mit 200.000 Nettozuwanderung pro z. B. für 2050 nur noch 14,1 Millionen ältere Jahr zugrunde gelegt. Erwerbspersonen prognostiziert werden. Waren im Jahr 2014 noch fast 9,6 Millionen Erwerbspersonen jünger als 30 Jahre, werden Projektion des bayerischen für 2030 weniger als 7,5 Millionen und für 2050 Arbeitskräfteangebots knapp über 6,6 Millionen prognostiziert. Damit Ähnlich wie bei den gesamtdeutschen Tenden- sinkt der Anteil der 15- bis 29-Jährigen am ge- zen folgen die Veränderungen beim bayerischen samten Erwerbspersonenpotenzial von 20,7 % Arbeitskräfteangebot der Bevölkerungsentwick- in 2014 auf unter 18 % in 2050. Im Jahr 1990 lung in Bayern. Insofern ist es wieder die regio- betrug der Anteil übrigens 32,2 %. nale Verteilung, die besonders zu beachten ist Abbildung 4: Erwerbspersonenentwicklung in ausgewählten bayerischen Regionen Prozentuale Veränderung 2010/2030 Quelle: BBSR, Raumordnungsprognose 2030, Bonn 2012. 14 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG (Abb. 4). Entsprechend der Trends dürfte Nord- bedingt mit welcher Qualifikation aus? Eine bayern der Verlierer des demographischen Wan- erste Antwort liefert Abbildung 5. So war 2012 dels sein. Der starke prozentuale Rückgang bei die Bevölkerungszahl der 55- bis 64-Jährigen den Erwerbspersonen, die sich im Rahmen der mit einer mittleren Qualifikation, d. h. mit einer Raumordnungsprognose des Bundesinstituts für abgeschlossenen Berufsausbildung mit 7,3 Mil- Bau-, Städte- und Raumforschung (BBSR) für den lionen größer als die Zahl der Kinder im Alter Zeitraum 2010 bis 2030 ergeben, spricht eine von 5 bis 14 Jahren. Wenn man gedanklich die deutliche Sprache und deckt sich mit dem de- Balken der Abbildung nach rechts verschiebt, mographischen Trend. Während die Raumord- erkennt man das Problem, das daraus in etwa nungsprognose des BBSR für Bayern insgesamt zehn bis zwanzig Jahren resultiert: Ohne Zu- im angegebenen Zeitraum 2 % weniger Erwerbs- wanderung reicht die Bevölkerung nicht aus, um personen prognostiziert, sind es für Wunsiedel ausscheidende Fachkräfte mit einer mittleren -25 %.15 Dagegen bleibt das Umland von Mün- Qualifikation zu ersetzen. chen ein Magnet für Arbeitskräfte und gewinnt Bei den Akademikern sieht es günstiger aus. der Prognose zufolge gut 20 %. Dies ist im We- Von den 1,3 Millionen 25- bis 34-Jährigen, die sentlichen eine Folge von Zuzügen und dem noch in Ausbildung stehen (vgl. Abb. 5), dürf- bereits angesprochenen „Zweitrundeneffekt“. ten die meisten einen Hochschulabschluss an- streben. Dies deutet sich derzeit schon an den jährlich steigenden Studentenzahlen an. Inso- QUALIFIKATION UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG fern scheinen auch längerfristig Engpässe bei Gesamtdeutsche Situation den Hochqualifizierten weniger wahrscheinlich Hinsichtlich der Fachkräfteentwicklung muss zu sein. man zwei Fragen beantworten: Wie viele Men- Die Gruppe ohne Berufsausbildung ist in schen treten in den Arbeitsmarkt mit welcher allen Altersgruppen relativ vergleichbar hoch. Ausbildung neu ein? Wie viele scheiden alters- Wenn man bedenkt, dass die Ausbildung nor- Abbildung 5: Bevölkerung nach Alter und Qualifikation, 2012 in Mio. Personen Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten des Mikrozensus (Statistisches Bundesamt). ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 15
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER malerweise in jungen Jahren erfolgt, dann deutet QUALIFIKATIONSSTRUKTUR DER dies auf erhebliche Versäumnisse im Bildungs- BAYERISCHEN BEVÖLKERUNG bereich hin. In Deutschland verließen 2012 Aktuell unterscheidet sich die Bevölkerung noch etwa 50.000 Jugendliche (6 %) ohne in Bayern hinsichtlich der Qualifikation kaum Abschluss die Schule. Um eine spätere Qualifi- vom gesamtdeutschen Durchschnitt. Beim Ver- zierung bzw. auch eine Höherqualifizierung zu gleich der Abbildungen 5 und 6 für Gesamt- ermöglichen, sollte das Bildungssystem deshalb deutschland respektive Bayern ist allerdings zu möglichst durchlässig organisiert werden. beachten, dass sie nicht vollständig kompatibel Eine in 2015 erschienene Studie von Zika sind. In Abbildung 6 umfasst die Gruppe der u. a. prognostiziert für Deutschland erhebliche Personen ohne Berufsabschluss sowohl diejeni- Engpässe für die mittlere Qualifikationsebene.16 gen, die noch in Ausbildung (Schule, Studium, Letztlich ist das eine Folge des Ausscheidens Lehre) stehen, als auch diejenigen, die weder der Baby-Boom-Generation, von denen viele Ausbildung haben noch zum gegebenen Zeit- eine Lehre abgeschlossen haben (vgl. z. B. die punkt eine anstreben. Dennoch lässt sich aus Gruppe der 45- bis 54-Jährigen in Abb. 5). Für den Abbildungen 5 und 6 ein vergleichbares das Jahr 2030 wird ein ungedeckter „rein rech- Grundmuster für die Gegenwart erkennen. nerischer Bedarf“ von 710.000 Fachkräften vor- Die Studie von Hänisch und Kalinowski, aus ausgeschätzt – d. h. nicht alle an sich vorhan- der die Daten für Bayern stammen, enthält dar- denen Arbeitsplätze können durch qualifizierte über hinaus auch eine Projektion bis zum Jahr Fachkräfte besetzt werden. Dagegen wird ein 2030.17 Die Zuwanderung nach Bayern scheint Überangebot an Akademikern gesehen (ca. eine die fehlenden jüngeren Jahrgänge wenigstens Mio.). Insofern sind Verdrängungseffekte denk- teilweise kompensieren zu können, wobei bar. Akademiker werden Positionen einnehmen trotzdem die Zahl der beruflich Qualifizierten müssen, für die sie überqualifiziert sind. in 2030 unter der in 2010 liegt. Ein erfreulicher Abbildung 6: Bevölkerung in Bayern nach Alter und Qualifikation in Mio. Personen Quelle: Hänisch / Kalinowski: Regionalisierte Projektion des Arbeitsangebotes nach Qualifikationsstufen und Berufsfeldern bis 2030, S. 162 (dankenswerterweise wurden uns die exakten Daten für Abb. 6 bereitgestellt). 16 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND FACHKRÄFTEENTWICKLUNG Aspekt ist, dass die Angaben für die Älteren (ab verringern, erreicht wird. Denn bereits ein dem 35. Lebensjahr) auf einen Rückgang der Hauptschulabschluss vermindert das Arbeitslo- beruflich nicht Qualifizierten schließen lassen. sigkeitsrisiko selbst für Personen ohne Berufs- Die zitierte Studie von Zika u. a. kommt ausbildung um die Hälfte. In der zweiten Stufe deshalb für Bayern zu einem ähnlichen Schluss spielt eine qualifizierte Berufsausbildung eine wie für Gesamtdeutschland: Unter Berücksich- wichtige Rolle. Je höherqualifiziert diese ist, tigung der guten wirtschaftlichen Entwicklung umso größer ist auch die Chance auf einen Ar- droht Bayern ein Fachkräftemangel und ein beitsplatz; dies gilt vor allem für Meister- und Akademikerüberhang.18 Möglicherweise müs- Technikerausbildungen. Zugleich erfordern die sen sich auch in Bayern Akademiker mit nicht- immer schneller wechselnden Anforderungen im adäquaten Arbeitsplätzen abfinden.19 Berufsleben und die sich verlängernde Lebens- arbeitszeit eine kontinuierliche Weiterbildung. FAZIT Nicht zuletzt müssen Arbeitslose durch ziel- Nach den vorliegenden Projektionen wird gerichtete und nachhaltig angelegte Qualifizie- das Erwerbspersonenpotenzial demographisch rungsmaßnahmen wieder an den Arbeitsmarkt bedingt abnehmen. Zuwanderung aus dem herangeführt werden.21 Ausland kann diesen Trend nur abschwächen, denn auch Migranten werden älter. || DR. JOHANN FUCHS Regionale Disparitäten dürften verschärft Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für auftreten, weil vor allem starke, prosperierende Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), Regionen sowohl von Zuzügen aus dem Aus- Nürnberg, Forschungsbereich Prognosen und land als auch aus dem Inland profitieren, wäh- Strukturanalysen, Dozent an der International Business School Nürnberg rend benachteiligte Regionen noch mehr auf die Verliererstraße gedrängt werden könnten. Die || BRIGITTE WEBER Gefahr eines die nationale wie auch die interna- tionale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen- Dipl.-Sozialwirtin (Univ.), Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung den Fachkräftemangels dürfte somit regional (IAB), Nürnberg, Forschungsbereich Prognosen noch höher einzuschätzen sein als auf gesamt- und Strukturanalysen deutscher Ebene. Bayern steht derzeit wirt- schaftlich hervorragend da, steht aber auch vor denselben demographischen Problemen wie das übrige Deutschland. ANMERKUNGEN Neben der Frage, wie einzelne Regionen und 1 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung Deutschland insgesamt Zuwanderung fördern Deutschlands bis 2060. 13. koordinierte Bevölke- können, stellt sich auch die Frage, wie zusätzli- rungsvorausberechnung, Wiesbaden 2015. che, heimische Erwerbspotenziale zu erschließen 2 Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bezieht sind. Solche Potenziale sind in einer steigenden sich meist auf das Altersintervall 15 bis 64 Jahre, Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren zu inzwischen reicht es häufig auch bis zum 67. Le- sehen. Vorliegende Analysen belegen allerdings bensjahr. Für Fragen des Arbeitskräfteangebots ist ein Intervall 15 bis 74 angemessener, weil es eine eine nachlassende Wirkung dieser Potenziale, durchaus nennenswerte Anzahl von Personen gibt, denn ihre Basis, die Bevölkerung im erwerbsfä- die auch nach dem 64. bzw. 66. Lebensjahr noch higen Alter, schrumpft.20 Umso mehr stellt sich arbeitet. das Problem, Angebot und Nachfrage auch in 3 Erwartet wird im Allgemeinen ein weiteres Absin- qualifikatorischer Hinsicht zusammenzubringen ken der Sterblichkeit; siehe Eisenmenger, Matthias / und insbesondere auch vorhandene Potenziale Emmerling, Dieter: Amtliche Sterbetafeln und Ent- fit für den Arbeitsmarkt zu machen. wicklung der Sterblichkeit, in: Wirtschaft und Statis- tik, März 2011, S. 219-238. Weil die altersspezifischen So muss mit mehr Vehemenz versucht wer- Sterbeziffern der 15- bis 64-Jährigen sehr niedrig den, dass das eigentlich bereits für 2015 be- sind, wirken sich Änderungen in der Mortalität auf schlossene Ziel, den Anteil der Schüler, die die die Erwerbsbevölkerung und damit auf das Ar- Schule ohne Abschluss verlassen, auf 4 % zu beitskräfteangebot jedoch kaum aus. Eine größere ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 17
JOHANN FUCHS / BRIGITTE WEBER Rolle spielt die Mortalität jedoch indirekt beim Ar- Wiesbaden 2011, http:// www.sachverstaendigenrat- beitskräftebedarf. Da mit steigender Lebenserwar- wirtschaft.de; Stand: 14.12.2014; vgl. auch Brücker / tung die Zahl der Älteren und Hochbetagten in der Brunow / Fuchs u. a.: Fachkräftebedarf in Deutsch- Gesellschaft zunimmt, resultiert daraus ein zusätz- land. licher Bedarf an spezifischen Leistungen (Pflege, 14 Fuchs, Johann / Söhnlein, Doris / Weber, Brigitte: medizinische Versorgung), zugleich aber auch die Projektion des Arbeitskräfteangebots bis 2050. Notwendigkeit, diesen Bedarf finanziell zu decken. Rückgang und Alterung sind nicht mehr aufzuhal- 4 Diese und die folgenden Wanderungsdaten findet ten, IAB-Kurzbericht 16/2011, Nürnberg 2011 (mit man auf der Homepage des Statistischen Bundes- aktualisierten Daten). amts (StBA). Differenzierte Wanderungsstatistiken 15 Für Deutschland wird eine Abnahme um 8 % pro- lieferte das StBA auf Anfrage, wofür wir dem StBA gnostiziert. In einer Neuauflage wird der Prognose- sehr danken. horizont erweitert. Für Bayern wird bis 2035 ein 5 Vgl. Brücker, Herbert / Brunow, Stephan / Fuchs, Rückgang von -4,9 % angegeben. Allerdings liegen Johann u. a.: Fachkräftebedarf in Deutschland. Zur die Prognosedaten nicht für Kreise vor. Vgl. Raum- kurz- und langfristigen Entwicklung von Fachkräfte- ordnungsprognose des Bundesinstitut für Bau-, angebot und -nachfrage, Arbeitslosigkeit und Zu- Städte- und Raumforschung (BBSR) 2030 bzw. wanderung. IAB-Stellungnahme, 1/2013, Nürnberg 2035, z. B. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/ 2013. http://www.iab.baintern.de/import/publikati Raumbeobachtung/UeberRaumbeobachtung/Kom on/IAB-Stellungnahme/publikation_2902495_IAB- ponenten/Raumordnungsprognose/Download_RO Stellungnahme-*-01-2013_Fachkräftebedarf-in-Deu P2035/DL_ROP2035_uebersicht.html?nn=395966, tschlan.html Stand: 16.6.2015. 6 Siehe Fuchs, Johann / Kubis, Alex / Schneider, Lutz: 16 Zika, Gerd / Maier, Tobias / Hummel, Markus / Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutsch- Helmrich, Robert: Entwicklung von Arbeitskräfte- land bis 2050. Szenarien für ein konstantes Erwerbs- angebot und -bedarf bis 2030 in sechs Regionen, in: personenpotenzial – unter Berücksichtigung der zu- Qualifikation und Beruf in Deutschlands Regionen künftigen inländischen Erwerbsbeteiligung und der bis 2030. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der EU-Binnenmobilität, hrsg. von der Bertelsmann Stif- BIBB-IAB-Projektionen, hrsg. von Gerd Zika und tung, Gütersloh 2015. Tobias Maier, Bielefeld 2015 (IAB-Bibliothek, 353), 7 Dies zeigt ein Vergleich von Projektionsvarianten S. 9-68. mit unterschiedlichen Wanderungsannahmen, z. B. 17 Hänisch, Carsten / Kalinowski, Michael: Regionali- Statistisches Bundesamt, 13. koordinierte Bevölke- sierte Projektion des Arbeitsangebotes nach Qualifi- rungsvorausberechnung, 2015. kationsstufen und Berufsfeldern bis 2030 auf Basis 8 Bayerisches Landesamt für Statistik: Wanderungen des BIBB-FIT-Modells, in: Qualifikation und Beruf über Landesgrenzen, aus: GENESIS-Online Tabellen in Deutschlands Regionen bis 2030. Konzepte, Me- 12711-131z und 12711-141z, Stand: 17.3.2015. thoden und Ergebnisse der BIBB-IAB-Projektionen, 9 Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenver- hrsg. von Gerd Zika und Tobias Maier, Bielefeld arbeitung: Regionalisierte Bevölkerungsvorausbe- 2015, S. 113-166. 18 rechnung für Bayern bis 2032, Beiträge zur Statistik Zika / Maier / Hummel / Helmrich: Entwicklung Bayerns, Heft 546, München 2014, https://www.sta von Arbeitskräfteangebot und -bedarf bis 2030, tistik.bayern.de/statistik/byrbz/09.pdf, Stand: S. 50 ff. 30.6.2015. 19 Eine weitere Untergliederung nach einzelnen Aus- 10 Vgl. Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf bildungsrichtungen / -berufen zum einen und der aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, S. 26-27. entsprechend gegliederten Nachfrage nach Arbeits- 11 So zählten 2010 beispielsweise 88 % der 30- bis 49- kräften zum anderen ist statistisch schwierig und jährigen Frauen zum Arbeitskräftepotenzial. Für das prognostisch kritisch zu sehen; vgl. Maier, Tobias / Jahr 2025 wird der Wert auf 90 %, für 2050 sogar Mönnig, Anke / Zika, Gerd: Labour demand in auf gut 93 % vorausgeschätzt; vgl. dazu Fuchs / Germany by industrial sector, occupational field and Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf aus Dritt- qualification until 2025. Model calculations using staaten in Deutschland bis 2050, 2015, S. 17-19. the IAB/inforge model, in: Economic Systems Re- 12 Statistisches Bundesamt: Mai 2015: Anstieg der Er- search 1/2015, S. 19-42. 20 werbstätigkeit im Vorjahresvergleich schwächt sich Fuchs / Kubis / Schneider: Zuwanderungsbedarf weiter ab. Pressemitteilung Nr. 240/15. aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, S. 27-30. 13 21 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- Hausner, Karl Heinz / Söhnlein, Doris / Weber, wirtschaftlichen Entwicklung: Herausforderungen Brigitte / Weber, Enzo: Qualifikation und Arbeits- des demografischen Wandels. Expertise im Auftrag markt: Bessere Chancen mit mehr Bildung, in: IAB- der Bundesregierung. Expertise vom Mai 2011, Kurzbericht 11/2015. 18 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN HANNO KEMPERMANN || Ländliche Räume stehen in den nächsten Jahren vor zwei großen Heraus- forderungen: dem demographischen Wandel und den massiven Impulsen der Digitalisierung auf den Strukturwandel. Beides stellt eine Notwendigkeit aktiver Gestaltung mit Blick auf die Fachkräfte- situation in ländlichen Räumen dar. Für die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand Deutschlands ist es entscheidend, dass die ländlichen Räume ihre Stabilisierungsfunktion aufrechterhalten. Fast die Hälfte der Unternehmen in ländlichen Räumen hat indes schon heute Schwierigkeiten, geeignete Fachkräfte zu rekrutieren. Deshalb müssen Unternehmen und regionale Akteure gezielte Maßnahmen erarbeiten, um diesen sich verstärkenden Trends entgegenzuwirken. HETEROGENITÄT LÄNDLICHER RÄUME UND Nach dieser Definition waren 2013 über IHRE CHARAKTERISTIKA 70 Prozent aller Industriebeschäftigten in Unter- Derzeit besteht noch eine Balance zwischen nehmen auf dem Land tätig, obwohl nur 56 Pro- Ballungsräumen und ländlichen Räumen in zent aller Beschäftigten dort arbeitet. Deshalb Deutschland. In ländlichen Räumen Deutsch- liegt auch die Industriequote in ländlichen Räu- lands sind zwei Drittel aller sozialversicherungs- men höher als in städtischen Gebieten. Trugen pflichtig Beschäftigten tätig, die wiederum zwei die Industrieunternehmen in städtischen Räu- Drittel des Bruttoinlandprodukts erwirtschaften. men 2012 nur 17,6 Prozent zur Bruttowert- Dies zeigt, dass die Peripherie längst nicht mehr schöpfung bei, lag der Anteil auf dem Land bei von Landwirtschaft und Tourismus geprägt ist. 26,3 Prozent. Dabei finden sich die hochpro- Vielmehr sind auch auf dem Land hoch innova- duktiven Unternehmen eher in den städtischen tive und produktive Unternehmen beheimatet – Gebieten, während in peripher gelegenen Räu- beispielsweise die viel zitierten hidden cham- men eher Unternehmen mit einer geringeren pions, die als größere Unternehmen Weltmarkt- Produktivität zu finden sind. So liegen bei- führer in ihrem Bereich, aber dennoch relativ spielsweise mehr als 15 Prozent Unterschied unbekannt sind. zwischen der erzielten Produktivität in Ballungs- Gleichwohl unterscheiden sich ländliche Räu- räumen im Vergleich zu der in verdichteten und me erheblich in der Ausstattung mit Erfolgsfak- gering verdichteten ländlichen Räumen. toren wie einer wettbewerbsfähigen Wirtschafts- Tabelle 1 zeigt diese Disparitäten noch wei- struktur oder eine positive demographischen ter regional aufgefächert. Hier wird deutlich, Prognose. Abbildung 1 zeigt die in der vorlie- dass Unternehmen in verdichteten und gering genden Studie verwendete Abgrenzung ländli- verdichteten ländlichen Räumen ein Defizit bei cher Räume, die auf Basis von Schwellenwerten Forschung und Entwicklung aufweisen. Auch bei Einwohneranzahl und Einwohnerdichte er- die Akademiker- und Ingenieurquoten sind dort arbeitet wurde. Hier zeigt sich eindrücklich die lediglich unterdurchschnittlich ausgeprägt. Hier ländliche Prägung Bayerns, während Nordrhein- spiegeln sich die geringeren Produktivitätswerte Westfalen sehr dicht besiedelt ist. wider. ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 19
HANNO KEMPERMANN Abbildung 1: Regionstypen in Deutschland Quelle: Eigene Berechnungen 20 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN Tabelle 1: Charakteristika der Regionstypen Städte Ländliche Räume Deutsch- Jahr land Ballungs- hoch ver- ver- gering Gesamt Kernstadt raum dichtet dichtet verdichtet Anzahl 2015 67 43 101 128 63 402 Produktivität 2012 68.271 59.108 67.123 59.024 57.405 64.084 in Euro Industriequote 2012 16,5 27,0 27,2 26,7 24,8 22,4 in % an BWS FuE-Personal- 2011 9,9 9,2 12,1 5,7 4,4 8,7 quote in % Akademiker- 2014 19,3 12,4 12,1 9,3 8,3 13,8 quote in % Ingenieurquote 2014 3,2 2,9 2,9 2,0 1,9 2,7 in % der SVB Quelle: VGR der Länder, Bundesagentur für Arbeit, Statistisches Bundesamt, Stifterverband, eigene Berechnungen Die Gefahr ist offensichtlich: Wenn Unter- aus, wodurch Innovationsimpulse entstehen und nehmen in ländlichen Räumen außerhalb der Lieferketten effizient organisiert werden kön- Speckgürtel nicht den Sprung zu einem höhe- nen.1 Ländliche Räume üben damit derzeit eine ren Maße von Digitalisierung, Vernetzung und wichtige Stabilisierungsfunktion in Deutschland Produktivität schaffen, werden die an sie ge- aus und tragen signifikant zur Wettbewerbsfä- stellten Herausforderungen noch schwieriger higkeit und zum Wohlstand bei. Entscheidend von ihnen zu lösen sein. Dies wiederum hätte für das Geschäftsmodell Deutschland ist des- negative Effekte auf die Heimatregionen dieser halb, diese Herausforderungen in ländlichen Unternehmen. In Zukunft wird es aufgrund des Räumen zu meistern. zunehmenden globalen Wettbewerbs immer wichtiger, Produktivitätssteigerungen zu erzie- DEMOGRAPHISCHER WANDEL UND len, ergänzende Geschäftsmodelle zu imple- DIGITALISIERUNG mentieren (beispielsweise mit Blick auf Digita- Insbesondere zwei Megatrends wirken sich lisierung) und Kooperationen zu Forschung massiv auf die Entwicklung von Regionen aus: und Innovation zu schließen. Diese Aspekte der demographische Wandel und die Digitali- bilden eine entscheidende Grundlage für Wett- sierung. Regionen müssen schon heute aktiv bewerbsvorsprünge, die das vergleichsweise Gestaltungsmaßnahmen erarbeiten, um auch hohe Lohnniveau in Deutschland rechtfertigen in Zukunft wettbewerbsfähig und attraktiv für können. Einwohner und Unternehmen sein zu können. Die Unternehmen in peripher gelegenen Eine maßgebliche Chance liegt darin begrün- ländlichen Räumen strahlen über Innovations- det, dass beide Trends auch auf kleinräumiger netzwerke und Zulieferbeziehungen auf die Ebene gestaltet werden können, ohne entschei- Wertschöpfungsstrukturen in ganz Deutschland dend abhängig von Bundes- und Landespolitik ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 21
HANNO KEMPERMANN sein zu müssen. Die Kehrseite der Medaille ist und sinkender Wohlstand bis hin zur Auflösung indes, dass damit implizit auch das Risiko ver- der regionalen Identität. Die Attraktivität peri- bunden ist, den Anschluss bei Untätigkeit zu pher gelegener ländlicher Räume würde durch verpassen. eine solche Negativspirale weiter dezimiert Der demographische Wandel in Deutschland werden, wodurch die Stabilisierungsfunktion wirkt sich in den nächsten Jahren auf vielfältige dieser Räume in Frage gestellt wäre. Art und Weise aus. Die Bevölkerung schrumpft Eine leistungsfähige Breitbandinfrastruktur und altert. Insbesondere für das Flächenland ist Grundvoraussetzung für eine attraktive Re- Bayern, in dem flächenmäßig Baden-Württem- gion. Die Chance für ländliche Räume besteht berg und Nordrhein-Westfalen mit ihren insge- darin, dass die Bedeutung des Internets immer samt knapp 29 Mio. Einwohnern Platz finden, stärker zunimmt und in Zukunft ein Stück weit bedeutet diese Entwicklung starke gegenläufige die unzureichende Verkehrsinfrastrukturausstat- Effekte. Insgesamt soll die Einwohnerzahl in tung kompensieren wird. Studien zeigen, dass Bayern bis 2032 zwar um 2,8 Prozent auf die Zahlungsbereitschaft potenzieller Immobi- knapp 12,9 Mio. wachsen2 – die regionalen lienkäufer rapide sinkt, wenn kein Breitband- Unterschiede sind gleichwohl erheblich. Wäh- internet verfügbar ist. rend abgelegene Regionen wie beispielsweise in Ein erhebliches Problem beim Breitbandaus- Oberfranken mit einem Einwohnerverlust von bau ist jedoch, dass die Kosten mit Abnahme bis zu knapp 20 Prozent bis 2032 rechnen müs- der Bevölkerungsdichte steigen. Ein eigenwirt- sen, haben ländliche Räume in der Nähe von schaftlicher Ausbau ist in vielen ländlichen Großstädten, die „Speckgürtel“, voraussichtlich Räumen nicht möglich. Gerade Bayern als Flä- hohe Einwohnerzuwächse zu verzeichnen. Für chenland betrifft dieses Problem in besonderem die Landkreise München und Ebersberg wird Maße. Deshalb hat die Bayerische Staatsregie- beispielsweise ein Wachstum von jeweils knapp rung auch als einzige in Deutschland ein hoch 11 Prozent prognostiziert. dotiertes Förderprogramm mit einem Volumen Die Wanderungsbewegungen der Bevölke- von 1,5 Mrd. Euro aufgelegt, um die ländlichen rung verstärken die Herausforderungen für pe- Räume anzuschließen. Dies ist eine Grund- ripher gelegene ländliche Räume. So lag Ende voraussetzung dafür, die Negativspirale von 2013 das Durchschnittsalter der Bevölkerung Abwanderung und sinkender Attraktivität zu im Kreis Freising bei 40,7 Jahren (Bestwert in durchbrechen. Eine leistungsfähige Breitband- Deutschland), während es in Wunsiedel im versorgung kann zudem die Verbreitung von Fichtelgebirge bei 47,7 Jahren liegt. Am ältes- Zukunftsthemen wie eLearning, eHealth oder ten in die Bevölkerung mit 50,2 Jahren im die Durchsetzung neuer Mobilitätskonzepte Durchschnitt im thüringischen Suhl.3 Vor die- (shared mobility) begünstigen, die wiederum ein sem Hintergrund müssen vor allem die Unter- Stück weit die Lagenachteile ländlicher Räume nehmen in eher abgelegenen ländlichen Räu- kompensieren können. men bereits heute Strategien entwickeln, um Weitere Chancen liegen in der Etablierung Fachkräfteengpässen entgegenwirken zu kön- eines digital entrepreneurship, also einer digitalen nen. Ansonsten droht eine Negativspirale durch Gründerkultur, die neue Geschäftsmodelle er- den Bevölkerungsverlust. Ab einer kritischen folgreich im Markt platziert. Bayern geht hier mit Einwohnerdichte kann das öffentliche Leben dem Aufbau der beiden Initiativen Zentrum nicht mehr aufrechterhalten werden. Kinder- Digitalisierung.Bayern und Gründerland.Bayern tagesstätten können nicht ausgelastet werden, im Rahmen der Strategie Bayern Digital voraus wodurch die Vereinbarkeit von Familie und Be- und schafft damit verbesserten Finanzierungs- ruf leidet, Partner finden schwieriger attraktive angeboten attraktive Rahmenbedingungen für Jobangebote, Schulen müssen schließen und private Gründungsinitiativen. Auf dieser Basis die Kosten der Infrastruktur steigen pro Kopf können peripher gelegene ländliche Regionen (sogenannte Remanenzkosten, beispielsweise aufbauen, indem sie die Vernetzungs- und bei der Wasserversorgung). Daraus resultieren Kooperationskomponenten in ihren Strategien Geschäftsaufgaben, sinkende Immobilienpreise akzentuieren. 22 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
FACHKRÄFTEBEDARF DER UNTERNEHMEN IN LÄNDLICHEN RÄUMEN Hier zeigen sich deutlich die vollkommen Das Risiko besteht darin, dass Länder wie neuen Chancen und Risiken, die sich durch die Südkorea oder die USA (mit dem IIC – indus- Digitalisierung für die ländlichen Räume in trial internet consortium) schneller und mit grö- Deutschland ergeben. Unternehmerseitig läuft ßerem Ressourceneinsatz fit für Industrie 4.0 derzeit vor diesem Hintergrund eine intensive werden. Die Herausforderungen beginnen bei Diskussion unter dem Schlagwort Industrie 4.0. der Breitbandversorgung, gehen über wettbe- Neue digitale Geschäftsmodelle und erhebliche werbsfähige IT-Unternehmen und eine leben- Produktivitätsvorteile können bei richtiger Aus- dige Gründungskultur bis hin zu einem adäquat gestaltung Wettbewerbsvorsprünge induzieren gestalteten Bildungssystem und der Definition und große Wertschöpfungspotenziale freiset- von Branchenstandards, einem geeigneten zen. Dabei versetzt das Phänomen Industrie 4.0 Rechtsrahmen und einer adäquaten IT-Sicher- Mensch und Maschine miteinander und unter- heit. einander in die Lage, über Webtechnologien in Mit der umfassenden Vernetzung geht ein- Echtzeit zu kommunizieren und selbststeuernd her, dass Unternehmen in ländlichen Räumen zu agieren. Bayerns noch stärker mit global orientierten Auf Basis umfassender Vernetzungen ent- nationalen und internationalen Unternehmen steht eine völlig neue Produktionslogik mit bis- konkurrieren müssen. Der Wettbewerb wird her nicht gekannten Formen an Flexibilität und damit noch anspruchsvoller, schneller und Autonomie. Die Produkte und Werkstücke spei- technologisch versierter. Deshalb müssen die chern Wissen, sind eindeutig identifizierbar, Unternehmen diesen Wandel aktiv gestalten – jederzeit lokalisierbar und können miteinander und zwar sowohl in der technologischen als interagieren, sich gegenseitig konfigurieren und auch in der qualifikatorischen Dimension. selbststeuern. Klassische Produktionsprozesse Fachkräfte werden sich deutlich stärker in werden so digitalisiert. Fabriken werden zu so- den MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik, genannten cyber-physischen Systemen (CPS), Naturwissenschaft, Technik) qualifizieren müs- die auf Basis von Plattformen die Informations- sen – eine Gruppe, die schon heute zu klein, ströme verarbeiten und organisieren. Aus tradi- gemessen am Bedarf der Unternehmen, ist. tionellen Wertschöpfungsketten werden durch Während von Anfang 2015 bis Ende 2020 ein die Vernetzung der Fabriken in einem letzten Gesamtbedarf von rund 2,9 Mio. MINT-Fach- Schritt integrierte, in Echtzeit gesteuerte Wert- kräften prognostiziert wird, liegt das voraus- schöpfungsnetzwerke.4 Insbesondere Unter- sichtliche Angebot bei lediglich 1,6 Mio. Fach- nehmen in ländlichen Räumen können sich so kräften. Der ungedeckte Bedarf beträgt für noch besser in Wertschöpfungsnetzwerke ein- diesen Zeitraum 1,3 Mio. Fachkräfte. Auch betten und davon profitieren, dass so die Nach- hier werden die größten Lücken im beruflichen teile räumlicher Distanzen ein gutes Stück weit Angebot gesehen.7 ausgehebelt werden. Die überdurchschnittlich ausgeprägte industrielle Struktur in ländlichen FACHKRÄFTEENGPÄSSE IN Räumen begünstigt die Vernetzungspotenziale LÄNDLICHEN RÄUMEN und kann damit die Wettbewerbsfähigkeit die- Knapp die Hälfte aller Unternehmen in ser Regionen signifikant erhöhen. Deutschland, die Fachkräfte suchen, haben Studien rechnen bei der richtigen und zügi- Schwierigkeiten, ihren Bedarf zu decken.8 Be- gen Ausgestaltung von Industrie 4.0 mit bis zu sonderen Herausforderungen sehen sich Un- 210 Mrd. Euro zusätzlicher Wertschöpfung bis ternehmen in ländlichen Räumen und solche zum Jahr 2025.5 Damit einher geht ein Wandel gegenüber, die vor allem Beschäftigte mit be- in der Qualifikationsstruktur – hin zu mehr ruflicher Bildung benötigen. technisch orientierten Ausbildungs- und Studi- Hier spielen drei Faktoren eine herausragen- engängen.6 Deshalb müssen die Unternehmen de Rolle: die geringere Attraktivität ländlicher sich aktiv mit diesen Entwicklungen auseinan- Räume, der Trend zur Akademisierung und der – dersetzen, um nicht im globalen Wettbewerb bereits beschriebene – demographische Wandel, den Anschluss zu verlieren. auf den deshalb hier nicht nochmals gesondert ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101 23
HANNO KEMPERMANN eingegangen wird. Während erstgenannter Die genannten Aspekte führen dazu, dass Trend regional gestaltbar ist, müssen mit Blick bereits heute 55,8 Prozent der Unternehmen in auf die Akademisierung eher reaktive Strate- ländlichen Räumen große Probleme bei der gien entwickelt werden, mit denen die Unter- Rekrutierung geeigneter Mitarbeiter mit Berufs- nehmensbedürfnisse bestmöglich in Einklang ausbildung und sogar 61 Prozent bei potenziellen mit den neuen Entwicklungen gebracht wer- Mitarbeitern mit Fortbildung (bspw. Meister) den. haben – jeweils rund 10 Prozentpunkte mehr ∙ Attraktivität ländlicher Räume: Unterneh- Unternehmen in städtischem Umfeld (Tab. 2). men in ländlichen Räumen bewerten ihr Bei den Auszubildenden hat ebenfalls mehr als Umfeld schlechter als Unternehmen in städ- die Hälfte Schwierigkeiten – hier beträgt der tischen Räumen. Während letztere beispiels- Unterschied zu städtischen Regionen sogar weise die Ausstattung mit sozio-kulturellen mehr als 10 Prozentpunkte. Dazu hat jedes Einrichtungen durchschnittlich mit einer zweite Unternehmen mit Akademikerbedarf 2,1 auf einer Schulnotenskala bewerten, Probleme, offene Stellen adäquat zu besetzen. vergeben erstere lediglich eine 3,1. Sowohl Lediglich der Markt für Mitarbeiter ohne Be- das wirtschaftliche als auch das Wohnum- rufsausbildung ist noch nicht angespannt. Im feld werden ebenfalls in verstädterten Räu- Ergebnis kann bereits heute jedes zweite Unter- men attraktiver eingeschätzt als in ländlichen nehmen nicht sein eigentliches Umsatzpotenzial Räumen. Das wirtschaftliche Umfeld wird entfalten. in Städten mit einer 2,4 benotet – ländliche Diese Schwierigkeiten werden in Zukunft an Unternehmen vergeben auch hier nur eine Bedeutung zunehmen – und zwar in beschleu- 3,1. Im Wohnumfeld liegt die Diskrepanz nigtem Maße, weil zwei gegenläufige Effekte in bei 2,0 in den Städten zu 2,5 in ländlichen ländlichen Räumen zu beobachten sind. Erstens Räumen.9 Das führt dazu, dass auch das wirkt sich hier der demographische Wandel Image der Regionen unterschiedlich bewer- wie beschrieben besonders stark aus. Zweitens tet wird. Unternehmen im städtischen Um- gehen die Unternehmen von steigendem Per- feld geben mit einer 2,3 eine gute Note, Un- sonalbedarf in den nächsten Jahren aus. Die ternehmen in ländlichen Räumen bewerten Unternehmen planen demnach, nicht nur die ihr Umfeld mit einer 2,9 lediglich befriedi- in Ruhestand gehende Belegschaft zu ersetzen, gend. sondern zusätzliche Beschäftigte einzustellen. ∙ Akademisierung: Lag 2000 die Studienan- Fast die Hälfte der Unternehmen in ländlichen fängerquote – also die Jugendlichen, die mit Räumen erwarten in den nächsten Jahren einen (Fach-)Hochschulreife ein Studium begin- steigenden Personalbedarf bei Fachkräften mit nen – noch bei einem Drittel, stieg sie bis Berufsausbildung, also derjenigen Gruppe, bei 2014 auf 57,3 Prozent.10 Deshalb sind Fach- der schon heute teilweise massive Engpässe kräfteengpässe bei Auszubildenden und bei festzustellen sind. Mehr als jedes dritte Unter- Beschäftigten mit beruflicher Bildung beson- nehmen plant zusätzliche Fachkräfte mit spezi- ders evident. Dies birgt Gefahren für das fischen Qualifikationen aus Weiterbildungen erfolgreiche Bildungssystem in Deutschland (wie Meister- und Technikerabschlüsse) einzu- und damit für die Wettbewerbsfähigkeit der stellen. Unternehmen. Die Herausforderungen des digitalen Wandels bringen ein stärkeres unter- nehmensseitiges Arbeitsangebot mit MINT- Hintergrund und interdisziplinärem Blick- winkel mit sich. Darauf müssen sowohl im Rahmen beruflicher Bildungsangebote als auch in der besseren fortlaufenden Einbin- dung von Bachelor-Studenten in Unterneh- men Antworten gefunden werden. 24 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 101
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