Integration und Identitätsbildung junger Geflüchteter in der Jugendhilfe - ein Drahtseilakt ohne Sicherung1

 
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                                                        A ufsätze

Irmela Wiesinger*

Integration und Identitätsbildung junger Geflüchteter in der Jugendhilfe
– ein Drahtseilakt ohne Sicherung 1
I.    Einleitung                                                 relle Barrieren ausgeklammert. Dies hat nicht nur Auswir-
                                                                 kungen auf die normativen Anforderungen an die Leistun-
Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung vollbringen täg-
                                                                 gen der Jugendhilfe, sondern auch auf die konkrete pädago-
lich Drahtseilakte auf verschiedenen Ebenen: zwischen den
                                                                 gische Praxis:
Selbstverständlichkeiten und Erwartungen der alten und neu-
en Lebenswelt, zwischen familiärer Loyalität und Selbstbe-       Die aufgrund ihres gesetzlichen Auftrags am subjektiven
stimmung, zwischen Verlustangst und Vertrauensbildung,           Wohlergehen und an der positiven Entwicklung von Kindern
zwischen Illusion und Realität sowie zwischen gesellschaft-      und Jugendlichen ausgerichtete Erziehungshilfe wird bei der
licher Ausgrenzung und Anerkennung.                              Adressatengruppe der Geflüchteten oft mit einem verkürzten
                                                                 Integrationsverständnis konfrontiert, das sich auf Spracher-
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Bedeutung von
                                                                 werb und Integration in Ausbildung und Arbeit möglichst bis
Fluchtmigration im Jugendalter für die Identitäts- und Per-
                                                                 zur Volljährigkeit reduziert.
sönlichkeitsbildung. Gestützt auf die in der Migrationstheo-
rie beschriebenen verschiedenen psychischen Phasen des Mi-       Die von vielen politischen und administrativen Entschei-
grationsprozesses wird die psychosoziale Lebenswirklichkeit      dungsträgern vertretene Vorstellung, dass Integration im
geflüchteter Jugendlicher und junger Erwachsener in der Ju-      Schnelldurchlauf zu funktionieren hat, schreibt der Kinder-
gendhilfe dargestellt. In diesem Kontext wird der Frage nach-    und Jugendhilfe einen gesellschaftspolitisch stabilisierenden
gegangen, welche Qualitätsaspekte bei der Fallreflexion und      und zugleich widersprüchlichen Auftrag zu.
der Entscheidung über die Hilfegewährung noch stärker in         Denn eine wesentliche und zT „unlösbare“ Aufgabe besteht
den Fokus rücken sollten und welche vertiefenden edukati-        darin, die individuelle Anpassungsleistung jedes/jeder einzel-
ven Angebote den Integrations- und Hilfeprozess unterstüt-       nen Hilfeempfängers/-empfängerin trotz rechtlich und poli-
zen können.                                                      tisch gesetzter Integrationsbarrieren aufrechtzuerhalten, da-
Die aktuelle und häufig emotionalisiert geführte öffentliche     raus resultierende psychische Belastungen zu kompensieren
Integrationsdebatte macht auch vor dem Handlungsfeld des         und dysfunktionalen Verhaltensweisen oder Desintegrations-
Kinder- und Jugendhilfesystems nicht halt. So stellen Graß-      tendenzen bei den jungen Menschen entgegenzuwirken.
hoff/Schröer zutreffend fest, dass im fachpolitischen Diskurs    Aus Sicht der Verfasserin bedarf es daher eines intensiven
„migrationspolitische, fachliche und fiskalische Argumente       Qualitätsdialogs darüber, wie das in der Hilfeplanung immer
miteinander verbunden“2 werden.                                  wieder postulierte Ziel einer gelingenden Integration bewusst
Dies hat zum einen zur Folge, dass die Fluchtbiografie und       als ganzheitlicher Auftrag ausgestaltet werden kann, der sich
(daraus resultierende) migrationsspezifische Problem- und        in erster Linie an den pädagogischen und psychosozialen Be-
Bedarfslagen in der Hilfegewährungspraxis – insbesondere         darfen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientiert.
bei der Entscheidung über Hilfen für junge Volljährige – häu-
fig nicht als „vollwertige“ Hilfevoraussetzungen anerkannt       II. Gelingende Identitätsbildung und gelingende
werden. Immer wieder werden aus dieser Lebenslage Grün-              Integration – zwei Seiten einer Medaille
de für eine Leistungseinschränkung für eine ganze Zielgrup-      Entsprechend der Begriffsdefinition der Migrationssoziologie
pe der Kinder- und Jugendhilfe konstruiert.                      wird Integration in diesem Beitrag neben der gleichberechtig-
Zum anderen ist die fiskalisch begründete Forderung nach
einer Jugendhilfe mit abgesenkten Standards für junge Ge-        *   Die Verf. ist Leiterin des Fachteams Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
                                                                     (UMF) im Amt für Jugend, Schulen und Kultur im Main-Taunus-Kreis, Hof-
flüchtete paradoxerweise häufig verknüpft mit einem Integra-         heim, nebenberufliche Fachreferentin und ehrenamtliche Landeskoordinatorin
tionsparadigma, das auf hohen Anforderungen an eine einsei-          des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eV (BumF)
tig individuell zu leistende Anstrengung der „zu integrieren-        in Hessen. Der Beitrag reflektiert die persönlichen Erkenntnisse der Autorin
                                                                     aufgrund ihrer 25-jährigen Erfahrungen in der Arbeit mit jungen Geflüchteten.
den“ jungen Menschen mit Flucht- bzw Migrationsgeschichte        1   Der Beitrag wurde erstellt im Rahmen des Projekts „Gut ankommen – Fach-
beruht. Indem zwischen integrationswilligen und -unwilligen          kräfte qualifizieren. Kindgerechte Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger“.
Personen, als sei dies lediglich eine individuelle Willensent-       Das Projekt wird gefördert durch den europäischen Asyl-, Migrations- und
                                                                     Integrationsfonds (AMIF).
scheidung,3 unterschieden wird, werden rechtliche Integra-       2   Grasshoff/Schröer Forum Erziehungshilfen 2018, 16 (19).
tionshindernisse, gesellschaftlicher Rassismus und struktu-      3   Kunz Forum Erziehungshilfen 2018, 4 (5).

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WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

ten Teilhabe auf der sozialen und rechtlichen Ebene auch in ei-   Die Entwicklungstheorie weist der Adoleszenzphase eine
ner emotional-identifikatorischen Dimension als Gefühl von        zentrale Bedeutung für die Identitätsbildung zu. Diese Le-
gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Akzeptanz verstanden.4       bensphase ist geprägt durch die Dynamik eines biologischen,
Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass die gelin-   psychologischen und soziologischen Übergangs, die mit in-
gende Individuation und Identitätsbildung im Migrationspro-       neren und äußeren Trennungserfahrungen verbunden ist. Die
zess eine grundlegende Voraussetzung ist für eine gelingende      zentralen Entwicklungsthemen bestehen in der Neugestaltung
Integration im Sinne einer Anerkennung und Identifizierung        des Verhältnisses zu den Eltern und eigener Rollen in Beruf,
mit hiesigen Werten und Formen der Lebensführung. Umge-           Partnerschaft und sozialem Umfeld, der Entwicklung eines
kehrt hat die sozial-emotionale Integration für die Entwick-      realistischen Selbst- und Weltbilds und eines sinnhaften Le-
lung einer intakten Identität eine herausragende Bedeutung.5      bensentwurfs.

Im Idealfall mündet dieser komplexe und niemals linear ver-       Die Entwicklungs- und Migrationsforschung sieht in der Mi-
laufende Prozess in ein neues interkulturelles Identitätsge-      gration ein hohes Risiko für eine gelingende Persönlichkeits-
fühl, bei dem die unterschiedlichen Aspekte aus Herkunfts-        entwicklung:
und Aufnahmegesellschaft als Chance für die eigene Iden-          „Ein mehr oder weniger reifes Identitätsgefühl wird durch die Migra-
titätsentwicklung genutzt werden können. Das Konzept der          tion, insbesondere wenn sie in der Adoleszenz geschieht, unweigerlich
                                                                  und nachhaltig erschüttert.“10
„hybriden Identität“ beschreibt die Fähigkeit, mehrere „Hei-
maten“ in die eigene Identität zu integrieren und die dabei       Diese Erschütterung wird meist verschärft durch die fehlen-
bleibenden Ambivalenzgefühle auszubalancieren.6                   de Präsenz der Eltern, die als Halt gebende Identifikationsfi-
Ein Blick in die Praxis zeigt jedoch, dass dieser konstruktive    guren nicht zur Verfügung stehen.
Umgang mit Fremdheitserleben und „interkulturellen Zwi-
schenwelten“7 eher einer idealtypischen Vorstellung von In-       III. Die Phasen des Migrationsprozesses
tegration entspricht. Trotz der überwiegend positiven Hilfe-      In der Migrationstheorie werden die psychische Verarbei-
verläufe ist das emotionale und mentale „Ankommen“ noch           tung einer Flucht- bzw Migrationsbiografie und der Umgang
nicht bei allen jungen Geflüchteten gelungen. Häufig wird der     mit den Anpassungsanforderungen an die neue Lebenssitua-
hohe Betreuungsbedarf sogar erst jetzt – zwei bis drei Jahre      tion als Prozess mit einer regelhaften Abfolge von Phasen be-
nach der Einreise – deutlich und stellt die Fachkräfte vor ho-    schrieben. Diese sind durch spezifische Risiko- und Bewälti-
he fachliche Herausforderungen.                                   gungsmuster bestimmt.
Für Mitarbeitende der Jugendhilfe, die schon vor den hohen        Im Folgenden werden anhand dieses Phasenmodells inner-
Zugangsjahren 2014 bis 2016 mit der Zielgruppe der unbe-          psychische und externe Einflussfaktoren beleuchtet, die die
gleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) gearbeitet ha-         Lebenswirklichkeit junger Geflüchteter in der Jugendhilfe
ben, ist dieses Phänomen nicht neu. Die langjährigen Er-          maßgeblich prägen.
fahrungen der Praxis bestätigen, dass sich die vielschichti-      Oberg beschreibt mit dem Phänomen des „Kulturschocks“11
gen psychosozialen Belastungen nach einem ersten Zur-Ru-          die psychischen Reaktionen auf die Fremdheitserfahrung als
he-Kommen zeigen, wenn erlernte Bewältigungsmuster, zB            einen normalen und sogar unvermeidlichen Teil des Akkultu-
die „Fassade des äußerlichen Funktionierens“, in dem neuen        rationsprozesses. Unabhängig von der ethnischen Zugehörig-
Lebensumfeld nicht mehr aufrechterhalten werden müssen.           keit und jeweiligen Kultur werden in einem u-förmigen Ver-
Es kann zu krisenhaften Entwicklungen kommen, die sich zB         lauf verschiedene Phasen durchlebt, deren Symptomatik, In-
in Form von psychischen Auffälligkeiten, Schul- und Ausbil-       tensität und Dauer individuell unterschiedlich sein können.
dungsabbrüchen, aggressivem Verhalten, Drogen- und Alko-          Einer anfänglichen Euphorie und Neugier auf das Aufnah-
holkonsum bis hin zu suizidalen Handlungen zeigen.                meland – auch Honeymoon-Phase genannt – folgt die Pha-
Diese Problematik überrascht nicht, wenn man sich vergegen-       se der Entfremdung oder Ernüchterung. Kontaktschwierig-
wärtigt, dass die Jugendlichen nach der Ankunft in Deutsch-       keiten treten auf durch sprachliche Barrieren und verwirren-
land von einem mehrdimensionalen Transformationsprozess           de oder verstörende Verhaltensweisen der Mehrheitsbevölke-
betroffen sind: Neben der Verarbeitung traumatisierender Ge-      rung. Man erlebt sich selbst als unzulänglich und schwach.
walt- und Trennungserfahrungen von Bezugspersonen vor             Die Phase der Eskalation ist der Höhepunkt des Kulturschocks
und während der Flucht sind gleichzeitig sowohl die alters-       und wird als erhebliche Stresssituation erlebt, die über Jahre
spezifischen Entwicklungsaufgaben als auch ein Akkultura-         andauern kann. Sie geht einher mit Gefühlen von Angst, Hilf-
tionsprozess zu bewältigen. Der Begriff Akkulturation wird        losigkeit, Traurigkeit und Wertlosigkeit. Die Kommunikation
hier verstanden als Anpassungsprozess, der als Reaktion auf
eine langfristige Kontaktsituation zwischen Mitgliedern ver-      4  Vgl Bohn ua Ich brauche hier nur einen Weg, den ich finden kann. Zwischen-
schiedener Kulturen entsteht und bei einem Individuum oder           bericht des Projektes „Young refugees now“, 2016, 17, abrufbar unter www.
einem Kollektiv bewusste und unbewusste Positionierungen             iss-ffm.de/themenbereiche/migration/subdir1/m_641 (Abruf: 18.9.2018).
                                                                  5 Vgl Feldmann/Seidler/Stock Gissendanner ua Traum(a) Migration, 2013, 61
zwischen fremder und eigener Kultur hervorruft.8                     (73).
King/Schwab beschreiben das psychische Befinden adoles-           6 Vgl Bär Migration im Jugendalter, 2016, 134.
                                                                  7 Gemende Interkulturelle Zwischenwelten, 2002, 15.
zenter Flüchtlinge als eine „Verdoppelung des Fremdheits-         8 S. www.ikud.de/glossar/akkulturation.html (Abruf: 18.9.2018).
und Verlusterlebens, welches durch die Fremdheit der eige-        9 King/Schwab Flucht- und Asylsuche als Entwicklungsbedingungen der Ado-
nen adoleszenten psychophysischen Veränderungen zum ei-              leszenz, 2000, 212.
                                                                  10 Grinberg, L./Grinberg, R. Psychoanalyse der Migration und des Exils, 1990,
nen und die Fremdheit der äußeren Realität zum anderen be-           144.
dingt wird“.9                                                     11 Oberg zit. nach Wagner Kulturschock Deutschland, 1996, 10 ff.

Heft 10 / 2018 JAmt                                                                                                                       427
WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

mit Repräsentant/inn/en der Mehrheitsbevölkerung wird als                     Überleben und die Sicherheit maßgebliche Motive für die
demütigend und als persönliche Zurückweisung empfun-                          Entscheidung zur Flucht sind, kann ein Gefühl der Kränkung
den. Die Sorge um den Identitätsverlust wird als existen-                     über das „Weggeschicktwerden“ bleiben. Wie bei allen Kin-
zielle Bedrohung erlebt und durch Schuldzuweisungen bis                       dern und Jugendlichen, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie
hin zu einer Feindseligkeit gegenüber der Aufnahmegesell-                     aufwachsen können, ist dies ein lebensgeschichtlicher Kon-
schaft kompensiert. Zurückgezogenheit, mangelnde Impuls-                      flikt, der jedoch oft erst in einer späteren Lebensphase das
steuerung und körperliche Beschwerden wie zB Unwohlsein,                      psychische Befinden beeinflusst. Während der Fluchtphase
Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit können weitere Symp-                        müssen die bisher verinnerlichten – meist patriarchalisch ge-
tome sein. In dieser Phase besteht ein hohes Risiko für ei-                   prägten – Männlichkeitsbilder als Überlebensmechanismus
ne psychische Erkrankung und für eine Manifestierung von                      (re-)aktiviert werden. Gefühle wie Heimweh, Wut und Trau-
Entfremdungsgefühlen, die letztlich zu einer dauerhaften Le-                  er um den Verlust der Familie dürfen nicht zugelassen und
benssituation in Parallelstrukturen und somit zu einer Des-                   verarbeitet werden, weil sie der eigenen Männlichkeitskon­
integration führen kann. Wenn diese Krisensituation kon-                      struktion von Stärke, Macht und Durchsetzungsfähigkeit wi-
struktiv bewältigt werden konnte, folgt eine zweistufige Auf-                 dersprechen. Zugleich ist das Männlichkeitsbild in der ado-
wärtsentwicklung: Konflikte können auch als interkulturelle                   leszenten Lebensphase noch instabil und brüchig, vor allem,
Missverständnisse bewertet und entsprechend geklärt wer-                      wenn die Jugendlichen im Herkunftsland oder während der
den. In der Phase der Verständigung entwickelt sich ein Ver-                  Flucht selbst Opfer von körperlicher, physischer oder sexuel-
ständnis für andere Denkweisen und Zusammenhänge. Die                         ler Gewalt geworden sind. Auch das Erleben des physischen
unterschiedlichen kulturellen Spielregeln werden geduldet,                    oder psychischen Zusammenbruchs der Eltern führt zu einer
erlernt und geschätzt.                                                        Erschütterung der bisherigen Geschlechterrollenvorbilder.
Das Modell von Sluzki12 unterteilt den Prozess der Flucht-                    Die Bedeutung der prämigratorischen Situation für die Per-
migration in folgende fünf Phasen: 1. Vorbereitungsphase,                     sönlichkeitsentwicklung sollte nicht nur auf die konkreten
2. Eigentlicher Migrationsakt, 3. Phase der Überkompensie-                    fluchtauslösenden Ereignisse verengt werden. Spezifische
rung, 4. Phase der Dekompensation, 5. Phase der generatio-                    Kenntnisse über die psychischen Folgen eines Aufwachsens
nenübergreifenden Anpassung. Er beschreibt die psychoso-                      in Krisen- und Kriegsgebieten unter andauernden Bedingun-
zialen Symptome ähnlich wie Oberg. Die Begriffe für die je-                   gen von Lebensgefahr, Gewalt, Unrecht und Menschenver-
weiligen Phasen werden daher in diesem Beitrag synonym                        achtung, aber auch über die meist autoritär geprägten Erzie-
verwendet.                                                                    hungsvorstellungen sind für ein professionelles Handeln und
Im Unterschied zum Konzept des Kulturschocks berücksichtigt                   Fallverstehen in der Jugendhilfe unabdingbar.
Sluzki die prämigratorische Situation,13 die aus der Vorberei-                Notwendig ist auch das Wissen um die Auswirkungen einer
tungsphase und dem eigentlichen Migrationsakt bzw der Pha-                    Kindheit in einer manifestierten Fluchtsituation außerhalb des
se der Flucht besteht. Im Gegensatz zu einer geplanten Migra-                 Herkunftslands, in der zB viele afghanische Jugendliche im
tion sind diese durch Bedingungen von Gewalt, Krieg, Verfol-                  Iran als Geflüchtete der zweiten Generation sozialisiert wur-
gung und vom existenziellen Druck des Überlebens geprägt.                     den: ohne eine gesicherte Lebensgrundlage in einem Lager,
                                                                              entwurzelt, im täglichen Ausnahmezustand, ohne Perspekti-
1.    Die prämigratorische Situation
                                                                              ve und Teilhabe an der Gesellschaft, oft als billige und recht-
Bei fluchterfahrenen Kindern und Jugendlichen erfolgt die                     lose Arbeitskraft ausgebeutet und vielfach noch verantwort-
Trennung von den nahestehenden Bezugspersonen meist ab-                       lich für schwache oder kranke Eltern, die selbst durch ihre ei-
rupt und aufgrund von konkreter Gewalteinwirkung oder Be-                     gene Fluchterfahrung traumatisiert sind.
drohung – oft auch in Unwissenheit über den Verbleib der Fa-
milie. Sie ist fast immer mit tiefgreifenden und schmerzvollen                Die zerstörerischen Lebensbedingungen in den Kriegs- und
emotionalen Ereignissen verbunden, wie zB der Moment des                      Krisenländern haben auch nachhaltige negative Auswirkun-
Abschieds von der Mutter, von dem einige Jugendliche inzwi-                   gen auf vormals intakte familiäre Strukturen. Immer mehr
schen erzählen können. Die Phase kurz vor der Flucht wird als                 junge Geflüchtete kommen aus hoch belasteten Familienver-
extrem fremdbestimmt erlebt, vor allem, wenn die Gründe für                   hältnissen und haben zT schon in früher Kindheit innerfami-
die Entscheidung nicht kommuniziert wurden. Sie kann als                      liäre Gewalt und Deprivation erlebt. Einige erzählen zB über
verletzend und ungerecht empfunden werden, wenn die Fami-                     die familiär bedingte Trennung von einem Elternteil, emoti-
lie (zunächst) im Herkunftsland bleibt und man selbst – meist                 onale Vernachlässigung, regelmäßige Misshandlung und se-
als ältestes, gesündestes und männliches Kind – ohne Schutz                   xuellen Missbrauch im engeren Umfeld. Es muss davon aus-
der Eltern in die Fremde geschickt wird, verbunden mit der                    gegangen werden, dass nur wenige Jugendliche sich anver-
Verpflichtung, für die Familie Verantwortung zu übernehmen.                   trauen und über ihre körperlichen und seelischen Verletzun-
„Ich habe immer wieder zu meiner Familie gesagt, dass ich meine kran-
                                                                              gen sprechen können. Daher sollte eine potenzielle innerfa-
ke Mutter nicht alleine lassen kann. Ich kann ohne meine Familie nicht        miliäre Traumatisierung im Laufe des Hilfeprozesses stets
reisen. Aber sie sagten, niemand kann Dir garantieren, dass Dich die Ta-      als eine mögliche Ursache für bestimmte Verhaltenssympto-
liban in Zukunft in Ruhe lassen werden. Sorge dafür, dass du schnell von      me mit in Betracht gezogen werden.
hier verschwindest. Ich war gezwungen, meine Eltern alleine zu lassen.
Jetzt stehe ich hier, ich habe das Gefühl, ich habe alles verloren. Ich ha-   12 Vgl Heinrich-Böll-Stiftung/Cindik (nach Sluzki) Migration, psychische Ge-
be niemanden.“ (Jugendlicher aus Afghanistan)                                    sundheit, transkulturelle Psychiatrie, 2009, abrufbar unter https://heimatkunde.
                                                                                 boell.de/2009/04/18/migration-psychische-gesundheit-und-transkulturelle-
Häufig entsteht dadurch bei männlichen Jugendlichen eine                         psychiatrie (Abruf: 18.9.2018).
sehr ambivalente und belastende Gefühlslage: Obwohl ihr                       13 Heinrich-Böll-Stiftung/Cindik (nach Sluzki) (Fn. 12).

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WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

Das Fehlen von Sicherheit und Geborgenheit und die langan-        an die Aufnahmegesellschaft können jedoch schnell in Frus-
haltende Erfahrung von Unrecht und Diskriminierung können         tration und Überforderung umschlagen.
die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt sehr negativ beein-      Becker beschreibt die Anfangsphase am Ankunftsort bei ge-
flussen. Je nachdem, wie sehr diese Defizite und Deprivati-       flüchteten Menschen anders als bei der „regulären“ Migration
onserfahrungen in das psychische System integriert wurden,        als eine erste Übergangsphase, die oft als schockierend erlebt
kann dies zB im Aufnahmeland in fehlgeleiteten Erwartun-          wird, da der erhoffte sichere Ort nicht gefunden wird.17 Für
gen, forderndem Verhalten und in dem Gefühl von grundle-          viele UMF stellen sich schon rasch nach der Ankunft existen-
gender Benachteiligung zum Ausdruck kommen.                       zielle Probleme in Bezug auf den Aufenthaltsstatus und die
Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung von Keilson         Unterstützung der Familie.
ist für die pädagogische und psychische Unterstützung von
                                                                  Die sog. „Honeymoon-Phase“ ist daher oft der Beginn einer
geflüchteten Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeu-
                                                                  chronischen Übergangssituation, in der ein Ende der Flucht
tung. Traumatisierung wird hier nicht als Reaktion auf ein sin-
                                                                  als nicht möglich erlebt wird. So erhalten viele junge Men-
guläres Ereignis, sondern als Auswirkung einer langandau-
                                                                  schen bereits kurz nach der Einreise belastende Bilder und
ernden Stresssituation definiert, die zu einer Verletzung der
                                                                  Nachrichten aus dem Herkunftsland. Gefühle wie Trauer, Ein-
Persönlichkeitsstruktur führen kann.
                                                                  samkeit und Heimweh können kaum zugelassen oder ausge-
Anders als bei Oberg und Sluzki werden in diesem Konzept          sprochen werden, wenn sie durch die Sorge und das Verant-
Fluchtmigration und ihre Verarbeitung nicht nur als Prozess       wortungsgefühl gegenüber zurückgebliebenen nahen Ange-
verstanden, der sich vorrangig auf einer innerpsychischen und     hörigen überlagert werden. Gleichzeitig besteht ein starkes
individuellen Ebene abspielt, sondern „vielmehr muss die Mi-      Bedürfnis nach Sicherheit, Ruhe und Normalität.
gration in ihrem sozialen und prozesshaften Kontext veror-
                                                                  Kennzeichnend für die Phase der Überkompensation sind ei-
tet werden“.14
                                                                  ne hohe Schutzbedürftigkeit und Vulnerabilität in Bezug auf
Nach dem Modell von Keilson sind die Situation im Her-            die (aufenthalts-)rechtliche sowie auf die psychische Situa-
kunftsland, die Phase der Flucht sowie die Lebenslage im          tion. Zugleich birgt gerade diese sensible Phase ein erhöhtes
Aufnahmeland eigene traumatogene Sequenzen, die sich ku-          Risiko, dass notwendige Unterstützungsbedarfe durch die Ju-
mulieren und das Ausmaß einer Traumatisierung bestimmen.          gendhilfe nicht oder zu spät erkannt werden.
Ob und wie stark die ersten beiden Phasen der Fluchtmigra-
tion traumatisierend wirken, hängt somit wesentlich davon         Denn das zweistufige Inobhutnahmeverfahren, in dem weit-
ab, ob diese in der Exilsituation aufgefangen oder verstärkt      reichende Entscheidungen über den zukünftigen Lebensort
werden.15                                                         im Aufnahmeland, das konkrete Hilfesetting und den Auf-
                                                                  enthaltsstatus getroffen werden, stellt andere Anforderungen
2.   Die postmigratorische Situation                              an die Jugendlichen als die während der bisherigen Biografie
Auch wenn traumatische Erfahrungen bei jungen Geflüch-            erworbenen und unter Kriegs-, Willkür-, Gewalt- und Flucht-
teten nicht in jedem Fall zu einer Traumatisierung im klini-      bedingungen als hochfunktional erlebten Überlebensstrate-
schen Sinne führen, haben die psychosozialen Rahmenbe-            gien. Die hohe Anpassungsfähigkeit in Form eines unauffäl-
dingungen in der postmigratorischen Situation und das Zu-         ligen Funktionierens, aber auch ein erlerntes Misstrauen ge-
sammenwirken individueller und externer Belastungsfakto-          genüber staatlichen Institutionen erschweren die Einschät-
ren16 einen entscheidenden Einfluss auf die weitere psychi-       zung, welches Hilfeangebot dem tatsächlichen sozialpädago-
sche Entwicklung.                                                 gischen und psychologischen Bedarf entspricht.

a)   Die Phase der Überkompensation/Euphorie                      Sowohl bei der Einschätzung von Ausschlussgründen von der
     nach der Ankunft                                             Verteilung während der vorläufigen Inobhutnahme als auch
                                                                  bei der Abklärung des Entwicklungs- und Bildungsstands
Zunächst bedeutet die Anfangsphase am Ankunftsort für Kin-
                                                                  während der regulären Inobhutnahme steht die Jugendhil-
der und adoleszente Geflüchtete einen grundlegenden Wech-
                                                                  fe immer wieder vor grundlegenden Herausforderungen und
sel des Sozialisationskontexts.
                                                                  Fragestellungen: Wie wird damit umgegangen, wenn sich ein
Die Phase der Überkompensation nach dem Modell von Sluz-          junger Mensch am Zuweisungsort falsch verteilt fühlt? Wie
ki bezieht sich idR auf den Zeitraum des ersten Jahres nach der   können „Fehlverteilungen“ korrigiert werden?18 Mit welchem
Ankunft. Die vielfältigen Anpassungsanforderungen im Auf-         professionellen Verständnis von Clearing und Diagnostik und
nahmeland werden zunächst auf der kognitiven Ebene bewäl-
tigt, während Emotionen zu den Verlusten und Entbehrungen         14 Bär 111 (Fn. 6).
verdrängt und kaum zugelassen werden.                             15 Vgl Darstellung und Transformation des Keilsonschen Konzeptes auf Ge-
                                                                     flüchtete in Zimmermann Migration und Trauma, 2012, 42 ff.
Gleichzeitig werden psychische und physische Energien frei-       16 Vgl Sukale ua JAmt, 2016, 174 (175).
gesetzt, indem hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven und die        17 Vgl Becker Ringvorlesung „Zuflucht und Ankommen in der Stadt“. Flücht-
                                                                     linge und die Falle der Entmächtigung, 2015, abrufbar unter https://www.fiw.
Erfüllung der Loyalitäten und Aufträge des familialen Sys-           uni-bonn.de/digitale-gesellschaft/projekte-und-veranstaltungen/archiv/die-
tems möglich erscheinen.                                             welt-im-wandel/zukunftsstadt/media/fotos-02.11.2015/praesentation-david-
                                                                     becker (Abruf: 18.9.2018).
Diese vernunftorientierte Verarbeitung zeigt sich bei UMF zB      18 Vgl Bundesverband für Erziehungshilfe eV (AFET) Stellungnahme des
häufig in unauffälligem und sehr angepasstem Verhalten. Die          AFET-Bundesverbandes für Erziehungshilfe zur Situation unbegleiteter min-
Jugendlichen äußern hohe Bildungsaspirationen und sind sehr          derjähriger Ausländer, unter besonderer Berücksichtigung des Koalitionsver-
                                                                     trages und des Verteilverfahrens nach § 42b SGB VIII, 2018, abrufbar unter
motiviert beim Erlernen der deutschen Sprache. Der hohe An-          www.afet-ev.de/aktuell/AFET_intern/2018/Stellungnahme-AFET-UMA-
spruch an die eigene Leistungsfähigkeit und die Erwartungen          3.Mai-2018.pdf?m=1525344982 (Abruf: 18.9.2018).

Heft 10 / 2018 JAmt                                                                                                                         429
WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

mit welchen Methoden gestalten wir diesen komplexen Pro-             grund des relativ späten Aufnahmealters ohnehin verkürzt
zess?                                                                ist. Der in der Forschung belegte Zusammenhang zwischen
Wie gelingt es, dass sich junge Geflüchtete, deren Lebensge-         Hilfedauer und Hilfeerfolg wird bei dieser Zielgruppe deut-
fühl zutiefst durch Angst, Unsicherheit und Misstrauen ge-           lich bestätigt: Jugendhilfen für junge volljährige Flüchtlin-
prägt ist, unserem für sie undurchschaubaren Hilfesystem an-         ge nach § 41 SGB VIII erwiesen sich als außerordentlich er-
vertrauen und öffnen können? Wie können schon in dieser              folgreich.22
frühen Phase ihre Selbstkonzepte und Lebensentwürfe zum              Neben den individuellen Ressourcen ist das subjektive Wohl-
Tragen kommen?                                                       befinden der jungen Menschen ein relevanter Einflussfaktor
Aufgrund der weichenstellenden Bedeutung des Clearingver-            für eine gelingende Integration.
fahrens für den weiteren Hilfe- und Integrationsverlauf bedarf       Die Studie „Young Refugees“ identifiziert auf der Basis von
es einer beständigen Überprüfung und Weiterentwicklung der           Interviews mit jungen Geflüchteten folgende Dimensionen
fachlichen Standards vor allem mit Blick auf beteiligungs-           des Wohlbefindens, die in hohem Maß mit den og Ressour-
und ressourcenorientierte Handlungskonzepte. Obwohl Res-             cenbereichen übereinstimmen: Möglichkeiten der Mitgestal-
sourcenorientierung schon lange als ein positiver Wirkfaktor
                                                                     tung und des „Gebens und Nehmens“, soziale Kontakte in-
in der Jugendhilfe gilt, werden die Fähigkeiten und Potenzi-
                                                                     nerhalb und außerhalb der Regelstrukturen, die Bedürfnis-
ale fluchterfahrener Kinder und Jugendlicher nicht immer als
                                                                     se nach Eigenständigkeit, Sicherheit und Werteorientierung,
solche wahrgenommen und anerkannt.
                                                                     Vertrauensbeziehungen und stabilisierende Kontakte in ei-
Empirische Erhebungen sowie langjährige Erfahrungen in der           ner unsicheren Situation haben eine hohe Relevanz für ihre
Praxis zeigen jedoch, dass sie idR über wichtige Kernkompe-          Lebensqualität.23
tenzen für eine umfassende Teilhabe und Integration verfü-
gen. Besonders hervorgehoben werden hier die grundlegende            b)    Die Phase der Dekompensation/Eskalation
Fähigkeit, emotionale Bindungen einzugehen, die Anerken-             Gleichzeitig sind jedoch Anzeichen für eine gegenläufige Ent-
nung und Wertschätzung von gesellschaftlichen Normen, die            wicklung erkennbar, die typisch sind für die Phase der Es-
Identifizierung mit Formen der Lebensführung in Deutsch-             kalation bzw Dekompensation. Trotz der Vielzahl erfolgrei-
land sowie eine hohe Lernmotivation.19                               cher Lebenswege existieren wirkmächtige Einflussfaktoren,
Anhand der Ressourcenskala des EVAS-Dokumentationssys-               die die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden jun-
tems20 lassen sich die Wechselwirkungen zwischen gelingen-           ger Menschen mit Fluchterfahrungen stark beeinträchtigen
der Integration und gelingender Individuation im Rahmen der          und eine Entfaltung der genannten Ressourcen erschweren.
Hilfeverläufe von UMF sehr gut aufzeigen.21                          Laut Oberg und Sluzki verdichten sich in dieser Phase die Ri-
Zu den psychosozialen Ressourcen und Zielbereichen zäh-              siken für psychische Störungen und ein Scheitern von Inte­
len im Einzelnen:                                                    grationsprozessen. Die eingangs beschriebenen Symptome
                                                                     eines Kulturschocks zeigen sich auch bei jungen Geflüchteten
•     Soziale Integration: sozial-kommunikative Kompeten-
      zen, die Fähigkeit, Freundschaften und Beziehungen zu          auf der Ebene der körperlichen Verfassung, des subjektiven
      pflegen oder Verantwortung in Gruppen übernehmen zu            Erlebens und des Verhaltens.
      können;                                                        Obwohl neu zugewanderte Jugendliche erschwerte Individu-
•     Selbstkonzept und Selbstsicherheit: selbstbewusstes Be-        ationsbedingungen haben, werden ihnen im Vergleich zu hier
      wältigen von Lebensaufgaben unter Berücksichtigung ei-         aufgewachsenen Gleichaltrigen selten Experimentierräume
      gener Interessen;                                              im Sinne eines psychosozialen Moratoriums (Stichwort „ver-
•     Autonomie: selbstständige Gestaltung der eigenen Le-           längerte Adoleszenz“) zugestanden, in denen sie ihre beruf-
      benspraxis;                                                    liche, soziale und persönliche Identität „ausprobieren“, sich
•     Überzeugungen und Bewältigungsstrategien: flexible             neu organisieren, unterschiedliche Aspekte des alten und neu-
      Vorgehensweisen zur Problemlösung sowie ein gefes-             en Systems integrieren und ihre Verlusterfahrungen „in Ru-
      tigtes Wertesystem.                                            he“ verarbeiten können.
Auf der Grundlage dieser Ressourcenbereiche wurde bundes-            „Vielmehr ist diese biografische Phase geprägt von einer Vielzahl kom-
weit die Effektivität von mehr als 40.000 Erziehungshilfen           plexer Entscheidungen, auf die sie kaum oder keinen Einfluss haben.“24
evaluiert. Auch die Vielzahl gelungener Entwicklungs- und
Hilfeprozesse von unbegleiteten minderjährigen und jungen
                                                                     19 Bohn ua 16. (Fn. 4)
volljährigen Flüchtlingen konnte damit dokumentiert werden.          20 Macsenaere/Knab Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS), 2004.
Daran lässt sich auch ermessen, wie viel die Jugendhilfe in          21 Vgl Macsenaere ua Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugend-
                                                                        hilfe, 2018, 55.
den vergangenen Jahren geleistet hat.
                                                                     22 Vgl Macsenaere ua 91 (Fn. 21).
So kommt die vom Bundesverband katholischer Einrichtun-              23 Vgl Alicke ua Abschlussbericht des Projektes Young Refugees NRW: Chan-
                                                                        cen und Herausforderungen kommunaler Integration in der Arbeit mit jun-
gen in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugend-             gen Geflüchteten. Handlungsansätze für die Fachpraxis, 2017, 2, abrufbar
hilfe gGmbH (IKJ), Mainz, durchgeführte Evaluation von                  unter www.iss-ffm.de/themenbereiche/migration/subdir1/m_789 (Abruf:
Hilfeprozessen bei UMF zu dem Ergebnis, dass die positi-                18.9.2018).
                                                                     24 Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gGmbH/Strohm Programm „Willkom-
ven Effekte sogar das Niveau der Jugendhilfeverläufe von                men bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge“, Themendossier. Zu-
anderen Zielgruppen übertreffen.                                        gänge, Übergänge, Anschlüsse für junge Geflüchtete gestalten, 2018, 3 (6),
                                                                        abrufbar unter www.willkommen-bei-freunden.de/fileadmin/Redaktion/
Dies ist umso erfreulicher vor dem Hintergrund, dass die Auf-           Downloads/Themendossier_Zugaenge_UEbergaenge_Anschluesse_fuer_
enthaltsdauer von jungen Geflüchteten im Hilfesystem auf-               junge-Gefluechtete_gestalten.pdf (Abruf: 18.9.2018).

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WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

Es ist eine Kombination aus hohen Anpassungsanforderun-                   gration beitragen, stellen sich die erwarteten Erfolge jedoch
gen an die neue Lebensumwelt, der weiterbestehenden be-                   nicht in jedem Fall ein.
lastenden Anbindung an das Herkunftsland mit hier zu be-                  Längere Wartezeiten auf einen Schulplatz, das Gefühl der
wältigenden externen Barrieren und Exklusionserfahrun-                    Ausgrenzung durch den Unterricht in reinen Flüchtlings-
gen, die ihre Handlungsräume stark einschränken. Dies                     klassen, fehlende soziale Kontakte zu deutschen Gleichalt-
kann zu einem Gefühl des Scheiterns in mehrfacher Hin-                    rigen, Erfahrungen von Alltagsrassismus sowie begrenzte
sicht führen.                                                             Zugänge zu Fördermaßnahmen führen zu enttäuschten Bil-
Doch welche konkreten inneren und externen Belastungsfak-                 dungserwartungen und Überforderungssituationen. Trotz
toren kommen hier zum Tragen?                                             der Vielfalt an unterschiedlichen Bildungsangeboten im
                                                                          Übergang von Schule und Beruf wird durch die Unterschei-
Belastende Doppelbotschaften und die Verwehrung von Zu-
                                                                          dung zwischen Herkunftsländern mit und ohne Bleibeper-
kunftsperspektiven
                                                                          spektive die gewünschte Integration in Arbeit und Ausbil-
Eine ungewisse Bleibeperspektive in Verbindung mit den                    dung für ganze Personengruppen, zB die Afghanen, mas-
aktuellen Debatten um die Flüchtlingspolitik, die öffentlich              siv erschwert. Die Zugänge für Geflüchtete zu Sprachför-
Kritik an der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Mi-                  derung, Ausbildungsförderung und zur Ausbildungsduldung
gration und Flüchtlinge (BAMF), die Ankündigung von Wi-                   müssen unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus er-
derrufsverfahren und die regelmäßigen Abschiebeflüge nach                 leichtert werden.
Afghanistan verfestigen selbst bei jungen Menschen mit ei-
                                                                          Der aktuell anstehende Beginn einer berufsvorbereitenden
nem Schutzstatus Zukunftsängste und Frustrationsgefühle.
                                                                          Maßnahme oder Ausbildung löst bei einigen jungen Men-
Bisherige Anpassungs- und Integrationsleistungen werden
                                                                          schen Versagensängste aus und es bedarf einer beständigen
von ihnen nicht mehr als sinnvoll und zielführend erlebt.
                                                                          Stabilisierung und Ermutigung durch die Betreuungskräfte.
Viele der jungen Volljährigen aus Afghanistan reagieren auf               An diesen Reaktionen zeigt sich die grundlegende psychi-
die negative Entscheidung ihres Asylantrags erschüttert und               sche Belastung, die durch unbekannte Situationen und neue
verzweifelt. Die Folge sind Angstzustände, depressive Rück-               Lebensabschnitte wieder verstärkt wird. Die Frustration auf-
züge, Albträume, suizidale Handlungen oder Rückkehrgedan-                 grund eines nicht erreichten Schulabschlusses mündet beson-
ken. Neben der realen Angst vor einer Abschiebung wird die                ders bei Jugendlichen mit einem niedrigen Bildungshinter-
Nicht-Anerkennung der Fluchtgründe aus ihrer Sicht als ei-                grund in eine Schulmüdigkeit und in eine geringe Motivati-
ne persönliche Abwertung der eigenen Leiderfahrungen er-                  on, schwierigere Arbeitsphasen durchzuhalten.
lebt, die immer noch nachwirken und an einem vermeintlich
                                                                          Kennzeichnend für die Phase der Dekompensation sind
sicheren Ort nicht verarbeitet werden können.
                                                                          Schamgefühle und das Empfinden der eigenen Wertlosig-
Zudem werden negative Erfahrungen mit Behörden im Hei-                    keit: Der Wunsch, ein Teil der Gesellschaft zu sein, weicht
matland und damit verbundene Gefühle der Demütigung und                   dem Gefühl des persönlichen Scheiterns durch die zuneh-
Erniedrigung reaktiviert.                                                 mende Erkenntnis, dass die eigene Sprache und die mitge-
In dieser unsicheren Lebenslage sind die jungen Geflüchteten              brachten Fähigkeiten in der neuen Umgebung nutzlos sind.
neben den oft widersprüchlichen Loyalitätsverpflichtungen                 Besonders junge Menschen mit einer geringen schulischen
des familiären Systems („Sei erfolgreich.“ „Verleugne nicht               Vorbildung haben oft das Ziel, sich schnell in den Arbeits-
Deine Herkunft.“ „Nutze Deine Chance.“ „Hole uns nach.“                   markt zu integrieren und ökonomisch unabhängig zu wer-
„Unterstütze uns finanziell.“)25 zugleich mit verwirrenden                den. Hilfreich können hier niedrigschwellige Jugendhilfe-
Doppelbotschaften des Aufnahmesystems konfrontiert, die                   angebote sein, die die pädagogisch begleitete Verselbststän-
zu massiven psychischen Konflikten führen können: „Inte­-                 digungsphase mit dem Erwerb von Teilqualifikationen kom-
griere Dich schon mal, aber eigentlich will man Dich hier                 binieren.28
nicht haben.“ „Gib Dein Bestes, aber wir wissen nicht, ob Du              Der Einfluss der zurückbleibenden Familienangehörigen
wirklich bleiben kannst.“
                                                                          Die psychoanalytische Migrationstheorie weist den Reakti-
Bär betont die Bedeutung der gesellschaftlichen Anerken-                  onen der Zurückbleibenden eine wesentliche Einflussgröße
nung des Traumas für die psychischen Verarbeitungsmög-                    auf das psychosoziale Befinden im Migrationsprozess zu.29
lichkeiten:
                                                                          Die Jugendlichen sind Hoffnungsträger ihrer zurückbleiben-
„Durch die dauerhafte Verwehrung von Sicherheit und Zukunftsper­          den Familien und es liegt ein hoher Druck auf ihnen, dieser
spektiven entsteht eine paradoxe Situation, in der vonseiten der Auf-
                                                                          Verantwortung gerecht zu werden. Auch bei jungen Geflüch-
nahmegesellschaft Integration gefordert wird, diese aber gleichzeitig
von offizieller Seite systematisch verhindert wird.“26                    teten ist die Flucht meist verbunden mit dem Wunsch der Fa-
                                                                          milie nach einem Bildungsaufstieg.30
„Wenn jedoch über Jahre keine Räume der Sicherheit und der Trauer
über das Verlorene gelebt werden konnten, ist auch in Zeiten des (äuße-
ren) Friedens das einzige, was den Betroffenen bleibt, das Trauma im-     25 Henkel ua/Wiesinger Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen, 2018,
                                                                             252 (259).
mer wieder unbewusst zu reinszenieren.“27                                 26 Bär 101 (Fn. 6).
                                                                          27 Bär 113 (Fn. 6).
Barrieren bei den Bildungschancen                                         28 Ein innovatives Jugendhilfeangebot, das ein Betreutes Jugendwohnen mit ei-
Obwohl Bildungschancen und Zugänge zum Arbeitsmarkt ei-                      ner beruflichen Qualifizierung verbindet, wurde zB von dem Jugendhilfeträ-
                                                                             ger Hephata Hessisches Diakoniezentrum eV in Schwalmstadt entwickelt.
ne zentrale Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung ha-              29 Bär 103 (Fn. 6).
ben und in hohem Maß zu einer kulturellen und sozialen Inte-              30 Vgl Bär 106 (Fn. 6).

Heft 10 / 2018 JAmt                                                                                                                               431
WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

Dieser Erwartungsdruck findet nicht nur auf der innerpsy-            Weggang einer Betreuungskraft zu einem Vertrauensverlust
chischen Ebene statt, sondern kann sehr real und stets prä-          führen und ein weiteres Einlassen auf „bezahlte“ Beziehungs-
sent sein, indem Informationen aus dem Heimatland unmittel-          angebote erschweren.
bar über soziale Netzwerke kommuniziert werden. Die Tren-            Einflüsse der Community
nungs- und Verlusterlebnisse setzen sich auch nach der An-
kunft in Deutschland fort und eine bisher erreichte psychische       Ein weiterer Einflussfaktor auf die Lebensqualität und Selbst-
Stabilität kann immer wieder neu durch Nachrichten über den          findung der neu zugewanderten Jugendlichen sind die Netz-
Tod oder eine schwere Erkrankung naher Angehöriger ge-               werke der ethnischen Communities. Dazu gehören hier leben-
fährdet werden.                                                      de Familienangehörige sowie Gleichaltrige und Landsleute
                                                                     aus den Herkunftsländern. Diese Kontakte können stabilisie-
Manche junge Menschen wirken wie „ferngesteuert“ durch               rend wirken oder aber die innere Zerrissenheit der Jugendli-
den Einfluss, den Eltern oder nahe Angehörige aus der Fer-           chen noch verstärken, je nachdem, ob wichtige Bezugsperso-
ne auf ihr Handeln, ihr Wohlbefinden und letztlich auf den           nen aus der Community der Jugendhilfemaßnahme offen oder
Hilfeprozess ausüben. Überhöhte Erwartungen können vor               kritisch gegenüberstehen. Oft sind diese Einflüsse im Hinter-
allem dann, wenn sich die Familie noch in einer existenzi-           grund sehr wirkmächtig, aber nicht immer für die Fachkräf-
ell bedrohlichen Situation befindet, zu massiven Schuldge-           te transparent und einschätzbar. Versuche, hier lebende An-
fühlen führen.                                                       gehörige in den Hilfeprozess einzubinden, stoßen häufig auf
Je mehr realisiert wird, dass der familiäre Auftrag nicht er-        Widerstände oder Misstrauen. An dieser Stelle bedarf es noch
füllt werden kann, dass überzogene Bildungserwartungen, die          spezifischer Handlungsansätze, wie Personen aus der Com-
finanzielle Unterstützung oder der rasche Familiennachzug            munity für eine Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe gewon-
nicht bzw nicht in der erhofften Zeit umsetzbar sind, desto          nen werden können.
häufiger kann dies einen psychischen Zusammenbruch aus-              Obwohl die Peergroup als ein wichtiger Schutzfaktor für be-
lösen. Manche Jugendliche vermeiden ihre Versagens- und              lastete Jugendliche und Heranwachsende gilt, ist ihre spezi-
Schamgefühle, die Angehörigen zu enttäuschen, indem sie              fische Bedeutung für die Identitätsentwicklung fluchterfah-
gegenüber der Herkunftsfamilie falsche Versprechungen                rener Jugendlicher ein Phänomen, das bisher noch nicht in
aufrechterhalten, ihre tatsächliche Lebenssituation nur dif-         den Fokus der Forschung gerückt ist. Beobachtungen aus der
fus kommunizieren, was letztlich sogar zur Konstruktion ei-          Praxis bestätigen, dass Peergroup-Kontakte resilienzfördernd
ner Lebenslüge führen kann. Eine andere Verarbeitungsform            wirken oder aber bestehende Machtstrukturen und Konflik-
kann das zwanghafte und realitätsleugnende Festhalten am             te innerhalb und außerhalb des institutionellen Rahmens der
familiären Auftrag sein, das den gesamten Hilfeverlauf und           Einrichtung oder der Schulklasse verschärfen können. Wenn
die Entwicklung eines realistischen Selbstbilds erheblich er-        diese negativen Gruppendynamiken eskalieren, ist eine ra-
schwert.                                                             sche Intervention der Pädagog/inn/en notwendig. Zugleich
Obwohl diese Belastungssituation nicht immer durch die Ju-           entsteht dadurch ein Lernfeld, in dem die jungen Geflüchteten
gendhilfe beeinflusst und aufgefangen werden kann, sollten           wichtige Erfahrungen im Bereich der konstruktiven Konflikt-
die familiären Aufträge im Rahmen der Betreuung thema-               bearbeitung sammeln können, zB mithilfe von bewährten Me-
tisiert werden. Transnationale Familienkonstellationen sind          thoden wie Mediations- und Wiedergutmachungsverfahren.
eine Realität in der pädagogischen Praxis geworden und es            Viele Jugendliche beziehen Informationen über ihre komple-
gilt, unter Einbeziehung der Wünsche der jungen Geflüchte-           xe rechtliche Situation durch Kontakte zur Community und
ten neue Formen der Elternarbeit in diesem Kontext zu ent-           anderen Geflüchteten, was ein Risiko für Fehlinformationen
wickeln.31                                                           beinhaltet und Ängste, zB im Hinblick auf das Asylverfahren,
Konflikte und Belastungen innerhalb des Jugendhilfesystems           sich noch potenzieren. Gezielte gruppenpädagogische Ange-
                                                                     bote für Peergroups können ein Schlüssel dafür sein, Vertrau-
Die sozialbedingte Unkenntnis über die Abläufe, Regeln und
                                                                     en zu Vertreter/inne/n des Jugendhilfesystems und zu institu-
Zuständigkeiten in institutionalisierten Hilfeformen erfordert
                                                                     tionalisierten Beziehungsangeboten aufzubauen.
grundsätzlich eine hohe Anpassungsleistung der Jugendli-
chen an das Kinder- und Jugendhilfesystem.                           Gute Erfahrungen gibt es zB mit Infoveranstaltungen zum
                                                                     Asylverfahren durch Rechtsanwält/inn/e/n, Verfahrensbera-
Das Zusammenleben mit Gleichaltrigen kann je nach Grup-
                                                                     ter/innen oÄ, die im Beisein der Vormünder/innen, der Fach-
penzusammensetzung in der Einrichtung einen weiteren
                                                                     kräfte aus den Jugendämtern und Einrichtungen stattfinden.
Stressfaktor bedeuten, vor allem wenn sich unter den ge-
                                                                     So erhalten die jungen Geflüchteten von allen Beteiligten ein-
flüchteten Jugendlichen Konkurrenzkonflikte und Macht-
                                                                     heitliche Informationen, was Verunsicherung und Ängste ab-
strukturen zB in Bezug auf Ethnie, Religion, Aufenthaltssta-
                                                                     baut.
tus, Bildungsabschluss, finanzielle Ressourcen und Lebens-
stil herausbilden. Der pädagogische Umgang mit Jugendli-             Unsichere Lebensorte
chen, die in der gleichen Einrichtung mit völlig unterschied-        Obwohl eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation für
lichen Bleibe- und Bildungsperspektiven leben, ist extrem            die soziale Integration eine entscheidende Rolle spielt, lässt
herausfordernd.                                                      sich das Bedürfnis der jungen Volljährigen nach einem selbst-
Die hohe Mitarbeiterfluktuation und der Mangel an qualifi-           ständigen Leben im eigenen Wohnraum nur unter schwie-
zierten Fachkräften in der Jugendhilfe bedeutet, dass fachli-        rigen Bedingungen und mit langen Wartezeiten realisieren.
che Standards in Bezug auf den Wirkfaktor Beziehungsqua-
lität nicht immer eingehalten werden können. So kann zB der          31 Vgl Breithecker JAmt 2018, 304.

432                                                                                                           Heft 10 / 2018 JAmt
WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

Gute Entwicklungsprozesse werden dadurch blockiert und           Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung hebt her-
verstärken das Gefühl, sich in einer „ewigen“ Warteschlei-       vor, dass die chronische Stresssituation in der Aufnahmege-
fe zu befinden.                                                  sellschaft eine eigene traumatische Sequenz darstellt, wenn
Jedoch stellen sich nicht alle Kommunen der Herausforde-         durch die soziopolitischen Rahmenbedingungen keine Ver-
rung, Maßnahmen zur Schaffung von Wohnraum im Rahmen             arbeitungsmöglichkeiten der Leiderfahrungen zugestanden
der Verselbstständigung oder im Anschluss an die stationä-       werden.35 Becker beschreibt diese anhaltende psychische
re Jugendhilfemaßnahme zu ergreifen. Vielmehr müssen die         Belastung bei geflüchteten Menschen als eine chronifizier-
jungen Heranwachsenden befürchten, in eine Gemeinschafts-        te Übergangssituation, vor allem, wenn die Rückkehr nicht
oder Obdachlosenunterkunft entlassen zu werden, was alle         ausgeschlossen werden kann.36 Hat sich die Erfahrung ei-
bisherigen Anstrengungen konterkariert.32 Wie lässt sich zB      nes „Niemals-Ankommen-Könnens“ als Lebensmuster ver-
eine begonnene Berufsausbildung in einem entfernt gelege-        festigt, erschwert dies massiv das Einlassen auf vertrauens-
nen Handwerksbetrieb durchhalten, wenn man dafür um 5 Uhr        volle Beziehungen und Hilfsangebote.
morgens aufstehen muss und sich ein Zimmer mit drei er-          Daher bedarf es auch einer weitergehenden Qualifizierung
wachsenen Männern teilt, die auf die Bedürfnisse ihres Mit-      hinsichtlich des pädagogischen Umgangs mit „schwierigen“
bewohners wenig Rücksicht nehmen?                                Jugendlichen. Hierzu gehören zB auch Konzepte und Betreu-
Gefühle der Entfremdung und Heimatlosigkeit verfestigen          ungsangebote für junge Geflüchtete mit einer Suchtproble-
sich                                                             matik.

Ein weiterer postmigratorischer Belastungsfaktor ist die Aus-    Obwohl die Ursachen, die das Risiko für psychische Erkran-
einandersetzung mit der Komplexität unseres Gesellschafts-       kungen und Desintegrationstendenzen begünstigen, haupt-
systems. Undurchschaubare Bedeutungszusammenhänge                sächlich außerhalb des Kinder- und Jugendhilfesystems lie-
und Reaktionen aus dem sozialen Umfeld können ex­treme           gen, ist es ein zentraler Auftrag der Jugendhilfe und ihrer Ko-
Verunsicherung und Verwirrung auslösen und das eigene            operationspartner, die jungen Menschen zu stabilisieren und
Selbstbild erschüttern. Die jungen mehrheitlich männlichen       sie aus einer destruktiven Orientierungslosigkeit herauszu-
Geflüchteten erleben zB häufig, dass ihre bisher verinner-       führen.
lichten Männlichkeitsbilder, durch die sie Verantwortung für     Damit wird den beteiligten Akteur/inn/en, wie eingangs er-
sich und andere übernehmen konnten, hier infrage gestellt        wähnt, ein strukturell widersprüchlicher Auftrag zugewiesen.
und als defizitär wahrgenommen werden. Mit den Eigen-            Diesem kann die Jugendhilfe nur begegnen, indem sie einem
schaften „jung, männlich, muslimisch“ stoßen sie in der Ge-      auf die persönliche Bringschuld verkürzten Integrationsver-
sellschaft häufig auf vielfach auch medial erzeugte negative     ständnis ein eigenständiges und subjektorientiertes Integra-
Zuschreibungen und Vorurteile.33                                 tionskonzept entgegensetzt, das fachpolitisch entsprechend
Laut Oberg und Sluzki34 ist das subjektive Erleben wäh-          vertreten werden muss.
rend der Eskalationsphase stark geprägt von Entfremdung          Essenzielle Voraussetzung hierfür ist , dass dieser idR hoch-
und Orientierungslosigkeit, dh dem Gefühl, grundsätzlich         motivierten Gruppe neu Zugewanderter während der Adoles-
nicht am „richtigen Ort“ und nicht gewollt zu sein. Die-         zenz Möglichkeiten des sozialen Lernens zugestanden wer-
se negativen Emotionen werden häufig mit einer Idealisie-        den, in denen sie sich sowohl in Bezug auf ihre Identitäts-
rung des Herkunftslands sowie Schuldzuweisungen an die           entwicklung als auch auf ihre beruflichen Perspektiven ori-
Aufnahmegesellschaft und ihre Repräsentanten (zB Sozial-         entieren, ausprobieren und ihre Zukunft selbst mitgestalten
arbeiter/innen, Lehrer/innen und Behördenmitarbeiter/in-         können.
nen) abgewehrt. Frühere nicht verarbeitete Demütigungs-
                                                                 c)    Die Phase der Verständigung
erfahrungen werden reaktiviert und zeigen sich oft an der
Angst, benachteiligt zu werden, oder in Schwierigkei-            In der Phase der Verständigung bzw Reorganisation gelingt
ten, eine Schwäche oder einen Fehler einzugestehen. Die          es allmählich, eine realistische Sichtweise auf die Herkunfts-
Grenzsetzungen der Betreuungskräfte werden dann häu-             und auf die Aufnahmegesellschaft zu finden. Trauerprozes-
fig als persönliche Ablehnung und Verweigerung eigener           se und Identitätskonflikte dauern meist noch an, beeinträch-
Rechte missverstanden.                                           tigen jedoch das Selbstbild und die Handlungsfähigkeit nicht
                                                                 mehr so stark.
Meist unbewusste (Re-)Inszenierungen von Konflikten auf
einer äußerlichen Ebene (zB bei der Einhaltung von Regeln        Viele der jungen Geflüchteten können zunehmend nachvoll-
oder beim Umgang mit Geld) erschweren eine Auseinander-          ziehen, wie Bildungs- und Hilfesysteme funktionieren, sie
setzung mit pädagogischen Bezugspersonen auf einer tieferen      verstehen zB die Bedeutung eines Hilfeplangesprächs bes-
Ebene und den Aufbau einer Vertrauensbeziehung.
                                                                 32 Vgl AFET-Stellungnahme vom 3.5.2018 zur Situation unbegleiteter minder-
Durch das kumulative Zusammenwirken der dargestellten               jähriger Ausländer (Fn. 18).
Belastungsfaktoren ist die Lebensphase junger Menschen mit       33 Sehr empfehlenswerte Anregungen für die pädagogische Arbeit bietet das
Fluchterfahrung häufig stark geprägt durch Gefühle perma-           Bundesforum Männer eV mit dem Projekt „Flucht, Migration, Integration –
                                                                    Geschlechterreflektierte Arbeit mit männlichen Flüchtlingen“, abrufbar un-
nenter Überforderung und extremer Verunsicherung. Schwan-           ter www.movemen.org (Abruf: 18.9.18).
kende Stimmungslagen, Einsamkeitsgefühle, sozialer Rück-         34 Vgl Heinrich-Böll-Stiftung/Cindik (nach Sluzki) (Fn. 12); Oberg (nach Wag-
zug, Misstrauen und eine negative Sicht auf die Zukunft und         ner) 10 ff (Fn. 11).
                                                                 35 Vgl Becker Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten, 2006,
die Welt sind Reaktionen, die ein sicheres traumapädagogi-          190 ff.
sches Handeln der Fachkräfte erfordern.                          36 Vgl Becker Ringvorlesung (Fn. 17).

Heft 10 / 2018 JAmt                                                                                                                      433
WIESINGER, INTEGRATION UND IDENTITÄTSBILDUNG JUNGER GEFLÜCHTETER IN DER JUGENDHILFE

ser oder interpretieren formale Abläufe und Wartezeiten nicht        renziert zu würdigen und einzuschätzen, ob vor diesem Hin-
ausschließlich als eine persönliche Zurücksetzung.                   tergrund ein sozialpädagogischer Unterstützungsbedarf be-
Die Anerkennung bisheriger kognitiver und kommunikativer             steht.39 Auf der Grundlage dieser fachlichen Einschätzung ist
Integrationsleistungen, wie das Erlernen der Sprache sowie           dann eine adäquate Hilfeform zu ermöglichen.
schulische und berufliche Erfolge, trägt erheblich dazu bei,         Wie eingangs benannt, ist der empirisch belegte Zusammen-
die Risiken der Eskalationsphase zu reduzieren. Ebenso wich-         hang zwischen Hilfedauer und Hilfeerfolg bei der Adressaten-
tig ist die Wertschätzung der geleisteten emotionalen Anpas-         gruppe der UMF noch signifikanter. Der Wirkfaktor Hilfedau-
sung, damit hiesige Werte, Rechte und Leistungen als Chan-           er sollte vor dem Hintergrund des Kulturschock- bzw Phasen-
ce gesehen und genutzt werden.                                       modells bei der fachlichen Bewertung für eine (Weiter-)Ge-
Im Folgenden werden drei ineinander greifende und sich er-           währung der Hilfe eine wichtige Rolle einnehmen. Vielfach
gänzende Handlungsansätze kurz vorgestellt, die im Zusam-            wird durch rückblickende Einschätzungen der jungen Erwach-
menspiel mit zentralen Wirkfaktoren der Hilfen zur Erziehung         senen selbst sowie der Fachkräfte bestätigt, wie essenziell es
(zB Beteiligungs- und Beziehungsqualität und Bedarfsorien-           für den weiteren Lebensweg war, dass die Jugendhilfemaßnah-
tierung im Hilfesetting) das eingangs geschilderte Bedürfnis         me trotz krisenhafter Situationen während der Eskalationspha-
der jungen Geflüchteten nach Zugehörigkeit und Werteori-             se fortgesetzt wurde. Denn oft kann das Unterstützungsange-
entierung aufnehmen und damit einen gelingenden Integra-             bot von den jungen Geflüchteten erst als eine Chance angenom-
tionsprozess gezielt unterstützen. In zahlreichen Jugendhil-         men werden, wenn die Talsohle der Eskalationsphase durchlebt
feeinrichtungen und Schulen gibt es hierzu bereits gute Er-          und überstanden wurde. Gelingt es den Betreuungskräften, eine
fahrungen.                                                           Halt gebende Beziehung aufzubauen, fällt es den Jugendlich-
                                                                     ten anschließend leichter, bisher nicht eingestandene Bedürf-
Diese können jedoch nur dann wirksam werden, wenn für jun-
                                                                     nisse nach Verbundenheit und Nähe zuzulassen.40
ge Menschen mit Fluchterfahrung zwei grundlegende Schlüs-
selkategorien in den Hilfen zur Erziehung erfüllt sind: Die Zu-      Die Berücksichtigung dieser Prozesse setzt jedoch eine fachli-
gänge zu Leistungen sowie gute Übergänge und Anschlüsse              che Haltung und Entscheidungskultur voraus, die einer nach-
am Ende der Hilfemaßnahme.                                           haltigen Integration den Vorrang einräumt vor einer vorder-
                                                                     gründigen Kostenreduzierung und vorschnellen Verlagerung
IV. Fachliche Anforderungen an die Leistungs­                        der Bedarfe in andere Sozialhilfesysteme.
    gewährung                                                        2.     Individuelle und flexible Übergangsbegleitung
1.    Anerkennung der Jugendhilfebedarfe                                   ­sicherstellen
Die immer wieder aufgestellte pauschalisierende Unterstel-           Der aktuell hohe Bedarf an veränderten Betreuungssettings in
lung einer „Überlebensselbstständigkeit“ geflüchteter Ju-            Form von Verselbstständigungsgruppen und Betreutem Woh-
gendlicher und die Verharmlosung ihrer Hilfebedarfe als le-          nen ist Ausdruck der erfolgreichen Hilfeverläufe der jungen
diglich „migrationstypische Schwierigkeiten“37 ist nicht halt-       Menschen, die sich nun in ihrem letzten Schritt zu einem ei-
bar und letztlich verantwortungslos, wenn auf dieser Grund-          genverantwortlichen Erwachsenenleben befinden. Die Um-
lage Leistungen eingeschränkt oder verfrüht beendet werden.          setzung eines sog. „Übergangsmanagements“ für junge voll-
Die in diesem Beitrag dargestellten sozialisationsbedingten          jährige Geflüchtete ist bereits in vielen Kommunen in vol-
Bedarfe, Verluste und biografischen Brüche verbunden mit             lem Gange.
den Mehrfachbelastungen des Migrationsprozesses sind gra-            Der häufig vorgetragene Wunsch nach mehr Selbstbestim-
vierende Risikofaktoren für die Identitätsbildung und psy-           mung und eigenständiger Lebensführung sollte jedoch nicht
chische Reifung. Bei adoleszenten Geflüchteten führen sie            pauschal mit einem fehlenden Bedarf an Halt und Orientie-
idR zu einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwick-            rung durch erwachsene Bezugspersonen gleichgesetzt wer-
lung, die in vielfältigen Formen und Störungen zum Ausdruck          den.
kommen kann.
                                                                     Wie viele Menschen in der Adoleszenzphase unterschätzen
Diese Bedarfe ändern sich nicht schlagartig mit dem Errei-           auch heranwachsende Geflüchtete oft die Anforderungen, die
chen der Volljährigkeit. Obgleich das SGB VIII in § 41 bis zur       ein eigenverantwortliches Leben außerhalb des geschützten
Vollendung des 21. Lebensjahrs regelhaft eine Anschlusshil-          Rahmens einer Jugendhilfeeinrichtung an sie stellt. Häufig
fe für junge Volljährige vorsieht, besteht jedoch in manchen         kommt es gerade in dieser Phase des ersten Alleinlebens zu
Kommunen ein Umsetzungsdefizit, indem dieser Rechtsan-               einem Wiederaufleben früherer Verlust- und Versagensängste.
spruch grundsätzlich sehr restriktiv gewährt oder ganz ver-
weigert wird.38 Es widerspricht jedoch den integrativen und          37 Vgl OVG Bremen 13.12.2017 – 1 B 136/17, JAmt 2018, 169 (170 f mit Hinw.
inklusiven Zielsetzungen der Jugendhilfe, ihre pädagogische             für die Praxis).
Leistung letztlich darauf zu reduzieren, die Jugendlichen            38 Vgl AFET-Stellungnahme vom 3.5.2018 zur Situation unbegleiteter minder-
                                                                        jähriger Ausländer (Fn. 18).
mehrheitlich für ein Leben in einer Asyl- oder Obdachlosen-          39 Eine Ablehnung der Hilfegewährung ist als „atypischer Sachverhalt“ zu be-
unterkunft zu „verselbstständigen“.                                     gründen und ggf zu beweisen: vgl Wiesner Hilfen für junge Volljährige, Ex-
                                                                        pertise im Projekt „Was kommt nach der stationären Erziehungshilfe? Care
Der gesetzliche Auftrag des Jugendamts besteht darin, unab-             Leaver in Deutschland“, 2014, 11 ff; DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2010,
hängig von Herkunftsland oder Aufenthaltsperspektive den                547.
Bedarf für eine Hilfe nach § 41 SGB VIII zu prüfen. Hierbei          40 Einige Jugendhilfeträger arbeiten mit dem Phasenmodell im Rahmen der Psy-
                                                                        choedukation. Die Jugendlichen und jungen Volljährigen lernen die durch
sind die individuellen lebensgeschichtlichen Belastungen im             Flucht und Migration erzeugten Bewältigungsphasen als einen „normalen“
Zusammenhang mit postmigratorischen Stressfaktoren diffe-               Prozess kennen und diesen auf ihre individuelle Situation zu übertragen.

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