OFFENSIV GEGEN PRIVATISIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN - MAY NAOMI BLANK - STUDIEN
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STUDIEN MAY NAOMI BLANK OFFENSIV GEGEN PRIVATISIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN SOZIALISTISCHE KAMPAGNENPOLITIK IN DEN NIEDERLANDEN
MAY NAOMI BLANK OFFENSIV GEGEN PRIVATISIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN SOZIALISTISCHE KAMPAGNENPOLITIK IN DEN NIEDERLANDEN Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
MAY NAOMI BLANK ist Politikwissenschaftlerin und Germanistin. Seit 2016 lebt und arbeitet sie in den Nieder- landen. Während ihres Studiums arbeitete sie als Teamerin für den Projekttag «Demokratie und Mitbestimmung» der DGB-Jugend Berlin/Brandenburg. Durch ihren Fokus auf gewerkschaftliche Arbeit wurde sie auch auf die Umstrukturierungen im Gewerkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV) und die Kampagne für einen nationalen Gesundheitsfonds (Nationaal ZorgFonds) in den Niederlanden aufmerksam. IMPRESSUM STUDIEN 3/2017 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Stefan Thimmel Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: April 2017 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Inhalt INHALT Vorwort 5 Abstract 6 1 Einleitung 7 2 Das Gesundheitssystem der Niederlande 9 2.1 Neoliberale Gesundheitsreformen in den 2000er Jahren: Profitgarantien für die Versicherungswirtschaft 9 2.2 Die aktuelle Situation 10 2.2.1 Der Gesundheitssektor als Markt 10 2.2.2 Zunehmende Macht der Versicherungsgesellschaften 11 2.2.3 Entwicklung einer Zwei-Klassen-Medizin 11 2.2.4 Drastische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen 11 2.2.5 Pflege wird auf den familiären Bereich abgewälzt 12 3 Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen 13 3.1 Kampagnen im Gesundheitssektor 14 3.2 Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbewegung 14 3.3 Die Kampagne für einen nationalen Gesundheitsfonds 16 Fazit 19 ExpertInnen 20 Literatur 21
Vorwort VORWORT In vielen europäischen Ländern nehmen die Proteste gne zurückgreifen konnte. Gleichzeitig konnte sie ihren gegen die neoliberale Privatisierungs- und Kürzungs- wachsenden Einfluss innerhalb der Gewerkschaften politik im Gesundheitswesen zu. In Spanien gingen für die Kampagne nutzen. im November 2016 Zehntausende für den Erhalt der Allerdings gab es auch Kritik an der Kampagne für öffentlichen Gesundheitsversorgung auf die Straße, einen nationalen Gesundheitsfonds. So wurde der Par- allein in Granada waren es mehr als 40.000 Demons- tei etwa vorgeworfen, sich dabei auf eine «Pflegepar- trantInnen. Am 17. Februar 2017 folgte ein landes- tei» zu reduzieren und dem Rassismus des Rechtspo- weiter Aktionstag in 16 Städten, an dem sich erneut pulisten Geert Wilders und dem – in der Endphase des Tausende beteiligten. Nur einen Tag später waren es Wahlkampfes in der Auseinandersetzung um Auftritts- in den Niederlanden 10.000 DemonstrantInnen, die verbote türkischer PolitikerInnen ansteigenden – nie- auf einer Kundgebung in Den Haag eine Krankenver- derländischen Nationalismus nicht entschiedener be- sicherung für alle forderten. In London demonstrierten gegnet zu sein. Tatsächlich gelang es der Partei trotz am 4. März 2017 sogar bis zu einer Viertelmillion Men- ihrer bemerkenswerten Gesundheitskampagne nicht, schen für den Erhalt und Ausbau des öffentlichen Ge- bei den Parlamentswahlen am 15. März 2017 dazu- sundheitswesens. zugewinnen und von den erdrutschartigen Verlusten Auch in Deutschland sind immer weniger Beschäf- der Sozialdemokratie zu profitieren. Während die SP tigte und PatientInnen bereit, Ökonomisierung, Priva- mit leichten Verlusten bei einem Ergebnis von 9,1 Pro- tisierungen und Personalabbau im Gesundheitswesen zent stagnierte, konnte die mit einem klar antirassisti- hinzunehmen und sich mit einer Zwei-Klassen-Medizin schen Profil auftretende Partei GroenLinks (GrünLinks) und einer – für die meisten – immer schlechter werden- ihren Stimmenanteil mit einem Ergebnis von ebenfalls den Gesundheitsversorgung abzufinden. Hierzulande 9,1 Prozent verdreifachen. Die Gründe dafür müssen steht vor allem die Forderung nach mehr Personal in an anderer Stelle analysiert werden, die Studie wurde den Krankenhäusern im Fokus. Ver.di kämpft seit eini- kurz vor den Wahlen fertiggestellt. gen Jahren mit der Kampagne «Der Druck muss raus» Die Kampagne zum nationalen Gesundheitsfonds für die Schaffung von 162.000 zusätzlichen Stellen. verdient in jedem Fall über die niederländischen Gren- Den Beschäftigten an der Berliner Charité gelang es im zen hinweg Aufmerksamkeit. Für die SP hat der Kampf April 2016 erstmals, die Zusicherung nach mehr Per- im Gesundheitswesen strategische Bedeutung: Bei ei- sonal in einem Tarifvertrag zu verankern. Im März 2017 nem Erfolg der Kampagne könnte es auch in anderen kam es zu Warnstreiks für mehr Personal in saarländi- öffentlichen Sektoren zu Rekommunalisierungsinitia- schen Krankenhäusern. Bundesweit steht eine Tarif- tiven kommen. Und sollte es der SP gelingen, in Zu- runde Entlastung an, mit der ver.di den Forderungen sammenarbeit mit den Gewerkschaften ihre Forderung Nachdruck verleihen will. Das Thema hat inzwischen nach einer Entprivatisierung der Krankenkassen durch- auch die Politik erreicht. Insbesondere die Partei DIE zusetzen, wäre dies ein Erfolg, der auf die ganze euro- LINKE greift die Forderungen nach mehr Personal auf päische Linke ausstrahlen würde. und bringt sich in den Aufbau gesellschaftlicher Bünd- Daher werden im Folgenden der neoliberale Umbau nisse zur Unterstützung der Beschäftigten ein. des niederländischen Gesundheitswesens, die Ge- Für diese Auseinandersetzungen hier in Deutschland schichte der SP, ihre Verankerung unter den Beschäf- kann viel aus den Erfahrungen, die in den Niederlan- tigten, ihre Gewerkschaftsarbeit und ihre Kampagnen- den gemacht wurden, gelernt werden. Dort führt die politik vorgestellt. Wir hoffen, mit der Veröffentlichung Sozialistische Partei der Niederlande (SP) eine bemer- dieser Studie von May Naomi Blank einen Beitrag zur kenswerte Kampagne für eine Entprivatisierung der Diskussion um wichtige Fragen linker Politik leisten zu Krankenkassen, mit der sie die Stimmung im Land be- können: reits erheblich zugunsten eines öffentlichen Gesund- – Wie kann eine langfristige Verankerung einer sozia- heitswesens beeinflussen konnte. Andere linke Par- listischen Partei in bestimmten Beschäftigtengrup- teien sowie Gewerkschaftsgliederungen beteiligen pen funktionieren? sich inzwischen an der Kampagne, in deren Rahmen – Was kann man von den Strategien sozialistischer Ge- bereits mehr als 250.000 Unterschriften für einen öf- werkschaftspolitik der SP lernen? fentlichen nationalen Gesundheitsfonds gesammelt – Wie kann eine erfolgreiche sozialistische Kampa werden konnten. Einen der Höhepunkte bildete die gnenpolitik im Gesundheitswesen aussehen? Kundgebung mit 10.000 TeilnehmerInnen vor dem Par- Um hierzulande tatsächlich eine Abkehr von der neo- lamentsgebäude in Den Haag am 18. Februar 2017. liberalen Gesundheitspolitik durchzusetzen, wird es Die SP bemüht sich schon seit Langem und recht des massiven Drucks von aktiven Beschäftigten und erfolgreich um eine Verankerung der Partei unter den ihren Gewerkschaften, aber auch seitens linker Politik Beschäftigten des Gesundheitswesens. Tatsächlich bedürfen. hat sie dort überdurchschnittlich viele Mitglieder und WählerInnen – eine Basis, auf die sie für ihre Kampa Florian Wilde, Rosa-Luxemburg-Stiftung 5
Abstract ABSTRACT Die vorliegende Studie skizziert, wie das niederlän- werkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbewe- dische Gesundheitssystem ab 2006 privatisiert und ging (FNV) vorgestellt, der sich demokratisch erneu- Marktmechanismen installiert wurden. Es wird be- ert hat, zunehmend Organizing-Strategien einsetzt leuchtet, welche Folgen dies für die Arbeitsstan- und mit der SP kooperiert. Abschließend wird eine dards im Gesundheitssektor und für die PatientInnen aktuelle Kampagne im Gesundheitsbereich für einen hat. Anschließend wird beschrieben, wie die Sozi- Nationaal ZorgFonds vorgestellt, mit der die Entpriva- alistische Partei der Niederlande (SP) mit sozialen tisierung der Krankenkassen gefordert wird. Die von Bewegungen gegen die Umstrukturierung des Ge- der SP lancierte Kampagne erfährt große Unterstüt- sundheitssystems kämpfte und so ihre Unterstüt- zung von verschiedenen Parteien und Gewerkschaf- zerstruktur in diesem Sektor ausbaute. Als zweiter ten und konnte den Wahlkampfdiskurs maßgeblich wichtiger Akteur im Gesundheitsbereich wird der Ge- beeinflussen. 6
Einleitung 1 EINLEITUNG Bei den Parlamentswahlen am 15. März 2017 in den worden? Welche Lehren sind daraus für Deutschland Niederlanden war das Gesundheitswesen eines der zu ziehen, wo die Lebenssituation älterer und pflegebe- zentralen Themen neben Fragen zur Migration, die dürftiger Menschen sowie die Arbeitsbedingungen im vor allem die rechtspopulistische PVV auf die Agen- Gesundheitssektor eine wachsende Rolle spielen (vgl. da gesetzt hatte. Eine Umfrage der wichtigsten Nach- ebd.: 4)? Eine Schlüsselfunktion für die Änderung des richtenseite im Internet der Niederlande NU.nl hatte Diskurses über die Gesundheitsversorgung in den Nie- am 24. November 2016 festgestellt, dass 63 Prozent derlanden spielt die SP, die das Thema seit ihren An- der Befragten die Gesundheitsvorsorge als eines der fängen in den 1970er Jahren auf der Agenda hat und Hauptthemen des Wahlkampfes sahen.1 Erst im Juni 2016 eine große Kampagne für die Entprivatisierung 2016 hatte Maurice de Hond, einer der bekanntesten der Krankenkassen und die Errichtung eines nationalen niederländischen Meinungsforscher, eine Umfrage Gesundheitsfonds gestartet hat, den sogenannten Na- von 2006 wiederholen lassen, um zu überprüfen, wie tionaal ZorgFonds (NZF). Die NZF-Kampagne wird mitt- sich die Ängste der WählerInnen in den letzten zehn lerweile nicht nur von der SP, sondern auch von drei an- Jahren verändert haben. Auch diese Umfrage zeigt, deren Parteien und Teilen der Gewerkschaftsbewegung dass sich 41 Prozent der NiederländerInnen Sorgen um getragen.3 Durch die breite Unterstützung in der Bevöl- das Gesundheitssystem machten.2 2006 waren es nur kerung und unter Beschäftigten im Gesundheitssektor 29 Prozent gewesen. Das Gesundheitssystem ist damit hat die Kampagne den Wahlkampfdiskurs erfolgreich das Thema, das in den letzten zehn Jahren am meis- verschoben. Mittlerweile fordern auch fast alle anderen ten an Bedeutung gewonnen hat. Die Sorge um das Parteien, die Kosten für die Gesundheitsversorgung zu Gesundheitssystem zieht sich quer durch die Bevölke- verringern; über die Berechtigung privater Krankenver- rung. WählerInnen der Sozialistischen Partei (SP), der sicherer und Marktmechanismen im Gesundheitssys- Seniorenpartei 50 Plus und der konservativen Partei tem wird erstmals offen diskutiert. Gleichzeitig hat die Christlich-Demokratischer Aufruf (CDA) nannten das SP ihre Basis im Gesundheitssektor erweitert. 252.000 Gesundheitssystem als ihr wichtigstes Anliegen; bei Menschen haben die Kampagnenpetition bereits unter- AnhängerInnen der rechtspopulistischen Partei für die zeichnet, 10.000 demonstrierten am 18. Februar 2017 Freiheit (PVV) und der sozialdemokratischen Partei der für den NZF in Den Haag. Kontaktdaten werden groß- Arbeit (PvdA) stand das Thema auf Platz zwei, bei de- flächig aufgenommen und die UnterzeichnerInnen ak- nen der liberalen Parteien Volkspartei für Freiheit und tiv in die Kampagne und die inhaltliche Ausarbeitung Demokratie (VVD) und Democraten 66 (D66) auf Platz der Reformvorschläge einbezogen. drei. Für die WählerInnen der grünen Partei GroenLinks Die Kampagne ist damit ein bis dahin beispielloses (GL) war das Thema verhältnismäßig unwichtig und Vorbild für Organizing4 im Gesundheitsbereich. Die- landete nur auf Platz sechs (vgl. de Hond 2006). Eine se Erfahrung ist auch für den deutschen Kontext von Eurobarometer-Umfrage zeigt, dass die Niederlän- Interesse. Die von Beschäftigten breit unterstützten derInnen 2014 relativ zufrieden mit der Gesundheits- Kampagnen der Gewerkschaft ver.di für eine gesetzli- versorgung waren. 49 Prozent erwarteten aber, dass che Personalbemessung in den Krankenhäusern, ver- sich die Situation verschlechtern würde. Die Befrag- schiedene lokale Proteste und die Streiks der letzten ten fürchteten darüber hinaus, dass die Kosten der Ge- Jahre an der Berliner Charité haben die Unzufrieden- sundheitsversorgung steigen würden und die Qualität heit, aber auch das Protestpotenzial in diesem Sektor und Zugänglichkeit durch Kürzungen abnehmen wür- gezeigt. Anhand der Erfahrungen der SP kann hier in de – vor allem für Alte, chronisch Kranke und Men- Deutschland darüber diskutiert werden, wie Beschäf- schen mit Behinderung. Wie wichtig den Niederlände- tigte im Gesundheitswesen noch besser organisiert rInnen Verbesserungen im Gesundheitsbereich sind, werden können und wie eine erfolgreiche massen- zeigt sich auch im europäischen Vergleich. Die Umfra- wirksame Kampagne aussehen kann. Diese Studie ge stellte fest, dass fast 60 Prozent der Niederlände- gibt zunächst einen kurzen Überblick über das nieder- rInnen die Gesundheitsversorgung problematisierten. Bei deutschen StudienteilnehmerInnen waren es un- ter zehn Prozent. Doch auch in Deutschland gewinnen 1 Es handelt sich um eine relativ kleine Stichprobe von 1.998 Befragten; vgl. www. nu.nl/politiek/4355852/zorg-en-asiel-belangrijkste-verkiezingsthemas.html. 2 In die Themen Pflege und Gesundheit an Bedeutung. So dieser Umfrage wurde ein Zuwachs von 28 auf 37 Prozent für das Thema «Integra ergab eine anonyme Bevölkerungsumfrage des Zen- tion» festgestellt. 3 Unterstützer sind die Tierschutzpartei Partij voor de dieren, die Partei 50 Plus, die Piratenpartei, die linke Strömung der sozialdemokratischen Pv- trums für Qualität in der Pflege, dass 43 Prozent das dA Linksom!, die Gewerkschaftsorganisationen FNV Zorg en Welzijn sowie FNV Thema als sehr wichtig für ihre Wahlentscheidung er- Senioren, der Senioren-Fernsehsender MAX und der Interessenverband für Senio- ren KBO- Brabant. Außerdem wird der NZF von zahlreichen kleinen Organisationen achten (vgl. Eggert u. a. 2017: 4 ff.). Die Personenstich- aus dem Gesundheitsbereich, wie etwa Physiotherapiepraxen, unterstützt. 4 Der probe umfasste 2.000 Befragte, die nach Region, Alter, Begriff Organizing wird vor allem in der Diskussion über die strategische Neuorien- tierung von Gewerkschaften und der US-amerikanischen Literatur über soziale Be- Geschlecht und Bildung unterteilt wurden. wegungen verwendet. Brinkmann und Nachtwey (2010) nennen zwei zentrale Kri- terien für Organizing: «Das Organizing-Konzept ist nicht genau definiert und variiert Wieso ist das Thema Gesundheit zu einem zentralen je nach Kontext. Zu den zentralen Elementen gehören eine Beteiligungs- und Be- Thema der niederländischen Parlamentswahl 2017 ge- wegungsorientierung sowie eine ausgeprägte Kampagnen- und Konfliktfähigkeit.» 7
Einleitung ländische Gesundheitssystem, insbesondere darüber, 2000er Jahre angenommen hat. Schließlich wird un- wie in den 2000er Jahren eine vollständige Privatisie- tersucht, wie die aktuelle Kampagne NZF entstanden rung der Krankenkassen stattgefunden hat und der ist und wie sie von der Gesellschaft angenommen und Gesundheitssektor Marktmechanismen unterworfen aufgegriffen wird. Abschließend wird signifikante Lite- wurde. Danach wird beleuchtet, wie sich die SP dem ratur zum Thema aufgeführt, werden die für die Studie Thema des Gesundheitswesens in ihrer Gründungszeit interviewten ExpertInnen vorgestellt und relevante Pu- und während der neoliberalen Umstrukturierung der blikationen der SP genannt. 8
Das Gesundheitssystem der Niederlande 2 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER NIEDERLANDE Für die Entwicklung des niederländischen Gesund- Diese Entwicklung ist mit der von New Labour in Groß- heitssystems sind drei Phasen von besonderer Be- britannien vergleichbar. Der diskursive Paradigmen- deutung. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde die wechsel in den 2000er Jahren bereitete den Weg für Versorgung von Kranken vor allem durch wohltätige den strukturellen Umbau des niederländischen Ge- Einrichtungen der Zivilgesellschaft, meist religiöse Or- sundheitssystems. David Hollanders, Dozent an der Til- ganisationen, oder engagierte Privatpersonen über- burg School of Economics and Management, schreibt nommen. Der Staat fing erst 1956 mit dem Gezond- zu diesem Wendepunkt: heidswet (Gesundheitsgesetz) an, die sogenannte Bevor die Lage sich verändert, verändern sich die Wor- Volksgesundheit zu regulieren.5 1964 folgte das Zie- te. Deswegen werden seit einer Dekade Krankenhäuser kenfondswet (Krankenfondsgesetz) und 1967 das Al- «Gesundheitsanbieter» genannt, sind Patienten «Gesund- gemene Wet Bijzondere Ziektekosten (Allgemeines heitskosumenten» geworden und werden Gespräche zwi- Gesetz für besondere Krankheitskosten). Die damals schen Arzt und Patient, Psychotherapie und Operationen zuständige Ministerin Marga Klompé brachte diese in offiziellen Dokumenten als «Gesundheitsprodukte» be- Entwicklung 1965 mit den Worten auf den Punkt, die zeichnet. Ein Gesundheitskartell wird von einem Heer an Gesundheitsversorgung habe sich «von einer Gnade zu Wissenschaftlern, Beratern und Lobbyisten «der freie Ge- einem Recht» entwickelt (van Dam u. a. 2016: 6). Die sundheitsmarkt» genannt. (Hollanders 2016: 23) Gesundheitsversorgung wurde also mehr und mehr der familiären Verantwortung und dem Einfluss priva- 2.1 NEOLIBERALE GESUNDHEITS ter Organisationen entzogen und zu einer Verpflich- REFORMEN IN DEN 2000ER JAHREN: tung des Staates erhoben. In der Folgezeit wuchs das PROFITGARANTIEN FÜR staatliche Gesundheitswesen und es kam zur Einfüh- DIE VERSICHERUNGSW IRTSCHAFT rung einer gesetzlichen Krankenversicherungspflicht. Die Vision eines freien Gesundheitsmarktes wurde Der politische Diskurs veränderte sich mit den öko- mit dem Inkrafttreten des bis heute gültigen Zorgver- nomischen Krisen von 1973 und 1981. Es entwickel- zekeringswet (Krankheitsversicherungsgesetz) Wirk- te sich eine ideologische Strömung, die New Public lichkeit. Das konservative Kabinett Balkenende II 6 Management (NPM) genannt wird. Die VertreterInnen (2003–2006) übergab am 1. Januar 2006 die Gesund- des NPM streben eine stärkere Ökonomisierung, mehr heitsversorgung gänzlich privaten Trägern; ihnen ist Marktdenken und Effizienzsteigerung im gesamten öf- es seitdem erlaubt, Profite zu erwirtschaften. Christi- fentlichen Sektor an (vgl. ebd.: 8). In den 1980er Jah- na Walser vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und ren war zunehmend die Rede von Deregulierung und Sozialpolitik beschreibt die Einführung des Wettbe- Kostenbeschränkung in der Gesundheitsversorgung. werbsmodells im niederländischen Gesundheitssys- Es etablierte sich die Annahme, das Gesundheitssys- tems folgendermaßen: tem könne modernisiert und entbürokratisiert werden, Der Anreiz für die Versicherungen, die gesetzlich eröffneten indem der Staat sich aus dem Gesundheitssektor zu- Unterscheidungsmöglichkeiten zur Wettbewerbsstärkung rückzieht. Der Markt würde sich am besten regulie- auch zu nutzen, findet sich in der Gewinnerzielung, die ih- ren, wenn private Krankenversicherungen miteinan- nen anders als den gesetzlichen Krankenkassen vor der Re- der konkurrierten. Dadurch entstünde gute Pflege zum form gestattet ist. (Walser 2007: 3) kleinen Preis (vgl. Boere/Vels 2005: 13 f.). Ähnlich wie Ein Basispaket von Leistungen, das durch die Kran- in Deutschland wendete sich auch die niederländische kenkasse übernommen werden muss, wird jährlich Sozialdemokratie in den 1990er Jahren ideologisch neu gesetzlich festgelegt. Nach Einschätzung des dem Neoliberalismus zu. Im sogenannten «lila Kabi- wissenschaftlichen Mitarbeiters der SP, Eduard van nett» bildete die PvdA 1994 eine Regierungskoalition Scheltinga, können so die Leistungen der Kranken- mit der konservativen Pro-Markt-Partei VVD und der li- kassen stufenweise verschlechtert werden, ohne dass beralen Partei D66. Der sozialdemokratische Minister- es Proteste in der Bevölkerung gibt. Physiotherapie, präsident Wim Kok war es auch, der in seiner zweiten zahnärztliche Behandlungen für Erwachsene und be- Amtszeit (1998–2002) eine Projektgruppe zur Reform stimmte psychiatrische Dienste seien so bereits aus des Gesundheitssystems einsetzte. Der niederländi- dem Basispaket verschwunden. Dadurch, dass sich sche Aktivist und Historiker van Lingen beschreibt die die Leistungen jedes Jahr verändern, verlören Patien- tief greifenden Veränderungen, die dieser Kurswech- tInnen den Überblick über ihre Rechte, so van Schel- sel der Sozialdemokraten für die niederländische Politik tinga in einem Gespräch mit der Autorin. Indem den brachte: The PvdA, rather than merely making concessions to neo- liberal parties, now fully embraced neoliberalism. In the 5 Mehr Informationen auf der Webseite der niederländischen Regierung unter: www.rijksoverheid.nl/ministeries/ministerie-van-volksgezondheid-welzijn-en- 1995 throne speech written by Kok, queen Beatrix said: sport/inhoud/organisatie/geschiedenis. 6 Vgl hierzu auch van Lingen (2016): «The first two Balkenende cabinets were really a continuation of Kok’s Purple cabinets’ «More free-market reforms and less regulation are indis- policies of austerity and privatization, but without the PvdA, without an economic pensable». (van Lingen 2016) recovery and with much more repression.» 9
Das Gesundheitssystem der Niederlande privaten Versicherungen erlaubt wird, für ihre Basis- mittlerweile werden 90 Prozent des Versicherungs- versicherungen unterschiedlich hohe Prämien festzu- marktes von vier großen Unternehmen beherrscht (vgl. setzen, soll die Konkurrenz zwischen den Unterneh- Ettema 2016). Die Marktmechanismen greifen nicht: men stimuliert werden. Für alle weiteren Leistungen 2016 wechselten nur 5,2 Prozent der NiederländerIn- müssen Zusatzversicherungen abgeschlossen wer- nen ihre Krankenversicherung, obwohl die Versiche- den (vgl. Walser 2007: 2 f.). Der Staat verpflichtet die rungen nach Angaben des Konsumentenbundes circa privaten Versicherungsunternehmen dazu, Versicher- 450 Millionen Euro im Jahr für Marketing ausgaben. te jeden Alters, Geschlechts und Krankheitsrisikos in Trotzdem haben zwei Drittel der Versicherten seit den die Krankenversicherung aufzunehmen. Dies wird als Reformen noch nie den Anbieter gewechselt (vgl. van Kontrahierungszwang bezeichnet. Gleichzeitig be- Gerven u. a. 2016: 4). Währenddessen steigen die Prä- steht jedoch eine Verpflichtung für alle, die in den Nie- mien fast jedes Jahr. Hinzu kommt die Einführung ei- derlanden wohnen oder steuerpflichtig arbeiten, sich nes «Eigenrisikos»: Ein Sockelbetrag der anfallenden bei einer der niederländischen Krankenversicherun- Kosten für zum Beispiel Eingriffe und Medikamente gen zu versichern. Pflichtversichert sind auch Arbeit- muss von den PatientInnen selbst getragen werden. nehmerInnen aus dem Grenzgebiet, die für die Arbeit Diese Selbstbeteiligung stieg von 150 Euro bei Einfüh- einpendeln (vgl. Wardenbach 2005). Es ist Gemein- rung des neoliberalen Krankenversicherungsgesetzes schaftsangehörigen der EU, die in den Niederlanden 2006 auf aktuell 385 Euro (vgl. Beckerman 2016: 26). arbeiten, nicht möglich, dort eine gesundheitliche Ver- Auf diesen Betrag wird im Abschnitt 2.2.3 noch ein- sorgung zu bekommen und dafür Kostenerstattung bei mal eingegangen. Anstatt die zusätzlichen Einnahmen ihrer heimischen Versicherung zu beanspruchen. Da- in die Verbesserung des Angebots zu investieren, ma- vid Hollanders kommentiert, wie widersprüchlich die chen die Krankenkassen Milliardengewinne: 2014 wa- Versicherungspflicht und die Rhetorik des freien Ge- ren es 1,9 Milliarden, in den Jahren davor jeweils rund sundheitsmarktes sind: 1,4 Milliarden. In den zehn Jahre seit den Reformen ha- Mit der erzwungenen Mitgliedschaft wird das Marktprin- ben die Krankenkassen außerdem Reserven von über zip nicht konsequent umgesetzt. Daran zeigt sich, dass 10 Milliarden Euro erwirtschaftet (ebd.). Auch die Bü- es Vertretern des Marktprinzips [im Gesundheitssektor] rokratisierung hat nicht abgenommen. Jedes Kranken- nicht wirklich um den freien Markt geht. Die verpflichtete haus, jede Arztpraxis muss Verträge mit mehreren Ver- Teilnahme ist in erster Instanz für die Versicherungsgesell- sicherungsgesellschaften abschließen. Dies zeigt sich schaften ungemein erfreulich. So ist für sie der Absatz ga- bei der Führungsetage der niederländischen Kranken- rantiert. (Hollanders 2016: 24) häuser. Diese ist im Schnitt vier Prozent größer als bei Das Gesundheitssystem wurde in zwei sogenannte Krankenhäusern in Großbritannien oder Kanada (ebd.). Gesundheitsmärkte umstrukturiert. Zum einen in den Um zu zeigen, wie sich die Privatisierung konkret auf «Gesundheitsproduktmarkt», auf dem Krankenver- den Gesundheitsbereich ausgewirkt hat, sollen im fol- sicherungen von «Gesundheitsanbietern» «Gesund- genden Abschnitt fünf Tendenzen beschrieben wer- heitsprodukte» einkaufen. Eine Krankenversicherung den, die sich nach den Reformen entwickelt haben. kann also von einem Krankenhaus 20 Herzoperatio- nen kaufen. Dies soll dazu führen, dass die Kranken- 2.2.1 Der Gesundheitssektor als Markt häuser miteinander um die billigsten Preise für Herz- Seit den Reformen dürfen Krankenhäuser und soge- OPs konkurrieren, sodass die Krankenversicherungen nannte Gesundheitsanbieter for profit arbeiten und nicht bei anderen Anbietern billigere Dienstleistungen konkurrieren um PatientInnen und um Verträge mit in Anspruch nehmen. Der zweite Markt wird «Kran- Versicherungsgesellschaften. Diese Konkurrenz nützt kenversicherungsmarkt» genannt. Es geht hier um den Krankenversicherungen, deren Verhandlungs das Verhältnis zwischen versicherten BürgerInnen und position sich bei steigender Konkurrenz zwischen Krankenversicherungen (vgl. Hollanders 2016: 23). Bei den Gesundheitsanbietern verbessert. Durch den ver- der Einführung der Reformen im Gesundheitsbereich schärften Wettbewerb müssen sich Krankenhäuser versprach man sich durch den Wettbewerb auf dem spezialisieren oder fusionieren, um im Wettbewerb Gesundheitsproduktmarkt sinkende Preise bei stei- um PatientInnen und Kosten bestehen zu können. Dies gender Qualität. Auf dem Krankenversicherungsmarkt geht zulasten der kleinen Krankenhäuser in der Provinz, sollten die Krankenkassen miteinander konkurrieren, die oft schließen müssen (vgl. Beckerman 2016: 26). sodass auch für die BürgerInnen die Preise niedrig blei- Zum Teil erhöht sich der Druck auf Gesundheitsanbie- ben und die Krankenkassen keine großen Gewinne ter aber auch vonseiten der PatientInnen. Vor den Re- machen würden. Wäre eine Krankenversicherung zu formen entschied die Hausärztin bzw. der Hausarzt, teuer, würden die Versicherten einfach zu einer billige- in welchem Krankenhaus ihre PatientInnen behan- ren Versicherung wechseln (ebd.). delt werden. Mittlerweile können PatientInnen Ein- fluss auf die Krankenhauswahl nehmen. 2010 wählten 2.2 DIE AKTUELLE SITUATION rund ein Drittel der KrankenhauspatientInnen ihr Kran- Ein Jahrzehnt später zeigt sich, wie falsch viele dieser kenhaus aufgrund von Informationen von Internetsei- Prognosen waren. Die Reformen führten unmittelbar ten, auf denen Krankenhäuser verglichen werden. So zu einer Fusionswelle auf dem Versicherungsmarkt; kann beispielsweise eingesehen werden, in welchem 10
Das Gesundheitssystem der Niederlande Krankenhaus die wenigsten Komplikationen auftreten ihre monatliche Prämie sinkt. Das eigene Risiko kann (vgl. Dijksta u. a. 2015: 47).7 Der Vergleich erhöht den auf bis zu 885 Euro erhöht werden. Dies machen be- Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern; die Pa sonders Menschen, die Kosten sparen wollen. 2016 tientInnen nehmen die Rolle von KonsumentInnen ein, entschieden sich zwölf Prozent der Bevölkerung für ei- die mit ihren Entscheidungen und Bewertungen Ein- ne höhere Risikoprämie, der Großteil (80 %) für eine fluss auf den «Gesundheitsmarkt» ausüben. KritikerIn- Selbstbeteiligung von 500 Euro (Vergleijkdezorgverze- nen der Gesundheitsreform weisen auf die Gefahr hin, keringen 2017). Auf einer Vergleichs-Internetseite, die dass Krankenhäuser aufgrund dieses Mechanismus Versicherte berät, wird dieser Mechanismus wie folgt dazu tendieren, medizinische Fehler systematisch zu eingeschätzt: verharmlosen, anstatt gemeinsam an Qualitätsverbes- Das Bemessen der freiwilligen Risikoprämie kommt ei- serungen zu arbeiten, weil sie Imageschäden fürchten nem Glücksspiel gleich. Sich für die billigste Versicherung (vgl. van Gerven u. a. 2016: 6). Außerdem handelt es zu entscheiden, bedeutet eine niedrige monatliche Prämie sich für die PatientInnen nur auf den ersten Blick um ei- und ein höheres eigenes Risiko zu erhalten. Hast du die letz- ne Entscheidungsfreiheit. Die Wahl des Gesundheits- ten Jahre kein Krankenhaus von innen gesehen? Dann ist anbieters wird letztlich durch die Verträge zwischen die Versuchung groß, sich für ein hohes freiwilliges Risiko Krankenkassen und Gesundheitsanbietern begrenzt. zu entscheiden. Aber rechne damit, dass du, wenn du un- Um Geld zu sparen, schließen die Versicherungen mit erwartet medizinische Hilfe brauchst, diese zunächst be- einzelnen Krankenhäusern Verträge über spezifische zahlen musst, je nach eigenem Risiko teilweise oder ganz. Dienstleistungen ab; wenn die Kontingente voll sind (Ebd.) oder nicht verhandelt wurden, müssen die PatientIn- Es besteht die Befürchtung, dass diese Regelung be- nen in ein anderes Krankenhaus (vgl. ebd.: 3). sonders arme Menschen davon abhält, zum Arzt zu gehen. Aus einer Studie des Statistischen Bundes- 2.2.2 Zunehmende Macht amtes, dem Centraal Bureau voor Statistiek, aus dem der Versicherungsgesellschaften Jahr 2010 geht hervor, dass die Lebenserwartung von Hinzu kommt, dass die Versicherungsgesellschaften niederländischen Männern aus der höchsten Einkom- einen größeren Einfluss auf die Leistungen – das so- mensklasse 7,2 Jahre höher ist als die von Männern der genannte Gesundheitsangebot – bekommen haben, niedrigsten Einkommensklasse. Für niederländische die von ihnen übernommen werden müssen. Mit der Frauen beträgt dieser Unterschied 6,7 Jahre. Männer Einführung des neoliberalen Krankenversicherungs- mit einem hohen Einkommen leben in sehr gutem Ge- gesetzes entschied das Gesundheitsministerium, dass sundheitszustand durchschnittlich 17,8 Jahre, Frauen Krankenversicherungsgesellschaften nicht mehr alle 17,6 Jahre länger (vgl. Brakel/Knoops 2010: 29). Medikamente vergüten müssen. Die Krankenkassen dürfen «Pakete» mit unterschiedlichem Leistungsspek- 2.2.4 Drastische Verschlechterung trum anbieten: ein günstigeres Basispaket, das nicht der Arbeitsbedingungen alle Leistungen umfasst, und teurere Pakete, die Zu- In den Verhandlungen, die die Krankenversicherungen satzleistungen enthalten (vgl. Dijksta u. a. 2015: 48). mit den sogenannten Gesundheitsanbietern – also mit Für einige Krankheiten wie Asthma oder ADHS vergü- ÄrztInnen, Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen – tet der Großteil der Krankenkassen nur die günstigs- führen, wird bis ins Detail festgelegt, was vergütet wird ten Medikamente. Wenn ÄrztInnen ein anderes Me- und was nicht. Dies hat dazu geführt, dass die Bürokra- dikament verschreiben, müssen die PatientInnen die tie und der Zeitdruck für das Pflegepersonal stark zu- Differenz selbst bezahlen (ebd.). Dies erhöht den Ein- genommen haben, weil jede Handlung dokumentiert fluss der Krankenkassen auf die Arbeit der ÄrztInnen. und in einer bestimmten Zeitspanne erbracht werden Die Mündigkeit und Entscheidungsfreiheit, die den Pa- muss. Eine Studie, die der niederländische Gewerk- tientInnen während der neoliberalen Marktreformen schaftsbund FNV 2015 unter 3.700 Beschäftigten im versprochen wurden, verwirklichen sich nur für die Pa- Gesundheitsbereich durchführte, ergab, dass 60 Pro- tientInnen, die genügend Geld haben, um sich die Zu- zent zu wenig Zeit für ihre PatientInnen zur Verfügung zahlungen leisten zu können. hatten. Trotzdem wird nicht mehr Personal eingestellt. Fast die Hälfte aller Beschäftigten gab sogar an, dass 2.2.3 Entwicklung einer Zwei-Klassen-Medizin in ihrem Betrieb MitarbeiterInnen entlassen wurden. Ähnlich wie in Deutschland entsteht so eine Zwei- Jede/r zweite MitarbeiterIn beschwert sich über Perso- Klassen-Medizin. Dies wird insbesondere durch das nalmangel. Ganze 94 Prozent der Befragten gaben an, Eigenrisiko-Prinzip befördert. Wie bereits erwähnt, keine gute Pflege mehr leisten zu können, würde noch müssen Versicherte grundsätzlich die ersten 385 Euro weiter im Gesundheitsbereich gekürzt. Jetzt schon zei- der anfallenden Kosten pro Jahr selbst tragen (Stand gen sich die Folgen des Personalmangels: 40 Prozent 2016/17). Dies gilt einkommensunabhängig, also für der PatientInnenen in der Altenpflege erleiden nach SozialhilfeempfängerInnen genauso wie für Menschen Angaben des FNV bisweilen Dehydrierung oder Un- mit hohem Einkommen. Zusätzlich zu dieser Regelung dürfen Krankenkassen den Versicherten die Möglich- keit anbieten, ihre Selbstbeteiligung zu erhöhen, damit 7 Die bekannteste Internetseite hierfür ist www.zorgkaartnederland.nl. 11
Das Gesundheitssystem der Niederlande terernährung. 80 Prozent der MitarbeiterInnen in allen schaften, die die niedrigen Löhne als eine direkte Folge Bereichen geben an, manchmal falsche Medikamente der Privatisierung bewerten. zu verabreichen. In der Altenpflege berichten 40 Pro- zent der MitarbeiterInnen, dass täglich Zwischenfälle 2.2.5 Pflege wird auf den familiären Bereich passieren, weil PatientInnen länger als eine Stunde abgewälzt allein gelassen werden (FNV Zorg en Welzijn 2015b). Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Anzahl von Seni- Außerdem weigern sich die Krankenversicherungen, orInnen im Altersheim zurückgegangen (vgl. Dijksta Tätigkeiten zu bezahlen, die nicht explizit medizinisch u. a. 2015: 50). In vielen Fällen ist es für die Pflegebe- sind. Im Bereich der Altenpflege zum Beispiel bedeu- dürftigen angenehmer, in ihrem gewohnten Umfeld tet das, dass die AltenpflegerInnen das Saubermachen gepflegt zu werden. Aber es werden auch viele Aufga- im Haus oder das Erledigen von Einkäufen nicht mehr ben auf den privaten Bereich abgewälzt. 2001 gab es vergütet bekommen. Für diese Tätigkeiten, die vorher in den Niederlanden 2,4 Millionen Menschen, die seit von ausgebildeten Pflegekräften durchgeführt wur- länger als drei Monaten FreundInnen oder Angehörige den, werden jetzt oft Ungelernte, StudentInnen oder pflegten (de Hollander u. a. 2006). 2014 war deren An- LeiharbeiterInnen eingesetzt. Aus diesem Grund sind zahl auf vier Millionen Menschen gestiegen. Das sind viele Pflegeeinrichtungen Pleite gegangen. Die entlas- rund 33 Prozent der erwachsenen NiederländerInnen. senen Fachkräfte wurden von neu gegründeten Betrie- 18 Prozent dieser Menschen übernehmen diese Rolle, ben angestellt, aber zu wesentlich schlechteren Kon- weil keine andere Art der Pflege verfügbar ist; 17 Pro- ditionen und niedrigeren Löhnen. Früher berechneten zent übernehmen die Aufgabe, um damit professionel- sich diese nach den Tarifen für MitarbeiterInnen im ler Pflege vorzubeugen. Zehn Prozent dieser Personen Gesundheitssektor. Jetzt fallen sie unter die Tarife des fühlen sich stark überfordert.9 Die Verantwortung für Reinigungspersonals.8 Diese flächendeckende Unter- Krankheit und Pflege wird wieder in größerem Maße höhlung der Arbeitsstandards alarmierte die Gewerk- individuell statt kollektiv getragen. 8 Mehr zum arbeitsrechtlichen Hintergrund dieser Umstrukturierung unter: www. sprengersadvocaten.nl/publicaties/arbeidsrecht-vs-marktwerking-01-de-rechtspo- sitie-van-thuiszorgmedewerksters-bij-aanbesteding/. 9 Vgl. www.expertisecen- trummantelzorg.nl/em/over-mantelzorg-feiten-en-cijfers.html. 12
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen 3 DIE VERANKERUNG DER SOZIALISTISCHEN PARTEI IM GESUNDHEITSWESEN Im vorigen Abschnitt wurde erläutert, wie das Gesund- in der SP. Die Partei sah sich nicht länger als maoisti- heitssystem der Niederlande nach neoliberalen Prin- sche Gruppe, distanzierte sich auf einem Parteikon- zipien umstrukturiert wurde und welche Folgen dies gress 1991 von ihren marxistisch-leninistischen Wur- für Beschäftigte und PatientInnen hat. Jetzt soll be- zeln und entwickelte sich zu einer undogmatischen schrieben werden, wie die Sozialistische Partei (SP) auf linken Partei. Dies zog Wahlerfolge und Zuwächse in diese Veränderungen reagierte und ihre Basis im Ge- der Mitgliederzahl nach sich (vgl. Socialistische Par- sundheitssektor ausbaute. Seit ihrer Gründung am 22. tij 2017). Auch nach der Neuerfindung der Partei und Oktober 1972 spielt das Gesundheitswesen thematisch dem Einzug in das nationale Parlament 1994 blieben und organisatorisch eine zentrale Rolle für die Partei. Ih- Pflege und Gesundheit Kernthemen. Dies zeigt sich un- re Unterstützerbasis hatte die damals maoistische Or- ter anderem in der Karriere Agnes Kants,12 der bekann- ganisation in der katholischen Industriestadt Oss und testen Sprecherin der Partei im Bereich Gesundheit, in der Universitätsstadt Nijmegen, wo sie 1974 in die je- die ebenfalls in Nijmegen Gesundheitswissenschaften weiligen Stadträte einzog. Schon drei Jahre nach Grün- studierte, zusammen mit Ineke Palm promovierte und dung der Partei wurde die Stiftung Ons Medisch Cent- als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Epidemiolo- rum (Unser Medizinisches Zentrum) aufgebaut. In Oss, gie arbeitete. Ab 1998 saß sie für die SP in der Zwei- Nijmegen und später auch in Zoetermeer wurden von ten Kammer, dem niederländischen Bundestag. Dort der SP Hausarztpraxen eingerichtet. In diesen Praxen war sie Sprecherin für Gesundheitspolitik und wurde in wurde ärztliche Behandlung und Vorsorge zu günstigen dieser Position von UnterstützerInnen aller Parteien als Preisen angeboten (vgl. Wirries 2010: 199). Außerdem kompetenteste Politikerin im Bereich Gesundheit gese- nutzte die SP die Informationen, die sie in den medizi- hen. Clemens Wirries schreibt über Kant: «Als fachlich nischen Zentren erhielt, in der Kampagnenführung. Auf hervorragend ausgewiesene Expertin im Gesundheits- ihrer Webseite schreibt die SP über diese Gründungs- bereich zollte man ihr […] in der Ärzteschaft und selbst phase: «Gesundheitsprobleme, die von den Ärzten fest- in der Pharmabranche Respekt» (Wirries 2010: 211). gestellt werden und die ihre Ursache in schlechten Ar- 2008 übernahm sie für anderthalb Jahre den Partei- beitsbedingungen haben, werden in den Fabriken und und den Fraktionsvorsitz (ebd.). auf den Baustellen den Direktoren vorgelegt.» Der frü- Der gesundheitspolitische Fokus der SP spiegelt sich he Fokus auf den Gesundheitssektor ist durch die mao- auch in ihren Mitgliederzahlen im Gesundheitssektor istische Prägung der Partei zu erklären, bei der Maos wider. 2005 gab Wirries an, dass 20 Prozent der SP- Motto «Dem Volke dienen!» eine wichtige Rolle spiel- Mitglieder im Gesundheitssektor beschäftigt waren te. Inspiriert durch die BarfußärztInnen10 in der Volks- (vgl. ebd.: 206). Bei der letzten Mitgliederumfrage, an republik China wurden die Hausarztpraxen nach dem der im Jahr 2011 15.921 SP-Mitglieder teilnahmen, Vorbild der belgischen Gruppe Alle Macht aan de Ar- gaben 1.952 Befragte an, im Gesundheitsbereich zu beiders (AMADA) 11 aufgebaut (vgl. van der Velden arbeiten, davon 1.362 in medizinischen Berufen. Da- 2008: 198). Bereits in den Gründungsjahren hatte die mit lag der Anteil an der totalen Mitgliederzahl etwas SP durch die Kombination aus einer starken Orien über zwölf Prozent.13 953 der Befragten schätzten sich tierung auf die Gesundheitsversorgung und auf einer als aktive Mitglieder der SP ein.14 Überdies gilt der Ge- kommunalpolitischen Verankerung spürbare Erfolge. sundheitsbereich als ein Sektor, in dem die SP viele Der Gewerkschaftshistoriker van der Velden schreibt in Wählerstimmen erhält.15 Vor allem die Aktionen in der einem Überblickswerk über die Geschichte der sozialis- ambulanten Pflege hätten zu einem Zuwachs der Mit- tischen Bewegung der Niederlande: «Die Fortführung gliederzahlen in diesem Bereich geführt, so van Schel- der Dienstleistungen im Medizinischen Zentrum und ei- tinga in einem Interview. Die protestantische Zeitung ner Sprechstunde sorgten dafür, dass mit jeder folgen- den Wahl die Anhängerschaft der SP wuchs» (van der 10 BarfußärztInnen waren medizinisch tätige Personen ohne akademische Ausbil- Velden 2008: 199). Auch MedizinstudentInnen fühlten dung, die im maoistischen China nach einer Kurzausbildung die Gesundheitsver- sorgung auf dem Land übernahmen. 11 Alle Macht aan de Arbeiders (Alle Macht sich durch diese Vorgehensweise angesprochen. So den Arbeitern) ist die maoistische Vorläuferorganisation der heutigen Arbeiter zum Beispiel der jetzige Abgeordnete Henk van Gerven, partei Belgiens PTB/PvDA, die bei den Parlamentswahlen 2014 erstmals mit zwei Abgeordneten in das belgische Parlament einzog. Auch sie verfügt über eine tra- der in seiner Studienzeit Mitglied der SP wurde und bei ditionell gewachsene und bis heute bestehende Basis unter den Beschäftigten im einer der sozialistischen Hausarztpraxen arbeitete (Cor- Gesundheitswesen. Seit 2010 richtet sie jedes Jahr gemeinsam mit der ihr nahe- stehenden Gesundheitsorganisation Gezondheid voor het Volk (Gesundheit für net 2010), die Epidemiologin Ineke Palm, die 1972 die das Volk) das Festival «ManiFiesta» aus, das regelmäßig um die 10.000 Besuche- SP mitgründete, oder die ehemalige Vorsitzende des rInnen anzieht. 12 Mehr Informationen über Agnes Kant finden sich in der Partei- publikation Tribune (April 2010, S. 16–17). 13 Die genannten Daten stammen aus Hausärzteverbandes, Tineke Slagter, Mandatsträgerin dem internen Archiv der SP; 34 Prozent der Mitglieder nahmen an der Umfrage der SP in der Ersten Kammer, dem niederländischen teil, der Großteil von ihnen (88 Prozent) über das Online-Mitgliederportal SP.net der SP. 14 Insgesamt hatte die SP zu diesem Zeitpunkt laut dem Documentatie- Bundesrat (vgl. Wirries 2010: 208). centrum Nederlandse Politieke Partijen 46.308 Mitglieder, wobei nicht alle an der Mitgliederbefragung teilnahmen. Für mehr Informationen: http://dnpp.ub.rug.nl/ Ende der 1980er Jahre begann noch vor dem Zusam- dnpp/pp/sp/leden/per_jaar. 15 Vgl. bspw. www.volkskrant.nl/opinie/houd-het-ge- menbruch der UdSSR ein Prozess der Selbstreflexion heim-rechters-stemmen-d66~a2447878/. 13
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen Trouw konstatierte 2006 nach dem Wahlerfolg der SP, die Kampagne «Stop Uitverkoop Thuiszorg» («Stoppt die SP floriere beim Fachpersonal im Gesundheits die Entäußerung der ambulanten Pflege»). Beispielhaft sektor, nicht nur beim Pflegepersonal, sondern auch für die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit der SP ist ein bei HausärztInnen (vgl. van den Brink 2006). Fernsehspot aus dem Jahr 2008, mit dem sie auf Miss- Befragungen sind ein Beispiel dafür, wie die SP Kon- stände in diesem Bereich aufmerksam machte. Der takt mit Beschäftigten im Gesundheitswesen herstellt. Kurzfilm problematisiert, dass KlientInnen in der häusli- Die Umfragen werden vom wissenschaftlichen Büro chen Pflege mit ständig wechselnden MitarbeiterInnen und der Parlamentsfraktion durchgeführt und können zu tun haben. Er zeigt eine alte Dame mit Gehhilfe, die von Lokalverbänden genutzt werden, um Beschäftig- sich langsam vor der Kamera nackt auszieht. Sie sagt: te anzusprechen. Außerdem können die Fragebögen «Jahrelang hat mir Conny beim Waschen geholfen. meist online ausgefüllt werden. Nach Beantwortung Aber Conny ist zu teuer, sagen sie. Also kommt jetzt ein der Fragen werden die Kontaktdaten der Beschäftigten Fremder. Und danach wieder ein anderer Fremder. Ich aufgenommen und die TeilnehmerInnen nach Auswer- kann mich genauso gut vor den ganzen Niederlanden tung der Ergebnisse kontaktiert und zu Informations- ausziehen.»16 Der Fernsehspot beruht auf einer simp- abenden bei ihnen in der Nähe eingeladen. Die Ergeb- len Idee: Durch den Tabubruch der Nacktheit kam ihm nisse der Studien werden von der SP genutzt, um zum große Aufmerksamkeit zu. 2008 gewann er sogar den Beispiel über die Presse Einfluss auf gesundheitspo- prestigeträchtigen Preis «Gouden Loeki» für den bes- litische Debatten zu nehmen. Die jüngste Studie die- ten Reklamespot des Jahres. Die SP – die erste Partei, ser Art war «De ziekenhuisverpleegkundige aan het die diese Auszeichnung erhielt – nutzte die Medienauf- woord» («Der Krankenhauspfleger kommt zu Wort»). merksamkeit, um drei Initiativgesetze zur Verbesse- Die SP führte eine Umfrage mit 64 Fragen durch, an rung der Altenpflege durch das Parlament zu bringen der sich 1.120 Krankenhaus-Beschäftigte beteiligten. (vgl. Socialistische Partij 2017). Für die Beantwortung der Fragen benötigten die Teil- nehmerInnen 20 bis 30 Minuten, die Ergebnisse wur- 3.2 ZUSAMMENARBEIT MIT den im Oktober 2016 veröffentlicht (vgl. van Gerven DER GEWERKSCHAFTSBEWEGUNG u. a. 2016). Prägend für das jüngste Engagement der SP im Ge- sundheitssektor sind Entwicklungen innerhalb der 3.1 KAMPAGNEN IM GESUNDHEITS Gewerkschaftsföderation FNV, die große Verände- SEKTOR rungen durchlaufen hat.17 Bis in die 1980er Jahre hi- Als sich Anfang der 2000er Jahre die neoliberalen Re- nein bemühte sich die SP nicht um eine Kooperation formen abzeichneten, formierte sich eine soziale Ge- mit den etablierten Gewerkschaften. Stattdessen bau- genbewegung aus Hunderten ÄrztInnen, Apotheke- te die damals noch maoistische Kleinpartei eine eige- rInnen, PhysiotherapeutInnen und Beschäftigten, die ne Gewerkschaft auf: die sogenannte Arbeidersmacht, Aktionskomitees bildeten. Der Wahlspruch dieser Ko- die jedoch nie außerhalb der Stadt Oss erfolgreich war. mitees lautete: «Zorg voor iedereen» («Medizinische Schließlich wurde sie in den 1980ern aufgelöst und die Versorgung für alle»). Unter anderem widersetzen SP-Mitglieder traten den allgemeinen Gewerkschaften sich diese Komitees der Schließung von Krankenhäu- bei. Aufgrund des Misstrauens der sozialdemokratisch sern. Die SP unterstützte diese Kampagne und es bil- dominierten Gewerkschaftsföderation FNV gegenüber dete sich eine langfristige Zusammenarbeit (vgl. Jans- den SP-Mitgliedern blieb ihr Einfluss im größten Ge- sen 2016: 9). Beim Versuch, die Einführung des neuen werkschaftsbund der Niederlande zunächst begrenzt Krankheitsversicherungsgesetzes zu verhindern, ent- (vgl. van Lingen 2016), nahm aber seit den 1990er Jah- stand 2004 auf Initiative von Agnes Kant die Kampa ren zu, was mit der Hinwendung der einst die Gewerk- gne «Zorg geen Maarkt» («Gesundheit ist kein Markt»), schaften dominierenden PvdA zum Neoliberalismus die innerhalb von ein paar Jahren 13.000 Unterstütze- unter Ministerpräsident Wim Kok zu erklären ist. 2007 rInnen in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung war die SP bei Gewerkschaftsmitgliedern schließlich fand. Mit dem Aktionsbündnis wurden Demonstratio- genauso beliebt wie die PvdA. Gegenwärtig ist nur nen organisiert, Symposien abgehalten, Studien über noch in der Führungsetage der FNV-Gewerkschaften den Stand der Gesundheitsversorgung erstellt und Bü- eine Dominanz der Sozialdemokraten zu konstatieren. cher publiziert. Das Bündnis wurde von sehr verschie- In den mittleren Führungspositionen identifizieren sich denen Gruppen von Beschäftigten getragen. Neben jedoch mehr und mehr FNV-Mitglieder mit der SP, so Alten- und KrankenpflegerInnen konnten zum Beispiel zum Beispiel der ehemalige FNV-Organizer und jetzige auch PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen und Apothe- SP-Parteivorsitzende Ron Meyer. Die SP ist besonders kerInnen angesprochen werden. Nach den Marktre- im Gesundheitsbereich bei allen Protesten anwesend, formen im Gesundheitswesen richtete sich die SP vor nimmt aber keinen direkten Einfluss auf den Verlauf allem auf den Bereich der ambulanten Pflege, in dem sich die Arbeitsbedingungen am dramatischsten ver- schlechtert hatten. Bei all diesen Kampagnen handelte 16 Das Video ist unter www.vimeo.com/30454622 zu finden. 17 Die FNV war früher ein Gewerkschaftsbund, wurde aber vor einigen Jahren zu einer Einheits es sich um defensive Auseinandersetzungen. Mit Pfle- gewerkschaft nach dem Prinzip one big union umstrukturiert. Das höchste Organ gerInnen und Gewerkschaften startete die Partei 2007 des FNV ist das Mitgliederparlament, nicht der Rat der Gewerkschaftsvorsitzenden. 14
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen der gewerkschaftlichen Kämpfe und deren Strategie- konsensorientiert. Er organisiert etwa 16 Prozent der planungen (ebd.). In der niederländischen Politik gilt Gewerkschaftsmitglieder aller Sektoren, während es als Tabu, parteipolitischen Einfluss auf die Gewerk- knapp 63 Prozent der GewerkschafterInnen im FNV schaften zu nehmen, da diese einen verhältnismäßig organisiert sind (siehe Abbildung 1). Die Entwicklung großen Einfluss auf die Sozialpolitik haben. Tarifverträ- der FNV-Gewerkschaften ist bemerkenswert: Histo- ge zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeber- risch waren sie in das korporatistische Poldermodell verbänden werden meist für den gesamten Sektor für eingebunden. Im Abkommen von Wassenaar von allgemeinverbindlich erklärt. Außerdem hat der Sozial 1982 stimmte der Gewerkschaftsbund einer Politik ökonomische Rat, in dem unter anderem Gewerk- der Lohnzurückhaltung zu. Die jährliche Lohnanhe- schafterInnen vertreten sind, eine Beratungsfunktion bung von 2,06 Prozent, die bis dahin in den Tarifver- bei Regierungsentscheidungen. Gleichzeitig wird von trägen enthalten war, wurde gestrichen (vgl. Gebbink den Gewerkschaften erwartet, mit den anderen Sozial 2008b). Doch als die Vorsitzende des FNV, Agnes Jon- partnern, also der Politik und den Arbeitgeberverbän- gerius, 2011 einer Erhöhung des Rentenalters auf den in Verhandlung zu treten und konsensorientiert 66 Jahre zustimmte, obwohl die Gewerkschaftsbasis vorzugehen. Dieses Prinzip wird Poldermodell genannt gegen diese Vereinbarung mit der neoliberal ausge- (vgl. Gebbink 2008a). Der Niederlande-Korrespondent richteten Regierung war, führte dies zu einer tiefen Gebbink fasst dieses Modell wie folgt zusammen: Krise im FNV, die in einem Prozess der Umstruktu- Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände geben zu- rierung mündete (vgl. Volkskrant 2011). 2012 wurde sammen die Richtung der sozialwirtschaftlichen Politik beschlossen, den Gewerkschaftsbund zu demokra- vor und schließen einen Pakt, der sich, naiv ausgedrückt, tisieren, indem die höchste Entscheidungsmacht an folgendermaßen formulieren lässt: Die Arbeitnehmer sind ein Mitgliederparlament, in der alle FNV-Mitgliedsge- gewillt, für einen nicht zu hohen Lohn produktiv zu arbei- werkschaften vertreten sind, übertragen wurde (vgl. ten und erhalten dafür Vollbeschäftigung sowie hohe qua- Volkskrant 2012). In den letzten Jahren drängten vor litative Lebensqualität für jeden. Nicht zuletzt müssen sie allem die Mitglieder des FNV im Gesundheitsbereich, niedrigere Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Die Ar- die sich bei FNV Zorg en Welzijn (Pflege und Gesund- beitgeber sind gewillt, Personal einzustellen und gute Ar- heit) organisieren, auf eine kämpferische Linie. Nach beitskonditionen zu bieten. Die Regierung übernimmt den der Umstrukturierung 2012 verlor der FNV Mitglieder, Part des Moderators. (Ebd.) jedoch nicht so schnell wie der CNV, der seit 2012 um Diese sozialpartnerschaftliche Ausrichtung zeigt sich die 17 Prozent seiner Mitglieder verloren hat (siehe Ab- insbesondere in der zweitgrößten Gewerkschafts bildung 1). Neben den zwei großen Gewerkschaftsver- föderation der Niederlande, dem Christlich Nationa- bänden ist im Gesundheitssektor seit 1988 die unab- len Gewerkschaftsbund (CNV), und in schwindendem hängige, kämpferische Gewerkschaft NU 91 aktiv, die Maße in der Einheitsgewerkschaft Föderation Nie- sich nur im Gesundheitswesen organisiert und circa derländischer Gewerkschaftsbund (FNV). Der CNV, 22.000 Mitglieder hat. 2011 betrug der Organisations- der Dachverband protestantisch-christlicher Gewerk- grad der Gewerkschaften im Gesundheitsbereich ins- schaften, äußert sich relativ wenig politisch und ist gesamt 19 Prozent. Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder seit 1900 Gesamtzahl der Gewerk- FNV NVV NKV CNV VCP EVC AVC übrige Gewerkschaften schaftsmitglieder 1901 1 1910 185 52 41 12 7 126 1920 684 389 248 141 67 228 1930 625 382 251 131 71 171 1940 798 505 319 186 119 174 1950 1.160 678 382 296 156 163 1960 1.354 887 487 400 219 248 1970 1.524 963 563 400 239 323 1980 1.790 1.078 752 326 304 118 289 1990 1.653 975 302 125 251 2010 1.870 1.198 336 129 207 2011 1.876 1.197 341 130 207 2012 1.849 1.180 341 132 196 2013 1.792 1.142 291 65 294 2014 1.762 1.132 287 54 298 2015 1.734 1.095 289 103 248 2016 1.717 1.078 282 100 257 Quelle: Centraal Bureau voor de Statistiek 2017 15
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