"Was ist mit mir in Syrien geschehen?" Zur Re-Interpretation der familiären Sozialisation bei syrischen Zuwander*innen in Deutschland

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No. 33 2022

“Was ist mit mir in Syrien geschehen?” Zur Re-Interpretation der familiären
Sozialisation bei syrischen Zuwander*innen in Deutschland
Jamshid Hussein, Leibniz-Zentrum Moderner Orient

Abstract                                                             Keywords: Syrien, Familienstruktur, Sozialisation, Revolution, Migration,
                                                                     Flucht, Reflexion
Das Working Paper stellt dar, wie eine Gruppe von Menschen
aus Syrien, die sich politisch gegen das Assad-Regime en-            Einleitung
gagierten und zwischen 2014 und 2015 nach Deutschland                    Natürlich, was ich im Jahr 2011 erlebt habe, das hat mich
kamen, ihren persönlichen familiären Sozialisationsprozess               nach der Ankunft in Deutschland sehr beschäftigt. Aber diese
kritisch reflektieren und daraus praktische Konsequenzen                 Reflexion hat nicht an diesem Punkt aufgehört. Ich habe alles,
für ihr Leben in Deutschland ziehen, indem sie den Kontakt               was ich in Syrien erlebt habe, reflektiert. Ich habe meine poli-
zu Ehepartnern, Eltern oder anderen nahen Angehörigen ab-                tische Entscheidung 2011 in Frage gestellt. […] Ich habe mich
brechen. Das Paper untersucht die Thematik anhand von drei               auch mit meiner Kindheit und Jugend innerhalb der Familie
Leitfragen: Wie beschreiben die Befragten ihre Familienbe-               sowie der Gesellschaft auseinandergesetzt. […] Obwohl ich
ziehungen und -erlebnisse in Syrien vor 2011 (insbesondere               nach der Ankunft in Deutschland solche Fragen vermeiden
in Bezug auf familiäre Rollenbilder, Geschlechterverhältnisse,           wollte, aber irgendwann ging es nicht mehr. Und die zentrale
Erziehungsmethoden); inwiefern haben die Ereignisse in Syri-             Frage, die mich umgetrieben hat: Was ist mit mir in Syrien
en seit 2011 und die Ankunft in Deutschland ihre Sicht auf ihre          geschehen? (Nolan, 2019)
familiäre Sozialisation beeinflusst; und inwiefern lassen sich
                                                                     In den Jahren von 2010 bis Ende 2020 sind laut der In-
bei den Befragten heute Veränderungen dieser Sichtweisen,
                                                                     ternetseite statista.com ca. 818.000 Syrer*innen nach
das heißt Re-Interpretationen von Geschlechterrollen, familiä-
                                                                     Deutschland geflohen.1 Wie es eine Reihe journalisti-
ren Beziehungen und Strukturen, feststellen?
                                                                     scher Artikel in den letzten Jahren beschrieben hat, gibt
Das Working Paper zeigt, dass die sehr persönliche Refle-
                                                                     es in dieser Gruppe auffällig viele Fälle von Scheidungen.
xion über familiäre Sozialisation und der schwerwiegende
                                                                     So beschreibt z.B. die FAZ in einem ausführlichen Artikel
Entschluss, familiäre Beziehungen abzubrechen, (auch) die
                                                                     2021 Frauen und ihre Beweggründe, die nach ihrer An-
Konsequenz einer politischen Haltung gegenüber der gesell-
                                                                     kunft in Deutschland zur Scheidung führten.2
schaftlichen und politischen Ordnung in Syrien beschreiben
                                                                     Während in der Presse vor allem Ehescheidungen behan-
und stellt die These auf, dass diese kritische Haltung zum Zer-
                                                                     delt werden, kommt es auch zwischen den Generationen,
fall des Patriarchats in der syrischen Gesellschaft beiträgt.
                                                                     also zwischen Eltern und Kindern zum Kontaktabbruch.
                                                                     Was sind die Gründe für dieses Phänomen? Warum ent-
The working paper presents how a group of people from Syr-
                                                                     schließen sich Menschen dazu, enge persönliche Bezie-
ia who were politically active against the Assad regime and
                                                                     hungen abzubrechen, um gerade im Migrationskontext, in
came to Germany between 2014 and 2015 critically reflect
                                                                     dem die sozialen Bindungen und Beziehungen besonders
on their personal family socialization process and draw prac-
                                                                     wichtig sind, in einem neuen Land heimisch zu werden?
tical consequences for their lives in Germany by breaking off
                                                                     Das Nachdenken über diese Frage stand am Anfang
contact with spouses, parents or other close relatives. The
                                                                     meiner Forschung, für die ich zwischen Dezember 2019
paper examines the topic based on three guiding questions:
                                                                     und Oktober 2020 neun Personen aus Syrien, die nun
how do respondents describe their family relationships and
                                                                     in Deutschland wohnen und die seitdem bewusst fami-
experiences in Syria before 2011 (especially with regard to
                                                                     liäre Beziehungen abgebrochen haben, befragt habe.3
family role models, gender relations, upbringing and educa-
                                                                     Alle Befragten schilderten, dass sie nach ihrer Ankunft
tion; to what extent have events in Syria since 2011 and their
                                                                     in Deutschland in Situationen gerieten, die dazu führten,
arrival in Germany influenced their views of their family so-
                                                                     ihre gesamten bisherigen sozialen Erfahrungen in Zweifel
cialization; and to what extent can changes in these views,
i.e. re-­interpretations of gender roles, family relationships and
                                                                     1   https://de.statista.com/statistik/daten/studie/463384/umfrage/auslaen-
structures, be observed among respondents today?
                                                                         der-aus-syrien-in-deutschland/, eingesehen am 14.07.2021.
The working paper shows that the very personal reflection on
family socialization and the serious decision to break off fam-      2   Siehe Wiebking, Jennifer: Wenn auf die Flucht die Scheidung folgt,
ily relationships (also) describe the consequence of a political         https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/syrische-paare-wenn-auf-
                                                                         die-flucht-die-scheidung-folgt-17270541.html e, eingesehen am
attitude towards the social and political order in Syria, and
                                                                         16.07.2021.
proposes that this critical attitude contributes to the disinte-
gration of patriarchy in Syrian society.                             3   Die Forschung fand im Rahmen einer im Februar 2021 eingereichten
                                                                         Masterarbeit im Fach Soziologie an der FU Berlin statt.

www.leibniz-zmo.de                                                                                                working papers 33 · 2022 · 1
zu ziehen. Nolan, der 29-jährige junge Mann aus Homs,                         Teilnehmenden sind Menschen, deren Eltern bzw. Ge-
dessen Worte ich eingangs zitiert habe, beschreibt sei-                       schwister noch in Syrien oder dem Libanon leben. Außer-
ne Erfahrung als Dominoeffekt, bei dem das Umfallen                           dem habe ich drei Befragte einbezogen, deren Eltern in
weiterer (Domino-)Steine nach dem Fall des ersten nicht                       Deutschland oder Frankreich wohnen. Eine Interviewpart-
mehr aufgehalten werden kann. Die Infragestellung einer                       nerin lebt mit gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Ge-
Gewissheit führte zu weiteren Fragen und Zweifeln. Ähn-                       schwistern in Berlin. Eine andere Interviewpartnerin hat
liche Erfahrungen machten auch die anderen Interview-                         eine Familie gegründet und hat drei Söhne. Die befragte
partner*innen. Die dadurch ausgelösten Reflexionen be-                        Gruppe sollte zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen
zeichne ich als Re-Interpretationsprozess. Die Interviews                     bestehen (befragt wurden vier Frauen und fünf Männer)
zeigen, dass sich Kontaktabbrüche innerhalb der Familie                       und sollte die ethnische und religiöse Vielfalt der syrischen
als Konsequenz der Re-Interpretation familiärer Bezie-                        Gesellschaft spiegeln (Kurden, Araber, Muslime, Christen,
hungen deuten lassen.                                                         Drusen).
Es soll an dieser Stelle allerdings betont werden, dass die                   Fast alle Befragten haben sich im Jahr 2011 aktiv und
kritische Reflexion der Befragten nicht ursächlich durch                      intensiv für Werte wie Demokratie, Freiheit und Men-
die Erfahrung „in Deutschland zu sein“ ausgelöst wurde.                       schenrechte in Syrien engagiert, beispielsweise durch
Ihre Kritik an der eigenen familiären Sozialisation begann                    Teilnahme an Demonstrationen, Debatten in sozialen
vielmehr bereits im Zuge der politischen bzw. gesell-                         Medien oder politische Vernetzungsarbeit. Durch diese
schaftlichen Auseinandersetzung in Syrien ab 2011, die                        Bereitschaft, sich kritisch mit der Umgebung, in der sie
sich nicht allein auf die Opposition zum Assad-Regime                         leben, auseinanderzusetzen, waren sie für mich sehr in-
beschränkte. Im sich daran anschließenden Migrations-                         teressante Interview­partner*innen. Zudem ist es mir auch
kontext haben die Befragten diese Kritik verarbeitet und                      gelungen, eine Teilnehmerin mit in die Studie einzubezie-
weiterentwickelt. Meine Forschung zeigt daher auch, wie                       hen, deren Familie nach wie vor auf der Seite des Assad-­
die Studienteilnehmenden versuchen, zwischen zwei ge-                         Regimes steht.
sellschaftlichen Systemen (dem syrischen und dem deut-                        Es muss betont werden, dass der politische Aktivismus
schen) aktiv zu navigieren.                                                   der Befragten während dieser Phase nicht mit politischem
Die neun Personen, die ich interviewt habe, sind zwischen                     Aktivismus in Europa verglichen werden kann – denn er
2014 und 2015 in Deutschland angekommen. Die Statio-                          bedeutete, dass die Aktivist*innen in Syrien sich in per-
nen der Flucht führten sie über Algerien, Libanon, Jordani-                   sönliche Gefahr, die bis zu ihrem Tod führen konnte, be-
en und die Türkei. Die Umstände, wie die Menschen nach                        geben haben, um für ihre Vorstellungen einer freien Ge-
Deutschland kamen, sind dabei sehr unterschiedlich. Zwei                      sellschaft zu kämpfen.
hatten keine andere Wahl, als über das Mittelmeer zu flie-                    Ich habe meine Interviewpartner*innen im Rahmen einer
hen, zwei hatten das Glück, ein Studienvisum zu erhalten                      teilnehmenden Beobachtung regelmäßig in ihrem Alltag
und konnten mit dem Flugzeug aus dem Libanon nach                             begleitet und mit ihnen ausführliche, narrative Einzelinter-
Deutschland reisen. Eine weitere Person musste zwei Jah-                      views geführt.5 Obwohl die Gespräche in einer angeneh-
re in Algerien auf den Ausgang des Familiennachzugs-                          men und vertrauten Atmosphäre bei den Befragten zu-
verfahrens warten und konnte dann nach Deutschland                            hause stattfanden, war das Sprechen über die Kindheit
kommen. Zwei Interviewpartner*innen kamen über ein                            und Erinnerungen nicht leicht und mit emotionalen Reakti-
Programm des Auswärtigen Amtes nach Deutschland;                              onen verbunden waren. Es gab Situationen, in denen das
einer Person wurde dank einer Verpflichtungserklärung                         Interview unterbrochen werden musste. Die Erinnerungen
einer deutschen Familie die Einreise nach Deutschland                         haben einige während des Interviews zum Weinen ge-
gestattet. Eine weitere Person ist durch ein Arbeitsvisum                     bracht. Ebenso fand ein Austausch über die Ergebnisse
nach Deutschland gekommen. Alle haben nach ihrer An-                          meiner Studie statt und der Kontakt zu der Gruppe der Be-
kunft in Deutschland ein Asylantragsverfahren durchlau-                       fragten besteht nach wie vor.
fen, das für alle positiv entschieden wurde.                                  Um die Befragungen auszuwerten, habe ich mich an der
Die Befragten befinden sich im Alter zwischen 25 und 50                       Methodologie der Grounded Theory orientiert (Strauss,
Jahren, stammen ausschließlich aus städtischen Kontex-                        Corbin 1996). Das heißt, dass verschiedene soziologische
ten und haben mindestens einen dem Abitur vergleich­                          Konzepte richtungsweisend waren (z.B. Bourdieus Habi-
baren Schulabschluss.4                                                        tuskonzept und El-Maafalanis Konzept der Habitustrans-
Bei der Auswahl möglicher Gesprächspartner*innen habe                         formation) die jedoch nicht im streng deduktiven Sinne
ich mich primär daran orientiert, das untersuchte Phäno-                      hypothesenherleitend verwendet wurden, sondern den
men in möglichst verschiedenen Kontexten betrachten zu                        datengeleiteten Forschungsprozess vielmehr im heuristi-
können, um viele Vergleichsmöglichkeiten zu gewinnen.                         schen Sinne bereichert haben.
Ich habe daher bei der Auswahl bewusst unterschied-                           Der Begriff „Habitus“ wurde von Pierre Bourdieu konst-
liche familiäre Lebenssituation berücksichtigt. Unter den                     ruiert, um einen Umgang mit der Frage nach der Verin-
                                                                              nerlichung sozialer Ordnung zu finden (Bourdieu 2018).
4   Alle Interviewpartner*innen wurden anonymisiert, wobei die je­            Genauer gesagt versucht Bourdieu, mit diesem Konzept
    weiligen Pseudonyme von den Interviewpartner*innen selbst gewählt         eine soziologische Antwort darauf zu finden, wie genau
    wurden. Die Befragten haben die Vergabe von Pseudonymen als
                                                                              sich eine Gesellschaft mit den in ihr wirkenden Machtver-
    Teil der Re-Interpretation wahrgenommen. Manche brauchten eine
    Woche Zeit, bis sie sich für einen Namen entschieden hatten. Diese        hältnissen in die einzelnen Menschen einschreibt und wie
    ausgewählten Pseudonyme sind bedeutsam für die Befragten. Aurora
    steht bspw. für eine historische Figur, Hypa ist eine Abkürzung für die   5   Die Interviews wurden auf Arabisch durchgeführt und von mir ins
    historische Astronomin und Philosophin Hypatia usw.                           Deutsch übersetzt.

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genau sich gleichzeitig Menschen diesen Machtverhält-                     mitglied konträr zu gesellschaftlichen Werten und Nor-
nissen annähern (Villa 2008: 204). Ein sozialer Akteur ist                men verhalte. Umgekehrt würde der Erfolg eines Mitglieds
in der seltsamen Lage, einerseits ein handelndes Individu-                mit dem Erfolg der ganzen Familie gleichgesetzt (Barakat
um zu sein und andererseits gleichzeitig sozial strukturiert              2000: 363).
und unfrei bzw. nicht autonom in seinen Handlungen und                    Eine weitere charakteristische Eigenschaft der arabischen
seinem Denken zu sein. Das Individuum ist schöpferisch                    Familienordnung besteht darin, dass die arabische Fa-
und begrenzt zugleich (Gebauer 2017: 29). Zusammen-                       milie patriarchal, pyramidenförmig und hierarchisch in
fassend kann man Habitus als eine Art sozialer Gramma-                    Bezug auf Geschlecht und Alter strukturiert sei (Barakat
tik verstehen, die in die Körper und Verhaltensmuster der                 2000: 367). Der Vater stehe als oberste Autoritätsperson
Einzelnen eingeschrieben ist.                                             im Mittelpunkt der familiären Ordnung (Sauer, Diabaté
Das Habituskonzept ist auch ein Interpretationskonstrukt                  2018: 14), d.h. dass ihm gegenüber Respekt, Loyalität
und kann im Zusammenhang mit seinem spezifischen                          und Gehorsam erwartet werden. Männliche Kinder wer-
sozialen und kulturellen Kontext betrachtet werden. Auf                   den aus sozialen und ökonomischen Gründen gegenüber
dieses Konzept aufbauend entwickelte El-Maafalani sein                    weiblichen Kindern bevorzugt. Weiblich gelesene Fami-
Konzept der Habitustransformation. El-Maafalani unter-                    lienangehörige werden auf ihre Fähigkeiten und ihr Wis-
sucht insbesondere, wie das Bildungssystem auf Men-                       sen rund um den Haushalt und die Erziehung von Kindern
schen mit Migrationsgeschichte auf einer unbewussten                      beschränkt (Barakat 2000: 370).
Ebene wirkt. Zudem beschäftigt er sich mit der bewussten                  Aktuelle Studien zu arabischen Familien haben gezeigt,
Ebene des Habitus, bspw. mit der Frage, welche Gesetz-                    dass sich in den letzten Jahrzehnten vielfältige Verände-
mäßigkeiten und restriktiven Elemente der sozialen Her-                   rungen ergeben haben (Joseph 2018: 4). Barakat bestätigt
kunft erkannt und bewusst verändert werden (El-Mafaa-                     diesen Prozess durch die Hervorhebung der Demokrati-
lani 2012: 93).                                                           sierung der Ehemann-Ehefrau- sowie Vater-Kind-Bezie-
                                                                          hungen. Sauer und Diabaté fassen die Erkenntnisse Bar-
Theoretischer Kontext                                                     akats wie folgt zusammen: Die patriarchalische Tradition
Um die sehr persönliche Reflexion über die familiäre So-                  befindet sich zwar in einer Übergangsphase, aber sie
zialisation, den schwerwiegenden Entschluss, familiäre                    bleibt stark hierarchisch (2018: 15).
Beziehungen abzubrechen und (auch) die Konsequenz                         Übertragen auf den syrischen Kontext bedeutet dies, dass
aus einer politischen Haltung gegenüber der gesellschaft-                 es – abhängig von sozialem und wirtschaftlichem Hinter-
lichen und politischen Ordnung in Syrien (der Interview-                  grund, politischer Positionierung, Bildungsmilieu etc. –
partnerinnen) besser einordnen zu können, ist es nötig,                   sehr unterschiedliche Ausprägungen familiärer Beziehun-
kurz auf den Kontext einzugehen, in dem die Interview-                    gen und Geschlechterrollen gibt. Dennoch beschreiben
partner*innen aufgewachsen sind.                                          alle Befragten Erfahrungen, die durch eine gesamtge-
Die Familienstrukturen im arabischen Raum sind weder                      sellschaftliche patriarchale Atmosphäre geprägt waren.
zeitlos noch kontextungebunden. Die Familie6 als soziale                  Diese Atmosphäre wurde durch bestimmte, strukturelle
Einheit ist fortwährenden und dauerhaften Veränderun-                     Faktoren geschaffen bzw. stabilisiert.
gen unterworfen, d.h. sie befindet sich in einem dynami-                  Im syrischen Kontext sind die stabilisierenden Faktoren
schen Wandel, der abhängig sein kann von der Region,                      für die gesamtgesellschaftliche patriarchale Atmosphäre
der sozialen Klasse, der Religionszugehörigkeit etc. Es                   Staat, Religion und Gesetzgebung. In der syrischen Ver-
gibt also die verschiedensten Ausprägungen innerfami-                     fassung ist die Gleichstellung von Frauen und Männern
liären Lebens. Der empirischen Vielfältigkeit familiärer                  die Grundlage für die gesellschaftlichen Beziehungen
Beziehungen steht jedoch ein prägendes, normatives Fa-                    (siehe Artikel 43 der Verfassung von 1973). Doch dieser
milienbild gegenüber, das auch durch rechtliche und reli-                 Anspruch wird durch die konkrete rechtliche Ausgestal-
giös geprägte Rahmenbedingungen geformt und gestützt                      tung nicht eingelöst. So ist das Personenstandsrecht die
wird. Dies hat auch der syrischstämmige Soziologe Halim                   Domäne der religiösen Rechtsprechung, d.h. Eheschlie-
Barakat in seinen Untersuchungen der arabischen Famili-                   ßungen oder Erbrecht werden je nach konfessioneller Zu-
enstrukturen hervorgehoben, in denen er ein klar normativ                 gehörigkeit nach christlichem, islamischem, drusischen
geprägtes Familienbild umreißt: Er beschreibt die Familie                 etc. Recht geregelt.
in arabischen Gesellschaften als die Basis für soziale Or-                Ein weiteres Phänomen kann ebenfalls im Zusammen-
ganisation und den Mittelpunkt sozialer und wirtschaftli-                 hang mit der dominierenden patriarchalen Ordnung gele-
cher Aktivitäten (Barakat 2000: 362; siehe auch Therborn                  sen werden: In Artikel 548 des syrischen Strafrechts wird
2014, Joseph 2018). Die Familie gelte demnach als zu-                     der sogenannte ‚Ehrenmord‘ mit milden Gefängnisstrafen
sammenhängende Institution. Darauf aufbauend würde                        von zwei bis vier Monaten geahndet (Maktabi 2010: 559).
eine Person, so Barakat, innerhalb der Familie nicht als                  Die Gleichstellung von Männern und Frauen, die in der
freies, eigenständiges und selbstbestimmtes Individuum,                   Verfassung garantiert wird, steht offensichtlich nicht im
sondern als Mitglied eines Kollektivs wahrgenommen.                       Einklang mit diesem Artikel des Strafgesetzbuches.
Aus diesem Grund werde in arabischen Gesellschaften                       Teil der patriarchalen Atmosphäre ist zudem die Ableh-
die ganze Familie stigmatisiert, wenn sich ein Familien-                  nung homosexuellen Lebens. In Artikel 520 des syrischen
                                                                          Strafgesetzbuchs von 1949 werden homosexuelle Hand-
6   In der Folge wird von “der arabischen Familie“ gesprochen. Das ist    lungen mit bis zu drei Jahren Haft sanktioniert (siehe StGB
    eine rein geographische Verortung. Sie hat nichts gemein mit der in   Syrien 1949: 84). Selbst wenn sich also die Familie eines
    der Alltagssprache verwendeten negativen Bezeichnung. Sie ist aus-    Menschen zu einer Anerkennung von Homosexualität als
    schließlich deskriptiv.

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dessen Lebensform entschließen sollte, spiegelt sich eine      liche sowie auch intime Entscheidung und ein politischer
solche Akzeptanz weder im staatsrechtlichen Bereich            Akt der Opposition zur dominanten politischen und gesell-
noch in der gesamtgesellschaftlichen patriarchalen At-         schaftlichen Situation in Syrien.
mosphäre wider.
Der dritte stabilisierender Faktor für die gesamtgesell-       Beschreibungen familiärer Beziehungen in Syrien
schaftliche patriarchale Atmosphäre ist religiös geprägt.      Hauptthemen im Re-Interpretationsprozess der familiären
Der Islam ist zwar nicht die Staatsreligion, doch Artikel      Sozialisation waren die Generationen- und Geschlechter-
3 besagt, „daß das islamische Recht eine Hauptquelle           verhältnisse. Diese beschrieben die Teilnehmer*innen im
der Gesetzgebung ist“ (Jaddah 2012: 70). Die religiösen        Zusammenhang der Beziehung zwischen den Eltern, die
Vorstellungen bilden somit das Fundament des Familien-         sie als Kinder erlebten. Dabei zeigt sich, dass die Themen
lebens. Beispielsweise ist die Ehe im Islam ein Vertrag,       Entscheidungsfindung bei familiären Fragen, Kontrolle
der die Beziehung zwischen den Geschlechtern regelt            über die Kinder, Arbeitsteilung zwischen den Eltern, aus-
(wie z.B. Polygynie, aber auch Ehescheidung, Namen der         geübte physische und psychische häusliche Gewalt sowie
Kinder etc.; Sauer, Diabaté 2018: 15). Im Christentum hin-     religiöse Vorstellungen die Beziehung der Eltern geprägt
gegen ist die Ehe ein Sakrament vor Gott, sie kann nicht       haben.
geschieden werden. Gott knüpft somit ein unauflösliches        Aus Sicht von Kindern in Kleinfamilien stellen die Eltern
Band zwischen beiden Ehepartnern. Selbst wenn Fami-            (bei allen Interviewten waren dies ausschließlich Mutter
lien sich nicht einer Religion zugehörig fühlen, kritische     und Vater) die oberste Instanz dar. Diese Instanz war bei
Muslime oder Christen, Atheist*innen oder Agnostiker*in-       sieben von neun Interviewpartner*innen abermals hier-
nen sind, müssen sie sich innerhalb dieser patriarchalen       archisch angelegt, wobei dem Vater eine übergeordnete
gesellschaftlichen Atmosphäre bewegen und sich ihr             Macht zukam. Er konnte sowohl als Entscheider/Richter
unterordnen. Staat und Religion sind in Syrien eine Ver-       auftreten, als auch auf finanzieller Ebene oder durch psy-
bindung eingegangen, wodurch der Staat die Religionen          chische und physische Gewalt Macht ausüben. In allen Fa-
politisiert hat. So haben Veränderungen, bspw. innerhalb       milien hatte der Vater jedoch das letzte Wort. So betonte
des Islams oder Christentums, oder die Kritik an der Aus-      beispielsweise die Studienteilnehmerin Ruba (geb.1998,
legung der jeweiligen Religion immer das Problem, dass         aus Damaskus, sunnitischer Hintergrund, in Deutschland
sie sich nicht gegen den Staat durchsetzen können. Der         seit 2015), dass ihr Vater allein die Entscheidungen für die
Staat nutzt die Religionen für politische Zwecke. Die reli-    Familienmitglieder getroffen hat und dies als feste, indis-
giösen Strukturen müssten sich erst vom staatlichen Ein-       kutable Regel galt. Der Spielraum für die Mutter bestand
fluss befreien, bevor ein offener Diskurs oder eine Neu-       darin, wie sie die vom Vater entschiedenen Vorgaben um-
interpretation möglich werden.                                 setzte und aufrechterhielt:
Vor diesem Hintergrund bleiben Familien oder die Fami-
lienmitglieder gefangen in einer gesamtgesellschaftlichen         Mein Vater war die wichtigste Basis für die Familie. Meine Mut-
patriarchalen Atmosphäre, selbst wenn sie für sich diese          ter war hingegen nur an seiner Seite; so finde ich. Alle Ent-
Strukturen hinterfragen oder verwerfen.                           scheidungen hat mein Vater für die Familie getroffen. Er hat
                                                                  allein bestimmt, was uns erlaubt oder verboten ist […], meine
Empirischer Teil                                                  Mutter hat uns immer darauf aufmerksam gemacht, was mein
Die nun folgende Darstellung gliedert sich in drei Ab-            Vater erlaubt und was nicht. Meine Mutter konnte gar nicht
schnitte. Zunächst erläutere ich anhand beispielhafter            entscheiden. Die Autorität meines Vaters war zu stark.
Interviewaussagen, wie die Befragten ihre familiäre So-
                                                               Selbst hinsichtlich der religiösen Praxis orientierte sich
zialisation in Syrien, insbesondere hinsichtlich der Ge-
                                                               das Verhalten der Familienmitglieder an den Vorstellun-
schlechter- und Generationenverhältnisse, im Rückblick
                                                               gen des Vaters. So hat die Studienteilnehmerin Afraa
schilderten. Anschließend wird dargestellt, wie sie selbst
                                                               (geb. 1971, aus Damaskus, sunnitischer Hintergrund, in
den Prozess und die Gründe beschreiben, die die kritische
                                                               Deutschland seit 2015) im Gespräch geschildert, warum
Reflexion dieser Sozialisation begleiteten. Im dritten Ab-
                                                               ihre Mutter ihre Haare verbergen musste: „Mein Vater war
schnitt geht es dann um die Konsequenzen, die sich für
                                                               ein religiöser Mensch. Deswegen musste meine Mutter
die Befragten aus der kritischen Re-Interpretation ihrer
                                                               das Kopftuch tragen.“
familiären Sozialisation in der neuen Lebenssituation in
                                                               Für einen weiteren Studienteilnehmer, Hypa (geb. 1986,
Deutschland ergeben.
                                                               aus Homs, christlicher Hintergrund, in Deutschland seit
Ich zeige, wie die Befragten ihre Sichtweise auf die Grund-
                                                               2014), führte das hierarchische Verhältnis zwischen sei-
lagen ihrer familiären Sozialisation veränderten und wel-
                                                               nen Eltern bereits früh zu einer sehr starken Ablehnung, ja
che weiteren Verhaltensmuster sie als Widerstand entwi-
                                                               Hass, gegenüber seinem Vater. Für Hypa ist der Hass auf
ckelt bzw. praktiziert haben. Wie ich folgend zeige, ist das
                                                               seinen Vater klar in dem Verhalten seines Vaters gegen-
politische Engagement der Teilnehmenden für das Thema
                                                               über seiner Mutter begründet:
meiner Studie sehr wichtig – denn sie haben nicht nur an
der gesamtgesellschaftlichen Ordnung gezweifelt, son-
                                                                  Ich habe als Kind innerlich zerrissen beobachtet, wie mein
dern wollten sie ändern. Sie haben eine kritische Grund-
                                                                  Vater mit meiner Mutter umgegangen ist. Mein Vater hat
einstellung entwickelt, die sich auch im Migrationskontext
                                                                  meine Mutter öfter vor meinen Augen gnadenlos geschlagen.
gegenüber den Bedingungen der Aufnahmegesellschaft
weiter entfaltet hat. Der Entschluss, familiäre Beziehun-      Um die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Familie
gen abzubrechen, ist damit gleichzeitig eine sehr persön-      bei den Befragten herauszuarbeiten, wurde nicht nur das

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Vater-Mutter-Verhältnis thematisiert, sondern auch die                 nicht. Dieses Ereignis war unmenschlich und zum Kotzen.
wahrgenommenen, gelebten Erfahrungen der Befragten                     Meine Mutter hat meine Tante absichtlich als Augenzeugin
angesprochen. Alle Befragten beschrieben in der fami-                  mitgebracht. Ich habe mich tief verletzt gefühlt. Meine Familie
liären Sozialisation eine klar binäre Geschlechterordnung              hat sich keine Gedanken über meinen Selbstmord gemacht,
und die Definition bestimmter Verhaltensweisen als ein-                sondern sie war nur damit beschäftigt, ob ich mein Hymen
deutig „männlich“ oder „weiblich“. Innerhalb einer binären             verloren habe. Das ist so eklig. Ich habe in diesem Moment
Geschlechterordnung existiert das jeweilige Geschlecht                 laut geweint, geschrien und sagte zu meiner Mutter und der
nur in Relation und Abgrenzung zum anderen. Die be-                    Frauenärztin: Scheiß‘ auf euch und auf mein Hymen.
fragten Frauen beschrieben, dass sie als Mädchen ihre
                                                                    Diese Erzählung zeigt deutlich, wie sehr Frauen durch die
Zeit nicht so verbringen bzw. einteilen durften, wie es den
                                                                    Strukturen, in denen sie leben, bedroht werden, sobald
Jungen erlaubt war. Alle Teilnehmerinnen betonten, dass
                                                                    sie eine rote Linie überschreiten. Der Körper ist laut Judith
sie ihre Freizeit nicht draußen verbringen durften und als
                                                                    Butler das "Theater des Geschlechts" (Lorey, 1993: 12),
Ort zum Spielen häufig nur das Elternhaus in Frage kam.
                                                                    aber wie bei Maria deutlich wird, kann dieses “Theater-
Sie durften keine Zeit mit Jungen verbringen, um mit ihnen
                                                                    stück“ für die Frauen tödlich enden.
zu spielen.
                                                                    Selbstverständlich prägte die Sozialisation in der Familie
Afraa berichtet, dass sie nicht nur von ihren Familienmit-
                                                                    nicht nur weibliche Verhaltensweisen, sondern drückte
gliedern, sondern auch von ihrer unmittelbaren Umge-
                                                                    auch Vorstellungen von Männlichkeit aus. Diese wurden
bung sehr hart bestraft wurde, weil sie als Kind viel Zeit
                                                                    ebenfalls habituell verankert und körperlich eingeschrie-
draußen und mit Jungen verbracht hat. Sie wurde von
                                                                    ben (Bourdieu 2020: 122). So betonten alle Männer, die an
allen nur „Hassan Sabi“ genannt, eine abwertende Be-
                                                                    dieser Studie teilnahmen, dass ihnen in der Kindheit bei-
zeichnung für Frauen, die viel Zeit mit Jungen verbringen
                                                                    gebracht wurde, dass Männer nicht weinen dürfen. Wie
oder männlich gelesene Verhaltensweisen und Bewegun-
                                                                    geht aber ein Mann damit um, wenn er das Bedürfnis hat,
gen zeigen. Hier wirkte die Bezeichnung „Hassan Sabi“
                                                                    bei einem Treffen mit dem Vater zu weinen? Der Studien-
als demütigende Beleidigung und Mittel, Mädchen in eine
                                                                    teilnehmer Samir (geb. 1984, aus Damaskus, sunnitischer
nicht selbstbestimmte Situation zu bringen und Kontrolle
                                                                    Hintergrund, in Deutschland seit 2014) erzählt von dieser
über sie auszuüben.
                                                                    Zwangssituation:
Innerhalb der patriarchalisch-familiären Ordnung wird
der weibliche Körper bzw. die ihm zugeschriebene Re-
                                                                       Als ich aus politischen Gründen im Gefängnis saß [2012],
produktionsfunktion zu einem Ort, an dem die Regeln der
                                                                       wurde ich einmal für einen Besuch aufgerufen. Gleich danach
männlichen Herrschaft durchgesetzt werden müssen. Alle
                                                                       war ich aufgeregt, weil ich wusste, dass die Besucher meine
sexuellen Handlungen von Frauen (vom Küssen bis zum
                                                                       Eltern sind. Ich habe mich innerlich sehr gefreut, weil ich mich
vollzogenen Geschlechtsakt) stellen daher eine Bedro-
                                                                       im Gefängnis sehr schwach gefühlt habe. Unterwegs zum
hung für die vorherrschende Ordnung dar. Wie bereits oft
                                                                       Besuchsbereich führte ich einen inneren Monolog. Ich habe
thematisiert wurde, ist die Existenz des Patriarchats bzw.
                                                                       komische und widersprüchliche Gefühle gehabt. Ich war froh
Vorstellungen von Männlichkeit im familiären Zusammen-
                                                                       meine Eltern zu sehen, aber gleichzeitig wollte ich diese Be-
hang eng mit dem Hymen verflochten, doch auch andere
                                                                       gegnung vermeiden, weil ich nicht unterdrücken konnte zu
Facetten und Aspekte weiblicher Körperlichkeit werden
                                                                       weinen, wenn ich sie sehe. In diesem Moment habe ich mich
zu wichtigen und umstrittenen Symbolen für hierarchisch
                                                                       an ein Erlebnis mit meinem Vater aus meiner Kindheit erinnert.
und gewaltsam strukturierte Geschlechterverhältnisse.
                                                                       Mein Vater hat mich einmal geschlagen, und er hat gleichzeitig
So hat die Studienteilnehmerin Maria (geb. 1993, aus
                                                                       von mir verlangt, dass ich nicht wie eine Frau weinen sollte. Ich
Aleppo, kurdischer Hintergrund, in Deutschland seit 2015)
                                                                       war tief in Gedanken und Erinnerungen vertieft. Und genau in
von einer Situation aus ihrer Pubertät berichtet:
                                                                       diesem Moment habe ich von einem Gefängniswärter einen
                                                                       willkürlichen Schlag auf meinem Kopf bekommen.
   Während der Abiturzeit hat mein Vater mich wie verrückt ge-
   schlagen, weil ich zu einem Friseur gegangen bin, den ich ge-    Samirs innerer Monolog im Gefängnis zeigt, wie tief die
   wählt habe, nicht zu dem gewünschten Friseur von meinem          Forderungen der unmittelbaren Umgebung, sich auf eine
   Vater, unserem Nachbarn. Nachdem ich zurückkam, sagte er         bestimmte Art und Weise zu verhalten, reichen. Es wird
   wütend zu mir, dass dieser Friseur mich hinter meinem Rü-        verlangt, dass die anerzogenen Verhaltensweisen in je-
   cken eine Schlampe nennen würde. Er hat mich deswegen            der Situation umgesetzt werden. Auf das Individuum,
   halb totgeschlagen. Irgendwie hat er mich zwischen die Bei-      seine Wünsche und Gefühle wird dabei keine Rücksicht
   ne getroffen. Ich habe geblutet. Ich bin zur Toilette gegangen   genommen. Diesen Druck hat auch der Studienteilnehmer
   und hatte die Idee, dass ich mich umbringen will. Dort habe      Amer (geb. 1988, aus Suwaida, drusischer Hintergrund,
   ich viele Tabletten genommen. Als ich rauskam, hat meine         in Deutschland seit 2014) in einer ganz anderen Lebens-
   Mutter bemerkt, dass es mir überhaupt nicht gut geht. Sie        situation so intensiv wie nie zuvor gespürt:
   und meine Tante haben mich in ein Krankenhaus gebracht.
   Das Verrückte an dieser Geschichte ist, dass meine Familie          Meine ältere Schwester hatte sich damals in jemanden ver-
   sich nur Sorgen um mein Hymen gemacht hat. Im Kranken-              liebt. Ich hatte damit kein Problem. Ich habe den Freund mei-
   haus haben sie mich auch zu einer Frauenärztin gebracht             ner Schwester gemocht. Aber irgendwie habe ich den Druck
   wegen des Blutes zwischen meinen Beinen. Meine Tante hat            von der Umgebung gespürt, dass ich dagegen sein und es
   uns als Zeugin meiner Mutter zu einem Frauenarzt begleitet,         verbieten sollte, weil ich der Mann bin. Das war für mich ein
   um herauszufinden, ob ich immer noch Jungfrau bin oder              innerlicher Kampf.

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Die männliche Herrschaft ist für die, die von ihr haupt-            Die Re-Interpretation zwischen der syrischen Revolution
sächlich profitieren, nicht umsonst zu bekommen. Bour-              und der deutschen Aufnahmegesellschaft
dieu betont, dass Männer auch als Herrschende der Herr-             Ich komme nun zur Frage, wie die Teilnehmer*innen der
schaft unterworfen sind:                                            Studie selbst den Prozess und die Gründe beschreiben,
                                                                    in dem sie zur kritischen Reflexion und Re-Interpretation
   Die Struktur unterwirft beide Seiten des Herrschaftsverhält-     ihrer familiären Sozialisation kamen. Aus ihren Schilde-
   nisses ihren Zwängen, also auch die Herrschenden selbst, die     rungen geht hervor, dass insbesondere die Erlebnisse der
   von ihm profitieren mögen, aber gleichwohl, nach dem Wort        Studienteilnehmer*innen während der Revolution und
   von Marx, "von ihrer Herrschaft beherrscht" werden. (Bour-       die Ankunft in Deutschland wichtige Faktoren waren. Zu-
   dieu 2020: 122)                                                  nächst widme ich mich der Rolle der syrischen Revolution.
                                                                    Fast alle Befragten haben sich 2011 in Syrien für den
Was jedoch passiert, wenn von diesen strengen Vorstel-
                                                                    politischen und gesellschaftlichen Wandel engagiert. Sie
lungen in Bezug auf Geschlecht abgewichen wird? Hypa
                                                                    haben sich für Werte wie Würde, Freiheit, Demokratie ein-
war mutig und hat sich für einen Ohrring entschieden. Er
                                                                    gesetzt. Dabei bezog sich die Revolution für Samir bei-
erzählt, wie wütend die Umgebung auf seinen Ohrring re-
                                                                    spielsweise nicht nur auf das politische System in Syrien,
agiert hat:
                                                                    sondern erstreckte sich bis in den privatesten Bereich. Um
                                                                    seine Meinung in all diesen Bereichen frei ausdrücken zu
   Ich habe mir 2008 ein Ohrloch stechen lassen und einen Ohr-
                                                                    können, war er bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen:
   ring getragen. Meine Mutter war dagegen, weil sie der Mei-
   nung war, dass Ohrringe nur für Frauen seien und ich damit
                                                                       Vor 2011 war mir klar, dass ich eine starke Animosität gegen
   wie eine Frau aussehen würde. Deswegen hat meine Mutter
                                                                       die Macht habe, sowohl innerhalb der familiären Ordnung
   meinen Ohrring als Beleidigung für die ganze Familie ange-
                                                                       als auch gegen das politische System. Ich habe an der Re-
   sehen. Um mich unter Druck zu setzen, hat meine Mutter von
                                                                       volution teilgenommen, damit ich mein Recht, anders zu sein,
   mir verlangt, dass ich mich entweder für die Familie oder für
                                                                       wahrnehmen kann. Ich wollte nicht Teil einer Herde sein. Ich
   meinen Ohrring entscheiden muss. Ich habe ihr damals so-
                                                                       war bereit, mein Leben für dieses Recht zu opfern.
   fort gesagt: Ich entscheide mich für meinen Ohrring. Nicht nur
   meine Mutter, sondern viele Bekannte aus meinem Stadtviertel     Alle Befragten beschrieben die Erfahrung und das Er-
   wollten deswegen nicht mehr mit mir in Kontakt bleiben.          eignis der Revolution als Wendepunkt. Hypa fiel es nicht
                                                                    leicht, sich für die Revolution zu entscheiden:
Noch viel extremer wird auf queere Beziehungen reagiert.
Sie haben in einer sozialen Umgebung, die die Geschlech-
                                                                       Ich kann mein ganzes Leben in Syrien so zusammenfas-
ter so streng voneinander trennt, keine Chance, toleriert
                                                                       sen: Ich habe mich lebenslang in Syrien gegen Patriarchat,
zu werden. Homosexualität ist im syrischen Kontext nicht
                                                                       Männlichkeit, Familie und Unterdrückung von Frauen bzw.
nur ein gesellschaftliches Tabu, sondern auch rechtlich
                                                                       gegen die Macht positioniert. Ich habe aber bei dem Revo-
und religiös sanktioniert. Dies hatte auch gravierende
                                                                       lutionsausbruch 2011 einen inneren Konflikt erlebt. Ich habe
Auswirkungen auf die Beziehungen innerhalb der Fami-
                                                                       mich schon lange kritisch gegen die Vorstellungen meiner
lie. Dies wird aus der Erzählung von Maria deutlich, die
                                                                       christlich-­orthodoxen Familie und meiner Umgebung positio-
in Syrien mit einer jungen Frau in einer geheimen Liebes-
                                                                       niert. Aber auf der anderen Seite wurde die Revolution in den
beziehung lebte:
                                                                       Medien als islamische Bewegung präsentiert. Das war ein
                                                                       Dilemma für mich; zu wem gehöre ich? Diese Frage musste
   Ich konnte mit niemanden über meine sexuelle Orientierung
                                                                       beantwortet werden. Nach langen Diskussionen mit meinen
   reden. Sie würden es nicht akzeptieren. Das wäre für meine
                                                                       engen Freunden war es mir klar geworden. Ich kam raus aus
   Familie das Ende der Welt gewesen. Und wenn meine Eltern
                                                                       meinem Schneckenhaus. Es geht nicht um Islam oder Chris-
   gewusst hätten, dass ich eine Beziehung mit einer Frau habe,
                                                                       tentum. Es geht bei dieser politischen Bewegung um De-
   hätten sie mich getötet. Ich bin der Meinung, dass sie nicht
                                                                       mokratie, es geht um einen Kampf gegen den Diktator. Die
   nur mich gnadenlos getötet hätten; sondern sie hätten mich
                                                                       Revolution hat mir gezeigt, dass ich mich noch nicht davon
   mit viel Fantasie getötet.
                                                                       befreit hatte, mich in die Vorstellungen der Gruppe und in die
Alle Befragten haben ihre Geschlechtsidentität in direkter             religiöse Konfession einzureihen, aus der ich komme. Diesen
Verbindung mit ihrem Köper durch die familiäre Sozialisa-              inneren Konflikt habe ich überwunden, und ich habe mich
tion vermittelt bekommen. Dies erklärt, warum sich diese               entschlossen, gegen das Patriarchat zu Hause, gegen die
Geschlechterordnung von den Eltern auf ihre Kinder über-               Vorstellungen meiner sozialen Umgebung und auch gegen
trägt. Der Habitus hat eine unbewusste Wirkmächtigkeit                 den Diktator an der Macht zu protestieren.
und körperliche Komponente. Obwohl Mütter und Väter
                                                                    Hypas Konflikt zeigt stellvertretend für andere Studien-
die patriarchale Unterdrückung erleben mussten, geben
                                                                    teilnehmende, dass die Revolution als stark verändernder
sie diese Unterdrückung an ihre Kinder weiter. Der unbe-
                                                                    Faktor für den Re-Interpretationsprozess der Befragten
wusste Aspekt des Habitus ist schwierig zu reflektieren.
                                                                    betrachtet werden muss.
Weil die Geschlechterordnung in Fleisch und Blut über-
                                                                    Die Revolution sowie damit verbundene emotional er-
gegangen ist, wird sie als naturgegeben wahrgenommen
                                                                    schütternde Erfahrungen und enttäuschende Erlebnisse
(Bourdieu 2020: 63).
                                                                    haben den Re-Interpretationsprozess bei den Befragten
                                                                    nach außen hin sichtbar gemacht. Sie haben dazu ge-
                                                                    führt, dass dieser Prozess um neue Themen erweitert

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wurde, z.B. die Themen politische Identität, politische For-       Als vielleicht wichtigste Erfahrung kann die Herausbildung
derungen an die Regierung, tiefer gehende Kritik an den            der Gefühle Sicherheit und Freiheit hervorgehoben wer-
sozialen Gruppen und Strukturen im Land sowie die fami-            den. Alle Befragten haben in ihrem ersten Aufenthaltsjahr
liären Erlebnisse. Dabei wurde der Habitus der Befragten           in Deutschland diese zwei neuen Gefühle erlebt und ex-
durch die Revolution tief erschüttert. Das Spannungsfeld           plizit benannt. Das Gefühl der Sicherheit wurde noch vor
zwischen Habitus und den revolutionären Ereignissen                dem der Freiheit deutlich betont. Als Bezugsgröße für die
führte bei den Befragten zu einem inneren Konflikt, des-           veränderten Empfindungen von Sicherheit und Freiheit ist
sen Dynamik das Bewusstsein der Befragten über ihren               bei den Befragten von Syrien auszugehen. Sie kommen
eignen Habitus kritisch geschärft und zu einer Politisie-          aus einem Kriegsgebiet und fühlen sich selbstverständlich
rung beigetragen hat. Nach Bourdieu ist das offene Dis-            in Deutschland sicher. Aus dem Gefühl der Sicherheit her-
positionssystem, das dem Habitus zugrunde liegt, unab-             aus wird dann die vertiefte, kritische Re-Interpretation der
lässig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und von ihnen            familiären Sozialisation in Syrien möglich. So bezeichnet
beeinflusst (1996: 167).                                           Zorba das Gefühl von Sicherheit als Grundlage für eine
Als zweiten wichtigen Anstoß für die kritische Re-­                weitere, tiefere Selbstreflexion:
Interpretation ihrer familiären Sozialisation beschrieben
die Befragten ihre Ankunft in Deutschland. Der räumliche              In Leipzig gleich bei der Landung meines Flugzeugs habe ich
Abstand zu Syrien, so beschrieben sie, half ihnen, ihre ur-           mich sicher gefühlt. Das könnte der Grund sein, dass man
sprünglichen familiären Strukturen besser zu verstehen.               sich dann zutraut, seine Vergangenheit tiefer zu reflektieren.
So hat der soziale Druck der Herkunftssozialisation nach-
                                                                   Die Definition von Sicherheit unterscheidet sich in Bezug
gelassen (weniger Kontakt führte zu einer geringeren
                                                                   auf einige Aspekte bei den weiblichen und männlichen
Kontrolle) mit dem Ergebnis, dass sich alle Befragten sehr
                                                                   Befragten. Den weiblichen Befragten war der eigene,
kritisch u.a. mit ihren familiären Erlebnissen und Erfahrun-
                                                                   selbstgestaltete Raum am wichtigsten.
gen auseinandergesetzt haben.
                                                                   Afraa beschreibt ihren ersten Tag in ihrem neuen, eigenen
Dazu kam, dass das alltägliche Geschehen in Deutschland
                                                                   Zuhause wie folgt:
die Befragten dazu anregte, neue Fragen zu stellen. Gleich-
zeitig vergleichen sie alltägliche Geschehnisse in Deutsch-
                                                                      Als ich den Mietvertrag meiner Wohnung abgeschlossen
land mit den Erfahrungen ihrer ursprünglichen Sozialisation
                                                                      habe, bin ich am selben Tag mit einem Schlafsack dahin ge-
in Syrien. Dies verdeutlicht ein Erlebnis des Studienteilneh-
                                                                      gangen. Ich wollte aus Freude sofort, in der ersten möglichen
mers Zorba (geb. 1986, aus Daraa, sunnitischer Hinter-
                                                                      Nacht, dort übernachten. Ich konnte es nicht aushalten zu
grund, in Deutschland seit 2014), das zeigt, durch welche
                                                                      warten, bis ich die Wohnung eingerichtet habe. […] Ich wer-
scheinbar alltäglichen Situationen solche Vergleichs- und
                                                                      de es nie in meinem Leben vergessen. Das Gefühl, dass ich
Reflexionsprozesse ausgelöst werden können:
                                                                      für mich selbst hier bin. Das Gefühl, dass ich hier sicher bin.
                                                                      Das Gefühl, dass ich meinen privaten Raum habe. Hier ist
   Nur eine Woche nach meiner Ankunft in Deutschland habe
                                                                      mein Zuhause. In Syrien habe ich als Kind und Jugendliche
   ich jemanden barfuß auf der Straße laufen gesehen. Ich habe
                                                                      kein eigenes Zimmer gehabt. Ich habe in Syrien immer in der
   mich gefragt, was es bedeutet, barfuß zu laufen. Es sah für
                                                                      Küche geschlafen.
   mich so aus, als ob er sich nicht für soziale Regeln interes-
   siert. Man kann sich bei uns in Syrien nie trauen, barfuß auf   Außerdem hoben die weiblichen Befragten hervor, dass
   der Straße zu laufen. Die Leute würden sagen, dass die bar-     sie sich von den Gesetzen in Deutschland im Vergleich zu
   fußlaufende Person verrückt geworden sei. Und die Kinder        Syrien geschützt fühlten. Dieser Eindruck trug maßgeb-
   würden hinter ihr herlaufen und sie beleidigen.                 lich dazu bei, dass die Teilnehmerinnen dieser Studie sich
                                                                   ausreichend sicher und geschützt gefühlt haben, um ihre
Durch solche und ähnliche Beobachtungen und Erfahrun-
                                                                   ursprüngliche Sozialisation in Frage zu stellen. Maria hält
gen hat sich auch die eigene Körperwahrnehmung der
                                                                   die Funktion der Gesetze, die die Gleichberechtigung stär-
Befragten verändert. Dies bezieht sich nicht nur auf die In-
                                                                   ken, in Deutschland für sehr wichtig:
teraktion mit anderen Menschen. Die Befragten beschrei-
ben auch, dass sich sogar ihre Sinnesorgane veränderten
                                                                      Natürlich spielen die Gesetze in Deutschland eine große Rol-
und die Wahrnehmung der neuen Situation beeinflussten.
                                                                      le. […] Die Frauen haben hier mehr Spielraum und das ver-
Sie befanden sich plötzlich in einem neuen sozialen Raum,
                                                                      danken wir Gesetzen. Die Frauen sind hier auch unterdrückt,
in dem sie damit begannen, sich auf vielen unterschiedli-
                                                                      aber hier ist es ein bisschen weniger schlimm.
chen Ebenen mit neuen Eindrücken auseinanderzusetzen:
Die Augen vermitteln täglich tausende neue Bilder. Die             Eine besondere Herausforderung für die Gesprächspart-
Ohren informieren über neue Klänge. Andersartige Ge-               ner*innen stellte das Erlernen einer neuen Sprache dar.
rüche sind anregend für die Nase. Der Geschmackssinn               Eine neue Sprache bedeutet, einen veränderten Blick in
hat sich verändert und sie entdeckten eine Vielfalt neu-           die Welt zu werfen, eine neue Wahrnehmung zu entwi-
er Geschmackserlebnisse. Das ungewohnt kalte Wetter                ckeln und eine neue Kultur für sich zu gewinnen. Durch
war anstrengender für den Körper, hinzu kam bei einigen            die neu erworbene Sprache konnten die Befragten in einer
Befragten ein Mangel an Vitamin D, das über Sonnenein-             neuen Art und Weise von Denken, Handeln und Fühlen
strahlung auf die Haut gebildet wird. Auf vielerlei Wei-           sprechen. Es bedeutet nichts anderes, als sich neu zu so-
se wurde die Erfahrung gemacht, dass der Umgang mit                zialisieren. Das ist ein entscheidender Faktor für den Re-
dem eigenen Körper in Deutschland ein ganz anderer sein            Interpretationsprozess der Befragten in dem Sinne, dass
kann als in Syrien.                                                sie anders auf sich und ihre Vergangenheit blicken konnten.

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Der Austausch mit Einheimischen stellt einen weiteren                 der Befragten sich nicht nur auf Erlebnisse aus Syrien be-
Übergangspunkt bei den Befragten dar. Nur der Erwerb                  zieht, sondern sich auch zunehmend kritisch mit der deut-
der deutschen Sprache konnte einen Zugang zu vielfäl-                 schen gesellschaftlichen Ordnung auseinandersetzt. Sich
tigen sozialen Netzwerken ermöglichen. Er markiert den                kritisch in Deutschland zu äußern, weist darauf hin, dass
Übergang vom Beobachten des sozialen Lebens hin zum                   die Befragten ein neues Zuhause für sich gefunden haben,
Erfahren und „Mitspielen“. Amer hat beispielsweise beim               ein Zuhause, das sie mitgestalten und verändern wollen.
Besuch einer Ausstellung eine Frau kennengelernt und                  Kritik zu üben ist in diesem Sinne ein Hinweis auf eine ge-
sich später in sie verliebt. Er beschreibt den Prozess des            lungene Integration.
Austausches und der Annäherung:                                       Die spezifischen neuen sozialen Erfahrungen im Ankunfts-
                                                                      land prägen das Individuum sehr stark. Diese Erfahrun-
   Wir haben stundenlang unsere Geschichten ausgetauscht.             gen haben alle Befragten gemacht. Zusammenfassend
   Ich habe ihr viel über Syrien und über mich erzählt. […] Ich       kann gesagt werden, dass sich die Befragten in Deutsch-
   habe ihr Erlebnisse mitgeteilt, die ich vorher niemanden im        land einen gesellschaftlichen Rahmen geschaffen haben
   Leben anvertrauen konnte. Ich bin als Kind sexuell miss-           (und sich darin bewegen), der es ihnen ermöglicht, ihre
   braucht worden. Als ich angefangen habe, über diese schlim-        Einstellungen, Verhaltensweisen, emotional erschüttern-
   men Erfahrungen zu reden, habe ich gespürt, wie sie mich           den Erfahrungen sowie Gefühle zu reflektieren. In diesem
   mein Leben lang blockiert und belastet haben. [….] Sie hat         Sinne erscheint das Leben in Deutschland wie ein sozia-
   mir viel über ihre Geschichte erzählt. Sie hat mir erzählt, dass   les Labor, in dem die verborgenen verinnerlichten Regeln
   sie im Alter von mit 17 Jahren „illegal“ ins damalige West-        sozialen Verhaltens distanziert betrachten können. Zu-
   berlin geflohen ist. Sie meinte auch, dass niemand aus West-       dem konnten sie in Deutschland andere Verhaltensmus-
   deutschland versteht, was genau die Flucht oder das Flücht-        ter sehen und erleben als die zuvor vertrauten. Die oben
   ling-Sein bedeutet.                                                geschilderten Veränderungen in der Lebenssituation der
                                                                      Befragten, insbesondere die Erfahrungen der Revolution
Obwohl alle Befragten überwiegend positiv über ihre Er-
                                                                      in Syrien und das Ankommen in Deutschland, haben dazu
fahrungen mit Einheimischen im Alltag berichtet haben,
                                                                      beigetragen, dass sich ihr Blickwinkel merklich verändert
hatten manche den Eindruck, dass sie von einigen Insti-
                                                                      hat. Zorba hat dies als „Revolution gegenüber sich selbst“
tutionen diskriminiert werden. Samir zum Beispiel, be-
                                                                      beschrieben. Alle Befragten haben betont, dass sie in
schreibt seine Erfahrungen wie folgt:
                                                                      Deutschland in die Situation geraten sind, sich mit sich
                                                                      selbst zu beschäftigen.
   Meine Erfahrungen mit Institutionen, wie dem Jobcenter, der
   Ausländerbehörde, der Bank, der Sprachschule waren für
                                                                          Obwohl ich nach der Ankunft in Deutschland solche Fragen
   mich sehr anstrengend und belastend, weil man von Anfang
                                                                          vermeiden wollte, aber irgendwann ging es nicht mehr. Und
   an diesen Kategorien Ausländer, Araber, Flüchtling usw. zu-
                                                                          die zentrale Frage, die mich umgetrieben hat: Was ist mit mir
   geordnet ist. Man wird nicht als Individuum von diesen Insti-
                                                                          in Syrien geschehen? (Nolan)
   tutionen wahrgenommen.
                                                                      Sie sind mit ihren Erinnerungen, emotional erschütternden
Die in Deutschland im Gegensatz zu Syrien praktizierte
                                                                      Erfahrungen sowie familiären Erlebnissen, konfrontiert.
subtile Art der Machtausübung durch Institutionen wie
                                                                      Die „Revolution gegenüber sich selbst“ lässt sich so inter-
Jobcenter und Ausländerbehörde, hat Aurora (geb. 1992,
                                                                      pretieren, dass sich die Dynamik der syrischen Revolution
aus Salamiyya, ismailitischer Hintergrund, in Deutschland
                                                                      2011 auch auf der kulturellen Ebene bei den Befragten
seit 2014) erfahren und sie beschreibt die Gefühle, die
                                                                      widerspiegelt.
diese Machtausübung bei ihr ausgelöst hat:

                                                                      Der Zerfall7 des Patriarchats
   Ich bekomme Angst, wenn ich einen Brief von Behörden, von
                                                                      Im Weiteren sollen die Konsequenzen, die sich aus der
   der Ausländerbehörde erhalte. Diese bedrückenden Gefühle
                                                                      kritischen Re-Interpretation der familiären Sozialisation
   kommen hoch, bevor ich den Brief überhaupt lese. Ich fühle
                                                                      in der neuen Lebenssituation in Deutschland ergeben,
   mich eben nicht sicher, sondern bedroht. Ich weiß nicht, wo-
                                                                      näher betrachtet werden. Diese zeigen sich zum einen in
   ran das liegt.
                                                                      den privaten, intimen Beziehungen und Verhaltensweisen
Es ist bemerkenswert, wie die gesellschaftliche Ordnung               der Befragten in ihrer neuen Lebenssituation. Sie haben
in Deutschland, die eigentlich auf individuellen Werten               insofern große Bedeutung für das (Zusammen-)Leben in
basiert, Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte                Deutschland. Zu hinterfragen ist aber zum anderen, was
als kollektive Kategorie klassifiziert.                               diese Re-Interpretation und die damit verbundenen Aus-
Der Blick, mit dem Zuwander*innen betrachtet werden,                  einandersetzungen für die syrische Gesellschaft insge-
bestimmt die Handlungsstrategien in der Arbeit mit ihnen.             samt bedeuten – und wie bzw. wo diese zu verorten ist.
Daher ist es wichtig zu verstehen, dass die Zuwander*in-
nen aktive und individuelle Subjekte ihrer eigenen Lebens-
                                                                      7   Ich benutze den Begriff ‚Zerfall‘ in dem Sinne, dass die alte patriar-
gestaltung im deutschen gesellschaftlichen Kontext sind.                  chale Ordnung unter der politisch-­gesellschaftlichen Bewegung in
Die Aussagen von Samir, Aurora und anderen Gesprächs-                     Syrien ab 2011 so tief erschüttert und grundsätzlich von einem Teil
partnern*innen weisen darauf hin, dass es eine struktu-                   der syrischen Gesellschaft in Frage gestellt wurde. Dieser geht sehr
relle Diskriminierung durch Institutionen, die eigentlich für             kritisch mit dem Patriarchat ins Gericht und versucht einen neuen
                                                                          Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität zu leben. Bei den hier
eine gelungene Integration sorgen sollten, gibt.
                                                                          Befragten kann festgestellt werden, dass diese nicht zu der alten
Es ist bemerkenswert, dass der Re-Interpretationsprozess                  patriarchalen Ordnung zurückkehren wollen.

www.leibniz-zmo.de                                                                                                  working papers 33 · 2022 · 8
Im Zusammenhang mit der Re-Interpretation der fami-                          Religion wird so zu einem Unterdrückungsinstrument des
liären Sozialisation änderte sich für die Befragten vieles                   Patriarchats.
– oder richtiger, sie selbst änderten vieles. In diesem Ab-                  Die Auseinandersetzung mit der Religion hat auch Nolan
schnitt zeige ich diese Veränderungen anhand von drei                        beschäftigt. Er erzählt, wie er diesen Prozess erlebt hat.
Themenfeldern: veränderte Einstellungen und Praktiken                        Aus seiner Geschichte wird deutlich, dass nicht nur die
hinsichtlich der Religion, Konflikte zwischen sexueller Ori-                 Sozialisation in Syrien und das Ankommen in Deutsch-
entierung und patriarchalen Normen und veränderte oder                       land, sondern auch Begegnungen in anderen Kontexten
abgebrochene Beziehungen innerhalb der Familie.                              des Transits wichtige Impulse für die kritische Reflexion
                                                                             sein können.
Schwächung der Religion
Die Verflechtung zwischen Religion und Patriarchat, die                         Die Religion hat eine wichtige Rolle in meinem Leben in Syrien
sich durch einen gesellschaftlichen, historischen Kontext                       gespielt. Ich habe mich an den Regeln der Religion orientiert.
etabliert hat, lässt sich nicht einfach auftrennen (Sharabi                     Ich habe mir sehr viele Gedanken über meine religiösen Ein-
1988: 104).                                                                     stellungen gemacht, als ich Syrien verlassen musste. Ich bin
Schon als sie noch in Syrien war, hat Afraa ihr Kopftuch                        in den Libanon gegangen und habe dort mit zwei Personen
nicht mit Überzeugung getragen. Die patriarchale Ord-                           zusammengewohnt. Einer von beiden war Atheist, mit ihm
nung hat ihr nicht die Möglichkeit gegeben, für sich selbst                     habe ich viel über Religion diskutiert. Ich kam zu der Erkennt-
zu entscheiden. In Deutschland hat sich Afraa stark und                         nis, dass mein Glaube sich durch Normen und Traditionen der
sicher genug gefühlt, um diesen auferlegten Regeln zu                           Familie bzw. der Umgebung gebildet hat. Ich habe geglaubt,
widersprechen. Sie war entschlossen, das Kopftuch abzu-                         weil es von mir erwartet wurde. Religion ist für mich zurzeit
legen. Nun musste sie sich bezüglich der Reaktionen ihrer                       eine rein individuelle Sache. Jeder soll für sich allein entschei-
ursprünglichen sozialen Umgebung darüber Gedanken                               den dürfen und nicht der Religion folgen müssen, an die die
machen. Sie musste darüber nachdenken, wie sie diesen                           Eltern glauben.
Entschluss umsetzen konnte. Im Folgenden erzählt sie ihre
                                                                             Zwar ist Nolan religiös geblieben, er hat sich aber von den
Geschichte und berichtet von der Reaktion der Familie:
                                                                             kollektiven sunnitischen Vorstellungen seiner Sozialisation
                                                                             emanzipiert. Er hat seinen Glauben individualisiert, z.B.
    Ich habe seit 2015 eine neue Wahrnehmung entwickelt. Ich
                                                                             nimmt er die Religion als nicht tradierbar wahr.
    konnte nicht mehr akzeptieren, dass jemand anderes für mich
    entscheidet: was ist halal [religiös zulässig], was ist haram
                                                                             Konflikt zwischen sexueller Orientierung und patriarchalen
    [religiös verboten]. Selbstständig zu denken, ist mir sehr wich-
                                                                             Normen
    tig geworden. Vorher habe ich meine Mutter und Schwieger-
                                                                             Die einzige Familienform, die die Befragten in ihrer Kind-
    mutter über meine Entscheidung informiert. Beide haben nor-
                                                                             heit erfahren haben, basiert auf der klassischen hetero-
    mal reagiert; Ja okay, wenn du so es magst. Danach habe ich
                                                                             normativen Beziehung. Parallel haben sie während ihrer
    ein Foto von mir ohne Kopftuch auf meiner Facebook-Seite
                                                                             Kindheit und Jugend negative Einstellungen zu homose-
    gepostet. Meine Verwandten, meine Brüder, meine ursprüng-
                                                                             xuellen Formen des Zusammenlebens entwickelt. Im kri-
    liche soziale Umgebung haben wie verrückt darauf reagiert.
                                                                             tischen Rückblick auf diese Phase haben die Befragten
    Meine Mutter hat die Wut der Gesellschaft bzw. der Männer
                                                                             nicht nur diese klassische Form des Zusammenlebens in
    mitbekommen. Und sie hat mich auf nette Art und Weise
                                                                             Frage gestellt. Sie haben auch einen respektvolleren Um-
    gebeten, dass ich das Kopftuch wieder tragen solle, weil sie
                                                                             gang mit den in Deutschland gelebten vielfältigen ande-
    Angst um mich habe. Und meine Brüder haben auch sehr ag-
                                                                             ren Familienformen entwickelt. Die sexuelle Orientierung
    gressiv darauf reagiert, obwohl sie gar nicht in Deutschland
                                                                             als individuelle Entscheidung anzusehen, widerspricht
    leben. Ein Bruder von mir, der seit 1997 in Rumänien lebt, hat
                                                                             aber der patriarchalen Ordnung. So beschreibt Zorba den
    eine lange Nachricht geschrieben, dass ich mir nochmal Ge-
                                                                             Prozess, in dem er seine Gender-Identität als Mann in Fra-
    danken über meine Entscheidung machen müsste. Und er
                                                                             ge stellte und sich seine Einstellung zur sexuellen Orien-
    hat mir einmal ein Bild geschickt. Darauf standen eine Kugel
                                                                             tierung änderte:
    und daneben ein Lippenstift, auf der Kugel stand das Wort
    „morden“ auf dem Lippenstift stand „Auf­ruhr“. Und darunter
                                                                                Ich habe mich gefragt, was es bedeutet ein Mann zu sein?
    war geschrieben: Aufruhr ist schlimmer als Mord. Er wollte
                                                                                Warum soll ich als Mann nur auf Frauen stehen. Ein Mann
    damit sagen, was ich mache [das Kopftuch nicht zu tragen]
                                                                                steht nur auf eine Frau, das ist eine Art von gesellschaftli-
    ist schlimmer als jemanden zu töten.
                                                                                chem Axiom. Dieses Axiom wurde mir als Kind von der Ge-
Bei den Reaktionen aus der ursprünglichen sozialen Um-                          sellschaft eingeschrieben. Ich habe mich vorher nie getraut,
gebung von Afraa auf ihre Entscheidung, kein Kopftuch                           mir vorzustellen, dass ich in einer Liebesbeziehung mit einem
mehr tragen zu wollen, spielen sowohl die Religion als                          Mann sein könnte.
auch das machtlose Patriachat eine entscheidende Rol-
                                                                             Diese Einstellungsveränderung seiner sexuellen Orientie-
le. Männer versuchen Afraa vorzuschreiben, wie sie le-
                                                                             rung hat Zorba als „Auskotzen der gesellschaftlichen Re-
ben soll. Da sie es nicht können, wird auf eine religiöse
                                                                             geln“ bezüglich seiner Gender-Identität bezeichnet:
Argumentation zurückgegriffen („Aufruhr ist schlimmer
als Mord“ siehe Koran, Sure Al-Baqara, Vers 1918). Die
                                                                                Ich habe in Leipzig meine Männlichkeitsidentität ausgekotzt.
                                                                                Ich meine diese Vorstellung, die wir aus unserer Sozialisation
8   Im Koran wird das Zitat auf einen politischen Kontext bezogen. Im all-      geerbt haben, ausgekotzt, dass Frauen Objekt für unser se-
    gemeinen Sprachgebrauch auch auf andere Bereiche.

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