Niederländische Winterlandschaften 1550-1700: Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit
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Klaus F. Steinsiepe Niederländische Winterlandschaften 1550-1700: Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit Erschienen 2020 auf ART-Dok URN: urn:nbn:de:bsz:16-artdok-67979 URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2020/6797 DOI: 10.11588/artdok.00006797
Niederländische Winterlandschaften 1550-1700: Bruegel, Avercamp und die Kleine Eiszeit Klaus F. Steinsiepe Inhaltsübersicht Abstract 2 Einführung 3 Die Kleine Eiszeit 4 Klimageschichte Soziale und kulturelle Auswirkungen 6 „Eiszeit“ in den Niederlanden, 1550-1700 7 Geschichtlicher Hintergrund Niederländische Kultur im Goldenen Zeitalter 9 Klimahistorische Fakten für die Niederlande 11 Eissaison Niederländische Winterlandschaften 12 Anmerkungen zur Landschaftamalerei in den Niederlanden Bruegel und die ersten Winterbilder 14 Hendrick Avercamp, Master of the Ice Scene 15 Das Ende einer Tradition 18 Diskussion 19 Klimadeterminismus Ansichten, Argumente und Zusammenhänge 20 Beantwortung der Fragestellung 25 Bibliographie 27 1
Abstract Winter Landscapes in the Low Countries 1550-1700: Bruegel, Avercamp and the Little Ice Age The ’Little Ice Age’ was a climate period with expanded glaciers, with oscillating climatic shifts, decreasing temperatures and frequent harsh winters lasting approx. from 1300 until 1830. The main reasons for this world-wide phenomenon were long-scale variations in Earth’s rotation (Milankovitch forcing: eccentricity, axial tilt and precession) leading to decreasing solar radiation in the northern hemisphere; diminished solar activity (less sunspots); and numerous intense volcanic eruptions. On the other hand, Flemish and Dutch winter landscape and ice scene paintings started with Bruegel the Elder around 1560, flourished in the first half of the 17th century and disappeared in its last decades. This paper gives a short account of history and culture of the Low Countries and their ’Golden Age’, explains landscape painting and higlights the snow-and-ice paintings of two famous artists, Pieter Bruegel (the Elder, 1525-1569) and Hendrick Avercamp (1585-1634). After a short description of climatic determinism, it questions a supposed connection between winter scenes and climate deterioration. Winter paintings in this period are regarded by some authors as ’iconographical representations of disaster’. However, paintings of snow and ice are geographically limited to the Low Countries and chronologically to a time period of 150 years or so. Hence, they cannot be linked to the so-called Little Ice Age which affected Northern Europe broadly, was a long-term phenomenon and had its most severe winters in the 18th century. Other arguments against a direct climatic impact on art are dealt with at great length. Moreover, these winter landscapes and ice scenes are the result of a profound specialization in the Dutch art market for paintings in the 17th century, comparable to specializations in marines, still lives and others. Furthermore, Dutch landscape painting, including winters, has never been ’realistic’, but did produce idealistic sceneries of an imagined territory. Winter landscapes and ice scenes of Bruegel and Avercamp as cover pictures on books dealing with “The Little Ice Age“ can therefore be regarded as a kind of climatic determinism. 2
Einführung Wer eines der seit dem Jahr 2000 erschienenen Bücher über die „Kleine Eiszeit“, also die Zeit weltweiter Gletschervorstösse und Kältanomalien in den Jahren 1300-1850 in die Hand nimmt, sieht auf dem Umschlag die Darstellung einer Winterlandschaft entweder von Bruegel oder von Avercamp 1, Malern, die in der zweiten Hälfte des 16. bzw. in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts diese Landschaften schufen. Die vorliegende Arbeit stellt dazu folgende Fragen: - Sind diese niederländischen Winterlandschaften repräsentativ für die Kleine Eiszeit? - Hat die Klimaveränderung die Entstehung dieser Bilder ausgelöst? - Sind sie künstlerische Reflexe klimahistorischer Zustände oder malerische Fiktion? - Oder gibt es andere als klimatische Faktoren, die erklären können, warum Winterbilder in der niederländischen Malerei des 17. Jh. eine eigene produktive Kategorie bilden? Um diese Fragen im Zusammenhang beantworten zu können, ist eine kurze Darstellung der klimatischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse dieser Zeit unabdingbare Voraussetzung. An dieser Notwendigkeit orientiert sich der Aufbau der Arbeit. Deshalb werden zuerst die Kleine Eiszeit klimahistorisch erläutert und ihre sozio-kulturellen Auswirkungen beschrieben. Dann werden die Niederlande des ausgehenden 16. und des 17. Jh. vorgestellt: Geschichte, wirtschaftliche Bedingungen, kulturelle Blüte. Es folgt eine kurze Einführung in die niederländische Landschaftsmalerei, bevor deren Winterbilder besprochen werden, insbesondere die von Bruegel und von Avercamp. Auf der Basis dieser Darstellung werden mögliche und weniger wahrscheinliche Zusammenhänge zwischen dem Klima in der Kleinen Eiszeit 1550-1670 und diesen Winterlandschaften und Eisszenen diskutiert und abgewogen. Eine Beantwortung der eingangs gestellten Fragen schliesst den Text ab. x1 Fagan 2001: The Census at Bethlehem (Bruegel 1566, Musees Royaux des Beaux-Arts Brüssel); Behringer 2007: Jäger im Schnee (Bruegel 1565, Kunsthistorisches Museum Wien); Blom 2017: Winterlandschaft mit Eisläufern (Avercamp 1608, Rijksmuseum Amsterdam). Jean Grove zeigt im Frontispiz ihres Buches „The Little Ice Age“ (1988) ein wenig bekanntes Bild eines Schülers von Isack von Ostade („Gasthaus an gefrorenem Fluss“, ca. 1640; National Gallery, London) – frostig-kalt, auch weil in Schwarz-Weiss reproduziert. 3
Die Kleine Eiszeit Klimageschichte Klima ist das durchschnittliche Wetter. Das Wetter wird gemessen, das Klima wird statistisch errechnet. Meteorologische Daten müssen mindestens 30 Jahre lang regelmässig erfasst worden sein, um daraus Klimaeigenschaften ableiten zu können. 2 Pointiert gesagt ist Klima die „Statistik des Wetters“. 3 Langzeitlich gesehen (und hier sprechen wir von Tausenden und Millionen von Jahren) ist das Klima auf der Erde instabil, weil seine Antriebsfaktoren schwanken. Diese Faktoren sind Sonnenaktivität, Milanković-Forcing und Vulkanismus. Die Hauptenergiequelle der Erde, die elektromagnetische Sonneneinstrahlung, ist abhängig von der Aktivität der Sonne, die einem elfjährigen Zyklus folgt und (unter anderem) an der Zahl der Sonnenflecken gemessen werden kann. 4 Dass diese zwischen 1645 und 1715 markant zurückgegangen waren und damit auch die Sonnenaktivität (sog. Maunder- Solarminimum), wurde seit dem 17. Jh. angenommen und mit modernen Methoden im 20. Jh. bestätigt. 5 Das Ausmass der Sonneneinstrahlung ist ferner abhängig von der Umlaufbahn der Erde um die Sonne; wir erleben das jeden Winter und Sommer. Es gibt zudem langfristige Schwankungen dieser elliptischen Umlaufbahn, deren Exzentrizität sich in einem Zyklus von 100'000 Jahren ändert. Die Neigung der Erdachse pendelt um 3° in einem Zyklus von 40'000 Jahren, und ihre Kreiselbewegung (Präzession) ändert sich ebenfalls zyklisch etwa alle 20'000 Jahre. Nachgewiesen wurden diese Zeitreihen „orbitaler“ Konstellationen 1941 durch den serbischen Mathematiker Milutin Milanković (1879-1958). 6 Langfristig verursachte das Milanković-Forcing (Exzentrizität, Schiefe und Präzession) seit dem späten Holozän (etwa seit 2200 v.Chr.) eine globale Umverteilung des Energieangebotes mit allmählicher Abkühlung vor allem auf der nördlichen Hemisphäre. 7 Diese Umverteilung bildet seit der frühen Bronzezeit den Hintergrund einer Reihe von Kalt- und Warmphasen von jeweils einigen hundert Jahren Dauer. 8 Dazu gehören die Mittelalterliche Klimaanomalie (eine Warmphase ca. 900-1260 n.Chr.) und die Kleine Eiszeit ca. 1260/1300 -1830/1870. Innerhalb der Kleinen Eiszeit lassen sich weitere Kältephasen abgrenzen, die jeweils solaren 2 Vgl. Mauelshagen S. 7f. Gemäss Pfister 2017 gibt es in Mitteleuropa für die Jahre 1500 bis 1800 in historischen Dokumenten eine nahezu durchgehende Beschreibung der monatlichen, teilweise der täglichen Witterung. 3 Siehe Mauelshagen 2010, S. 8. 4 Erläuterungen bei Sirocko 2013, S. 127. 5 Mauelshagen 2010, S. 78ff. 6 Sirocko 2013, S. 26f. mit graphischer Darstellung. 7 Wanner 2016, S. 134f. sowie Abb. 35, 40 und 41. 8 Detaillierte Darstellung bei Wanner 2016, S. 136ff. 4
Minima entsprechen. 9 Sie fallen mit massiven Vulkanausbrüchen zusammen (u. a. Samales um 1258 und Tambora 1815, beide in Indonesien), die in der gesamten Kleinen Eiszeit ungewöhnlich häufig waren. 10 Grosse Vulkanausbrüche verändern die Strahlungsbilanz in globalem Ausmass durch Aschepartikel, mehr noch durch schwefelhaltige Gase, die in der Stratosphäre riesige Schwebestoffschleier bilden, wodurch die Sonneneinstrahlung vermindert wird. 11 Zusammenfassend waren wesentlich drei Besonderheiten für das Klima der Kleinen Eiszeit in der nördlichen Hemisphäre verantwortlich: Die Sonneneinstrahlung auf der Nordhalbkugel war im Rahmen des Milanković-Forcing schwächer, die Sonnenaktivität war geringer, besonders im Maunder-Sonnenfleckenminimum 1675-1715, und zahlreiche starke Vulkanausbrüche führten zu einer zusätzlichen Abkühlung. Zu den Interaktionen dieser Antriebsfaktoren kommen Zufallsprozesse wie Meeresoberflächentemperaturen und blockierende Hoch- und Tiefdruckgebiete hinzu, die für Fluktuationen saisonaler Temperaturen und Niederschläge sorgen. 12 Diese Abkühlung führte zwischen 1300 und 1850 zu Gletschervorstössen in allen Teilen der Welt. 13 Drei maximale Gletscherausdehnungen 1340-1370, 1570-1630 und 1810-1860 prägen die Kleine Eiszeit. 14 Ab 1580 hatte sich beispielsweise der Untere Grindelwaldgletscher in nur 25 Jahren um einen Kilometer ausgedehnt und Kulturland unter sich begraben; im Jahr 1860 kam er bis an die Heufelder im Tal heran. 15 Weil die Jahre 1568- 1630 in Mitteleuropa und Südskandinavien eine signifikant höhere Klimabelastung als vorher und nachher aufweisen (sowohl kalt-trockene Winter und Frühjahrsperioden als auch kalt- feuchte Hochsommer durch tropische Vulkaneruptionen), werden diese sechs Jahrzehnte als „Second Period of Little Ice Age-type Impacts“ bezeichnet (eine erste Periode lag im 14. Jh.).16 Die kälteste Periode war die des späten Maunder-Minimums 1675-1715, mit dem kältesten Winter seit 500 Jahren 1708/09 („Rekordwinter“ mit minus 4,1°C Abweichung vom Mittel). 17 In der Literatur finden sich zahlreiche weitere „Extremwinter“, die allerdings bei weitem nicht übereinstimmend angegeben werden. 18 Regional werden auch andere Winter als ungewöhnlich streng beschrieben (für die Niederlande s. unten). Von enormer Bedeutung 9 Benannt nach mehreren Astronomen, im Einzelnen: Wolf-Minimum 1270-1340, Spörer-Minimum 1420-1570 (markiert den Beginn der Kleinen Eiszeit), Maunder-Minimum 1645-1715 (das für die Kleine Eiszeit bedeutendste Minimum) und Dalton-Minimum (1790-1830). 10 Wanner 2016, S. 144f. Einzelheiten bzw. Identifizierung dieser Vulkane: Behringer 2007, S. 121f.; Mauelshagen 2010, S. 82f. 11 Mauelshagen 2010, S. 15; S. 81. 12 Pfister 2017. 13 Mauelshagen 2010, S. 62f. 14 Pfister 2005, S. 57. 15 Zumbühl et al. 1983, S. 8; eindrückliches landschaftsmalerisches Bildmaterial ebd. S. 43. 16 Pfister 2005, S. 85f. Diese LIATE-Perioden sind nicht gleichbedeutend mit den Phasen I und II der Kleinen Eiszeit: Phase I mit kalten Wintern 1400-1550, Phase II mit kalten Wintern und Sommern 1550-1725. Siehe Brooke 2014, S. 439 mit Abb. IV.1 auf S. 396. 17 Pfister 2005, S. 55; Mauelshagen 2010, S. 70. 18 Siehe z.B. Behringer 2007 (u.a. S. 124, 128, 132) sowie Mauelshagen 2010, S. 71. 5
waren dabei die durch diese Winter verkürzten Fruchtperioden und die kühlen Sommer. Auf der anderen Seite gab es immer wieder warme, ja heisse Sommer: 1590, 1616 und 1623 waren die wärmsten und trockensten seit fünf Jahrhunderten. 19 Glaser beschreibt eine bemerkenswert warme Dekade 1641-50. 20 Soziale und kulturelle Auswirkungen Unter dem Titel „Kulturelle Konsequenzen der Kleinen Eiszeit“ wurde 2002 eine internationale Konferenz am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen abgehalten. 21 Denselben Titel trägt ein Kapitel in Behringers „Kulturgeschichte des Klimas“. 22 In ähnlicher Intention präsentiert Mauelshagen ein Kapitel „Zur Sozioökonomie der Kleinen Eiszeit“. 23 Es geht dabei um Ergebnisse der Historischen Klimawirkungsforschung, dargestellt am linearen Klimawirkungsmodell nach Pfister: Biophysikalische Auswirkungen auf Landwirtschaft und Ernte, Pflanzen und Tiere sowie Energieverfügbarkeit. „Klima beeinflusst in allen Breiten- und Längengraden vor allem Regionen, die nur marginal für Landwirtschaft genutzt werden können“ (agrarischer Grenznutzen). 24 Hinzu kommen (in Abhängigkeit von der Verletzlichkeit des sozio-ökonomischen Systems 25 ) wirtschaftliche, demographische und soziale Auswirkungen: Steigende Nahrungspreise, Seuchen, Subsistenzkrisen, Migration. In letzter Konsequenz kommen kulturelle Auswirkungen zum Tragen: Kirchliche Reaktionen, Erinnerungskultur, Bewältigungsstrategien. 26 Gruppen von Jahren mit hoher klimatischer Belastung führten durch Einbussen in der Getreide- und Milchwirtschaft sowie im Weinbau häufig zu Teuerungen (so 1570-74 und 1627-29). 27 Hungersnöte sind im Wesentlichen zwar auf klimatisch bedingte Nahrungsmittelverknappung zurückzuführen, können aber auch durch ein Verteilungsproblem entstehen („zwischen Witterungsextremen und gesellschaftlichen Defiziten“ 28). An dieser Schnittstelle zwischen Sozialwissenschaften, historischer Klimaforschung und Geschichtswissenschaften sind Kausalitäten schwer von reiner Gleichzeitigkeit zu unterscheiden, auch wenn Behringer darauf verweist, dass sich „soziale Konflikte […] in weltanschaulichen oder ,kulturellen‘ Konflikten ausdrückten“. 29 Das gilt auch für andere Entwicklungen wie Revolten und Revolutionen, die sich im 17. Jh. häuften. Viele davon fallen mit ausserordentlich schlechten klimatischen Bedingungen 19 Pfister 2005, S. 45; S. 58. 20 Glaser 2001, S. 176. 21 Behringer, Lehmann und Pfister haben die Beiträge unter diesem Titel 2005 herausgegeben. 22 Behringer 2007, S. 163-221. 23 Mauelshagen 2010, S. 85-97. 24 Groove 1988, S. 394. 25 Groove 1988, S. 416. 26 Pfister 2005, S. 60f.; ausführlicher 2017. 27 Pfister 2005, S. 85f. 28 Mauelshagen 2010, S. 95f.; Pfister 2017. 29 Behringer 2007, S. 170. 6
zusammen - eine „fatale Synergie von Politik, Religion und Klima“. 30 Ähnlich ist es mit den „Korrelationen zwischen dem Klima der Kleinen Eiszeit und den Konjunkturen der Hexenverfolgung in Europa“, die vorwiegend mit dem kulturellen Muster des Schadenszaubers und mit Sündenbockreaktionen, aber auch durch regionale, witterungsbedingte Missernten vor allem beim Weinbau und durch soziale Notlagen erklärt werden können. Es braucht jedoch stets kulturelle Voraussetzungen, damit meteorologische Extremereignisse und deren sozioökonomische Folgen zu Hexenverfolgungen oder zu Revolten führen. 31 Neben ökonomischen, religiösen, gesellschaftlichen und mentalen „Konsequenzen der Kleinen Eiszeit“ behandelte die Tagung von 2002 auch „Transformationen in der Kunst“. Diese Ausführungen werden weiter unten bei der Diskussion darüber berücksichtigt, welche Auswirkungen die klimatischen Veränderungen der Kleinen Eiszeit auf die niederländische Landschaftsmalerei hatten. Vorher sind aber weitere Grundlagen zu klären. „Eiszeit“ in den Niederlanden, 1550 - 1700 Unsere Untersuchung beschränkt sich deshalb auf die Jahre 1550 bis 1700, weil Winterlandschaften praktisch nur in dieser Zeit gemalt wurden und auch nur in den Niederlanden (siehe unten). 32 Geschichtlich fällt in diese Zeitspanne die Auseinandersetzung mit der spanischen Krone, ein komplexes Aufstands- und Kriegsgeschehen, aus dem eine im damaligen Europa einzigartige Republik hervorging. 33 Das 17. Jh. wird zum „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande, die zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht aufsteigen und eine kulturelle Blüte besonders auf dem Gebiet der Malerei erleben. 34 Geschichtlicher Hintergrund Kaiser Karl V., in dessen Reich „die Sonne nie unterging“, dankte 1555 resigniert ab. Die Niederlande, als Teil des früheren Burgundischen Reiches durch Heirat und Erbfolge an das Haus Habsburg gefallen, bestanden zu diesem Zeitpunkt aus 17 Provinzen, die als selbstverwaltete Einheit (Reichskreis) dem Deutschen Reich angehörten und in etwa die heutigen Benelux-Staaten umfassten. Sie gingen als „unteilbare Einheit“ an Karls Sohn Philipp II., der bald darauf auch die spanische Krone erhielt. 43 Jahre lang regierte Philipp 30 Mauelshagen 2010, S. 102ff. zitiert ausgiebig Geoffrey Parker „Crisis and Catastrophe“ (2008), einschliesslich tabellarischer und graphischer Darstellungen dieser globalen Krise (49 bedeutende Revolten und Revolutionen 1635-1666!). 31 Mauelshagen 2010, S. 111ff. Vgl. dazu den Abschnitt „Die Hexerei als Verbrechen der Kleinen Eiszeit“ in Behringer 2007, S. 173-179, ferner den Abschnitt „Hexen und verdorbene Ernten“ in Blom 2017, S. 53-60 (ebenfalls mit Bezug auf G. Parker). 32 Blom 2017 bearbeitet dieselbe Zeitspanne, aber aus anderen Gründen: Für ihn entsteht aus der Krise des 17. Jahrhunderts die moderne Welt. 33 Schott 2014, S. 147; North 2008, S. 22. 34 North 2008, S. 37 ff.; Wielenga 2012, S. 84 ff. 7
„ernst und selbstbewusst, zugleich misstrauisch, pedantisch und langsam in seinen Entschlüssen“ 35 von Madrid aus, ohne die Niederlande als Herrscher je wieder zu besuchen. Schon ab 1560 revoltierten die mehrheitlich protestantischen nördlichen Niederlande gegen die rigide Religionspolitik der katholischen Spanier, wurden aber durch den Herzog von Alba kompromisslos unterdrückt. 36 1579 schlossen sich die sieben Nordprovinzen in der Union von Utrecht zusammen. 1581 erklärten die Generalstände (die Ständevertretung dieser Provinzen) den Abfall 37, indem sie Philipp II. nicht mehr als König anerkannten. Militärisch gewannen die Spanier anfangs die Oberhand. Dabei eroberten sie 1585 die damalige Handels- und Kunstmetropole Antwerpen, was die Flucht der halben Bevölkerung bewirkte, Teil eines Exodus protestantischer Niederländer in die Nordprovinzen. 38 Amsterdam nahm rund 30'000 Flüchtlinge auf, auch andere Städte wuchsen beträchtlich. 39 Nach vergeblichen Versuchen, ausländische Fürsten in die Staatsführung zu integrieren (Frankreich: Herzog von Anjou; England: Graf von Leicester), entwickelte sich ab 1588 die Republik der Vereinigten Niederlande, begünstigt durch die Niederlage der spanischen Armada gegen die mit niederländischen Schiffen verstärkte englische Flotte 1588 und durch einen protestantischen Thronfolger in Frankreich (Heinrich von Navarra 1589). Inhaber der Souveranität waren die Generalstände, also die Versammlung der von den sieben Provinzen delegierten ständischen Vertreter unter der faktischen Führung eines militärischen Oberkommandanten (Statthalter) und eines zivilen Repräsentanten der Ständeversammlung (Ratspensionär). Nach dem Tod Philipps II. 1598 mündete die aussen- wie innenpolitische Konsolidierung der „Generalstaaten“ vorerst in einen zwölfjährigen Waffenstillstand mit Spanien 1609-1621. Ab etwa 1590, besonders in der Zeit des Waffenstillstandes entwickelte sich die junge Republik zu einer wirtschaftlichen Grossmacht. Das Fehlen einer feudalen Tradition, ein hoher Urbanisierungsgrad mit offener bürgerlicher Schicht und ein kräftiges Bevölkerungswachstum (Verdoppelung von rund 1 auf 2 Millionen 1500-1650 40 ) waren günstige soziale Faktoren. In wirtschaftlicher Hinsicht trugen Kommerzialisierung von Ackerbau und Fischfang sowie Entwicklung und Ausbau der Handelsflotte (die 1650 grösser war als die von England, Frankreich und Spanien zusammen) zum Aufstieg bei. Die Vereinigte Ostindien-Kompanie (ab 1602) und zusätzlich die Westindien-Kompanie (ab 35 dtv 2000, S. 243. Philipp verliess Brüssel im Juli 1559 und kam danach nie mehr in die Niederlande; er sprach weder niederländisch noch französisch. Cees Nooteboom hat darauf aufmerksam gemacht, wie extrem langsam die Kommunikation zwischen dem König in Madrid und seinen Statthaltern im Norden gewesen sein muss („Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, an die wir so gewöhnt sind, gab es nicht“, in: Der Umweg nach Santiago, Franfurt am Main 32013, S. 158). 36 Don Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von Alba, wurde von Philipp II. 1567-1573 in die Niederlande entsandt. Bruegel soll ihn als Anführer der spanischen Lanzenreiter im „Bethlehemitischen Kindermord“ (ebenfalls ein frühes, wenn auch undatiertes Winterbild) portraitiert haben. 37 Schillers „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ (1788-1801) beinhaltet zwar die Vorgeschichte und den Krieg gegen die Spanier, endigt aber mit der Eroberung von Antwerpen 1585. 38 Antwerpen, Boom-Stadt des 16. Jh., Schaltstelle des europäischen Kolonialhandels, hatte damals rund 100'000 Einwohner. Siehe Schott 2014, S. 141-148. 39 Wielenga 2012, S. 59. 40 North 2008, S. 44. 8
1621) übernahmen mit eigenem Heer und politischen Vorrechten die Ausbeutung der Kolonien. 41 1621 wird der Krieg mit Spanien wieder eröffnet, nachdem im Inneren ein religiös motivierter Bürgerkrieg abgewendet werden konnte. Zudem beteiligt sich die Republik finanziell und diplomatisch am Dreissigjährigen Krieg. Die zunehmende Schwächung der spanischen Habsburger (unfähige Regenten, wirtschaftlicher Niedergang in Spanien selbst) führt im Rahmen des Westfälischen Friedens von 1648 zur Anerkennung der Republik und damit zum Ende des „Achtzigjährigen Krieges“. Mit dem Jahr 1650 erreicht das „Goldene Zeitalter“ der Republik seinen Höhepunkt. Die Vormacht im Welthandel provoziert zwischen 1652 und 1674 drei kriegerische Konfrontation mit England. 1672 besetzt Frankreich grosse Teile der Niederlande (sog. Katastrophenjahr). Nach Überwindung dieser Krise werden Wilhelm III. aus dem Haus Oranien und seine Ehefrau Maria Stuart 1689 König und Königin von England (Glorious Revolution gegen den katholischen König Jakob II.). Das 18. Jh. sieht die Vereinigten Niederlande allerdings nur noch als „eine Macht zweiten Ranges“. 42 43 Niederländische Kultur im Goldenen Zeitalter Im 17. Jahrhundert stehen die Vereinigten Niederlande auf dem Höhepunkt ihrer politisch- wirtschaftlichen Macht. In diesem „Goldenen Zeitalter“ wird die Republik auch in Wissenschaft und Architektur tonangebend, in der Malerei sogar führend. Noch im 16. Jahrhundert gab es kaum eine nordniederländische Malerei; es dominierte die flämische Malerei (Brügge, Gent, Antwerpen). Mit dem Erfolg des Aufstandes und der bereits erwähnten Flüchtlingsbewegung verlagerte sich der Schwerpunkt der Kunstproduktion in die Nordprovinzen (die Südprovinzen blieben unter spanisch-katholischer Herrschaft). Zwischen 1580 und 1630 waren in den Vereinigten Niederlanden etwa 375 flämische Maler tätig. 44 Gleichzeitig kam es zu einer Umstellung des bisherigen Kunstmarktes. Abnehmer der Bilder waren weniger kirchliche oder adlige Auftraggeber als zunehmend bürgerliche Käuferschichten, die sich Bilder leisten konnten. Der Geschmack änderte sich auch durch den protestantisch-calvinistischen Einfluss: Religiöse Historien und Andachtsbilder wurden geringer geschätzt, Stillleben, Porträts, Genreszenen und besonders Landschaften immer beliebter. 45 Damit wurde die Malerei des Goldenen Zeitalters zu „einer bürgerlichen Kunst par excellence“, die ihren Abnehmern die soziale und kulturelle Wirklichkeit der Republik vorführte und ihren Stolz darauf dokumentierte. 46 Das wirtschaftliche Wachstum der Niederlande führte zu steigendem Wohlstand breiter Schichten und damit auch zu einer 41 dtv 2000, S. 245; Wielenga 2012, S. 72ff. 42 Wielenga 2012, S. 185 ff. 43 Vgl. den klassischen Text von Johan Huizinga „Holländische Kultur im 17. Jahrhundert“ von 1941/2007 (mit einem lesenswerten Nachwort von B. Roeck, S. 183-208). 44 Gräf 2009, S. 118. 45 North 2008, S. 61. 46 Wielenga 2012, S. 176. 9
vermehrten privaten Nachfrage nach Gemälden. 47 Die Maler schufen zunehmend für einen eigentlichen Kunstmarkt. 48 Gemäldebesitz war Mitte des 17. Jh. weit verbreitet; für eine bürgerliche Familie war es üblich, Kunstwerke zu besitzen. 49 „Das Gemälde hing überall“, schreibt Huizinga lakonisch. 50 All das führte zu einer enorm hohen Produktion an Bildern 51 und zu einer starken Spezialisierung sogar innerhalb malerischer Kategorien (wie Frucht-, Blumen-, Fisch- oder Jagdstilleben 52 ). Um 1670 brach dieser übersättigte Kunstmarkt zusammen; drei Viertel der Kunstmaler verloren ihr Einkommen. 53 Die Architektur brachte den holländischen Klassizismus hervor (Mauritshuis in Den Haag), der nach Norddeutschland ausstrahlte (Potsdamer Schloss). Die Literatur blieb auf die Niederlande beschränkt. Hugo Grotius (1583-1654) legte mit seinen Werken die Grundlagen für das Völkerrecht. In der Schulbildung waren die Niederlande vorbildlich; die Universität Leiden war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die meistbesuchte in Europa. 54 Christiaan Huygens (1629-95) gilt als einer der führenden Mathematiker und Physiker des 17. Jh. Er ist der Begründer der Wellentheorie des Lichts, formulierte in seinen Untersuchungen zum elastischen Stoss ein Relativitätsprinzip, erklärte die Saturnringe und konstruierte die ersten Pendeluhren. Mit von ihm verbesserten Teleskopen gelangen ihm wichtige astronomische Entdeckungen. Antonie van Leeuwenhoeck (1632-1723), niederländischer Naturforscher, war Autodidakt, Erbauer und Nutzer von Lichtmikroskopen, mit denen er Forschungen im Bereich der Zellbiologie betrieb. Zudem war er Nachlassverwalter Vermeers in Delft. Grosse Philosophen dieser Zeit wie Descartes 55 , Locke, Hobbes und Bayle lebten und publizierten (vorübergehend oder dauernd) in den Niederlanden; die dortigen Verleger gehörten zu den wichtigsten Buchproduzenten Europas. 56 Der in der jüdisch-portugiesischen Gemeinde von Amsterdam geborene Baruch Spinoza (1632-1677) ist der bedeutendste Philosoph der Niederlande. 57 47 North 2008, S. 64. 48 Eine genaue Beschreibung der hochkomplexen Marktmechanismen gibt Schwartz 1998. Siehe auch Kapitel V „Auftraggeber und Kunstmarkt“ in North 2001, S. 79-99. 49 Schama 1988, S. 344 f. 50 Huizinga 1941/2007, S. 108. 51 Nach Montias 1990 (zitiert bei North 2001, Anmerkung 38 auf S. 155) malten in der Mitte des 17. Jh. 650 bis 700 niederländische Maler zwischen 63'000 und 70'000 Bilder jährlich. Van der Woude 1991 berechnet für das gesamte 17. Jh. 5,3 Millionen Gemälde nur in Holland (Tab. 9, S. 315). Schwartz 1998, S. 241 bestätigt diese Zahlen. 52 North 2008, S. 60. 53 Wielenga 2012, S.175. Siehe dazu 4.4 Seite 15f.. 54 Wielenga 2012, S. 179; Blom 2017 S. 85f. 55 Blom 2017, S. 135-143. 56 Wielenga 2012, S. 182. Siehe auch Blom 2017, S. 173-186. 57 Blom 2017, S. 186-205 10
Klimahistorische Fakten für die Niederlande Der Winter 1564-65 galt in den Niederlanden als härtester Winter seit mehr als 50 Jahren. 58 Die durchschnittlichen Temperaturen der niederländischen Winter in der Kleinen Eiszeit werden auf 1,6 bis 1,8°C veranschlagt (zum Vergleich: die Wintertemperaturen 1998-2009 betrugen in den Niederlanden und Belgien 4°C). 59 Zwischen 1550 und 1625 gab es sechs besonders strenge Winter, in denen die Gewässer acht Wochen und mehr zugefroren waren. 60 Grosse Flüsse und auch die Zuidersee waren von einer dicken Eisschicht bedeckt, so dass der Transport zu Wasser mit Pferdewagen und Schlitten ablief. Einträge an verschiedenen Zollstationen belegen, dass der Schiffsverkehr zum Erliegen kam. Wochenlang konnte man auf dickem Eis von Amsterdam nach Kampen und von Antwerpen nach Gies reisen. 61 Auch wenn der Winter 1607-08 besonders streng war, kam es erst in den Jahren 1680 bis 1690 zu den kältesten Wintern in den Niederlanden (dem späten Maunder-Minimum entsprechend, siehe oben). Der Januar 1684 war hier der vielleicht kälteste Monat überhaupt. 62 Es war aber (wie sonst auch in dieser Zeit) nicht durchgehend kalt. So gab es etwa 1636 und 1637 aussergewöhnlich heisse Sommer 63 Eissaison „Keine andere Nation der Welt wartet so auf die vereiste Jahreszeit wie die Niederlande. Sobald die Temperaturen unter Null sinken, mustert jedermann die Kanäle, Flüsse und Seen wie ein Falke [...] und wenn es soweit ist, schnallt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die Schlittschuhe an. Zwischen Dezember und März kann dieses ,Eisfieber’ zur nationalen Epidemie werden, so wie im Winter 2008-09, als in wenigen Wochen fast eine Million Schlittschuhe in den Niederlanden verkauft wurden - einem Land von 16,5 Millionen Einwohnern“, liest (und lernt) man im Vorwort des Katalogs zur grossen Avercamp- Ausstellung 2009. 64 Diese Liebe zum Eis und zum Schlittschuhlaufen bestand in den Niederlanden seit Jahrhunderten; Schlittschuhe aus Holz und Eisen sind seit dem 14. Jh. bekannt. Seit 1551 gab es in Amsterdam eine Handwerkergilde, deren Mitglieder Schlittschuhkufen herstellten. 65 Die Standesschranken auf dem Eis waren gering; auch Frauen durften sich ausserhalb der üblichen Anstandsregeln sportlich bewegen. 66 58 De Kraker 2009, S. 29 (s. auch Abb. 9 S. 26). Für Glaser 2001, S. 118 zählt dieser Winter „zu den grossen Jahrhundertereignissen“. 59 De Kraker 2009, S. 25. 60 De Kraker 2009, S. 25 ff. Es handelt sich um die Winter 1564-65 (dieser Winter spielt im Zusammenhang mit Bruegel eine Rolle), 1572-73, 1594-95, 1607-08 (diesem besonders kalten Winter widmet De Kraker einen längeren Abschnitt, S. 26 ff.), 1620-21 und 1621-22. 61 De Kraker 2009, S. 27 ff. 62 Van Suchtelen 2001, S. 15. 63 De Kraker 2009, S. 25. 64 Roelofs 2009, S. 7. 65 Roelofs 2009, S. 59. 66 Gräf 2009, S. 50. 11
Die älteste bildliche Darstellung niederländischer „Skater“ ist ein Holzschnitt von 1498. Er zeigt den Sturz der Heiligen Lidwina von Schiedam, die beim Schlittschuhlaufen verunfallte. 67 Moralisierende Vergleiche zwischen Eislauf und der „Schlüpfrigkeit des menschlichen Lebens“ wurden immer wieder gezogen. 68 Allerdings stehen schon auf den frühesten gemalten Eisszenen das Vergnügen und die Geselligkeit auf dem Eis im Vordergrund, insbesondere bei Avercamp (siehe unten). Niederländische Winterlandschaften Anmerkungen zur Landschaftsmalerei in den Niederlanden Als Begründer der niederländischen Landschaftsmalerei gilt Joachim Patinir (1475/80- 1524). 69 Seine überblicksartigen „Weltlandschaften“ mit ihren anspielungsreichen biblischen und mythologischen Details und ihren Allegorien einer Pilgerreise durch die irdische Existenz waren damals in ganz Europa begehrt. 70 Die Entwicklung zunehmend eigenständiger Landschaftsdarstellungen war eng mit dem Aufstieg Antwerpens zur Handels- und Kunstmetropole und zum Zentrum der geographischen Wissenschaft verbunden. Geographie und Topographie der Erde wurden hier systematisch betrieben; Kartographen, Maler und Kupferstecher arbeiteten Hand in Hand. Die Grenzen zwischen damaliger „Chorographie“ und dem Landschaftsbild, wie wir es heute nennen, waren fliessend. 71 Pieter Bruegel (d. Ä., um 1525-1569), der bedeutendste Landschaftsmaler des 16. Jh., war mit dem Humanisten und Kosmographen Abraham Ortelius (1527-1598) befreundet, der als Erster in einem grossen Atlas das damalige geographische Wissen zusammenfasste. 72 Bruegel brachte 1554 von einer fast dreijährigen Reise nach Italien ausschliesslich Landschaftszeichnungen mit nach Antwerpen zurück. Mit seinem Zyklus der Jahreszeiten knüpfte er an die mittelalterlichen Stundenbücher des 15. Jh. an, die durch die Brüder von Limburg (Les Très Riches Heures de Duc de Berry, 1411-16) sowie durch Simon Bening (um 1483-1561) zur Blüte gebracht waren. Darin wird der monatliche Wandel der Landschaft zusammen mit den wechselnden Tätigkeiten der Menschen dargestellt. 73 Stärker als auf diesen Kalenderbildern kommen auf den erstmals grossformatigen Bildern von Bruegel die 67 Was sie zwar invalid machte, ihr aber die verabscheute Eheschliessung ersparte: Van Suchtelen 2001, S. 16 mit Abb. 4. 68 Van Suchtelen 2001, S. 16; Gräf 2009, S. 52. 69 Ihn hat Dürer 1521 besucht und danach als einen „gut lantschaftsmaler“ beschrieben - die erstmalige Verwendung dieses Begriffes (Büttner 2006, S. 100). 70 Büttner 2006, S. 100-104; 106. 71 Büttner 2000, S. 15, S. 189 f.; wikipedia Landschaftsmalerei S. 7. „Chorographie“ ist die Kartierung einer kleineren Region in Form einer künstlerischen Darstellung (Büttner 2000, v.a. S. 53 f.). Ähnlich Hedinger 2001, S. 11. 72 Büttner 2000, S. 54 f. 73 Wiemann 2005, S. 65. 12
jahreszeitlichen Wetterverhältnisse einschliesslich des Winters und ihre Auswirkung auf die bäuerliche Arbeit zur Geltung, durchaus „im Sinne des meteorologischen Interesses der Zeit“. 74 1585, sechzehn Jahre nach Bruegels Tod, wurde Antwerpen, das künstlerische Zentrum der Niederlande, in dem die Lukasgilde (die Zunft der Maler) 300 Mitglieder zählte 75, von den Spaniern eingenommen. Unter den Flüchtlingen waren auch etliche flämische Landschaftsmaler, die sich vor allem in Amsterdam niederliessen. Zu erwähnen sind Hans Bol von Mechelen in Flandern und Gillis van Coninxloo von Antwerpen sowie deren Nachfolger David Vinckboons, ebenfalls aus Mechelen. Zur Gruppe dieser Amsterdamer Landschaftsmaler zählt noch Esaias van de Velde, dessen Vater aus Antwerpen stammte. Die Landschaftsmalerei entwickelte sich zum profitablen Spezialgebiet für die Maler, weil Käufer und Kunden zunehmend Gefallen daran fanden und es immer mehr Käuferschichten gab, die sich Gemälde und Stiche leisten konnten. Auch hier spielte der Markt eine Rolle: Landschaften waren preiswert. 76 Sie wurden zur beliebtesten Gattung in den niederländischen Gemäldesammlungen des 17. Jh. 77 Was aber bewirkte die Begeisterung für Landschaften? „Was hat damals der Käufer im Gemälde oder im Stich gesucht?“ fragt Huizinga. 78 Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach; es gab vielschichtige Gründe. Das Land um die Städte herum war regelmässiges Ausflugs- und Erholungsziel. 79 Der protestantisch- calvinistische Einfluss und die Nüchternheit des niederländisch-kaufmännischen Denkens beförderten Darstellungen des täglichen Lebens wie auch schlichte Ansichten der engeren Heimat. 80 Neben solchem Lokalpatriotismus konnte auch der Aufstieg der Niederlande in Landschafts- oder Meeresbildern dokumentiert werden. Landschaften waren nützlich als Wandschmuck und zur Repräsentation, aber auch als Chorographie, als Darstellung einer Region, zumal das Interesse an Entdeckungsreisen, an Geographie und Kartographie zunahm. 81 Man wollte Gemälde besitzen, die ein Thema sinnvoll wiedergaben 82 ; die Verbindung von Kunst und Kosmographie in der Landschaftsmalerei war dazu bestens geeignet. 83 Dann gilt es noch Weiteres zu bedenken: Niederländische Landschaftsbilder des 16. und 17. Jh. sind realistisch und gleichzeitig idealisiert. Das Typische wird stärker gewichtet als das 74 Schneider 2009, S. 99. 75 Büttner 2006, S. 107. Die Bäckerzunft hatte 169, die Metzger 78 Mitglieder. Zu den Aufgaben der Lucas- Gilde s. North 2001, S. 67 ff. 76 Sutton 1988, S. 116 Tabelle 1 zeigt einen deutlichen Preisrückgang im zweiten Viertel des 17. Jh. 77 North 2008, S. 62 f. 78 Huizinga 1941/2007, S. 110. 79 Schon damals lebten mehr als 60 Prozent der holländischen Bevölkerung in Städten. Sutton hat dazu angemerkt: "In a real statistical sense, therefore, Dutch landscape is a reflection of an urban ideology: images of the countryside compensating a busy city folk“ (Sutton 1988, S. 3). Siehe auch Büttner S. 171 ff. 80 Büttner 2000, S. 179 belegt dies mit dem Erfolg, den eine Serie von einfachen Landschaftszeichnungen des unbekannten „Meisters der kleinen Landschaften“ 1559/1561 hatte. 81 Gräf 2009, S. 7. 82 Huizinga 1941/2007, S. 110. 83 Büttner 2000, S. 196. 13
Individuelle 84, das Charakteristische im Verein mit dem Sinnbildlichen steht vor der blossen realistischen Darstellung. 85 Bruegel und seine Zeitgenossen zeigten „nicht nur das, was sie sahen, sondern zugleich auch das, was sie wussten oder für mitteilenswert hielten“. 86 Gleichzeitig waren in scheinbar realistisch gemalten Landschaften oft Teile wilder Natur zu sehen, die es in den Niederlanden gar nicht gab. „So boten diese Landschaften auch eine imaginäre Welt, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Harmonie gebracht wurden.“ 87 Zudem sind auch vermeintlich reine („absolute“) Naturdarstellungen nicht von einer theologischen oder philosophischen Deutung ausgenommen. Ein Landschaftsbild war niemals sinnfrei, sondern zumindest ein Ausweis göttlicher Macht. „Der allegorische Charakter der Darstellung und seine inhaltliche Deutung oder Bedeutung schlossen einander nicht aus.“ 88 Büttner spricht von einer „sinnreichen Verschleierung der Bildinhalte.“ 89 Huizinga sagt es so: „Im Blumenstück liegt hinter jeder Blume ein Sinnbild. Im Stilleben enthält jeder Gegenstand neben seiner natürlichen auch eine emblematische Bedeutung.“ 90 Bruegel und die ersten Winterbilder Die frühesten niederländischen (flämischen) Winterbilder finden sich in den oben schon kurz erwähnten „Très Riches Heures“ der Brüder Limburg. Darin wird der Monat Februar durch eine schneebedeckte Landschaft vorgestellt; Bauern wärmen sich am offenen Feuer; es scheint ein durchaus „normaler“ Winter zu sein. Rund hundert Jahre später verfertigte Simon Bening wieder ganzseitige Kalenderbilder mit naturalistischen schneereichen Winterlandschaften. 91 1558 zeichnete Bruegel die „Eisläufer vor dem St. Georgstor“ in Antwerpen (als Kupferstich erschien das Bild 1560). 1564 erschien eine Radierung von Joris Hoefnagel „Winterfreuden auf der Schelde“. Die „Brabanter Chronik“ verzeichnet 1564-65 den kältesten Winter seit 53 Jahren; man habe von November bis Februar mit Pferd und Wagen die Schelde überqueren können. 92 In dieser Chronik ist ein Holzschnitt von Bernard van de Putte abgedruckt, der ebenfalls eine Winterszene auf der gefrorenen Schelde mit Antwerpen im Hintergrund zeigt. Beide, Hoefnagel wie van de Putte, stellen jedoch „alles andere als die Schrecken des grausamsten Winters seit Menschengedenken“ dar 93, sondern bereits das Vergnügen auf dem Eis. Das früheste gemalte Bild aus diesem besonderen Winter 84 Büttner 2000, S.191. 85 Hedinger 2011, S.24. 86 Büttner 2000, S. 191. 87 Wielenga 2012, S. 176. 88 Büttner 2000, S. 183-186. 89 Büttner 2006, S. 208. 90 Huizinga 1941/2007, S. 113. 91 Van Suchtelen 2001, S. 36 und 38 (Abb. 26 und 27). 92 Aus der Brabanter Chronik des Arnold Nicolai von 1565: „Im Jahre 1564 ist der allerkälteste Winter und Frost gewesen, den es hier zu Lande seit 53 Jahren gab, so dass viele Menschen den Kältetod gestorben sind […]“. S. Büttner 2000, S. 180 f. 93 Büttner 2000, S. 181. 14
ist die Darstellung eines Eisberges, den am 2. Januar 1565 die Flut bis vor das Pier von Delfshaven angeschwemmt hatte. 94 In diesem Jahr malte Bruegel das Bild „Die Jäger im Schnee“ (Wien, Kunsthistorisches Museum). Es ist die erste grossformatige Winterlandschaft und gilt als deren "starting point“ und als eine der Ikonen der Kleinen Eiszeit. 95 Die verschneite Flusslandschaft, die auch in den Farben verdeutlichte Kälte und Starre eines Wintertages und der neuartige diagonale Bildaufbau machen das Bild zu dem Vorläufer schlechthin des niederländischen Winterlandschafts-Genres, das bis 1625 voll entwickelt sein wird. 96 Das Bild ist ein Auftragswerk für den reichen Kaufmann Nicolas Jongelinck, der bei Bruegel den schon erwähnten Zyklus von Monatsbildern für seine Landvilla bestellt hatte. 97 Insofern folgte Bruegel einer Tradition, in der wenige Jahre später (1577) auch Jakob Grimmer Vier Jahreszeiten malte und den Winter dabei als eisbedeckte Fläche mit Schlittschuhläufern darstellte. 98 Allegorien der Jahreszeiten wurden noch bis in das erste Drittel des 17. Jh. verfertigt. 99 Schon Gibson hat darauf hingewiesen, dass Bruegel zwischen 1565 und 1567 insgesamt vier Winterbilder gemalt hat: die erwähnten „Jäger im Schnee“, „Winterlandschaft mit Vogelfalle“, „Volkszählung in Bethlehem“ und „Anbetung der Drei Könige“. Diese „Vorliebe für Winterbilder“ falle mit einigen besonders strengen Wintern in den Niederlanden in den 1550er und 1560er Jahren zusammen. 100 Tatsächlich sind die „Jäger im Schnee“ ein Symbol für die Kältephase der Kleinen Eiszeit geworden und werden in diesem Zusammenhang immer wieder reproduziert, ähnlich wie die Bilder von Avercamp. Hendrick Avercamp, Master of the Ice Scene Avercamp wurde 1585 in Amsterdam als Sohn des späteren Stadtapothekers von Kampen (einer kleinen Ortschaft am Ostrand der Zuidersee) geboren. Er war höchst wahrscheinlich taubstumm. Aufgewachsen in einer Familie mit hohem Bildungsniveau, erhielt er seine malerische Ausbildung bei Pieter Isaacsz, einem Historien- und Porträtmaler, in dessen Atelier in Amsterdam. 101 1613 kehrte Avercamp nach Kampen zu seiner Familie zurück und blieb dort. Es gibt keine Hinweise auf eine Tätigkeit ausserhalb seines Heimatortes, in dem 94 Van Suchtelen 2001, S. 12f., Abb. 1 (Van de Putte) und 2 (Van Culemborch). 95 Van Suchtelen 2001, S. 13; Robinson 2005, S. 38. 96 Gräf 2009, S. 59; S. 119. 97 Büttner 2006, S. 112. Die Diskussion darüber, ob es sich bei diesem Zyklus von 6 Bildern (eines ist verschollen) um eine begrenzte Anzahl (ein Bild für je zwei Monate) handelte, weil der dafür bestimmte Salon nicht grösser war, oder ob es doch zwölf Bilder waren (also 7 Bilder verschollen sind), ist nicht abgeschlossen. Vgl. Gibson 1989, S. 70, sowie Fussnote 120 bei Sutton 1988, S. 60. Ausführlich auch Gräf 2009. 98 Sutton 1988, Abb. 18-21 auf S. 19. Die Abb. 21 (Winter) verweist eher auf Avercamp als auf Bruegel. 99 Sutton 1988, S. 26 f. 100 Gibson 1989, S. 71. 101 Vgl. Huizingas Anmerkungen über die fast ausschliesslich lokale Ausbildung der niederländischen Maler im 17. Jahrhundert: Huizinga 1941/2007, S. 120. 15
Avercamp 1634 starb. Er hat nichts Schriftliches hinterlassen und nur wenige seiner vielen Bilder datiert. Auch Avercamp steht unter dem prägenden Einfluss Bruegels, dem wir, wie schon geschildert, die „Die Erfindung der Landschaft“ verdanken. 102 Neben dem „ikonischen“ Bild der „Jäger im Schnee“ war Bruegels Gemälde „Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle“ von 1565 (Brüssel, Museum der Künste) sehr beliebt und prägend. Das Thema des zugefrorenen Kanals in einer flachen Landschaft, bevölkert von Schlittschuhläufern, die verschiedenen Aktivitäten nachgehen, die Vogelperspektive mit hohem Horizont und kahlen Bäumen im Vordergrund - all das sind Bildelemente zumindest des frühen Avercamp. In einem seiner bekanntesten Bilder „Winterlandschaft mit Eisläufern“ (ca. 1608, Rijksmuseum Amsterdam) zitiert er Bruegel, indem er dessen Vogelfalle von 1565 praktisch unverändert übernimmt. 103 Weitere Einflüsse werden dem schon erwähnten Gillis van Coninxloo zugeschrieben (u. a. die Repoussoir-Bäume des Vordergrundes 104 ), ferner David Vinckboons (Figuren, erzählerische Details 105 ). Mit beiden hatte Avercamp während seiner Zeit in Amsterdam Kontakt. Obwohl Hans Bol (auch er einer der flämischen Emigranten, s. oben) 1593 gestorben war, kannte Avercamp dessen graphisches Werk, das prall-derbe, wiederum von Bruegel beeinflusste Eisszenen zeigt. Van Suchtelen bezeichnet Bol sogar als unmittelbaren Vorläufer von Avercamp. 106 Avercamps Bilder stellen Winterlandschaften dar, konzentrieren sich aber auf einen spezifischen Anteil daran: die Eisszene. Master of the Ice Scene ist der deshalb zutreffende Untertitel der grossen Avercamp-Retrospektive 2009-10 in Amsterdam und Washington. Im Grunde handelt es sich bei seinen Bildern um „eine spezifisch nordniederländische Variante der Winterlandschaft“ 107, kleine Winterlandschaften mit Schlittschuhläufern, die man im 17. Jh. wintertjes nannte. 108 Mit ihnen schuf Avercamp ein eigenständiges Genre. 109 Diese Bilder zeigen keine winterliche Atmosphäre im Sinn von bitterer Eiseskälte (obwohl sie fast ausnahmslos auf dem Eis angesiedelt sind), heftigem Schneefall (es schneit nie bei Avercamp) oder dunkel-winterlicher Stimmung. Avercamp malt im Wesentlichen das Vergnügen auf dem Eis. Die leichteren Seiten des Lebens zu zeigen, war charakteristisch für die niederländische Kunst im 17. Jh. 110 102 Büttner 2000. 103 Umschlagbild bei Blom 2017. Avercamp war sicherlich nicht uneigennützig: Bruegels Vorlage war äusserst bekannt und war mit 127 Kopien (die meisten aus der Werkstatt von Bruegels Sohn P. Bruegel d. J) ein enormer Verkaufserfolg (Roelofs 2009, S. 35; Van Suchtelen 2001, S. 41). 104 Roelofs 2009, S. 31f. 105 Roelofs 2009, S. 36-39. 106 Van Suchtelen 2001, S. 50; Roelofs 2009, S. 41f. Van Suchtelen 2001 schreibt Hans Bol zudem eine wichtige Rolle bei der Entstehung der nordniederländischen Landschaftsmalerei zu: Durch seine Stiche seien viele Motive von Bruegel an andere Maler vermittelt worden (S. 46). 107 Roelofs 2009, S. 44. 108 Büttner 2006, S. 175. 109 Van Suchtelen 2001, S. 28. 110 Roelofs 2009, S. 54. Vgl. auch Goedde 2005, S. 320f. 16
Avercamp malt typische niederländische Aktivitäten: Schlittschuhläufer (manchmal mehr als hundert auf einem Bild, fast ein Gewusel), Gruppen sich miteinander unterhaltender oder gemeinsam eislaufender Personen, Schlitten, Eissegler, Erfrischungszelte auf dem Eis (stets mit der niederländischen Flagge) und immer wieder Colfspieler. 111 Diese Sujets durchziehen sämtliche Bilder von Avercamp mit einer stupenden Genauigkeit der Beobachtung und einer ebensolchen Liebe zum Detail. Auch wenn Personengruppen offenkundig höheren Standes (erkenntlich an ihrer Kleidung 112 ) zusammenbleiben, zeigen die Bilder einen Querschnitt durch die Gesellschaft 113 , teils auch deren soziales Verhalten, nicht zuletzt den ungezwungenen Kontakt zwischen den Geschlechtern. 114 Avercamps Winterlandschaften liegen zumeist unter einem milchig-trüben Himmel mit dem blassem Sonnenlicht eines kalten Wintertages. Das Wetter scheint nie wirklich schlecht; ob es „immer zauberhaft lieblich“ ist, darf bezweifelt werden (an anderer Stelle schreibt Roelofs vom „düsteren, mit Schnee beladenen Winterhimmel“ 115 ). Die Personen sind warm angezogen, frieren aber auch im stehenden Gespräch nicht offenkundig. Es gibt Ausnahmen: ein Bettler in zerlumpter Kleidung; Personen, die im Eis eingebrochen sind und herausgezogen werden müssen. In seinen späteren Bildern versetzt Avercamp den Blickwinkel nach unten und bezieht damit den Betrachter unmittelbarer in das Geschehen auf dem Eis ein. Er malt Bauernhöfe, Ställe und Mühlen, wie sie damals waren, zunehmend auch Brücken, und schafft damit eine spezifisch holländische Umgebung 116, auch wenn man nur in ganz wenigen Bildern einen örtlichen Bezug zu Kampen herstellen kann Die zeitgenössische Realität der Niederlande klingt gelegentlich durch die Darstellung eines Galgens mit Erhängten am Horizont an. Die bereits zitierte „Schlüpfigkeit des menschlichen Lebens“ könnte man an diversen Ausrutschern und Stürzen festmachen (aber wo so Viele auf dem Eis laufen, kann das kaum ausbleiben). Auch die allegorische Verbindung zwischen Winter und letztem Lebensalter kommt in der wiederholten Darstellung eines alten bärtigen Mannes vor. 117 Insgesamt aber sehen wir gleichsam die Verlagerung des Stadtlebens aufs Eis mit situationsbedingt kräftiger sozialer Durchmischung, und wir werfen einen Blick auf niederländische Verhältnisse: 111 Colf war ein damals in den Niederlanden sommers wie vor allem im Winter beliebtes Spiel, das von der Anlage wie von der Ausrüstung her dem heutigen Golf sehr stark ähnelt: Man musste mit seinem Schläger und einem Lederball ein Ziel (auf dem Eis ein Stock oder ein eingefrorenes Boot) mit möglichst wenig Schlägen erreichen (Van Suchtelen 2001, S. 26). Das Avercamp-Bild „Colfspieler auf dem Eis“ (ca. 1625, Houston, Museum of Fine Arts: Roelofs 2009 S. IV) gleicht der Szenerie eines Abschlags vom Tee heutiger Golfplätze verblüffend. 112 Kleidung verriet im 17. Jh. nicht nur den sozialen Rang einer Person, sondern gab Auskunft über Zivilstand, Beruf und regionale Herkunft. Siehe dazu den Beitrag von B. M. du Mortier “Aspects of Costume. A Showcase of Early 17th-Century Dress“ in Roelofs 2009, S. 141-163. 113 Roelofs 2009, S. 66. 114 Vgl. Goedde 2005, S. 318f. 115 „His weather is always enchantingly lovely“ - "The sky in an Avercamp often appears brooding and laden with snow“: Roelofs 2009, S. 54f. 116 "[…] generally regarded as the most typically Dutch of all the Netherlandish landscape specialities.“ Sutton 1988, S. 26. 117 Sutton 1988, S. 27; Roelofs 2009, S. 79 f. 17
Nationale Identität (fast immer die niederländische Flagge) und harmonische Existenz in einer trotz Krieg und Witterungsunbilden geordneten, ja prosperierenden Welt. 118 Das Ende einer Tradition 119 Wir haben uns in dieser Arbeit auf Bruegel und Avercamp konzentriert - ersterer ist „Vater der Winterlandschaft als ein eigenständiges Genre“ 120 , letzterer Spezialist und typischer Repräsentant dieses Faches. Es gab viele andere, und es gab auch unterschiedliche Darstellungen und Techniken. Zu erwähnen sind dabei die „monochromen Winter“. 121 Ihre wichtigsten Vertreter, Jan van Goyen und Salomon van Ruysdael, malten hauptsächlich in Schattierungen von braun, grau und weiss oder grün und gelb. Das führte zu einer Vereinheitlichung der Bilder und auch zu einer mehr winterlichen, gedrückten Atmosphäre. 122 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts traten Aert van der Neer und Jan van de Capelle mit ihren Lichteffekten hervor 123 , ebenso der bedeutende Jacob van Ruisdael, in dessen rund 700 Bildern alle Motive niederländischer Landschaften zu finden sind, mit 25 davon relativ wenig Winterbilder. 124 Nicht nur die Winterlandschaften, sondern die gesamte niederländische Landschaftsmalerei kam in der zweiten Hälfte des 17. Jh. zunehmend und seit dem „Katastrophenjahr“ 1672 weitgehend zum Erliegen. 125 Auch hierfür gibt es mehrere Gründe. Zwar wurden Winterlandschaften schon deshalb weniger gemalt, weil etliche der wichtigsten Wintermaler in den 1670er und 80er Jahren gestorben waren 126, aber die „strukturelle Überproduktion“ (Schwartz) im niederländischen Kunstmarkt war nicht mehr zu korrigieren. Das Angebot überstieg zunehmend die Nachfrage. Die Kriege gegen England seit 1652 mit dem Verlust hunderter von Handelsschiffen hatten die niederländische Wirtschaft bereits in Mitleidenschaft gezogen; der Krieg gegen Frankreich, das Teile der Niederlande besetzte, führte zu weiteren Einbussen. 127 Selbst die Wohlhabenden gaben kein Geld mehr für Gemälde aus, von denen ohnehin zu viel auf dem Markt waren. Der schon erwähnte Zusammenbruch des Kunstmarktes ist der entscheidende Grund für den Niedergang der 118 Vgl. Goedde 2005, S. 321. Es sei daran erinnert, dass in Avercamps Leben und Schaffen der zwölfjährige Waffenstillstand mit Spanien fiel (1609-1621, s. oben). Er zeigt fast nie Militär in seinen Bildern (Roelofs 2009, S. 59). 119 Den ausführlichsten Überblick bietet A. van Suchtelen: The Dutch Winter Landscape in the Seventeenth Century (Van Suchtelen 2001, S. 50-70). 120 Roelofs 2009, S. 32. 121 Van Suchtelen 2001, S. 56f. 122 Ein weiterer Effekt dieser Subspezialisierung war, dass der Gebrauch von wenigen Farben die Kosten und den Zeitaufwand für den Maler reduzierte; damit liess sich die Produktion steigern: North 2001, S. 96 f. Allein van Goyen hat rund 1200 Bilder gemalt: Van Suchtelen 2001, S. 57. 123 Siehe Van Suchtelen 2001, S. 62 124 Van Suchtelen 2001, Seite 68. 125 Hierin sind sich alle Autoren einig, s. Goedde 2005, S. 320; Van Suchtelen 2001, S. 70; North 2001, S. 141 f.; ders. 2008, S. 64; Roeck in Huizinga 1941/2007, S. 200. 126 Sutton 1988, S. 55 und Van Suchtelen 2001, S. 70 (letztere beschränkt sich auf Winterlandschaften) halten dies offenbar für den wichtigsten Grund und erwähnen keine ökonomischen Ursachen. Die Ansicht, dass Winterlandschaften einfach „ausgestorben“ seien, überzeugt aber nicht. 127 North 2008, S. 71-77. 18
Landschaftsmalerei. Der Anteil an Gemälden in Amsterdamer Sammlungen, die von noch lebenden Malern stammen, nimmt nach 1640 ab und sinkt am Ende des Jh. von über 65% auf unter 20%. Die Zahl der Maler, die nach 1640 geboren sind, fällt aprupt auf ein niedrigeres Niveau. Nach 1650 konnte kein Maler seinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn er nicht protegiert wurde oder Mäzene hatte. 128 Diskussion Klimadeterminismus Dieser Terminus bezeichnet eine (auch populärwissenschaftliche) Tendenz, gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen als ausschliesslich durch das Klima gesteuert zu betrachten. 129 Das Klima ist in diesem Kontext verantwortlich für charakterliche Eigenschaften (Fleiss, Arbeitsproduktivität 130), es ist Ursprung von Völkerwanderungen 131 und - was unser Thema betrifft - direkter Auslöser niederländischer Winterlandschaften. Es ist ein „monokausales Interpretationselement für geschichtliche Ereignisse […] und gesellschaftliche Krisen“. 132 Nun ist unbestritten, dass der Rückzug der Wikinger aus Südgrönland im Laufe des 14. Jahrhunderts auch oder wesentlich eine Folge des Temperaturrückgangs seit Mitte des 13. Jahrhunderts war. Der Niedergang der grönländischen Wikingersiedlungen hat aber auch mit soziokulturellen Faktoren zu tun: Ungenügende Anpassung der feudalagrarischen Wirtschaftsweise an die Umweltveränderungen (die Inuit hätten ein Beispiel geben können), Überalterung der Gesellschaft (zu wenig Nachwuchs aus Skandinavien wegen vermehrter Übersiedelung nach Neufundland) oder kriegerische Auseinandersetzungen mit der ansässigen Thule-Kultur. 133 Klima ist auch hier Teil eines ganzen Wirkungsgefüges. Kultur ist hoch komplex und kann nicht einfach als Klimafolge betrachtet werden. 134 Kriege, Bevölkerungsdruck und politischer Niedergang sind keine unmittelbaren Klimafolgen. Zur gleichen Zeit auftretende, vermeintlich sogar gleichartige soziale Phänome in Europa lassen sich nicht mit scheinbar gleichartigen, überregionalen Klimaschwankungen erklären. Jeglicher Zusammenhang zwischen Natur und Sozialem ist niemals zwangsläufig oder gar 128 Schwartz 1998 gibt auf den Seiten 241-243 eine genaue Darstellung dieses Zusammenbruches. 129 Mauelshagen 2010, S. 21 f.; Wanner 2016, S. 181-188. Ein Beispiel der neueren Literatur gibt Hsü, der die gesamte biologische Evolution mit Klimaveränderungen erklärt und Darwinsche Selektionsmechanismen für irrelevant hält (Hsü 2000, insbesondere Kap. 10 III.) 130 Huntington hat auf dieser klimatischen Grundlage zivilisatorische Unterschiede zu erklären versucht: Huntington E.: Civilization and Climate 1915 (zitiert bei Mauelshagen 2010, S. 21 f. und bei Wanner 2016, S. 183 mit Hinweisen auf den Zusammenhang mit der Rassenlehre). 131 Einzelheiten bei Wanner 2016, S. 219 ff. 132 Wanner 2016, S. 181. 133 Wanner 2016, S. 218 f. 134 Wanner 2016, S. 183, der sich dabei auf Franz Boas bezieht. 19
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