Niederländische Winterlandschaften 1550-1700: Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit

Die Seite wird erstellt Stefan-Nikolai Neugebauer
 
WEITER LESEN
Klaus F. Steinsiepe

Niederländische Winterlandschaften 1550-1700:
   Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit

Erschienen 2020 auf ART-Dok
URN: urn:nbn:de:bsz:16-artdok-67979
URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2020/6797
DOI: 10.11588/artdok.00006797
Niederländische Winterlandschaften 1550-1700:
                   Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit

                                  Klaus F. Steinsiepe

Inhaltsübersicht

Abstract                                                        2

Einführung                                                      3

Die Kleine Eiszeit                                              4
       Klimageschichte
       Soziale und kulturelle Auswirkungen                      6

„Eiszeit“ in den Niederlanden, 1550-1700                        7
       Geschichtlicher Hintergrund
       Niederländische Kultur im Goldenen Zeitalter              9
       Klimahistorische Fakten für die Niederlande              11
       Eissaison

Niederländische Winterlandschaften                              12
       Anmerkungen zur Landschaftamalerei in den Niederlanden
       Bruegel und die ersten Winterbilder                      14
       Hendrick Avercamp, Master of the Ice Scene               15
       Das Ende einer Tradition                                 18

Diskussion                                                      19
      Klimadeterminismus
      Ansichten, Argumente und Zusammenhänge                    20
      Beantwortung der Fragestellung                            25

Bibliographie                                                   27

                                             1
Abstract

        Winter Landscapes in the Low Countries 1550-1700: Bruegel, Avercamp and
                                    the Little Ice Age

The ’Little Ice Age’ was a climate period with expanded glaciers, with oscillating climatic
shifts, decreasing temperatures and frequent harsh winters lasting approx. from 1300 until
1830. The main reasons for this world-wide phenomenon were long-scale variations in
Earth’s rotation (Milankovitch forcing: eccentricity, axial tilt and precession) leading to
decreasing solar radiation in the northern hemisphere; diminished solar activity (less
sunspots); and numerous intense volcanic eruptions. On the other hand, Flemish and Dutch
winter landscape and ice scene paintings started with Bruegel the Elder around 1560,
flourished in the first half of the 17th century and disappeared in its last decades.

This paper gives a short account of history and culture of the Low Countries and their
’Golden Age’, explains landscape painting and higlights the snow-and-ice paintings of two
famous artists, Pieter Bruegel (the Elder, 1525-1569) and Hendrick Avercamp (1585-1634).
After a short description of climatic determinism, it questions a supposed connection between
winter scenes and climate deterioration. Winter paintings in this period are regarded by
some authors as ’iconographical representations of disaster’. However, paintings of snow
and ice are geographically limited to the Low Countries and chronologically to a time period
of 150 years or so. Hence, they cannot be linked to the so-called Little Ice Age which affected
Northern Europe broadly, was a long-term phenomenon and had its most severe winters in
the 18th century. Other arguments against a direct climatic impact on art are dealt with at
great length.

Moreover, these winter landscapes and ice scenes are the result of a profound specialization
in the Dutch art market for paintings in the 17th century, comparable to specializations in
marines, still lives and others. Furthermore, Dutch landscape painting, including winters,
has never been ’realistic’, but did produce idealistic sceneries of an imagined territory.
Winter landscapes and ice scenes of Bruegel and Avercamp as cover pictures on books
dealing with “The Little Ice Age“ can therefore be regarded as a kind of climatic
determinism.

                                              2
Einführung

Wer eines der seit dem Jahr 2000 erschienenen Bücher über die „Kleine Eiszeit“, also die
Zeit weltweiter Gletschervorstösse und Kältanomalien in den Jahren 1300-1850 in die Hand
nimmt, sieht auf dem Umschlag die Darstellung einer Winterlandschaft entweder von
Bruegel oder von Avercamp 1, Malern, die in der zweiten Hälfte des 16. bzw. in der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts diese Landschaften schufen. Die vorliegende Arbeit stellt dazu
folgende Fragen:

    -   Sind diese niederländischen Winterlandschaften repräsentativ für die Kleine Eiszeit?
    -   Hat die Klimaveränderung die Entstehung dieser Bilder ausgelöst?
    -   Sind sie künstlerische Reflexe klimahistorischer Zustände oder malerische Fiktion?
    -   Oder gibt es andere als klimatische Faktoren, die erklären können, warum
        Winterbilder in der niederländischen Malerei des 17. Jh. eine eigene produktive
        Kategorie bilden?

Um diese Fragen im Zusammenhang beantworten zu können, ist eine kurze Darstellung der
klimatischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse dieser Zeit
unabdingbare Voraussetzung. An dieser Notwendigkeit orientiert sich der Aufbau der Arbeit.
Deshalb werden zuerst die Kleine Eiszeit klimahistorisch erläutert und ihre sozio-kulturellen
Auswirkungen beschrieben. Dann werden die Niederlande des ausgehenden 16. und des 17.
Jh. vorgestellt: Geschichte, wirtschaftliche Bedingungen, kulturelle Blüte. Es folgt eine kurze
Einführung in die niederländische Landschaftsmalerei, bevor deren Winterbilder besprochen
werden, insbesondere die von Bruegel und von Avercamp. Auf der Basis dieser Darstellung
werden mögliche und weniger wahrscheinliche Zusammenhänge zwischen dem Klima in der
Kleinen Eiszeit 1550-1670 und diesen Winterlandschaften und Eisszenen diskutiert und
abgewogen. Eine Beantwortung der eingangs gestellten Fragen schliesst den Text ab.

x1 Fagan 2001: The Census at Bethlehem (Bruegel 1566, Musees Royaux des Beaux-Arts Brüssel); Behringer
2007: Jäger im Schnee (Bruegel 1565, Kunsthistorisches Museum Wien); Blom 2017: Winterlandschaft mit
Eisläufern (Avercamp 1608, Rijksmuseum Amsterdam). Jean Grove zeigt im Frontispiz ihres Buches „The
Little Ice Age“ (1988) ein wenig bekanntes Bild eines Schülers von Isack von Ostade („Gasthaus an gefrorenem
Fluss“, ca. 1640; National Gallery, London) – frostig-kalt, auch weil in Schwarz-Weiss reproduziert.

                                                     3
Die Kleine Eiszeit

Klimageschichte

Klima ist das durchschnittliche Wetter. Das Wetter wird gemessen, das Klima wird statistisch
errechnet. Meteorologische Daten müssen mindestens 30 Jahre lang regelmässig erfasst
worden sein, um daraus Klimaeigenschaften ableiten zu können. 2 Pointiert gesagt ist Klima
die „Statistik des Wetters“. 3 Langzeitlich gesehen (und hier sprechen wir von Tausenden und
Millionen von Jahren) ist das Klima auf der Erde instabil, weil seine Antriebsfaktoren
schwanken. Diese Faktoren sind Sonnenaktivität, Milanković-Forcing und Vulkanismus.

Die Hauptenergiequelle der Erde, die elektromagnetische Sonneneinstrahlung, ist abhängig
von der Aktivität der Sonne, die einem elfjährigen Zyklus folgt und (unter anderem) an der
Zahl der Sonnenflecken gemessen werden kann. 4 Dass diese zwischen 1645 und 1715
markant zurückgegangen waren und damit auch die Sonnenaktivität (sog. Maunder-
Solarminimum), wurde seit dem 17. Jh. angenommen und mit modernen Methoden im 20. Jh.
bestätigt. 5

Das Ausmass der Sonneneinstrahlung ist ferner abhängig von der Umlaufbahn der Erde um
die Sonne; wir erleben das jeden Winter und Sommer. Es gibt zudem langfristige
Schwankungen dieser elliptischen Umlaufbahn, deren Exzentrizität sich in einem Zyklus von
100'000 Jahren ändert. Die Neigung der Erdachse pendelt um 3° in einem Zyklus von 40'000
Jahren, und ihre Kreiselbewegung (Präzession) ändert sich ebenfalls zyklisch etwa alle
20'000 Jahre. Nachgewiesen wurden diese Zeitreihen „orbitaler“ Konstellationen 1941 durch
den serbischen Mathematiker Milutin Milanković (1879-1958). 6

Langfristig verursachte das Milanković-Forcing (Exzentrizität, Schiefe und Präzession) seit
dem späten Holozän (etwa seit 2200 v.Chr.) eine globale Umverteilung des Energieangebotes
mit allmählicher Abkühlung vor allem auf der nördlichen Hemisphäre. 7 Diese Umverteilung
bildet seit der frühen Bronzezeit den Hintergrund einer Reihe von Kalt- und Warmphasen
von jeweils einigen hundert Jahren Dauer. 8 Dazu gehören die Mittelalterliche Klimaanomalie
(eine Warmphase ca. 900-1260 n.Chr.) und die Kleine Eiszeit ca. 1260/1300 -1830/1870.
Innerhalb der Kleinen Eiszeit lassen sich weitere Kältephasen abgrenzen, die jeweils solaren

2
  Vgl. Mauelshagen S. 7f. Gemäss Pfister 2017 gibt es in Mitteleuropa für die Jahre 1500 bis 1800 in
historischen Dokumenten eine nahezu durchgehende Beschreibung der monatlichen, teilweise der täglichen
Witterung.
3
  Siehe Mauelshagen 2010, S. 8.
4
  Erläuterungen bei Sirocko 2013, S. 127.
5
  Mauelshagen 2010, S. 78ff.
6
  Sirocko 2013, S. 26f. mit graphischer Darstellung.
7
  Wanner 2016, S. 134f. sowie Abb. 35, 40 und 41.
8
  Detaillierte Darstellung bei Wanner 2016, S. 136ff.

                                                    4
Minima entsprechen. 9 Sie fallen mit massiven Vulkanausbrüchen zusammen (u. a. Samales
um 1258 und Tambora 1815, beide in Indonesien), die in der gesamten Kleinen Eiszeit
ungewöhnlich häufig waren. 10 Grosse Vulkanausbrüche verändern die Strahlungsbilanz in
globalem Ausmass durch Aschepartikel, mehr noch durch schwefelhaltige Gase, die in der
Stratosphäre riesige Schwebestoffschleier bilden, wodurch die Sonneneinstrahlung
vermindert wird. 11

Zusammenfassend waren wesentlich drei Besonderheiten für das Klima der Kleinen Eiszeit
in der nördlichen Hemisphäre verantwortlich: Die Sonneneinstrahlung auf der Nordhalbkugel
war im Rahmen des Milanković-Forcing schwächer, die Sonnenaktivität war geringer,
besonders im Maunder-Sonnenfleckenminimum 1675-1715, und zahlreiche starke
Vulkanausbrüche führten zu einer zusätzlichen Abkühlung. Zu den Interaktionen dieser
Antriebsfaktoren kommen Zufallsprozesse wie Meeresoberflächentemperaturen und
blockierende Hoch- und Tiefdruckgebiete hinzu, die für Fluktuationen saisonaler
Temperaturen und Niederschläge sorgen. 12

Diese Abkühlung führte zwischen 1300 und 1850 zu Gletschervorstössen in allen Teilen der
Welt. 13 Drei maximale Gletscherausdehnungen 1340-1370, 1570-1630 und 1810-1860
prägen die Kleine Eiszeit. 14 Ab 1580 hatte sich beispielsweise der Untere
Grindelwaldgletscher in nur 25 Jahren um einen Kilometer ausgedehnt und Kulturland unter
sich begraben; im Jahr 1860 kam er bis an die Heufelder im Tal heran. 15 Weil die Jahre 1568-
1630 in Mitteleuropa und Südskandinavien eine signifikant höhere Klimabelastung als vorher
und nachher aufweisen (sowohl kalt-trockene Winter und Frühjahrsperioden als auch kalt-
feuchte Hochsommer durch tropische Vulkaneruptionen), werden diese sechs Jahrzehnte als
„Second Period of Little Ice Age-type Impacts“ bezeichnet (eine erste Periode lag im 14.
Jh.).16

Die kälteste Periode war die des späten Maunder-Minimums 1675-1715, mit dem kältesten
Winter seit 500 Jahren 1708/09 („Rekordwinter“ mit minus 4,1°C Abweichung vom
Mittel). 17 In der Literatur finden sich zahlreiche weitere „Extremwinter“, die allerdings bei
weitem nicht übereinstimmend angegeben werden. 18 Regional werden auch andere Winter als
ungewöhnlich streng beschrieben (für die Niederlande s. unten). Von enormer Bedeutung

9
  Benannt nach mehreren Astronomen, im Einzelnen: Wolf-Minimum 1270-1340, Spörer-Minimum 1420-1570
(markiert den Beginn der Kleinen Eiszeit), Maunder-Minimum 1645-1715 (das für die Kleine Eiszeit
bedeutendste Minimum) und Dalton-Minimum (1790-1830).
10
   Wanner 2016, S. 144f. Einzelheiten bzw. Identifizierung dieser Vulkane: Behringer 2007, S. 121f.;
Mauelshagen 2010, S. 82f.
11
   Mauelshagen 2010, S. 15; S. 81.
12
   Pfister 2017.
13
   Mauelshagen 2010, S. 62f.
14
   Pfister 2005, S. 57.
15
   Zumbühl et al. 1983, S. 8; eindrückliches landschaftsmalerisches Bildmaterial ebd. S. 43.
16
   Pfister 2005, S. 85f. Diese LIATE-Perioden sind nicht gleichbedeutend mit den Phasen I und II der Kleinen
Eiszeit: Phase I mit kalten Wintern 1400-1550, Phase II mit kalten Wintern und Sommern 1550-1725. Siehe
Brooke 2014, S. 439 mit Abb. IV.1 auf S. 396.
17
   Pfister 2005, S. 55; Mauelshagen 2010, S. 70.
18
   Siehe z.B. Behringer 2007 (u.a. S. 124, 128, 132) sowie Mauelshagen 2010, S. 71.

                                                     5
waren dabei die durch diese Winter verkürzten Fruchtperioden und die kühlen Sommer. Auf
der anderen Seite gab es immer wieder warme, ja heisse Sommer: 1590, 1616 und 1623
waren die wärmsten und trockensten seit fünf Jahrhunderten. 19 Glaser beschreibt eine
bemerkenswert warme Dekade 1641-50. 20

Soziale und kulturelle Auswirkungen

Unter dem Titel „Kulturelle Konsequenzen der Kleinen Eiszeit“ wurde 2002 eine
internationale Konferenz am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen abgehalten. 21
Denselben Titel trägt ein Kapitel in Behringers „Kulturgeschichte des Klimas“. 22 In
ähnlicher Intention präsentiert Mauelshagen ein Kapitel „Zur Sozioökonomie der Kleinen
Eiszeit“. 23

Es geht dabei um Ergebnisse der Historischen Klimawirkungsforschung, dargestellt am
linearen Klimawirkungsmodell nach Pfister: Biophysikalische Auswirkungen auf
Landwirtschaft und Ernte, Pflanzen und Tiere sowie Energieverfügbarkeit. „Klima
beeinflusst in allen Breiten- und Längengraden vor allem Regionen, die nur marginal für
Landwirtschaft genutzt werden können“ (agrarischer Grenznutzen). 24 Hinzu kommen (in
Abhängigkeit von der Verletzlichkeit des sozio-ökonomischen Systems 25 ) wirtschaftliche,
demographische und soziale Auswirkungen: Steigende Nahrungspreise, Seuchen,
Subsistenzkrisen, Migration. In letzter Konsequenz kommen kulturelle Auswirkungen zum
Tragen: Kirchliche Reaktionen, Erinnerungskultur, Bewältigungsstrategien. 26 Gruppen von
Jahren mit hoher klimatischer Belastung führten durch Einbussen in der Getreide- und
Milchwirtschaft sowie im Weinbau häufig zu Teuerungen (so 1570-74 und 1627-29). 27
Hungersnöte sind im Wesentlichen zwar auf klimatisch bedingte Nahrungsmittelverknappung
zurückzuführen, können aber auch durch ein Verteilungsproblem entstehen („zwischen
Witterungsextremen und gesellschaftlichen Defiziten“ 28). An dieser Schnittstelle zwischen
Sozialwissenschaften, historischer Klimaforschung und Geschichtswissenschaften sind
Kausalitäten schwer von reiner Gleichzeitigkeit zu unterscheiden, auch wenn Behringer
darauf verweist, dass sich „soziale Konflikte […] in weltanschaulichen oder ,kulturellen‘
Konflikten ausdrückten“. 29

Das gilt auch für andere Entwicklungen wie Revolten und Revolutionen, die sich im 17. Jh.
häuften. Viele davon fallen mit ausserordentlich schlechten klimatischen Bedingungen

19
   Pfister 2005, S. 45; S. 58.
20
   Glaser 2001, S. 176.
21
   Behringer, Lehmann und Pfister haben die Beiträge unter diesem Titel 2005 herausgegeben.
22
   Behringer 2007, S. 163-221.
23
   Mauelshagen 2010, S. 85-97.
24
   Groove 1988, S. 394.
25
   Groove 1988, S. 416.
26
   Pfister 2005, S. 60f.; ausführlicher 2017.
27
   Pfister 2005, S. 85f.
28
   Mauelshagen 2010, S. 95f.; Pfister 2017.
29
   Behringer 2007, S. 170.

                                                     6
zusammen - eine „fatale Synergie von Politik, Religion und Klima“. 30 Ähnlich ist es mit den
„Korrelationen zwischen dem Klima der Kleinen Eiszeit und den Konjunkturen der
Hexenverfolgung in Europa“, die vorwiegend mit dem kulturellen Muster des
Schadenszaubers und mit Sündenbockreaktionen, aber auch durch regionale,
witterungsbedingte Missernten vor allem beim Weinbau und durch soziale Notlagen erklärt
werden können. Es braucht jedoch stets kulturelle Voraussetzungen, damit meteorologische
Extremereignisse und deren sozioökonomische Folgen zu Hexenverfolgungen oder zu
Revolten führen. 31

Neben ökonomischen, religiösen, gesellschaftlichen und mentalen „Konsequenzen der
Kleinen Eiszeit“ behandelte die Tagung von 2002 auch „Transformationen in der Kunst“.
Diese Ausführungen werden weiter unten bei der Diskussion darüber berücksichtigt, welche
Auswirkungen die klimatischen Veränderungen der Kleinen Eiszeit auf die niederländische
Landschaftsmalerei hatten. Vorher sind aber weitere Grundlagen zu klären.

„Eiszeit“ in den Niederlanden, 1550 - 1700

Unsere Untersuchung beschränkt sich deshalb auf die Jahre 1550 bis 1700, weil
Winterlandschaften praktisch nur in dieser Zeit gemalt wurden und auch nur in den
Niederlanden (siehe unten). 32 Geschichtlich fällt in diese Zeitspanne die Auseinandersetzung
mit der spanischen Krone, ein komplexes Aufstands- und Kriegsgeschehen, aus dem eine im
damaligen Europa einzigartige Republik hervorging. 33 Das 17. Jh. wird zum „Goldenen
Zeitalter“ der Niederlande, die zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht
aufsteigen und eine kulturelle Blüte besonders auf dem Gebiet der Malerei erleben. 34

Geschichtlicher Hintergrund

Kaiser Karl V., in dessen Reich „die Sonne nie unterging“, dankte 1555 resigniert ab. Die
Niederlande, als Teil des früheren Burgundischen Reiches durch Heirat und Erbfolge an das
Haus Habsburg gefallen, bestanden zu diesem Zeitpunkt aus 17 Provinzen, die als
selbstverwaltete Einheit (Reichskreis) dem Deutschen Reich angehörten und in etwa die
heutigen Benelux-Staaten umfassten. Sie gingen als „unteilbare Einheit“ an Karls Sohn
Philipp II., der bald darauf auch die spanische Krone erhielt. 43 Jahre lang regierte Philipp

30
   Mauelshagen 2010, S. 102ff. zitiert ausgiebig Geoffrey Parker „Crisis and Catastrophe“ (2008),
einschliesslich tabellarischer und graphischer Darstellungen dieser globalen Krise (49 bedeutende Revolten und
Revolutionen 1635-1666!).
31
   Mauelshagen 2010, S. 111ff. Vgl. dazu den Abschnitt „Die Hexerei als Verbrechen der Kleinen Eiszeit“ in
Behringer 2007, S. 173-179, ferner den Abschnitt „Hexen und verdorbene Ernten“ in Blom 2017, S. 53-60
(ebenfalls mit Bezug auf G. Parker).
32
   Blom 2017 bearbeitet dieselbe Zeitspanne, aber aus anderen Gründen: Für ihn entsteht aus der Krise des 17.
Jahrhunderts die moderne Welt.
33
   Schott 2014, S. 147; North 2008, S. 22.
34
   North 2008, S. 37 ff.; Wielenga 2012, S. 84 ff.

                                                      7
„ernst und selbstbewusst, zugleich misstrauisch, pedantisch und langsam in seinen
Entschlüssen“ 35 von Madrid aus, ohne die Niederlande als Herrscher je wieder zu besuchen.

Schon ab 1560 revoltierten die mehrheitlich protestantischen nördlichen Niederlande gegen
die rigide Religionspolitik der katholischen Spanier, wurden aber durch den Herzog von Alba
kompromisslos unterdrückt. 36 1579 schlossen sich die sieben Nordprovinzen in der Union
von Utrecht zusammen. 1581 erklärten die Generalstände (die Ständevertretung dieser
Provinzen) den Abfall 37, indem sie Philipp II. nicht mehr als König anerkannten. Militärisch
gewannen die Spanier anfangs die Oberhand. Dabei eroberten sie 1585 die damalige
Handels- und Kunstmetropole Antwerpen, was die Flucht der halben Bevölkerung bewirkte,
Teil eines Exodus protestantischer Niederländer in die Nordprovinzen. 38 Amsterdam nahm
rund 30'000 Flüchtlinge auf, auch andere Städte wuchsen beträchtlich. 39 Nach vergeblichen
Versuchen, ausländische Fürsten in die Staatsführung zu integrieren (Frankreich: Herzog von
Anjou; England: Graf von Leicester), entwickelte sich ab 1588 die Republik der Vereinigten
Niederlande, begünstigt durch die Niederlage der spanischen Armada gegen die mit
niederländischen Schiffen verstärkte englische Flotte 1588 und durch einen protestantischen
Thronfolger in Frankreich (Heinrich von Navarra 1589). Inhaber der Souveranität waren die
Generalstände, also die Versammlung der von den sieben Provinzen delegierten ständischen
Vertreter unter der faktischen Führung eines militärischen Oberkommandanten (Statthalter)
und eines zivilen Repräsentanten der Ständeversammlung (Ratspensionär). Nach dem Tod
Philipps II. 1598 mündete die aussen- wie innenpolitische Konsolidierung der
„Generalstaaten“ vorerst in einen zwölfjährigen Waffenstillstand mit Spanien 1609-1621.

Ab etwa 1590, besonders in der Zeit des Waffenstillstandes entwickelte sich die junge
Republik zu einer wirtschaftlichen Grossmacht. Das Fehlen einer feudalen Tradition, ein
hoher Urbanisierungsgrad mit offener bürgerlicher Schicht und ein kräftiges
Bevölkerungswachstum (Verdoppelung von rund 1 auf 2 Millionen 1500-1650 40 ) waren
günstige soziale Faktoren. In wirtschaftlicher Hinsicht trugen Kommerzialisierung von
Ackerbau und Fischfang sowie Entwicklung und Ausbau der Handelsflotte (die 1650 grösser
war als die von England, Frankreich und Spanien zusammen) zum Aufstieg bei. Die
Vereinigte Ostindien-Kompanie (ab 1602) und zusätzlich die Westindien-Kompanie (ab

35
   dtv 2000, S. 243. Philipp verliess Brüssel im Juli 1559 und kam danach nie mehr in die Niederlande; er sprach
weder niederländisch noch französisch. Cees Nooteboom hat darauf aufmerksam gemacht, wie extrem langsam
die Kommunikation zwischen dem König in Madrid und seinen Statthaltern im Norden gewesen sein muss
(„Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, an die wir so gewöhnt sind, gab es nicht“, in: Der Umweg nach Santiago,
Franfurt am Main 32013, S. 158).
36
   Don Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von Alba, wurde von Philipp II. 1567-1573 in die Niederlande
entsandt. Bruegel soll ihn als Anführer der spanischen Lanzenreiter im „Bethlehemitischen Kindermord“
(ebenfalls ein frühes, wenn auch undatiertes Winterbild) portraitiert haben.
37
   Schillers „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ (1788-1801)
beinhaltet zwar die Vorgeschichte und den Krieg gegen die Spanier, endigt aber mit der Eroberung von
Antwerpen 1585.
38
   Antwerpen, Boom-Stadt des 16. Jh., Schaltstelle des europäischen Kolonialhandels, hatte damals rund
100'000 Einwohner. Siehe Schott 2014, S. 141-148.
39
   Wielenga 2012, S. 59.
40
   North 2008, S. 44.

                                                       8
1621) übernahmen mit eigenem Heer und politischen Vorrechten die Ausbeutung der
Kolonien. 41

1621 wird der Krieg mit Spanien wieder eröffnet, nachdem im Inneren ein religiös
motivierter Bürgerkrieg abgewendet werden konnte. Zudem beteiligt sich die Republik
finanziell und diplomatisch am Dreissigjährigen Krieg. Die zunehmende Schwächung der
spanischen Habsburger (unfähige Regenten, wirtschaftlicher Niedergang in Spanien selbst)
führt im Rahmen des Westfälischen Friedens von 1648 zur Anerkennung der Republik und
damit zum Ende des „Achtzigjährigen Krieges“. Mit dem Jahr 1650 erreicht das „Goldene
Zeitalter“ der Republik seinen Höhepunkt. Die Vormacht im Welthandel provoziert
zwischen 1652 und 1674 drei kriegerische Konfrontation mit England. 1672 besetzt
Frankreich grosse Teile der Niederlande (sog. Katastrophenjahr). Nach Überwindung dieser
Krise werden Wilhelm III. aus dem Haus Oranien und seine Ehefrau Maria Stuart 1689
König und Königin von England (Glorious Revolution gegen den katholischen König Jakob
II.). Das 18. Jh. sieht die Vereinigten Niederlande allerdings nur noch als „eine Macht
zweiten Ranges“. 42

                                                     43
Niederländische Kultur im Goldenen Zeitalter

Im 17. Jahrhundert stehen die Vereinigten Niederlande auf dem Höhepunkt ihrer politisch-
wirtschaftlichen Macht. In diesem „Goldenen Zeitalter“ wird die Republik auch in
Wissenschaft und Architektur tonangebend, in der Malerei sogar führend. Noch im 16.
Jahrhundert gab es kaum eine nordniederländische Malerei; es dominierte die flämische
Malerei (Brügge, Gent, Antwerpen). Mit dem Erfolg des Aufstandes und der bereits
erwähnten Flüchtlingsbewegung verlagerte sich der Schwerpunkt der Kunstproduktion in die
Nordprovinzen (die Südprovinzen blieben unter spanisch-katholischer Herrschaft). Zwischen
1580 und 1630 waren in den Vereinigten Niederlanden etwa 375 flämische Maler tätig. 44

Gleichzeitig kam es zu einer Umstellung des bisherigen Kunstmarktes. Abnehmer der Bilder
waren weniger kirchliche oder adlige Auftraggeber als zunehmend bürgerliche
Käuferschichten, die sich Bilder leisten konnten. Der Geschmack änderte sich auch durch den
protestantisch-calvinistischen Einfluss: Religiöse Historien und Andachtsbilder wurden
geringer geschätzt, Stillleben, Porträts, Genreszenen und besonders Landschaften immer
beliebter. 45 Damit wurde die Malerei des Goldenen Zeitalters zu „einer bürgerlichen Kunst
par excellence“, die ihren Abnehmern die soziale und kulturelle Wirklichkeit der Republik
vorführte und ihren Stolz darauf dokumentierte. 46 Das wirtschaftliche Wachstum der
Niederlande führte zu steigendem Wohlstand breiter Schichten und damit auch zu einer

41
   dtv 2000, S. 245; Wielenga 2012, S. 72ff.
42
   Wielenga 2012, S. 185 ff.
43
   Vgl. den klassischen Text von Johan Huizinga „Holländische Kultur im 17. Jahrhundert“ von 1941/2007 (mit
einem lesenswerten Nachwort von B. Roeck, S. 183-208).
44
   Gräf 2009, S. 118.
45
   North 2008, S. 61.
46
   Wielenga 2012, S. 176.

                                                     9
vermehrten privaten Nachfrage nach Gemälden. 47 Die Maler schufen zunehmend für einen
eigentlichen Kunstmarkt. 48 Gemäldebesitz war Mitte des 17. Jh. weit verbreitet; für eine
bürgerliche Familie war es üblich, Kunstwerke zu besitzen. 49 „Das Gemälde hing überall“,
schreibt Huizinga lakonisch. 50 All das führte zu einer enorm hohen Produktion an
Bildern 51 und zu einer starken Spezialisierung sogar innerhalb malerischer Kategorien (wie
Frucht-, Blumen-, Fisch- oder Jagdstilleben 52 ). Um 1670 brach dieser übersättigte
Kunstmarkt zusammen; drei Viertel der Kunstmaler verloren ihr Einkommen. 53

Die Architektur brachte den holländischen Klassizismus hervor (Mauritshuis in Den Haag),
der nach Norddeutschland ausstrahlte (Potsdamer Schloss). Die Literatur blieb auf die
Niederlande beschränkt. Hugo Grotius (1583-1654) legte mit seinen Werken die Grundlagen
für das Völkerrecht. In der Schulbildung waren die Niederlande vorbildlich; die Universität
Leiden war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die meistbesuchte in Europa. 54
Christiaan Huygens (1629-95) gilt als einer der führenden Mathematiker und Physiker des
17. Jh. Er ist der Begründer der Wellentheorie des Lichts, formulierte in seinen
Untersuchungen zum elastischen Stoss ein Relativitätsprinzip, erklärte die Saturnringe und
konstruierte die ersten Pendeluhren. Mit von ihm verbesserten Teleskopen gelangen ihm
wichtige astronomische Entdeckungen. Antonie van Leeuwenhoeck (1632-1723),
niederländischer Naturforscher, war Autodidakt, Erbauer und Nutzer von Lichtmikroskopen,
mit denen er Forschungen im Bereich der Zellbiologie betrieb. Zudem war er
Nachlassverwalter Vermeers in Delft.

Grosse Philosophen dieser Zeit wie Descartes 55 , Locke, Hobbes und Bayle lebten und
publizierten (vorübergehend oder dauernd) in den Niederlanden; die dortigen Verleger
gehörten zu den wichtigsten Buchproduzenten Europas. 56 Der in der jüdisch-portugiesischen
Gemeinde von Amsterdam geborene Baruch Spinoza (1632-1677) ist der bedeutendste
Philosoph der Niederlande. 57

47
   North 2008, S. 64.
48
   Eine genaue Beschreibung der hochkomplexen Marktmechanismen gibt Schwartz 1998. Siehe auch Kapitel V
„Auftraggeber und Kunstmarkt“ in North 2001, S. 79-99.
49
   Schama 1988, S. 344 f.
50
   Huizinga 1941/2007, S. 108.
51
   Nach Montias 1990 (zitiert bei North 2001, Anmerkung 38 auf S. 155) malten in der Mitte des 17. Jh. 650 bis
700 niederländische Maler zwischen 63'000 und 70'000 Bilder jährlich. Van der Woude 1991 berechnet für das
gesamte 17. Jh. 5,3 Millionen Gemälde nur in Holland (Tab. 9, S. 315). Schwartz 1998, S. 241 bestätigt diese
Zahlen.
52
   North 2008, S. 60.
53
   Wielenga 2012, S.175. Siehe dazu 4.4 Seite 15f..
54
   Wielenga 2012, S. 179; Blom 2017 S. 85f.
55
   Blom 2017, S. 135-143.
56
   Wielenga 2012, S. 182. Siehe auch Blom 2017, S. 173-186.
57
   Blom 2017, S. 186-205

                                                     10
Klimahistorische Fakten für die Niederlande

Der Winter 1564-65 galt in den Niederlanden als härtester Winter seit mehr als 50 Jahren. 58
Die durchschnittlichen Temperaturen der niederländischen Winter in der Kleinen Eiszeit
werden auf 1,6 bis 1,8°C veranschlagt (zum Vergleich: die Wintertemperaturen 1998-2009
betrugen in den Niederlanden und Belgien 4°C). 59 Zwischen 1550 und 1625 gab es sechs
besonders strenge Winter, in denen die Gewässer acht Wochen und mehr zugefroren waren. 60
Grosse Flüsse und auch die Zuidersee waren von einer dicken Eisschicht bedeckt, so dass der
Transport zu Wasser mit Pferdewagen und Schlitten ablief. Einträge an verschiedenen
Zollstationen belegen, dass der Schiffsverkehr zum Erliegen kam. Wochenlang konnte man
auf dickem Eis von Amsterdam nach Kampen und von Antwerpen nach Gies reisen. 61 Auch
wenn der Winter 1607-08 besonders streng war, kam es erst in den Jahren 1680 bis 1690 zu
den kältesten Wintern in den Niederlanden (dem späten Maunder-Minimum entsprechend,
siehe oben). Der Januar 1684 war hier der vielleicht kälteste Monat überhaupt. 62 Es war aber
(wie sonst auch in dieser Zeit) nicht durchgehend kalt. So gab es etwa 1636 und 1637
aussergewöhnlich heisse Sommer 63

Eissaison

„Keine andere Nation der Welt wartet so auf die vereiste Jahreszeit wie die Niederlande.
Sobald die Temperaturen unter Null sinken, mustert jedermann die Kanäle, Flüsse und Seen
wie ein Falke [...] und wenn es soweit ist, schnallt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die
Schlittschuhe an. Zwischen Dezember und März kann dieses ,Eisfieber’ zur nationalen
Epidemie werden, so wie im Winter 2008-09, als in wenigen Wochen fast eine Million
Schlittschuhe in den Niederlanden verkauft wurden - einem Land von 16,5 Millionen
Einwohnern“, liest (und lernt) man im Vorwort des Katalogs zur grossen Avercamp-
Ausstellung 2009. 64

Diese Liebe zum Eis und zum Schlittschuhlaufen bestand in den Niederlanden seit
Jahrhunderten; Schlittschuhe aus Holz und Eisen sind seit dem 14. Jh. bekannt. Seit 1551 gab
es in Amsterdam eine Handwerkergilde, deren Mitglieder Schlittschuhkufen herstellten. 65
Die Standesschranken auf dem Eis waren gering; auch Frauen durften sich ausserhalb der
üblichen Anstandsregeln sportlich bewegen. 66

58
   De Kraker 2009, S. 29 (s. auch Abb. 9 S. 26). Für Glaser 2001, S. 118 zählt dieser Winter „zu den grossen
Jahrhundertereignissen“.
59
   De Kraker 2009, S. 25.
60
   De Kraker 2009, S. 25 ff. Es handelt sich um die Winter 1564-65 (dieser Winter spielt im Zusammenhang mit
Bruegel eine Rolle), 1572-73, 1594-95, 1607-08 (diesem besonders kalten Winter widmet De Kraker einen
längeren Abschnitt, S. 26 ff.), 1620-21 und 1621-22.
61
   De Kraker 2009, S. 27 ff.
62
   Van Suchtelen 2001, S. 15.
63
   De Kraker 2009, S. 25.
64
   Roelofs 2009, S. 7.
65
   Roelofs 2009, S. 59.
66
   Gräf 2009, S. 50.

                                                    11
Die älteste bildliche Darstellung niederländischer „Skater“ ist ein Holzschnitt von 1498. Er
zeigt den Sturz der Heiligen Lidwina von Schiedam, die beim Schlittschuhlaufen
verunfallte. 67 Moralisierende Vergleiche zwischen Eislauf und der „Schlüpfrigkeit des
menschlichen Lebens“ wurden immer wieder gezogen. 68 Allerdings stehen schon auf den
frühesten gemalten Eisszenen das Vergnügen und die Geselligkeit auf dem Eis im
Vordergrund, insbesondere bei Avercamp (siehe unten).

Niederländische Winterlandschaften

Anmerkungen zur Landschaftsmalerei in den Niederlanden

Als Begründer der niederländischen Landschaftsmalerei gilt Joachim Patinir (1475/80-
1524). 69 Seine überblicksartigen „Weltlandschaften“ mit ihren anspielungsreichen biblischen
und mythologischen Details und ihren Allegorien einer Pilgerreise durch die irdische
Existenz waren damals in ganz Europa begehrt. 70

Die Entwicklung zunehmend eigenständiger Landschaftsdarstellungen war eng mit dem
Aufstieg Antwerpens zur Handels- und Kunstmetropole und zum Zentrum der
geographischen Wissenschaft verbunden. Geographie und Topographie der Erde wurden hier
systematisch betrieben; Kartographen, Maler und Kupferstecher arbeiteten Hand in Hand.
Die Grenzen zwischen damaliger „Chorographie“ und dem Landschaftsbild, wie wir es heute
nennen, waren fliessend. 71

Pieter Bruegel (d. Ä., um 1525-1569), der bedeutendste Landschaftsmaler des 16. Jh., war
mit dem Humanisten und Kosmographen Abraham Ortelius (1527-1598) befreundet, der als
Erster in einem grossen Atlas das damalige geographische Wissen zusammenfasste. 72
Bruegel brachte 1554 von einer fast dreijährigen Reise nach Italien ausschliesslich
Landschaftszeichnungen mit nach Antwerpen zurück. Mit seinem Zyklus der Jahreszeiten
knüpfte er an die mittelalterlichen Stundenbücher des 15. Jh. an, die durch die Brüder von
Limburg (Les Très Riches Heures de Duc de Berry, 1411-16) sowie durch Simon Bening (um
1483-1561) zur Blüte gebracht waren. Darin wird der monatliche Wandel der Landschaft
zusammen mit den wechselnden Tätigkeiten der Menschen dargestellt. 73 Stärker als auf
diesen Kalenderbildern kommen auf den erstmals grossformatigen Bildern von Bruegel die

67
   Was sie zwar invalid machte, ihr aber die verabscheute Eheschliessung ersparte: Van Suchtelen 2001, S. 16
mit Abb. 4.
68
   Van Suchtelen 2001, S. 16; Gräf 2009, S. 52.
69
   Ihn hat Dürer 1521 besucht und danach als einen „gut lantschaftsmaler“ beschrieben - die erstmalige
Verwendung dieses Begriffes (Büttner 2006, S. 100).
70
   Büttner 2006, S. 100-104; 106.
71
   Büttner 2000, S. 15, S. 189 f.; wikipedia Landschaftsmalerei S. 7. „Chorographie“ ist die Kartierung einer
kleineren Region in Form einer künstlerischen Darstellung (Büttner 2000, v.a. S. 53 f.). Ähnlich Hedinger 2001,
S. 11.
72
   Büttner 2000, S. 54 f.
73
   Wiemann 2005, S. 65.

                                                      12
jahreszeitlichen Wetterverhältnisse einschliesslich des Winters und ihre Auswirkung auf die
bäuerliche Arbeit zur Geltung, durchaus „im Sinne des meteorologischen Interesses der
Zeit“. 74

1585, sechzehn Jahre nach Bruegels Tod, wurde Antwerpen, das künstlerische Zentrum der
Niederlande, in dem die Lukasgilde (die Zunft der Maler) 300 Mitglieder zählte 75, von den
Spaniern eingenommen. Unter den Flüchtlingen waren auch etliche flämische
Landschaftsmaler, die sich vor allem in Amsterdam niederliessen. Zu erwähnen sind Hans
Bol von Mechelen in Flandern und Gillis van Coninxloo von Antwerpen sowie deren
Nachfolger David Vinckboons, ebenfalls aus Mechelen. Zur Gruppe dieser Amsterdamer
Landschaftsmaler zählt noch Esaias van de Velde, dessen Vater aus Antwerpen stammte.

Die Landschaftsmalerei entwickelte sich zum profitablen Spezialgebiet für die Maler, weil
Käufer und Kunden zunehmend Gefallen daran fanden und es immer mehr Käuferschichten
gab, die sich Gemälde und Stiche leisten konnten. Auch hier spielte der Markt eine Rolle:
Landschaften waren preiswert. 76 Sie wurden zur beliebtesten Gattung in den niederländischen
Gemäldesammlungen des 17. Jh. 77 Was aber bewirkte die Begeisterung für Landschaften?
„Was hat damals der Käufer im Gemälde oder im Stich gesucht?“ fragt Huizinga. 78

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach; es gab vielschichtige Gründe. Das Land um die
Städte herum war regelmässiges Ausflugs- und Erholungsziel. 79 Der protestantisch-
calvinistische Einfluss und die Nüchternheit des niederländisch-kaufmännischen Denkens
beförderten Darstellungen des täglichen Lebens wie auch schlichte Ansichten der engeren
Heimat. 80 Neben solchem Lokalpatriotismus konnte auch der Aufstieg der Niederlande in
Landschafts- oder Meeresbildern dokumentiert werden. Landschaften waren nützlich als
Wandschmuck und zur Repräsentation, aber auch als Chorographie, als Darstellung einer
Region, zumal das Interesse an Entdeckungsreisen, an Geographie und Kartographie
zunahm. 81 Man wollte Gemälde besitzen, die ein Thema sinnvoll wiedergaben 82 ; die
Verbindung von Kunst und Kosmographie in der Landschaftsmalerei war dazu bestens
geeignet. 83

Dann gilt es noch Weiteres zu bedenken: Niederländische Landschaftsbilder des 16. und 17.
Jh. sind realistisch und gleichzeitig idealisiert. Das Typische wird stärker gewichtet als das

74
   Schneider 2009, S. 99.
75
   Büttner 2006, S. 107. Die Bäckerzunft hatte 169, die Metzger 78 Mitglieder. Zu den Aufgaben der Lucas-
Gilde s. North 2001, S. 67 ff.
76
   Sutton 1988, S. 116 Tabelle 1 zeigt einen deutlichen Preisrückgang im zweiten Viertel des 17. Jh.
77
   North 2008, S. 62 f.
78
   Huizinga 1941/2007, S. 110.
79
   Schon damals lebten mehr als 60 Prozent der holländischen Bevölkerung in Städten. Sutton hat dazu
angemerkt: "In a real statistical sense, therefore, Dutch landscape is a reflection of an urban ideology: images of
the countryside compensating a busy city folk“ (Sutton 1988, S. 3). Siehe auch Büttner S. 171 ff.
80
   Büttner 2000, S. 179 belegt dies mit dem Erfolg, den eine Serie von einfachen Landschaftszeichnungen des
unbekannten „Meisters der kleinen Landschaften“ 1559/1561 hatte.
81
   Gräf 2009, S. 7.
82
   Huizinga 1941/2007, S. 110.
83
   Büttner 2000, S. 196.

                                                        13
Individuelle 84, das Charakteristische im Verein mit dem Sinnbildlichen steht vor der blossen
realistischen Darstellung. 85 Bruegel und seine Zeitgenossen zeigten „nicht nur das, was sie
sahen, sondern zugleich auch das, was sie wussten oder für mitteilenswert hielten“. 86
Gleichzeitig waren in scheinbar realistisch gemalten Landschaften oft Teile wilder Natur zu
sehen, die es in den Niederlanden gar nicht gab. „So boten diese Landschaften auch eine
imaginäre Welt, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Harmonie gebracht
wurden.“ 87 Zudem sind auch vermeintlich reine („absolute“) Naturdarstellungen nicht von
einer theologischen oder philosophischen Deutung ausgenommen. Ein Landschaftsbild war
niemals sinnfrei, sondern zumindest ein Ausweis göttlicher Macht. „Der allegorische
Charakter der Darstellung und seine inhaltliche Deutung oder Bedeutung schlossen einander
nicht aus.“ 88

Büttner spricht von einer „sinnreichen Verschleierung der Bildinhalte.“ 89 Huizinga sagt es so:
„Im Blumenstück liegt hinter jeder Blume ein Sinnbild. Im Stilleben enthält jeder Gegenstand
neben seiner natürlichen auch eine emblematische Bedeutung.“ 90

Bruegel und die ersten Winterbilder

Die frühesten niederländischen (flämischen) Winterbilder finden sich in den oben schon kurz
erwähnten „Très Riches Heures“ der Brüder Limburg. Darin wird der Monat Februar durch
eine schneebedeckte Landschaft vorgestellt; Bauern wärmen sich am offenen Feuer; es
scheint ein durchaus „normaler“ Winter zu sein. Rund hundert Jahre später verfertigte Simon
Bening wieder ganzseitige Kalenderbilder mit naturalistischen schneereichen
Winterlandschaften. 91 1558 zeichnete Bruegel die „Eisläufer vor dem St. Georgstor“ in
Antwerpen (als Kupferstich erschien das Bild 1560). 1564 erschien eine Radierung von Joris
Hoefnagel „Winterfreuden auf der Schelde“. Die „Brabanter Chronik“ verzeichnet 1564-65
den kältesten Winter seit 53 Jahren; man habe von November bis Februar mit Pferd und
Wagen die Schelde überqueren können. 92 In dieser Chronik ist ein Holzschnitt von Bernard
van de Putte abgedruckt, der ebenfalls eine Winterszene auf der gefrorenen Schelde mit
Antwerpen im Hintergrund zeigt. Beide, Hoefnagel wie van de Putte, stellen jedoch „alles
andere als die Schrecken des grausamsten Winters seit Menschengedenken“ dar 93, sondern
bereits das Vergnügen auf dem Eis. Das früheste gemalte Bild aus diesem besonderen Winter

84
   Büttner 2000, S.191.
85
   Hedinger 2011, S.24.
86
   Büttner 2000, S. 191.
87
   Wielenga 2012, S. 176.
88
   Büttner 2000, S. 183-186.
89
   Büttner 2006, S. 208.
90
   Huizinga 1941/2007, S. 113.
91
   Van Suchtelen 2001, S. 36 und 38 (Abb. 26 und 27).
92
   Aus der Brabanter Chronik des Arnold Nicolai von 1565: „Im Jahre 1564 ist der allerkälteste Winter und
Frost gewesen, den es hier zu Lande seit 53 Jahren gab, so dass viele Menschen den Kältetod gestorben sind
[…]“. S. Büttner 2000, S. 180 f.
93
   Büttner 2000, S. 181.

                                                     14
ist die Darstellung eines Eisberges, den am 2. Januar 1565 die Flut bis vor das Pier von
Delfshaven angeschwemmt hatte. 94

In diesem Jahr malte Bruegel das Bild „Die Jäger im Schnee“ (Wien, Kunsthistorisches
Museum). Es ist die erste grossformatige Winterlandschaft und gilt als deren "starting point“
und als eine der Ikonen der Kleinen Eiszeit. 95 Die verschneite Flusslandschaft, die auch in
den Farben verdeutlichte Kälte und Starre eines Wintertages und der neuartige diagonale
Bildaufbau machen das Bild zu dem Vorläufer schlechthin des niederländischen
Winterlandschafts-Genres, das bis 1625 voll entwickelt sein wird. 96 Das Bild ist ein
Auftragswerk für den reichen Kaufmann Nicolas Jongelinck, der bei Bruegel den schon
erwähnten Zyklus von Monatsbildern für seine Landvilla bestellt hatte. 97 Insofern folgte
Bruegel einer Tradition, in der wenige Jahre später (1577) auch Jakob Grimmer Vier
Jahreszeiten malte und den Winter dabei als eisbedeckte Fläche mit Schlittschuhläufern
darstellte. 98 Allegorien der Jahreszeiten wurden noch bis in das erste Drittel des 17. Jh.
verfertigt. 99

Schon Gibson hat darauf hingewiesen, dass Bruegel zwischen 1565 und 1567 insgesamt vier
Winterbilder gemalt hat: die erwähnten „Jäger im Schnee“, „Winterlandschaft mit
Vogelfalle“, „Volkszählung in Bethlehem“ und „Anbetung der Drei Könige“. Diese
„Vorliebe für Winterbilder“ falle mit einigen besonders strengen Wintern in den
Niederlanden in den 1550er und 1560er Jahren zusammen. 100 Tatsächlich sind die „Jäger im
Schnee“ ein Symbol für die Kältephase der Kleinen Eiszeit geworden und werden in diesem
Zusammenhang immer wieder reproduziert, ähnlich wie die Bilder von Avercamp.

Hendrick Avercamp, Master of the Ice Scene

Avercamp wurde 1585 in Amsterdam als Sohn des späteren Stadtapothekers von Kampen
(einer kleinen Ortschaft am Ostrand der Zuidersee) geboren. Er war höchst wahrscheinlich
taubstumm. Aufgewachsen in einer Familie mit hohem Bildungsniveau, erhielt er seine
malerische Ausbildung bei Pieter Isaacsz, einem Historien- und Porträtmaler, in dessen
Atelier in Amsterdam. 101 1613 kehrte Avercamp nach Kampen zu seiner Familie zurück und
blieb dort. Es gibt keine Hinweise auf eine Tätigkeit ausserhalb seines Heimatortes, in dem

94
   Van Suchtelen 2001, S. 12f., Abb. 1 (Van de Putte) und 2 (Van Culemborch).
95
   Van Suchtelen 2001, S. 13; Robinson 2005, S. 38.
96
   Gräf 2009, S. 59; S. 119.
97
   Büttner 2006, S. 112. Die Diskussion darüber, ob es sich bei diesem Zyklus von 6 Bildern (eines ist
verschollen) um eine begrenzte Anzahl (ein Bild für je zwei Monate) handelte, weil der dafür bestimmte Salon
nicht grösser war, oder ob es doch zwölf Bilder waren (also 7 Bilder verschollen sind), ist nicht abgeschlossen.
Vgl. Gibson 1989, S. 70, sowie Fussnote 120 bei Sutton 1988, S. 60. Ausführlich auch Gräf 2009.
98
   Sutton 1988, Abb. 18-21 auf S. 19. Die Abb. 21 (Winter) verweist eher auf Avercamp als auf Bruegel.
99
   Sutton 1988, S. 26 f.
100
    Gibson 1989, S. 71.
101
    Vgl. Huizingas Anmerkungen über die fast ausschliesslich lokale Ausbildung der niederländischen Maler im
17. Jahrhundert: Huizinga 1941/2007, S. 120.

                                                      15
Avercamp 1634 starb. Er hat nichts Schriftliches hinterlassen und nur wenige seiner vielen
Bilder datiert.

Auch Avercamp steht unter dem prägenden Einfluss Bruegels, dem wir, wie schon
geschildert, die „Die Erfindung der Landschaft“ verdanken. 102 Neben dem „ikonischen“ Bild
der „Jäger im Schnee“ war Bruegels Gemälde „Winterlandschaft mit Eisläufern und
Vogelfalle“ von 1565 (Brüssel, Museum der Künste) sehr beliebt und prägend. Das Thema
des zugefrorenen Kanals in einer flachen Landschaft, bevölkert von Schlittschuhläufern, die
verschiedenen Aktivitäten nachgehen, die Vogelperspektive mit hohem Horizont und kahlen
Bäumen im Vordergrund - all das sind Bildelemente zumindest des frühen Avercamp. In
einem seiner bekanntesten Bilder „Winterlandschaft mit Eisläufern“ (ca. 1608, Rijksmuseum
Amsterdam) zitiert er Bruegel, indem er dessen Vogelfalle von 1565 praktisch unverändert
übernimmt. 103

Weitere Einflüsse werden dem schon erwähnten Gillis van Coninxloo zugeschrieben (u. a.
die Repoussoir-Bäume des Vordergrundes 104 ), ferner David Vinckboons (Figuren,
erzählerische Details 105 ). Mit beiden hatte Avercamp während seiner Zeit in Amsterdam
Kontakt. Obwohl Hans Bol (auch er einer der flämischen Emigranten, s. oben) 1593
gestorben war, kannte Avercamp dessen graphisches Werk, das prall-derbe, wiederum von
Bruegel beeinflusste Eisszenen zeigt. Van Suchtelen bezeichnet Bol sogar als unmittelbaren
Vorläufer von Avercamp. 106

Avercamps Bilder stellen Winterlandschaften dar, konzentrieren sich aber auf einen
spezifischen Anteil daran: die Eisszene. Master of the Ice Scene ist der deshalb zutreffende
Untertitel der grossen Avercamp-Retrospektive 2009-10 in Amsterdam und Washington. Im
Grunde handelt es sich bei seinen Bildern um „eine spezifisch nordniederländische Variante
der Winterlandschaft“ 107, kleine Winterlandschaften mit Schlittschuhläufern, die man im 17.
Jh. wintertjes nannte. 108 Mit ihnen schuf Avercamp ein eigenständiges Genre. 109

Diese Bilder zeigen keine winterliche Atmosphäre im Sinn von bitterer Eiseskälte (obwohl
sie fast ausnahmslos auf dem Eis angesiedelt sind), heftigem Schneefall (es schneit nie bei
Avercamp) oder dunkel-winterlicher Stimmung. Avercamp malt im Wesentlichen das
Vergnügen auf dem Eis. Die leichteren Seiten des Lebens zu zeigen, war charakteristisch für
die niederländische Kunst im 17. Jh. 110

102
    Büttner 2000.
103
    Umschlagbild bei Blom 2017. Avercamp war sicherlich nicht uneigennützig: Bruegels Vorlage war äusserst
bekannt und war mit 127 Kopien (die meisten aus der Werkstatt von Bruegels Sohn P. Bruegel d. J) ein
enormer Verkaufserfolg (Roelofs 2009, S. 35; Van Suchtelen 2001, S. 41).
104
    Roelofs 2009, S. 31f.
105
    Roelofs 2009, S. 36-39.
106
    Van Suchtelen 2001, S. 50; Roelofs 2009, S. 41f. Van Suchtelen 2001 schreibt Hans Bol zudem eine
wichtige Rolle bei der Entstehung der nordniederländischen Landschaftsmalerei zu: Durch seine Stiche seien
viele Motive von Bruegel an andere Maler vermittelt worden (S. 46).
107
    Roelofs 2009, S. 44.
108
    Büttner 2006, S. 175.
109
    Van Suchtelen 2001, S. 28.
110
    Roelofs 2009, S. 54. Vgl. auch Goedde 2005, S. 320f.

                                                    16
Avercamp malt typische niederländische Aktivitäten: Schlittschuhläufer (manchmal mehr als
hundert auf einem Bild, fast ein Gewusel), Gruppen sich miteinander unterhaltender oder
gemeinsam eislaufender Personen, Schlitten, Eissegler, Erfrischungszelte auf dem Eis (stets
mit der niederländischen Flagge) und immer wieder Colfspieler. 111 Diese Sujets durchziehen
sämtliche Bilder von Avercamp mit einer stupenden Genauigkeit der Beobachtung und einer
ebensolchen Liebe zum Detail. Auch wenn Personengruppen offenkundig höheren Standes
(erkenntlich an ihrer Kleidung 112 ) zusammenbleiben, zeigen die Bilder einen Querschnitt
durch die Gesellschaft 113 , teils auch deren soziales Verhalten, nicht zuletzt den
ungezwungenen Kontakt zwischen den Geschlechtern. 114

Avercamps Winterlandschaften liegen zumeist unter einem milchig-trüben Himmel mit dem
blassem Sonnenlicht eines kalten Wintertages. Das Wetter scheint nie wirklich schlecht; ob
es „immer zauberhaft lieblich“ ist, darf bezweifelt werden (an anderer Stelle schreibt Roelofs
vom „düsteren, mit Schnee beladenen Winterhimmel“ 115 ). Die Personen sind warm
angezogen, frieren aber auch im stehenden Gespräch nicht offenkundig. Es gibt Ausnahmen:
ein Bettler in zerlumpter Kleidung; Personen, die im Eis eingebrochen sind und
herausgezogen werden müssen.

In seinen späteren Bildern versetzt Avercamp den Blickwinkel nach unten und bezieht damit
den Betrachter unmittelbarer in das Geschehen auf dem Eis ein. Er malt Bauernhöfe, Ställe
und Mühlen, wie sie damals waren, zunehmend auch Brücken, und schafft damit eine
spezifisch holländische Umgebung 116, auch wenn man nur in ganz wenigen Bildern einen
örtlichen Bezug zu Kampen herstellen kann Die zeitgenössische Realität der Niederlande
klingt gelegentlich durch die Darstellung eines Galgens mit Erhängten am Horizont an. Die
bereits zitierte „Schlüpfigkeit des menschlichen Lebens“ könnte man an diversen
Ausrutschern und Stürzen festmachen (aber wo so Viele auf dem Eis laufen, kann das kaum
ausbleiben). Auch die allegorische Verbindung zwischen Winter und letztem Lebensalter
kommt in der wiederholten Darstellung eines alten bärtigen Mannes vor. 117 Insgesamt aber
sehen wir gleichsam die Verlagerung des Stadtlebens aufs Eis mit situationsbedingt kräftiger
sozialer Durchmischung, und wir werfen einen Blick auf niederländische Verhältnisse:

111
    Colf war ein damals in den Niederlanden sommers wie vor allem im Winter beliebtes Spiel, das von der
Anlage wie von der Ausrüstung her dem heutigen Golf sehr stark ähnelt: Man musste mit seinem Schläger und
einem Lederball ein Ziel (auf dem Eis ein Stock oder ein eingefrorenes Boot) mit möglichst wenig Schlägen
erreichen (Van Suchtelen 2001, S. 26). Das Avercamp-Bild „Colfspieler auf dem Eis“ (ca. 1625, Houston,
Museum of Fine Arts: Roelofs 2009 S. IV) gleicht der Szenerie eines Abschlags vom Tee heutiger Golfplätze
verblüffend.
112
    Kleidung verriet im 17. Jh. nicht nur den sozialen Rang einer Person, sondern gab Auskunft über Zivilstand,
Beruf und regionale Herkunft. Siehe dazu den Beitrag von B. M. du Mortier “Aspects of Costume. A Showcase
of Early 17th-Century Dress“ in Roelofs 2009, S. 141-163.
113
    Roelofs 2009, S. 66.
114
    Vgl. Goedde 2005, S. 318f.
115
    „His weather is always enchantingly lovely“ - "The sky in an Avercamp often appears brooding and laden
with snow“: Roelofs 2009, S. 54f.
116
    "[…] generally regarded as the most typically Dutch of all the Netherlandish landscape specialities.“ Sutton
1988, S. 26.
117
    Sutton 1988, S. 27; Roelofs 2009, S. 79 f.

                                                       17
Nationale Identität (fast immer die niederländische Flagge) und harmonische Existenz in
einer trotz Krieg und Witterungsunbilden geordneten, ja prosperierenden Welt. 118

Das Ende einer Tradition 119

Wir haben uns in dieser Arbeit auf Bruegel und Avercamp konzentriert - ersterer ist „Vater
der Winterlandschaft als ein eigenständiges Genre“ 120 , letzterer Spezialist und typischer
Repräsentant dieses Faches. Es gab viele andere, und es gab auch unterschiedliche
Darstellungen und Techniken. Zu erwähnen sind dabei die „monochromen Winter“. 121 Ihre
wichtigsten Vertreter, Jan van Goyen und Salomon van Ruysdael, malten hauptsächlich in
Schattierungen von braun, grau und weiss oder grün und gelb. Das führte zu einer
Vereinheitlichung der Bilder und auch zu einer mehr winterlichen, gedrückten
Atmosphäre. 122 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts traten Aert van der Neer und Jan van de
Capelle mit ihren Lichteffekten hervor 123 , ebenso der bedeutende Jacob van Ruisdael, in
dessen rund 700 Bildern alle Motive niederländischer Landschaften zu finden sind, mit 25
davon relativ wenig Winterbilder. 124

Nicht nur die Winterlandschaften, sondern die gesamte niederländische Landschaftsmalerei
kam in der zweiten Hälfte des 17. Jh. zunehmend und seit dem „Katastrophenjahr“ 1672
weitgehend zum Erliegen. 125 Auch hierfür gibt es mehrere Gründe. Zwar wurden
Winterlandschaften schon deshalb weniger gemalt, weil etliche der wichtigsten Wintermaler
in den 1670er und 80er Jahren gestorben waren 126, aber die „strukturelle Überproduktion“
(Schwartz) im niederländischen Kunstmarkt war nicht mehr zu korrigieren. Das Angebot
überstieg zunehmend die Nachfrage. Die Kriege gegen England seit 1652 mit dem Verlust
hunderter von Handelsschiffen hatten die niederländische Wirtschaft bereits in
Mitleidenschaft gezogen; der Krieg gegen Frankreich, das Teile der Niederlande besetzte,
führte zu weiteren Einbussen. 127 Selbst die Wohlhabenden gaben kein Geld mehr für
Gemälde aus, von denen ohnehin zu viel auf dem Markt waren. Der schon erwähnte
Zusammenbruch des Kunstmarktes ist der entscheidende Grund für den Niedergang der

118
    Vgl. Goedde 2005, S. 321. Es sei daran erinnert, dass in Avercamps Leben und Schaffen der zwölfjährige
Waffenstillstand mit Spanien fiel (1609-1621, s. oben). Er zeigt fast nie Militär in seinen Bildern (Roelofs 2009,
S. 59).
119
    Den ausführlichsten Überblick bietet A. van Suchtelen: The Dutch Winter Landscape in the Seventeenth
Century (Van Suchtelen 2001, S. 50-70).
120
    Roelofs 2009, S. 32.
121
    Van Suchtelen 2001, S. 56f.
122
    Ein weiterer Effekt dieser Subspezialisierung war, dass der Gebrauch von wenigen Farben die Kosten und
den Zeitaufwand für den Maler reduzierte; damit liess sich die Produktion steigern: North 2001, S. 96 f. Allein
van Goyen hat rund 1200 Bilder gemalt: Van Suchtelen 2001, S. 57.
123
    Siehe Van Suchtelen 2001, S. 62
124
    Van Suchtelen 2001, Seite 68.
125
    Hierin sind sich alle Autoren einig, s. Goedde 2005, S. 320; Van Suchtelen 2001, S. 70; North 2001, S. 141
f.; ders. 2008, S. 64; Roeck in Huizinga 1941/2007, S. 200.
126
    Sutton 1988, S. 55 und Van Suchtelen 2001, S. 70 (letztere beschränkt sich auf Winterlandschaften) halten
dies offenbar für den wichtigsten Grund und erwähnen keine ökonomischen Ursachen. Die Ansicht, dass
Winterlandschaften einfach „ausgestorben“ seien, überzeugt aber nicht.
127
    North 2008, S. 71-77.

                                                       18
Landschaftsmalerei. Der Anteil an Gemälden in Amsterdamer Sammlungen, die von noch
lebenden Malern stammen, nimmt nach 1640 ab und sinkt am Ende des Jh. von über 65% auf
unter 20%. Die Zahl der Maler, die nach 1640 geboren sind, fällt aprupt auf ein
niedrigeres Niveau. Nach 1650 konnte kein Maler seinen Lebensunterhalt bestreiten,
wenn er nicht protegiert wurde oder Mäzene hatte. 128

Diskussion

Klimadeterminismus

Dieser Terminus bezeichnet eine (auch populärwissenschaftliche) Tendenz, gesellschaftliche
Veränderungen und Entwicklungen als ausschliesslich durch das Klima gesteuert zu
betrachten. 129 Das Klima ist in diesem Kontext verantwortlich für charakterliche
Eigenschaften (Fleiss, Arbeitsproduktivität 130), es ist Ursprung von Völkerwanderungen 131
und - was unser Thema betrifft - direkter Auslöser niederländischer Winterlandschaften. Es
ist ein „monokausales Interpretationselement für geschichtliche Ereignisse […] und
gesellschaftliche Krisen“. 132

Nun ist unbestritten, dass der Rückzug der Wikinger aus Südgrönland im Laufe des 14.
Jahrhunderts auch oder wesentlich eine Folge des Temperaturrückgangs seit Mitte des 13.
Jahrhunderts war. Der Niedergang der grönländischen Wikingersiedlungen hat aber auch mit
soziokulturellen Faktoren zu tun: Ungenügende Anpassung der feudalagrarischen
Wirtschaftsweise an die Umweltveränderungen (die Inuit hätten ein Beispiel geben können),
Überalterung der Gesellschaft (zu wenig Nachwuchs aus Skandinavien wegen vermehrter
Übersiedelung nach Neufundland) oder kriegerische Auseinandersetzungen mit der
ansässigen Thule-Kultur. 133 Klima ist auch hier Teil eines ganzen Wirkungsgefüges.

Kultur ist hoch komplex und kann nicht einfach als Klimafolge betrachtet werden. 134 Kriege,
Bevölkerungsdruck und politischer Niedergang sind keine unmittelbaren Klimafolgen. Zur
gleichen Zeit auftretende, vermeintlich sogar gleichartige soziale Phänome in Europa lassen
sich nicht mit scheinbar gleichartigen, überregionalen Klimaschwankungen erklären.
Jeglicher Zusammenhang zwischen Natur und Sozialem ist niemals zwangsläufig oder gar

128
    Schwartz 1998 gibt auf den Seiten 241-243 eine genaue Darstellung dieses Zusammenbruches.
129
    Mauelshagen 2010, S. 21 f.; Wanner 2016, S. 181-188. Ein Beispiel der neueren Literatur gibt Hsü, der die
gesamte biologische Evolution mit Klimaveränderungen erklärt und Darwinsche Selektionsmechanismen für
irrelevant hält (Hsü 2000, insbesondere Kap. 10 III.)
130
    Huntington hat auf dieser klimatischen Grundlage zivilisatorische Unterschiede zu erklären versucht:
Huntington E.: Civilization and Climate 1915 (zitiert bei Mauelshagen 2010, S. 21 f. und bei Wanner 2016, S.
183 mit Hinweisen auf den Zusammenhang mit der Rassenlehre).
131
    Einzelheiten bei Wanner 2016, S. 219 ff.
132
    Wanner 2016, S. 181.
133
    Wanner 2016, S. 218 f.
134
    Wanner 2016, S. 183, der sich dabei auf Franz Boas bezieht.

                                                      19
Sie können auch lesen