OFFENSIV GEGEN PRIVATISIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN - MAY NAOMI BLANK - STUDIEN

 
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                MAY NAOMI BLANK

     OFFENSIV GEGEN
PRIVATISIERUNGEN IM
 GESUNDHEITSWESEN
SOZIALISTISCHE KAMPAGNENPOLITIK
             IN DEN NIEDERLANDEN
MAY NAOMI BLANK

     OFFENSIV GEGEN
PRIVATISIERUNGEN IM
 GESUNDHEITSWESEN
 SOZIALISTISCHE KAMPAGNENPOLITIK
              IN DEN NIEDERLANDEN

          Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
MAY NAOMI BLANK ist Politikwissenschaftlerin und Germanistin. Seit 2016 lebt und arbeitet sie in den Nieder-
landen. Während ihres Studiums arbeitete sie als Teamerin für den Projekttag «Demokratie und Mitbestimmung»
der DGB-Jugend Berlin/Brandenburg. Durch ihren Fokus auf gewerkschaftliche Arbeit wurde sie auch auf die
Umstrukturierungen im Gewerkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV) und die Kampagne für
einen nationalen Gesundheitsfonds (Nationaal ZorgFonds) in den Niederlanden aufmerksam.

IMPRESSUM
STUDIEN 3/2017
wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Stefan Thimmel
Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: April 2017
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation
Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Inhalt

INHALT

Vorwort                                                                                                        5

Abstract                                                                                                       6

1 Einleitung                                                                                                   7

2 Das Gesundheitssystem der Niederlande                                                                        9
2.1 Neoliberale Gesundheits­reformen in den 2000er Jahren: Profitgarantien für die Versicherungs­wirtschaft    9
2.2 Die aktuelle Situation                                                                                    10
2.2.1 Der Gesundheitssektor als Markt                                                                         10
2.2.2 Zunehmende Macht der Versicherungs­gesellschaften                                                       11
2.2.3 Entwicklung einer Zwei-Klassen-Medizin                                                                  11
2.2.4 Drastische Verschlechterung der ­Arbeitsbedingungen                                                     11
2.2.5 Pflege wird auf den familiären Bereich abgewälzt                                                        12

3 Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen                                              13
3.1 Kampagnen im Gesundheitssektor                                                                            14
3.2 Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbewegung                                                              14
3.3 Die Kampagne für einen nationalen Gesundheitsfonds                                                        16

Fazit                                                                                                         19

ExpertInnen                                                                                                   20

Literatur                                                                                                     21
Vorwort

VORWORT

In vielen europäischen Ländern nehmen die Proteste       gne zurückgreifen konnte. Gleichzeitig konnte sie ihren
gegen die neoliberale Privatisierungs- und Kürzungs-     wachsenden Einfluss innerhalb der Gewerkschaften
politik im Gesundheitswesen zu. In Spanien gingen        für die Kampagne nutzen.
im November 2016 Zehntausende für den Erhalt der            Allerdings gab es auch Kritik an der Kampagne für
öffentlichen Gesundheitsversorgung auf die Straße,       einen nationalen Gesundheitsfonds. So wurde der Par-
allein in Granada waren es mehr als 40.000 Demons-       tei etwa vorgeworfen, sich dabei auf eine «Pflegepar-
trantInnen. Am 17. Februar 2017 folgte ein landes-       tei» zu reduzieren und dem Rassismus des Rechtspo-
weiter Aktionstag in 16 Städten, an dem sich erneut      pulisten Geert Wilders und dem – in der Endphase des
Tausende beteiligten. Nur einen Tag später waren es      Wahlkampfes in der Auseinandersetzung um Auftritts-
in den Niederlanden 10.000 DemonstrantInnen, die         verbote türkischer PolitikerInnen ansteigenden – nie-
auf einer Kundgebung in Den Haag eine Krankenver-        derländischen Nationalismus nicht entschiedener be-
sicherung für alle forderten. In London demonstrierten   gegnet zu sein. Tatsächlich gelang es der Partei trotz
am 4. März 2017 sogar bis zu einer Viertelmillion Men-   ihrer bemerkenswerten Gesundheitskampagne nicht,
schen für den Erhalt und Ausbau des öffentlichen Ge-     bei den Parlamentswahlen am 15. März 2017 dazu-
sundheitswesens.                                         zugewinnen und von den erdrutschartigen Verlusten
   Auch in Deutschland sind immer weniger Beschäf-       der Sozialdemokratie zu profitieren. Während die SP
tigte und PatientInnen bereit, Ökonomisierung, Priva-    mit leichten Verlusten bei einem Ergebnis von 9,1 Pro-
tisierungen und Personalabbau im Gesundheitswesen        zent stagnierte, konnte die mit einem klar antirassisti-
hinzunehmen und sich mit einer Zwei-Klassen-Medizin      schen Profil auftretende Partei GroenLinks (GrünLinks)
und einer – für die meisten – immer schlechter werden-   ihren Stimmenanteil mit einem Ergebnis von ebenfalls
den Gesundheitsversorgung abzufinden. Hierzulande        9,1 Prozent verdreifachen. Die Gründe dafür müssen
steht vor allem die Forderung nach mehr Personal in      an anderer Stelle analysiert werden, die Studie wurde
den Krankenhäusern im Fokus. Ver.di kämpft seit eini-    kurz vor den Wahlen fertiggestellt.
gen Jahren mit der Kampagne «Der Druck muss raus»           Die Kampagne zum nationalen Gesundheitsfonds
für die Schaffung von 162.000 zusätzlichen Stellen.      verdient in jedem Fall über die niederländischen Gren-
Den Beschäftigten an der Berliner Charité gelang es im   zen hinweg Aufmerksamkeit. Für die SP hat der Kampf
April 2016 erstmals, die Zusicherung nach mehr Per-      im Gesundheitswesen strategische Bedeutung: Bei ei-
sonal in einem Tarifvertrag zu verankern. Im März 2017   nem Erfolg der Kampagne könnte es auch in anderen
kam es zu Warnstreiks für mehr Personal in saarländi-    öffentlichen Sektoren zu Rekommunalisierungsinitia-
schen Krankenhäusern. Bundesweit steht eine Tarif-       tiven kommen. Und sollte es der SP gelingen, in Zu-
runde Entlastung an, mit der ver.di den Forderungen      sammenarbeit mit den Gewerkschaften ihre Forderung
Nachdruck verleihen will. Das Thema hat inzwischen       nach einer Entprivatisierung der Krankenkassen durch-
auch die Politik erreicht. Insbesondere die Partei DIE   zusetzen, wäre dies ein Erfolg, der auf die ganze euro-
LINKE greift die Forderungen nach mehr Personal auf      päische Linke ausstrahlen würde.
und bringt sich in den Aufbau gesellschaftlicher Bünd-      Daher werden im Folgenden der neoliberale Umbau
nisse zur Unterstützung der Beschäftigten ein.           des niederländischen Gesundheitswesens, die Ge-
   Für diese Auseinandersetzungen hier in Deutschland    schichte der SP, ihre Verankerung unter den Beschäf-
kann viel aus den Erfahrungen, die in den Niederlan-     tigten, ihre Gewerkschaftsarbeit und ihre Kampagnen-
den gemacht wurden, gelernt werden. Dort führt die       politik vorgestellt. Wir hoffen, mit der Veröffentlichung
Sozialistische Partei der Niederlande (SP) eine bemer-   dieser Studie von May Naomi Blank einen Beitrag zur
kenswerte Kampagne für eine Entprivatisierung der        Diskussion um wichtige Fragen linker Politik leisten zu
Krankenkassen, mit der sie die Stimmung im Land be-      können:
reits erheblich zugunsten eines öffentlichen Gesund-     –	Wie kann eine langfristige Verankerung einer sozia-
heitswesens beeinflussen konnte. Andere linke Par-          listischen Partei in bestimmten Beschäftigtengrup-
teien sowie Gewerkschaftsgliederungen beteiligen            pen funktionieren?
sich inzwischen an der Kampagne, in deren Rahmen         –	Was kann man von den Strategien sozialistischer Ge-
bereits mehr als 250.000 Unterschriften für einen öf-       werkschaftspolitik der SP lernen?
fentlichen nationalen Gesundheitsfonds gesammelt         –	Wie kann eine erfolgreiche sozialistische Kampa­
werden konnten. Einen der Höhepunkte bildete die            gnenpolitik im Gesundheitswesen aussehen?
Kundgebung mit 10.000 TeilnehmerInnen vor dem Par-       Um hierzulande tatsächlich eine Abkehr von der neo-
lamentsgebäude in Den Haag am 18. Februar 2017.          liberalen Gesundheitspolitik durchzusetzen, wird es
   Die SP bemüht sich schon seit Langem und recht        des massiven Drucks von aktiven Beschäftigten und
erfolgreich um eine Verankerung der Partei unter den     ihren Gewerkschaften, aber auch seitens linker Politik
Beschäftigten des Gesundheitswesens. Tatsächlich         bedürfen.
hat sie dort überdurchschnittlich viele Mitglieder und
WählerInnen – eine Basis, auf die sie für ihre Kampa­    Florian Wilde, Rosa-Luxemburg-Stiftung

                                                                                                                5
Abstract

ABSTRACT

Die vorliegende Studie skizziert, wie das niederlän-   werkschaftsbund Federatie Nederlandse Vakbewe-
dische Gesundheitssystem ab 2006 privatisiert und      ging (FNV) vorgestellt, der sich demokratisch erneu-
Marktmechanismen installiert wurden. Es wird be-       ert hat, zunehmend Organizing-Strategien einsetzt
leuchtet, welche Folgen dies für die Arbeitsstan-      und mit der SP kooperiert. Abschließend wird eine
dards im Gesundheitssektor und für die PatientInnen    aktuelle Kampagne im Gesundheitsbereich für einen
hat. Anschließend wird beschrieben, wie die Sozi-      Nationaal ZorgFonds vorgestellt, mit der die Entpriva-
alistische Partei der Niederlande (SP) mit sozialen    tisierung der Krankenkassen gefordert wird. Die von
Bewegungen gegen die Umstrukturierung des Ge-          der SP lancierte Kampagne erfährt große Unterstüt-
sundheitssystems kämpfte und so ihre Unterstüt-        zung von verschiedenen Parteien und Gewerkschaf-
zerstruktur in diesem Sektor ausbaute. Als zweiter     ten und konnte den Wahlkampfdiskurs maßgeblich
wichtiger Akteur im Gesundheitsbereich wird der Ge-    beeinflussen.

6
Einleitung

1 EINLEITUNG

Bei den Parlamentswahlen am 15. März 2017 in den             worden? Welche Lehren sind daraus für Deutschland
Niederlanden war das Gesundheitswesen eines der              zu ziehen, wo die Lebenssituation älterer und pflegebe-
zentralen Themen neben Fragen zur Migration, die             dürftiger Menschen sowie die Arbeitsbedingungen im
vor allem die rechtspopulistische PVV auf die Agen-          Gesundheitssektor eine wachsende Rolle spielen (vgl.
da gesetzt hatte. Eine Umfrage der wichtigsten Nach-         ebd.: 4)? Eine Schlüsselfunktion für die Änderung des
richtenseite im Internet der Niederlande NU.nl hatte         Diskurses über die Gesundheitsversorgung in den Nie-
am 24. November 2016 festgestellt, dass 63 Prozent           derlanden spielt die SP, die das Thema seit ihren An-
der Befragten die Gesundheitsvorsorge als eines der          fängen in den 1970er Jahren auf der Agenda hat und
Hauptthemen des Wahlkampfes sahen.1 Erst im Juni             2016 eine große Kampagne für die Entprivatisierung
2016 hatte Maurice de Hond, einer der bekanntesten           der Krankenkassen und die Errichtung eines nationalen
niederländischen Meinungsforscher, eine Umfrage              Gesundheitsfonds gestartet hat, den sogenannten Na-
von 2006 wiederholen lassen, um zu überprüfen, wie           tionaal ZorgFonds (NZF). Die NZF-Kampagne wird mitt-
sich die Ängste der WählerInnen in den letzten zehn          lerweile nicht nur von der SP, sondern auch von drei an-
Jahren verändert haben. Auch diese Umfrage zeigt,            deren Parteien und Teilen der Gewerkschaftsbewegung
dass sich 41 Prozent der NiederländerInnen Sorgen um         getragen.3 Durch die breite Unterstützung in der Bevöl-
das Gesundheitssystem machten.2 2006 waren es nur            kerung und unter Beschäftigten im Gesundheitssektor
29 Prozent gewesen. Das Gesundheitssystem ist damit          hat die Kampagne den Wahlkampfdiskurs erfolgreich
das Thema, das in den letzten zehn Jahren am meis-           verschoben. Mittlerweile fordern auch fast alle anderen
ten an Bedeutung gewonnen hat. Die Sorge um das              Parteien, die Kosten für die Gesundheitsversorgung zu
Gesundheitssystem zieht sich quer durch die Bevölke-         verringern; über die Berechtigung privater Krankenver-
rung. WählerInnen der Sozialistischen Partei (SP), der       sicherer und Marktmechanismen im Gesundheitssys-
Seniorenpartei 50 Plus und der konservativen Partei          tem wird erstmals offen diskutiert. Gleichzeitig hat die
Christlich-Demokratischer Aufruf (CDA) nannten das           SP ihre Basis im Gesundheitssektor erweitert. 252.000
Gesundheitssystem als ihr wichtigstes Anliegen; bei          Menschen haben die Kampagnenpetition bereits unter-
AnhängerInnen der rechtspopulistischen Partei für die        zeichnet, 10.000 demonstrierten am 18. Februar 2017
Freiheit (PVV) und der sozialdemokratischen Partei der       für den NZF in Den Haag. Kontaktdaten werden groß-
Arbeit (PvdA) stand das Thema auf Platz zwei, bei de-        flächig aufgenommen und die UnterzeichnerInnen ak-
nen der liberalen Parteien Volkspartei für Freiheit und      tiv in die Kampagne und die inhaltliche Ausarbeitung
Demokratie (VVD) und Democraten 66 (D66) auf Platz           der Reformvorschläge einbezogen.
drei. Für die WählerInnen der grünen Partei ­GroenLinks         Die Kampagne ist damit ein bis dahin beispielloses
(GL) war das Thema verhältnismäßig unwichtig und             Vorbild für Organizing4 im Gesundheitsbereich. Die-
landete nur auf Platz sechs (vgl. de Hond 2006). Eine        se Erfahrung ist auch für den deutschen Kontext von
Eurobarometer-Umfrage zeigt, dass die Niederlän-             Interesse. Die von Beschäftigten breit unterstützten
derInnen 2014 relativ zufrieden mit der Gesundheits-         Kampagnen der Gewerkschaft ver.di für eine gesetzli-
versorgung waren. 49 Prozent erwarteten aber, dass           che Personalbemessung in den Krankenhäusern, ver-
sich die Situation verschlechtern würde. Die Befrag-         schiedene lokale Proteste und die Streiks der letzten
ten fürchteten darüber hinaus, dass die Kosten der Ge-       Jahre an der Berliner Charité haben die Unzufrieden-
sundheitsversorgung steigen würden und die Qualität          heit, aber auch das Protestpotenzial in diesem Sektor
und Zugänglichkeit durch Kürzungen abnehmen wür-             gezeigt. Anhand der Erfahrungen der SP kann hier in
de – vor allem für Alte, chronisch Kranke und Men-           Deutschland darüber diskutiert werden, wie Beschäf-
schen mit Behinderung. Wie wichtig den Niederlände-          tigte im Gesundheitswesen noch besser organisiert
rInnen Verbesserungen im Gesundheitsbereich sind,            werden können und wie eine erfolgreiche massen-
zeigt sich auch im europäischen Vergleich. Die Umfra-        wirksame Kampagne aussehen kann. Diese Studie
ge stellte fest, dass fast 60 Prozent der Niederlände-       gibt zunächst einen kurzen Überblick über das nieder-
rInnen die Gesundheitsversorgung problematisierten.
Bei deutschen StudienteilnehmerInnen waren es un-
ter zehn Prozent. Doch auch in Deutschland gewinnen          1 Es handelt sich um eine relativ kleine Stichprobe von 1.998 Befragten; vgl. www.
                                                             nu.nl/politiek/4355852/zorg-en-asiel-belangrijkste-verkiezingsthemas.html. 2 In
die Themen Pflege und Gesundheit an Bedeutung. So            dieser Umfrage wurde ein Zuwachs von 28 auf 37 Prozent für das Thema «Integra­
ergab eine anonyme Bevölkerungsumfrage des Zen-              tion» festgestellt. 3 Unterstützer sind die Tierschutzpartei Partij voor de dieren, die
                                                             Partei 50 Plus, die Piratenpartei, die linke Strömung der sozialdemokratischen Pv-
trums für Qualität in der Pflege, dass 43 Prozent das        dA Linksom!, die Gewerkschaftsorganisationen FNV Zorg en Welzijn sowie FNV
Thema als sehr wichtig für ihre Wahlentscheidung er-         Senioren, der Senioren-Fernsehsender MAX und der Interessenverband für Senio-
                                                             ren KBO- Brabant. Außerdem wird der NZF von zahlreichen kleinen Organisationen
achten (vgl. Eggert u. a. 2017: 4 ff.). Die Personenstich-   aus dem Gesundheitsbereich, wie etwa Physiotherapiepraxen, unterstützt. 4 Der
probe umfasste 2.000 Befragte, die nach Region, Alter,       Begriff Organizing wird vor allem in der Diskussion über die strategische Neuorien-
                                                             tierung von Gewerkschaften und der US-amerikanischen Literatur über soziale Be-
Geschlecht und Bildung unterteilt wurden.                    wegungen verwendet. Brinkmann und Nachtwey (2010) nennen zwei zentrale Kri-
                                                             terien für Organizing: «Das Organizing-Konzept ist nicht genau definiert und variiert
   Wieso ist das Thema Gesundheit zu einem zentralen         je nach Kontext. Zu den zentralen Elementen gehören eine Beteiligungs- und Be-
Thema der niederländischen Parlamentswahl 2017 ge-           wegungsorientierung sowie eine ausgeprägte Kampagnen- und Konfliktfähigkeit.»

                                                                                                                                                  7
Einleitung

ländische Gesundheitssystem, insbesondere darüber,       2000er Jahre angenommen hat. Schließlich wird un-
wie in den 2000er Jahren eine vollständige Privatisie-   tersucht, wie die aktuelle Kampagne NZF entstanden
rung der Krankenkassen stattgefunden hat und der         ist und wie sie von der Gesellschaft angenommen und
Gesundheitssektor Marktmechanismen unterworfen           aufgegriffen wird. Abschließend wird signifikante Lite-
wurde. Danach wird beleuchtet, wie sich die SP dem       ratur zum Thema aufgeführt, werden die für die Studie
Thema des Gesundheitswesens in ihrer Gründungszeit       interviewten ExpertInnen vorgestellt und relevante Pu-
und während der neoliberalen Umstrukturierung der        blikationen der SP genannt.

8
Das Gesundheitssystem der Niederlande

2 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER NIEDERLANDE

Für die Entwicklung des niederländischen Gesund-              Diese Entwicklung ist mit der von New Labour in Groß-
heitssystems sind drei Phasen von besonderer Be-              britannien vergleichbar. Der diskursive Paradigmen-
deutung. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde die             wechsel in den 2000er Jahren bereitete den Weg für
Versorgung von Kranken vor allem durch wohltätige             den strukturellen Umbau des niederländischen Ge-
Einrichtungen der Zivilgesellschaft, meist religiöse Or-      sundheitssystems. David Hollanders, Dozent an der Til-
ganisationen, oder engagierte Privatpersonen über-            burg School of Economics and Management, schreibt
nommen. Der Staat fing erst 1956 mit dem Gezond-              zu diesem Wendepunkt:
heidswet (Gesundheitsgesetz) an, die sogenannte                  Bevor die Lage sich verändert, verändern sich die Wor-
Volksgesundheit zu regulieren.5 1964 folgte das Zie-             te. Deswegen werden seit einer Dekade Krankenhäuser
kenfondswet (Krankenfondsgesetz) und 1967 das Al-                «Gesundheitsanbieter» genannt, sind Patienten «Gesund-
gemene Wet Bijzondere Ziektekosten (Allgemeines                  heitskosumenten» geworden und werden Gespräche zwi-
Gesetz für besondere Krankheitskosten). Die damals               schen Arzt und Patient, Psychotherapie und Operationen
zuständige Ministerin Marga Klompé brachte diese                 in offi­ziellen Dokumenten als «Gesundheitsprodukte» be-
Entwicklung 1965 mit den Worten auf den Punkt, die               zeichnet. Ein Gesundheitskartell wird von einem Heer an
Gesundheitsversorgung habe sich «von einer Gnade zu              Wissenschaftlern, Beratern und Lobbyisten «der freie Ge-
einem Recht» entwickelt (van Dam u. a. 2016: 6). Die             sundheitsmarkt» genannt. (Hollanders 2016: 23)
Gesundheitsversorgung wurde also mehr und mehr
der familiären Verantwortung und dem Einfluss priva-          2.1 NEOLIBERALE GESUNDHEITS­
ter Organisationen entzogen und zu einer Verpflich-           REFORMEN IN DEN 2000ER JAHREN:
tung des Staates erhoben. In der Folgezeit wuchs das          PROFITGARANTIEN FÜR
staatliche Gesundheitswesen und es kam zur Einfüh-            DIE VERSICHERUNGS­W IRTSCHAFT
rung einer gesetzlichen Krankenversicherungspflicht.          Die Vision eines freien Gesundheitsmarktes wurde
   Der politische Diskurs veränderte sich mit den öko-        mit dem Inkrafttreten des bis heute gültigen Zorgver-
nomischen Krisen von 1973 und 1981. Es entwickel-             zekeringswet (Krankheitsversicherungsgesetz) Wirk-
te sich eine ideologische Strömung, die New Public            lichkeit. Das konservative Kabinett Balkenende II 6
Management (NPM) genannt wird. Die VertreterInnen             (2003–2006) übergab am 1. Januar 2006 die Gesund-
des NPM streben eine stärkere Ökonomisierung, mehr            heitsversorgung gänzlich privaten Trägern; ihnen ist
Marktdenken und Effizienzsteigerung im gesamten öf-           es seitdem erlaubt, Profite zu erwirtschaften. Christi-
fentlichen Sektor an (vgl. ebd.: 8). In den 1980er Jah-       na Walser vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und
ren war zunehmend die Rede von Deregulierung und              Sozialpolitik beschreibt die Einführung des Wettbe-
Kostenbeschränkung in der Gesundheitsversorgung.              werbsmodells im niederländischen Gesundheitssys-
Es etablierte sich die Annahme, das Gesundheitssys-           tems folgendermaßen:
tem könne modernisiert und entbürokratisiert werden,             Der Anreiz für die Versicherungen, die gesetzlich eröffneten
indem der Staat sich aus dem Gesundheitssektor zu-               Unterscheidungsmöglichkeiten zur Wettbewerbsstärkung
rückzieht. Der Markt würde sich am besten regulie-               auch zu nutzen, findet sich in der Gewinnerzielung, die ih-
ren, wenn private Krankenversicherungen miteinan-                nen anders als den gesetzlichen Krankenkassen vor der Re-
der konkurrierten. Dadurch entstünde gute Pflege zum             form gestattet ist. (Walser 2007: 3)
kleinen Preis (vgl. Boere/Vels 2005: 13 f.). Ähnlich wie      Ein Basispaket von Leistungen, das durch die Kran-
in Deutschland wendete sich auch die niederländische          kenkasse übernommen werden muss, wird jährlich
Sozialdemokratie in den 1990er Jahren ideologisch             neu gesetzlich festgelegt. Nach Einschätzung des
dem Neoliberalismus zu. Im sogenannten «lila Kabi-            wissenschaftlichen Mitarbeiters der SP, Eduard van
nett» bildete die PvdA 1994 eine Regierungskoalition          Scheltinga, können so die Leistungen der Kranken-
mit der konservativen Pro-Markt-Partei VVD und der li-        kassen stufenweise verschlechtert werden, ohne dass
beralen Partei D66. Der sozialdemokratische Minister-         es Proteste in der Bevölkerung gibt. Physiotherapie,
präsident Wim Kok war es auch, der in seiner zweiten          zahnärztliche Behandlungen für Erwachsene und be-
Amtszeit (1998–2002) eine Projektgruppe zur Reform            stimmte psychiatrische Dienste seien so bereits aus
des Gesundheitssystems einsetzte. Der niederländi-            dem Basispaket verschwunden. Dadurch, dass sich
sche Aktivist und Historiker van Lingen beschreibt die        die Leistungen jedes Jahr verändern, verlören Patien-
tief greifenden Veränderungen, die dieser Kurswech-           tInnen den Überblick über ihre Rechte, so van Schel-
sel der Sozialdemokraten für die niederländische Politik      tinga in einem Gespräch mit der Autorin. Indem den
brachte:
  The PvdA, rather than merely making concessions to neo-
  liberal parties, now fully embraced neoliberalism. In the   5 Mehr Informationen auf der Webseite der niederländischen Regierung unter:
                                                              www.rijksoverheid.nl/ministeries/ministerie-van-volksgezondheid-welzijn-en-
  1995 throne speech written by Kok, queen Beatrix said:      sport/inhoud/organisatie/geschiedenis. 6 Vgl hierzu auch van Lingen (2016): «The
                                                              first two Balkenende cabinets were really a continuation of Kok’s Purple cabinets’
  «More free-market reforms and less regulation are indis-
                                                              policies of austerity and privatization, but without the PvdA, without an economic
  pensable». (van Lingen 2016)                                recovery and with much more repression.»

                                                                                                                                              9
Das Gesundheitssystem der Niederlande

privaten Versicherungen erlaubt wird, für ihre Basis-               mittlerweile werden 90 Prozent des Versicherungs-
versicherungen unterschiedlich hohe Prämien festzu-                 marktes von vier großen Unternehmen beherrscht (vgl.
setzen, soll die Konkurrenz zwischen den Unterneh-                  Ettema 2016). Die Marktmechanismen greifen nicht:
men stimuliert werden. Für alle weiteren Leistungen                 2016 wechselten nur 5,2 Prozent der NiederländerIn-
müssen Zusatzversicherungen abgeschlossen wer-                      nen ihre Krankenversicherung, obwohl die Versiche-
den (vgl. Walser 2007: 2 f.). Der Staat verpflichtet die            rungen nach Angaben des Konsumentenbundes circa
privaten Versicherungsunternehmen dazu, Versicher-                  450 Millionen Euro im Jahr für Marketing ausgaben.
te jeden Alters, Geschlechts und Krankheitsrisikos in               Trotzdem haben zwei Drittel der Versicherten seit den
die Krankenversicherung aufzunehmen. Dies wird als                  Reformen noch nie den Anbieter gewechselt (vgl. van
Kontrahierungszwang bezeichnet. Gleichzeitig be-                    Gerven u. a. 2016: 4). Währenddessen steigen die Prä-
steht jedoch eine Verpflichtung für alle, die in den Nie-           mien fast jedes Jahr. Hinzu kommt die Einführung ei-
derlanden wohnen oder steuerpflichtig arbeiten, sich                nes «Eigenrisikos»: Ein Sockelbetrag der anfallenden
bei einer der niederländischen Krankenversicherun-                  Kosten für zum Beispiel Eingriffe und Medikamente
gen zu versichern. Pflichtversichert sind auch Arbeit-              muss von den PatientInnen selbst getragen werden.
nehmerInnen aus dem Grenzgebiet, die für die Arbeit                 Diese Selbstbeteiligung stieg von 150 Euro bei Einfüh-
einpendeln (vgl. Wardenbach 2005). Es ist Gemein-                   rung des neoliberalen Krankenversicherungsgesetzes
schaftsangehörigen der EU, die in den Niederlanden                  2006 auf aktuell 385 Euro (vgl. Beckerman 2016: 26).
arbeiten, nicht möglich, dort eine gesundheitliche Ver-             Auf diesen Betrag wird im Abschnitt 2.2.3 noch ein-
sorgung zu bekommen und dafür Kostenerstattung bei                  mal eingegangen. Anstatt die zusätzlichen Einnahmen
ihrer heimischen Versicherung zu beanspruchen. Da-                  in die Verbesserung des Angebots zu investieren, ma-
vid Hollanders kommentiert, wie widersprüchlich die                 chen die Krankenkassen Milliardengewinne: 2014 wa-
Versicherungspflicht und die Rhetorik des freien Ge-                ren es 1,9 Milliarden, in den Jahren davor jeweils rund
sundheitsmarktes sind:                                              1,4 Milliarden. In den zehn Jahre seit den Reformen ha-
     Mit der erzwungenen Mitgliedschaft wird das Marktprin-         ben die Krankenkassen außerdem Reserven von über
     zip nicht konsequent umgesetzt. Daran zeigt sich, dass         10 Milliarden Euro erwirtschaftet (ebd.). Auch die Bü-
     es Vertretern des Marktprinzips [im Gesundheitssektor]         rokratisierung hat nicht abgenommen. Jedes Kranken-
     nicht wirklich um den freien Markt geht. Die verpflichtete     haus, jede Arztpraxis muss Verträge mit mehreren Ver-
     Teilnahme ist in erster Instanz für die Versicherungsgesell-   sicherungsgesellschaften abschließen. Dies zeigt sich
     schaften ungemein erfreulich. So ist für sie der Absatz ga-    bei der Führungsetage der niederländischen Kranken-
     rantiert. (Hollanders 2016: 24)                                häuser. Diese ist im Schnitt vier Prozent größer als bei
Das Gesundheitssystem wurde in zwei sogenannte                      Krankenhäusern in Großbritannien oder Kanada (ebd.).
Gesundheitsmärkte umstrukturiert. Zum einen in den                  Um zu zeigen, wie sich die Privatisierung konkret auf
«Gesundheitsproduktmarkt», auf dem Krankenver-                      den Gesundheitsbereich ausgewirkt hat, sollen im fol-
sicherungen von «Gesundheitsanbietern» «Gesund-                     genden Abschnitt fünf Tendenzen beschrieben wer-
heitsprodukte» einkaufen. Eine Krankenversicherung                  den, die sich nach den Reformen entwickelt haben.
kann also von einem Krankenhaus 20 Herzoperatio-
nen kaufen. Dies soll dazu führen, dass die Kranken-                2.2.1 Der Gesundheitssektor als Markt
häuser miteinander um die billigsten Preise für Herz-               Seit den Reformen dürfen Krankenhäuser und soge-
OPs konkurrieren, sodass die Krankenversicherungen                  nannte Gesundheitsanbieter for profit arbeiten und
nicht bei anderen Anbietern billigere Dienstleistungen              konkurrieren um PatientInnen und um Verträge mit
in Anspruch nehmen. Der zweite Markt wird «Kran-                    Versicherungsgesellschaften. Diese Konkurrenz nützt
kenversicherungsmarkt» genannt. Es geht hier um                     den Krankenversicherungen, deren Verhandlungs­
das Verhältnis zwischen versicherten BürgerInnen und                position sich bei steigender Konkurrenz zwischen
Krankenversicherungen (vgl. Hollanders 2016: 23). Bei               den Gesundheitsanbietern verbessert. Durch den ver-
der Einführung der Reformen im Gesundheitsbereich                   schärften Wettbewerb müssen sich Krankenhäuser
versprach man sich durch den Wettbewerb auf dem                     spezialisieren oder fusionieren, um im Wettbewerb
Gesundheitsproduktmarkt sinkende Preise bei stei-                   um PatientInnen und Kosten bestehen zu können. Dies
gender Qualität. Auf dem Krankenversicherungsmarkt                  geht zulasten der kleinen Krankenhäuser in der Provinz,
sollten die Krankenkassen miteinander konkurrieren,                 die oft schließen müssen (vgl. Beckerman 2016: 26).
sodass auch für die BürgerInnen die Preise niedrig blei-            Zum Teil erhöht sich der Druck auf Gesundheitsanbie-
ben und die Krankenkassen keine großen Gewinne                      ter aber auch vonseiten der PatientInnen. Vor den Re-
machen würden. Wäre eine Krankenversicherung zu                     formen entschied die Hausärztin bzw. der Hausarzt,
teuer, würden die Versicherten einfach zu einer billige-            in welchem Krankenhaus ihre PatientInnen behan-
ren Versicherung wechseln (ebd.).                                   delt werden. Mittlerweile können PatientInnen Ein-
                                                                    fluss auf die Krankenhauswahl nehmen. 2010 wählten
2.2 DIE AKTUELLE SITUATION                                          rund ein Drittel der KrankenhauspatientInnen ihr Kran-
Ein Jahrzehnt später zeigt sich, wie falsch viele dieser            kenhaus aufgrund von Informationen von Internetsei-
Prognosen waren. Die Reformen führten unmittelbar                   ten, auf denen Krankenhäuser verglichen werden. So
zu einer Fusionswelle auf dem Versicherungsmarkt;                   kann beispielsweise eingesehen werden, in welchem

10
Das Gesundheitssystem der Niederlande

Krankenhaus die wenigsten Komplikationen auftreten          ihre monatliche Prämie sinkt. Das eigene Risiko kann
(vgl. Dijksta u. a. 2015: 47).7 Der Vergleich erhöht den    auf bis zu 885 Euro erhöht werden. Dies machen be-
Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern; die Pa­             sonders Menschen, die Kosten sparen wollen. 2016
tientInnen nehmen die Rolle von KonsumentInnen ein,         entschieden sich zwölf Prozent der Bevölkerung für ei-
die mit ihren Entscheidungen und Bewertungen Ein-           ne höhere Risikoprämie, der Großteil (80 %) für eine
fluss auf den «Gesundheitsmarkt» ausüben. KritikerIn-       Selbstbeteiligung von 500 Euro (Vergleijkdezorgverze-
nen der Gesundheitsreform weisen auf die Gefahr hin,        keringen 2017). Auf einer Vergleichs-Internetseite, die
dass Krankenhäuser aufgrund dieses Mechanismus              Versicherte berät, wird dieser Mechanismus wie folgt
dazu tendieren, medizinische Fehler systematisch zu         eingeschätzt:
verharmlosen, anstatt gemeinsam an Qualitätsverbes-            Das Bemessen der freiwilligen Risikoprämie kommt ei-
serungen zu arbeiten, weil sie Imageschäden fürchten           nem Glücksspiel gleich. Sich für die billigste Versicherung
(vgl. van Gerven u. a. 2016: 6). Außerdem handelt es           zu entscheiden, bedeutet eine niedrige monatliche Prämie
sich für die PatientInnen nur auf den ersten Blick um ei-      und ein höheres eigenes Risiko zu erhalten. Hast du die letz-
ne Entscheidungsfreiheit. Die Wahl des Gesundheits-            ten Jahre kein Krankenhaus von innen gesehen? Dann ist
anbieters wird letztlich durch die Verträge zwischen           die Versuchung groß, sich für ein hohes freiwilliges Risiko
Krankenkassen und Gesundheitsanbietern begrenzt.               zu entscheiden. Aber rechne damit, dass du, wenn du un-
Um Geld zu sparen, schließen die Versicherungen mit            erwartet medizinische Hilfe brauchst, diese zunächst be-
einzelnen Krankenhäusern Verträge über spezifische             zahlen musst, je nach eigenem Risiko teilweise oder ganz.
Dienstleistungen ab; wenn die Kontingente voll sind            (Ebd.)
oder nicht verhandelt wurden, müssen die PatientIn-         Es besteht die Befürchtung, dass diese Regelung be-
nen in ein anderes Krankenhaus (vgl. ebd.: 3).              sonders arme Menschen davon abhält, zum Arzt zu
                                                            gehen. Aus einer Studie des Statistischen Bundes-
2.2.2 Zunehmende Macht                                      amtes, dem Centraal Bureau voor Statistiek, aus dem
der ­Versicherungs­gesellschaften                           Jahr 2010 geht hervor, dass die Lebenserwartung von
Hinzu kommt, dass die Versicherungsgesellschaften           niederländischen Männern aus der höchsten Einkom-
einen größeren Einfluss auf die Leistungen – das so-        mensklasse 7,2 Jahre höher ist als die von Männern der
genannte Gesundheitsangebot – bekommen haben,               niedrigsten Einkommensklasse. Für niederländische
die von ihnen übernommen werden müssen. Mit der             Frauen beträgt dieser Unterschied 6,7 Jahre. Männer
Einführung des neoliberalen Krankenversicherungs-           mit einem hohen Einkommen leben in sehr gutem Ge-
gesetzes entschied das Gesundheitsministerium, dass         sundheitszustand durchschnittlich 17,8 Jahre, Frauen
Krankenversicherungsgesellschaften nicht mehr alle          17,6 Jahre länger (vgl. Brakel/Knoops 2010: 29).
Medikamente vergüten müssen. Die Krankenkassen
dürfen «Pakete» mit unterschiedlichem Leistungsspek-        2.2.4 Drastische Verschlechterung
trum anbieten: ein günstigeres Basispaket, das nicht        der ­Arbeitsbedingungen
alle Leistungen umfasst, und teurere Pakete, die Zu-        In den Verhandlungen, die die Krankenversicherungen
satzleistungen enthalten (vgl. Dijksta u. a. 2015: 48).     mit den sogenannten Gesundheitsanbietern – also mit
Für einige Krankheiten wie Asthma oder ADHS vergü-          ÄrztInnen, Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen –
tet der Großteil der Krankenkassen nur die günstigs-        führen, wird bis ins Detail festgelegt, was vergütet wird
ten Medikamente. Wenn ÄrztInnen ein anderes Me-             und was nicht. Dies hat dazu geführt, dass die Bürokra-
dikament verschreiben, müssen die PatientInnen die          tie und der Zeitdruck für das Pflegepersonal stark zu-
Differenz selbst bezahlen (ebd.). Dies erhöht den Ein-      genommen haben, weil jede Handlung dokumentiert
fluss der Krankenkassen auf die Arbeit der ÄrztInnen.       und in einer bestimmten Zeitspanne erbracht werden
Die Mündigkeit und Entscheidungsfreiheit, die den Pa-       muss. Eine Studie, die der niederländische Gewerk-
tientInnen während der neoliberalen Marktreformen           schaftsbund FNV 2015 unter 3.700 Beschäftigten im
versprochen wurden, verwirklichen sich nur für die Pa-      Gesundheitsbereich durchführte, ergab, dass 60 Pro-
tientInnen, die genügend Geld haben, um sich die Zu-        zent zu wenig Zeit für ihre PatientInnen zur Verfügung
zahlungen leisten zu können.                                hatten. Trotzdem wird nicht mehr Personal eingestellt.
                                                            Fast die Hälfte aller Beschäftigten gab sogar an, dass
2.2.3 Entwicklung einer Zwei-Klassen-Medizin                in ihrem Betrieb MitarbeiterInnen entlassen wurden.
Ähnlich wie in Deutschland entsteht so eine Zwei-           Jede/r zweite MitarbeiterIn beschwert sich über Perso-
Klassen-Medizin. Dies wird insbesondere durch das           nalmangel. Ganze 94 Prozent der Befragten gaben an,
Eigenrisiko-Prinzip befördert. Wie bereits erwähnt,         keine gute Pflege mehr leisten zu können, würde noch
müssen Versicherte grundsätzlich die ersten 385 Euro        weiter im Gesundheitsbereich gekürzt. Jetzt schon zei-
der anfallenden Kosten pro Jahr selbst tragen (Stand        gen sich die Folgen des Personalmangels: 40 Prozent
2016/17). Dies gilt einkommensunabhängig, also für          der PatientInnenen in der Altenpflege erleiden nach
SozialhilfeempfängerInnen genauso wie für Menschen          Angaben des FNV bisweilen Dehydrierung oder Un-
mit hohem Einkommen. Zusätzlich zu dieser Regelung
dürfen Krankenkassen den Versicherten die Möglich-
keit anbieten, ihre Selbstbeteiligung zu erhöhen, damit     7 Die bekannteste Internetseite hierfür ist www.zorgkaartnederland.nl.

                                                                                                                                     11
Das Gesundheitssystem der Niederlande

terernährung. 80 Prozent der MitarbeiterInnen in allen     schaften, die die niedrigen Löhne als eine direkte Folge
Bereichen geben an, manchmal falsche Medikamente           der Privatisierung bewerten.
zu verabreichen. In der Altenpflege berichten 40 Pro-
zent der MitarbeiterInnen, dass täglich Zwischen­fälle     2.2.5 Pflege wird auf den familiären Bereich
passieren, weil PatientInnen länger als eine Stunde        abgewälzt
allein gelassen werden (FNV Zorg en Welzijn 2015b).        Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Anzahl von Seni-
Außerdem weigern sich die Krankenversicherungen,           orInnen im Altersheim zurückgegangen (vgl. Dijksta
Tätigkeiten zu bezahlen, die nicht explizit medizinisch    u. a. 2015: 50). In vielen Fällen ist es für die Pflegebe-
sind. Im Bereich der Altenpflege zum Beispiel bedeu-       dürftigen angenehmer, in ihrem gewohnten Umfeld
tet das, dass die AltenpflegerInnen das Saubermachen       gepflegt zu werden. Aber es werden auch viele Aufga-
im Haus oder das Erledigen von Einkäufen nicht mehr        ben auf den privaten Bereich abgewälzt. 2001 gab es
vergütet bekommen. Für diese Tätigkeiten, die vorher       in den Niederlanden 2,4 Millionen Menschen, die seit
von ausgebildeten Pflegekräften durchgeführt wur-          länger als drei Monaten FreundInnen oder Angehörige
den, werden jetzt oft Ungelernte, StudentInnen oder        pflegten (de Hollander u. a. 2006). 2014 war deren An-
LeiharbeiterInnen eingesetzt. Aus diesem Grund sind        zahl auf vier Millionen Menschen gestiegen. Das sind
viele Pflegeeinrichtungen Pleite gegangen. Die entlas-     rund 33 Prozent der erwachsenen NiederländerInnen.
senen Fachkräfte wurden von neu gegründeten Betrie-        18 Prozent dieser Menschen übernehmen diese Rolle,
ben angestellt, aber zu wesentlich schlechteren Kon-       weil keine andere Art der Pflege verfügbar ist; 17 Pro-
ditionen und niedrigeren Löhnen. Früher berechneten        zent übernehmen die Aufgabe, um damit professionel-
sich diese nach den Tarifen für MitarbeiterInnen im        ler Pflege vorzubeugen. Zehn Prozent dieser Personen
Gesundheitssektor. Jetzt fallen sie unter die Tarife des   fühlen sich stark überfordert.9 Die Verantwortung für
Reinigungspersonals.8 Diese flächendeckende Unter-         Krankheit und Pflege wird wieder in größerem Maße
höhlung der Arbeitsstandards alarmierte die Gewerk-        individuell statt kollektiv getragen.

                                                           8 Mehr zum arbeitsrechtlichen Hintergrund dieser Umstrukturierung unter: www.
                                                           sprengersadvocaten.nl/publicaties/arbeidsrecht-vs-marktwerking-01-de-rechtspo-
                                                           sitie-van-thuiszorgmedewerksters-bij-aanbesteding/. 9 Vgl. www.expertisecen-
                                                           trummantelzorg.nl/em/over-mantelzorg-feiten-en-cijfers.html.

12
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen

3 DIE VERANKERUNG DER SOZIALISTISCHEN PARTEI
IM GESUNDHEITSWESEN

Im vorigen Abschnitt wurde erläutert, wie das Gesund-          in der SP. Die Partei sah sich nicht länger als maoisti-
heitssystem der Niederlande nach neoliberalen Prin-            sche Gruppe, distanzierte sich auf einem Parteikon-
zipien umstrukturiert wurde und welche Folgen dies             gress 1991 von ihren marxistisch-leninistischen Wur-
für Beschäftigte und PatientInnen hat. Jetzt soll be-          zeln und entwickelte sich zu einer undogmatischen
schrieben werden, wie die Sozialistische Partei (SP) auf       linken Partei. Dies zog Wahlerfolge und Zuwächse in
diese Veränderungen reagierte und ihre Basis im Ge-            der Mitgliederzahl nach sich (vgl. Socialistische Par-
sundheitssektor ausbaute. Seit ihrer Gründung am 22.           tij 2017). Auch nach der Neuerfindung der Partei und
Oktober 1972 spielt das Gesundheitswesen thematisch            dem Einzug in das nationale Parlament 1994 blieben
und organisatorisch eine zentrale Rolle für die Partei. Ih-    Pflege und Gesundheit Kernthemen. Dies zeigt sich un-
re Unterstützerbasis hatte die damals maoistische Or-          ter anderem in der Karriere Agnes Kants,12 der bekann-
ganisation in der katholischen Industriestadt Oss und          testen Sprecherin der Partei im Bereich Gesundheit,
in der Universitätsstadt Nijmegen, wo sie 1974 in die je-      die ebenfalls in Nijmegen Gesundheitswissenschaften
weiligen Stadträte einzog. Schon drei Jahre nach Grün-         studierte, zusammen mit Ineke Palm promovierte und
dung der Partei wurde die Stiftung Ons Medisch Cent-           als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Epidemiolo-
rum (Unser Medizinisches Zentrum) aufgebaut. In Oss,           gie arbeitete. Ab 1998 saß sie für die SP in der Zwei-
Nijmegen und später auch in Zoetermeer wurden von              ten Kammer, dem niederländischen Bundestag. Dort
der SP Hausarztpraxen eingerichtet. In diesen Praxen           war sie Sprecherin für Gesundheitspolitik und wurde in
wurde ärztliche Behandlung und Vorsorge zu günstigen           dieser Position von UnterstützerInnen aller Parteien als
Preisen angeboten (vgl. Wirries 2010: 199). Außerdem           kompetenteste Politikerin im Bereich Gesundheit gese-
nutzte die SP die Informationen, die sie in den medizi-        hen. Clemens Wirries schreibt über Kant: «Als fachlich
nischen Zentren erhielt, in der Kampagnenführung. Auf          hervorragend ausgewiesene Expertin im Gesundheits-
ihrer Webseite schreibt die SP über diese Gründungs-           bereich zollte man ihr […] in der Ärzteschaft und selbst
phase: «Gesundheitsprobleme, die von den Ärzten fest-          in der Pharmabranche Respekt» (Wirries 2010: 211).
gestellt werden und die ihre Ursache in schlechten Ar-         2008 übernahm sie für anderthalb Jahre den Partei-
beitsbedingungen haben, werden in den Fabriken und             und den Fraktionsvorsitz (ebd.).
auf den Baustellen den Direktoren vorgelegt.» Der frü-             Der gesundheitspolitische Fokus der SP spiegelt sich
he Fokus auf den Gesundheitssektor ist durch die mao-          auch in ihren Mitgliederzahlen im Gesundheitssektor
istische Prägung der Partei zu erklären, bei der Maos          wider. 2005 gab Wirries an, dass 20 Prozent der SP-
Motto «Dem Volke dienen!» eine wichtige Rolle spiel-           Mitglieder im Gesundheitssektor beschäftigt waren
te. Inspiriert durch die BarfußärztInnen10 in der Volks-       (vgl. ebd.: 206). Bei der letzten Mitgliederumfrage, an
republik China wurden die Hausarztpraxen nach dem              der im Jahr 2011 15.921 SP-Mitglieder teilnahmen,
Vorbild der belgischen Gruppe Alle Macht aan de Ar-            gaben 1.952 Befragte an, im Gesundheitsbereich zu
beiders (AMADA) 11 aufgebaut (vgl. van der Velden              arbeiten, davon 1.362 in medizinischen Berufen. Da-
2008: 198). Bereits in den Gründungsjahren hatte die           mit lag der Anteil an der totalen Mitgliederzahl etwas
SP durch die Kombination aus einer starken Orien­              über zwölf Prozent.13 953 der Befragten schätzten sich
tierung auf die Gesundheitsversorgung und auf einer            als aktive Mitglieder der SP ein.14 Überdies gilt der Ge-
kommunalpolitischen Verankerung spürbare Erfolge.              sundheitsbereich als ein Sektor, in dem die SP viele
Der Gewerkschaftshistoriker van der Velden schreibt in         Wählerstimmen erhält.15 Vor allem die Aktionen in der
einem Überblickswerk über die Geschichte der sozialis-         ambulanten Pflege hätten zu einem Zuwachs der Mit-
tischen Bewegung der Niederlande: «Die Fortführung             gliederzahlen in diesem Bereich geführt, so van Schel-
der Dienstleistungen im Medizinischen Zentrum und ei-          tinga in einem Interview. Die protestantische Zeitung
ner Sprechstunde sorgten dafür, dass mit jeder folgen-
den Wahl die Anhängerschaft der SP wuchs» (van der
                                                               10 BarfußärztInnen waren medizinisch tätige Personen ohne akademische Ausbil-
Velden 2008: 199). Auch MedizinstudentInnen fühlten            dung, die im maoistischen China nach einer Kurzausbildung die Gesundheitsver-
                                                               sorgung auf dem Land übernahmen. 11 Alle Macht aan de Arbeiders (Alle Macht
sich durch diese Vorgehensweise angesprochen. So               den Arbeitern) ist die maoistische Vorläuferorganisation der heutigen Arbeiter­
zum Beispiel der jetzige Abgeordnete Henk van Gerven,          partei Belgiens PTB/PvDA, die bei den Parlamentswahlen 2014 erstmals mit zwei
                                                               Abgeordneten in das belgische Parlament einzog. Auch sie verfügt über eine tra-
der in seiner Studienzeit Mitglied der SP wurde und bei        ditionell gewachsene und bis heute bestehende Basis unter den Beschäftigten im
einer der sozialistischen Hausarztpraxen arbeitete (Cor-       Gesundheitswesen. Seit 2010 richtet sie jedes Jahr gemeinsam mit der ihr nahe-
                                                               stehenden Gesundheitsorganisation Gezondheid voor het Volk (Gesundheit für
net 2010), die Epidemiologin Ineke Palm, die 1972 die          das Volk) das Festival «ManiFiesta» aus, das regelmäßig um die 10.000 Besuche-
SP mitgründete, oder die ehemalige Vorsitzende des             rInnen anzieht. 12 M­ehr Informationen über Agnes Kant finden sich in der Partei-
                                                               publikation Tribune (April 2010, S. 16–17). 13 Die genannten Daten stammen aus
Hausärzteverbandes, Tineke Slagter, Mandatsträgerin            dem internen Archiv der SP; 34 Prozent der Mitglieder nahmen an der Umfrage
der SP in der Ersten Kammer, dem niederländischen              teil, der Großteil von ihnen (88 Prozent) über das Online-Mitgliederportal SP.net
                                                               der SP. 14 Insgesamt hatte die SP zu diesem Zeitpunkt laut dem Documentatie-
Bundesrat (vgl. Wirries 2010: 208).                            centrum Nederlandse Politieke Partijen 46.308 Mitglieder, wobei nicht alle an der
                                                               Mitgliederbefragung teilnahmen. Für mehr Informationen: http://dnpp.ub.rug.nl/
   Ende der 1980er Jahre begann noch vor dem Zusam-            dnpp/pp/sp/leden/per_jaar. 15 Vgl. bspw. www.volkskrant.nl/opinie/houd-het-ge-
menbruch der UdSSR ein Prozess der Selbstreflexion             heim-rechters-stemmen-d66~a2447878/.

                                                                                                                                             13
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen

Trouw konstatierte 2006 nach dem Wahlerfolg der SP,         die Kampagne «Stop Uitverkoop Thuiszorg» («Stoppt
die SP floriere beim Fachpersonal im Gesundheits­           die Entäußerung der ambulanten Pflege»). Beispielhaft
sektor, nicht nur beim Pflegepersonal, sondern auch         für die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit der SP ist ein
bei HausärztInnen (vgl. van den Brink 2006).                Fernsehspot aus dem Jahr 2008, mit dem sie auf Miss-
   Befragungen sind ein Beispiel dafür, wie die SP Kon-     stände in diesem Bereich aufmerksam machte. Der
takt mit Beschäftigten im Gesundheitswesen herstellt.       Kurzfilm problematisiert, dass KlientInnen in der häusli-
Die Umfragen werden vom wissenschaftlichen Büro             chen Pflege mit ständig wechselnden MitarbeiterInnen
und der Parlamentsfraktion durchgeführt und können          zu tun haben. Er zeigt eine alte Dame mit Gehhilfe, die
von Lokalverbänden genutzt werden, um Beschäftig-           sich langsam vor der Kamera nackt auszieht. Sie sagt:
te anzusprechen. Außerdem können die Fragebögen             «Jahrelang hat mir Conny beim Waschen geholfen.
meist online ausgefüllt werden. Nach Beantwortung           Aber Conny ist zu teuer, sagen sie. Also kommt jetzt ein
der Fragen werden die Kontaktdaten der Beschäftigten        Fremder. Und danach wieder ein anderer Fremder. Ich
aufgenommen und die TeilnehmerInnen nach Auswer-            kann mich genauso gut vor den ganzen Niederlanden
tung der Ergebnisse kontaktiert und zu Informations-        ausziehen.»16 Der Fernsehspot beruht auf einer simp-
abenden bei ihnen in der Nähe eingeladen. Die Ergeb-        len Idee: Durch den Tabubruch der Nacktheit kam ihm
nisse der Studien werden von der SP genutzt, um zum         große Aufmerksamkeit zu. 2008 gewann er sogar den
Beispiel über die Presse Einfluss auf gesundheitspo-        prestigeträchtigen Preis «Gouden Loeki» für den bes-
litische Debatten zu nehmen. Die jüngste Studie die-        ten Reklamespot des Jahres. Die SP – die erste Partei,
ser Art war «De ziekenhuisverpleegkundige aan het           die diese Auszeichnung erhielt – nutzte die Medienauf-
woord» («Der Krankenhauspfleger kommt zu Wort»).            merksamkeit, um drei Initiativgesetze zur Verbesse-
Die SP führte eine Umfrage mit 64 Fragen durch, an          rung der Altenpflege durch das Parlament zu bringen
der sich 1.120 Krankenhaus-Beschäftigte beteiligten.        (vgl. Socialistische Partij 2017).
Für die Beantwortung der Fragen benötigten die Teil-
nehmerInnen 20 bis 30 Minuten, die Ergebnisse wur-          3.2 ZUSAMMENARBEIT MIT
den im Oktober 2016 veröffentlicht (vgl. van Gerven         DER GEWERKSCHAFTSBEWEGUNG
u. a. 2016).                                                Prägend für das jüngste Engagement der SP im Ge-
                                                            sundheitssektor sind Entwicklungen innerhalb der
3.1 KAMPAGNEN IM GESUNDHEITS­                               Gewerkschaftsföderation FNV, die große Verände-
SEKTOR                                                      rungen durchlaufen hat.17 Bis in die 1980er Jahre hi-
Als sich Anfang der 2000er Jahre die neoliberalen Re-       nein bemühte sich die SP nicht um eine Kooperation
formen abzeichneten, formierte sich eine soziale Ge-        mit den etablierten Gewerkschaften. Stattdessen bau-
genbewegung aus Hunderten ÄrztInnen, Apotheke-              te die damals noch maoistische Kleinpartei eine eige-
rInnen, PhysiotherapeutInnen und Beschäftigten, die         ne Gewerkschaft auf: die sogenannte Arbeidersmacht,
Aktionskomitees bildeten. Der Wahlspruch dieser Ko-         die jedoch nie außerhalb der Stadt Oss erfolgreich war.
mitees lautete: «Zorg voor iedereen» («Medizinische         Schließlich wurde sie in den 1980ern aufgelöst und die
Versorgung für alle»). Unter anderem widersetzen            SP-Mitglieder traten den allgemeinen Gewerkschaften
sich diese Komitees der Schließung von Krankenhäu-          bei. Aufgrund des Misstrauens der sozialdemokratisch
sern. Die SP unterstützte diese Kampagne und es bil-        dominierten Gewerkschaftsföderation FNV gegenüber
dete sich eine langfristige Zusammenarbeit (vgl. Jans-      den SP-Mitgliedern blieb ihr Einfluss im größten Ge-
sen 2016: 9). Beim Versuch, die Einführung des neuen        werkschaftsbund der Niederlande zunächst begrenzt
Krankheitsversicherungsgesetzes zu verhindern, ent-         (vgl. van Lingen 2016), nahm aber seit den 1990er Jah-
stand 2004 auf Initiative von Agnes Kant die Kampa­         ren zu, was mit der Hinwendung der einst die Gewerk-
gne «Zorg geen Maarkt» («Gesundheit ist kein Markt»),       schaften dominierenden PvdA zum Neoliberalismus
die innerhalb von ein paar Jahren 13.000 Unterstütze-       unter Ministerpräsident Wim Kok zu erklären ist. 2007
rInnen in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung         war die SP bei Gewerkschaftsmitgliedern schließlich
fand. Mit dem Aktionsbündnis wurden Demonstratio-           genauso beliebt wie die PvdA. Gegenwärtig ist nur
nen organisiert, Symposien abgehalten, Studien über         noch in der Führungsetage der FNV-Gewerkschaften
den Stand der Gesundheitsversorgung erstellt und Bü-        eine Dominanz der Sozialdemokraten zu konstatieren.
cher publiziert. Das Bündnis wurde von sehr verschie-       In den mittleren Führungspositionen identifizieren sich
denen Gruppen von Beschäftigten getragen. Neben             jedoch mehr und mehr FNV-Mitglieder mit der SP, so
Alten- und KrankenpflegerInnen konnten zum Beispiel         zum Beispiel der ehemalige FNV-Organizer und jetzige
auch PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen und Apothe-            SP-Parteivorsitzende Ron Meyer. Die SP ist besonders
kerInnen angesprochen werden. Nach den Marktre-             im Gesundheitsbereich bei allen Protesten anwesend,
formen im Gesundheitswesen richtete sich die SP vor         nimmt aber keinen direkten Einfluss auf den Verlauf
allem auf den Bereich der ambulanten Pflege, in dem
sich die Arbeitsbedingungen am dramatischsten ver-
schlechtert hatten. Bei all diesen Kampagnen handelte       16 Das Video ist unter www.vimeo.com/30454622 zu finden. 17 Die FNV war
                                                            früher ein Gewerkschaftsbund, wurde aber vor einigen Jahren zu einer Einheits­
es sich um defensive Auseinandersetzungen. Mit Pfle-        gewerkschaft nach dem Prinzip one big union umstrukturiert. Das höchste Organ
gerInnen und Gewerkschaften startete die Partei 2007        des FNV ist das Mitgliederparlament, nicht der Rat der Gewerkschaftsvorsitzenden.

14
Die Verankerung der Sozialistischen Partei im Gesundheitswesen

der gewerkschaftlichen Kämpfe und deren Strategie-               konsensorientiert. Er organisiert etwa 16 Prozent der
planungen (ebd.). In der niederländischen Politik gilt           Gewerkschaftsmitglieder aller Sektoren, während
es als Tabu, parteipolitischen Einfluss auf die Gewerk-          knapp 63 Prozent der GewerkschafterInnen im FNV
schaften zu nehmen, da diese einen verhältnismäßig               organisiert sind (siehe Abbildung 1). Die Entwicklung
großen Einfluss auf die Sozialpolitik haben. Tarifverträ-        der FNV-Gewerkschaften ist bemerkenswert: Histo-
ge zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeber-                  risch waren sie in das korporatistische Poldermodell
verbänden werden meist für den gesamten Sektor für               eingebunden. Im Abkommen von Wassenaar von
allgemeinverbindlich erklärt. Außerdem hat der Sozial­           1982 stimmte der Gewerkschaftsbund einer Politik
ökonomische Rat, in dem unter anderem Gewerk-                    der Lohnzurückhaltung zu. Die jährliche Lohnanhe-
schafterInnen vertreten sind, eine Beratungsfunktion             bung von 2,06 Prozent, die bis dahin in den Tarifver-
bei Regierungsentscheidungen. Gleichzeitig wird von              trägen enthalten war, wurde gestrichen (vgl. Gebbink
den Gewerkschaften erwartet, mit den anderen Sozial­             2008b). Doch als die Vorsitzende des FNV, Agnes Jon-
partnern, also der Politik und den Arbeitgeberverbän-            gerius, 2011 einer Erhöhung des Rentenalters auf
den in Verhandlung zu treten und konsensorientiert               66 Jahre zustimmte, obwohl die Gewerkschafts­basis
vorzugehen. Dieses Prinzip wird Poldermodell genannt             gegen diese Vereinbarung mit der neoliberal ausge-
(vgl. Gebbink 2008a). Der Niederlande-Korrespondent              richteten Regierung war, führte dies zu einer tiefen
Gebbink fasst dieses Modell wie folgt zusammen:                  Krise im FNV, die in einem Prozess der Umstruktu-
  Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände geben zu-              rierung mündete (vgl. Volkskrant 2011). 2012 wurde
  sammen die Richtung der sozialwirtschaftlichen Politik         beschlossen, den Gewerkschaftsbund zu demokra-
  vor und schließen einen Pakt, der sich, naiv ausgedrückt,      tisieren, indem die höchste Entscheidungsmacht an
  folgendermaßen formulieren lässt: Die Arbeitnehmer sind        ein Mitgliederparlament, in der alle FNV-Mitgliedsge-
  gewillt, für einen nicht zu hohen Lohn produktiv zu arbei-     werkschaften vertreten sind, übertragen wurde (vgl.
  ten und erhalten dafür Vollbeschäftigung sowie hohe qua-       Volkskrant 2012). In den letzten Jahren drängten vor
  litative Lebensqualität für jeden. Nicht zuletzt müssen sie    allem die Mitglieder des FNV im Gesundheitsbereich,
  niedrigere Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Die Ar-       die sich bei FNV Zorg en Welzijn (Pflege und Gesund-
  beitgeber sind gewillt, Personal einzustellen und gute Ar-     heit) organisieren, auf eine kämpferische Linie. Nach
  beitskonditionen zu bieten. Die Regierung übernimmt den        der Umstrukturierung 2012 verlor der FNV Mitglieder,
  Part des Moderators. (Ebd.)                                    jedoch nicht so schnell wie der CNV, der seit 2012 um
Diese sozialpartnerschaftliche Ausrichtung zeigt sich            die 17 Prozent seiner Mitglieder verloren hat (siehe Ab-
insbesondere in der zweitgrößten Gewerkschafts­                  bildung 1). Neben den zwei großen Gewerkschaftsver-
föderation der Niederlande, dem Christlich Nationa-              bänden ist im Gesundheitssektor seit 1988 die unab-
len Gewerkschaftsbund (CNV), und in schwindendem                 hängige, kämpferische Gewerkschaft NU 91 aktiv, die
Maße in der Einheitsgewerkschaft Föderation Nie-                 sich nur im Gesundheitswesen organisiert und circa
derländischer Gewerkschaftsbund (FNV). Der CNV,                  22.000 Mitglieder hat. 2011 betrug der Organisations-
der Dachverband protestantisch-christlicher Gewerk-              grad der Gewerkschaften im Gesundheitsbereich ins-
schaften, äußert sich relativ wenig politisch und ist            gesamt 19 Prozent.

Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder seit 1900

            Gesamtzahl der Gewerk-
                                          FNV     NVV    NKV      CNV      VCP     EVC      AVC     übrige Gewerkschaften
               schaftsmitglieder
  1901                                                              1
  1910                 185                   52    41     12        7                                       126
  1920                 684                  389   248    141       67                                       228
  1930                 625                  382   251    131       71                                       171
  1940                 798                  505   319    186      119                                       174
  1950               1.160                  678   382    296      156                                       163
  1960               1.354                  887   487    400      219                                       248
  1970               1.524                  963   563    400      239                                       323
  1980               1.790                1.078   752    326      304      118                              289
  1990               1.653                  975                   302      125                              251
  2010               1.870                1.198                   336      129                              207
  2011               1.876                1.197                   341      130                              207
  2012               1.849                1.180                   341      132                              196
  2013               1.792                1.142                   291       65                              294
  2014               1.762                1.132                   287       54                              298
  2015               1.734                1.095                   289      103                              248
  2016               1.717                1.078                   282      100                              257

Quelle: Centraal Bureau voor de Statistiek 2017

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