Rückblenden. Geschichte und Erinnerung einer Naturkatastrophe in Bildern - metaphorik.de

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Rückblenden. Geschichte und Erinnerung einer Naturkatastrophe in Bildern - metaphorik.de
Rückblenden. Geschichte und Erinnerung einer
                   Naturkatastrophe in Bildern
                  Felix Mauch, TU München (felix.mauch@tum.de)

Abstract
Der vorliegende Beitrag stellt am Beispiel der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 die Frage
nach Aspekten der bildhaften Erinnerung von Naturkatastrophen. Dafür werden aus
historischer Perspektive konkrete ‘Erinnerungsbilder‘ auf ihre Kerninhalte analysiert,
spezifische Motive identifiziert sowie Gedächtnisakteure und -institutionen herausgearbeitet.
Dadurch soll die Bedeutung dieser Bildmotive für die Strukturen und Praxen lokaler
Erinnerungsdiskurse aus einer kultur- wie umwelthistorischen Perspektive beleuchtet
werden. Die empirische Analyse dieser Motive offenbart drei wesentliche Prozesse im
Gedenken der ‘Großen Flut’: (1) wie zeitgenössische Erfahrungs- und Erwartungshorizonte
die Bildproduktion und -wahrnehmung beeinflussen; (2) wie im historischen Verlauf Motive
etabliert und tradiert, proaktiv (um)gedeutet, aber auch nachbelichtet und ergänzt werden; (3)
wie das Wechselspiel zwischen offiziellen und neuformierten Gedächtniskollektiven ‘von
unten‘ auf die performative Herstellung von Erinnerungsbildern einwirkt. Letztere stehen im
Zentrum einer Gedächtnisgeschichte, die die Produktion von Erinnerungsinhalten, -praktiken
und -institutionen gleichermaßen und chronologisch in den Blick nimmt. Nur unter diesen
Voraussetzungen, so die grundlegende These, lassen sich Erinnerungsbilder in ihren
Bedingungen und Affekthaushalten angemessen erfassen.
Using the example of the Hamburg flood disaster of 1962, this article focuses on the visual
memory of natural catastrophes. A historical perspective is utilized for the analysis of concrete
visual memories and commemorative images according to their core content; to identify
specific motives, and to visualize memory agents, actors, and institutions. Doing so
characterizes the historical significance of these factors for the structures and practices of local
memory discourses, in both cultural and environmental history. Empirical analysis of these
motives reveals three major processes in the memory of Hamburg’s ‘Great Flood’: (1) how
contemporary experiences and expectations influence the production and perception of
certain images; (2) the ways in which images are established and handed down over the course
of history and how this leads to a proactive (re-)interpretation, but also to additions and edits
of the original images; (3) the impact of the interaction between the official and the newly
formed collective memories ’from below’, and the resulting interpretations on the
performative production of visual memories. The latter stand at the center of a
historiographical approach focusing on the production of memory in the context of institutions
and practices, in chronological order. This article argues that conceiving visual memories and
commemorative images in accordance with their conditions and emotive processes is
fundamental to their interpretation and understanding.

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1.    Einleitung
In seinem 1936 publizierten Nachlaß zu Lebzeiten formulierte Robert Musil in
einer Sequenz „Unfreundlicher Betrachtungen“ den berühmt gewordenen
Aphorismus, nachdem das Auffallendste an Denkmälern sei, dass man sie im
Alltag gar nicht bemerke: „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar“ und
„durch irgend etwas gegen jede Aufmerksamkeit imprägniert“ wäre (Musil
1957: 59).1 Im Lichte des anhaltenden memory booms und der jüngsten
Streitdebatten um das ‘Denkmal für Freiheit und Einheit‘ oder die Beton-Stelen
des sogenannten ‘Holocaust-Mahnmals‘ scheint es fast, als bedürfe die von
Musil formulierte These einer Revision.2 Denkmale und die Geschichte, die sie
verkörpern sollen, genießen derzeit eine hohe Aufmerksamkeit.3 Für Natur-
katastrophen hingegen errichtet man nur selten Monumente. Dem klassischen
Diktum des Mediävisten Arno Borst zufolge ist dieser Umstand dem
„modernen Selbstverständnis“ geschuldet: „Es isoliert Katastrophen in der
Gegenwart und eliminiert sie aus der Vergangenheit, weil sie die Zukunft nicht
definieren sollen.“ (1981: 529). Gleichwohl bestehen Ausnahmen. Um das
Gedenken der ‘Großen Flut‘4, die im Februar 1962 entlang der deutschen
Nordseeküste insgesamt 347 Tote forderte und damit als die verheerendste
Naturkatastrophe der Bundesrepublik gilt, formierte sich eine reichhaltige

1
   Sein Zeitgenosse, der Stadt- und Architekturtheoretiker Lewis Mumford, verkündete gar
den „Tod des Denkmals“, dessen Formensprache nicht mehr den Weltbildern der Moderne
entspreche (1937: 265).
2
   Einen Überblick über aktuelle Debatten und die Herausforderungen an institutionalisierte
Gedenkstätten    gibt   Knigge     (2020).  Für    eine   dezidierte  Kritik    deutscher
‘Gegenwartsbewältigung‘ und Erinnerungskultur aus postmigrantischer Sicht vgl. Czollek
(2020).
3
   Eine Konjunktur öffentlichen Gedenkens diagnostiziert wiederholt der Historiker Jay M.
Winter (2009). Zur gesellschaftlichen Grundsatzdiskussion um den ‘richtigen Umgang‘ mit
der deutschen Vergangenheit seit 1945 vgl. Assmann (2013); Frölich/Jureit/Schneider (edd.)
(2012).
4
   Der Topos einer ‘Großen Flut’ diente sowohl Zeitgenossen als auch Erinnerungsakteuren
zur Bezugnahme auf die Hamburger Hochwasserkatastrophe von 1962, vgl. u.a. Kirchenrat
der Evang.-Luth. Kirche im Hamburgischen Staate (ed.) (1962); Freie und Hansestadt
Hamburg (1963); Homfeld (1982); Hötte (ed.) (2012); Geschichtswerkstatt Harburg (2012).

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Mauch: Rückblenden

Gedächtnislandschaft, deren Gestalt durch Gedenktafeln oder Hochwasser-
marken bestimmt ist.5
So ist in Hamburg und seinen flussnahen Stadteilen Wilhelmsburg, Waltershof
sowie dem Alten Land, den Epizentren der Flutkatastrophe, die Dichte an
Gedächtnisträgern am auffälligsten: Neben der zentralen Ehrenanlage auf dem
Friedhof Ohlsdorf und dem Flutdenkmal an der Kirchdorfer Straße verkörpern
ein Bronzerelief in Finkenriek, die ‘Wellenwand‘ im südelbischen Francop und
Memoriale in Ovelgönne sowie dem Anleger Teufelsbrück in Nienstedten das
formale Erinnern an die 315 Menschen, die vor Ort ihr Leben ließen.6 Die
Erinnerung an die ‘Große Flut‘, so ließe sich auf Basis dieser Stichprobe
argumentieren, ist buchstäblich fest im Stadtbild verankert. Was die Denkmale
bedeuten sollen, lässt sich wunderbar erklären. Die Künstler und politischen
Entscheidungsträger hinter ihrer Errichtung haben jeweils detaillierte
Deutungsangebote vorgelegt. So ziert die Betonstelen des Wilhelmsburger
Flutdenkmals der programmatische Erinnerungsimperativ „Den Toten zur
Ehre, den Lebenden zur Mahnung“. Und auch die einer brechenden Woge
nachempfundene ‘Wellenwand‘ soll ihren Betrachtern sowohl die Geschehnisse
des Februars 1962 ins Gedächtnis rufen als auch vor den „Fluten, die noch
kommen mögen“ (Die Welt 02.02.2002) warnen.7
Doch, so eine erste These, weder die Vielzahl an Erinnerungsträgern noch ihre
Authentizität versprechende Zurschaustellung an den ‘Originalschauplätzen‘
des Naturdesasters sind automatisch mit einer lebendigen Erinnerungskultur
gleichzusetzen.8 Im Gegenteil: Hamburgs Gedenksteine und Mahnmale
verteilen sich auffällig unauffällig über den Stadtraum. Es scheint sogar, dass es
gerade ihre steinerne Präsenz am stets selben Ort und ihre buchstäbliche

5
   Siehe Fischer (2007: 153). Darüber hinaus zur Strukturdimension ortsgebundener
Gedächtnisräume Fuge/Hering/Schmid (2010: 7-14). Dass Gedächtnisse topologisch
strukturiert sind, veranschaulicht grundlegend Schlögel (2003: 269).
6
    Eine detaillierte Übersicht findet sich in Mauch (2015).
7
  So der verantwortliche Bildhauer Winni Schaak. Für die Bürgerschaftspräsidentin
Dorothee Stapelfeld symbolisiere die ‘Wellenwand‘ ebenfalls die erinnerungspolitische
Ermahnung, dass „auch 40 Jahre nach der Flut die Schrecken von damals und die Furcht vor
neuen Katastrophen anhalte“ (Harburger Rundschau 18.02.2002).
8
   Zur Kategorie der „Authentizität“ und ihrer Bedeutung für die Vergegenwärtigung der
Vergangenheit vgl. Bernhardt/Sabrow/Saupe (2017: 9-22); Drecoll/Schaarschmidt/Zündorf
(edd.) (2019).

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Unverrückbarkeit sind, die sie zu stummen Zeugen der Vergangenheit
degradiert und im Musil’schen Sinne dem öffentlichen Bewusstsein entzogen
haben. Denn „zu spät“ komme ein Denkmal ohnehin – sonst „wäre es kein
Denkmal, das eine Vergangenheit Revue passieren läßt.“ Aber sei es „erst mal
da […], schreibt es fest“, diagnostizierte der Geschichtstheoretiker Reinhart
Koselleck einst den Erinnerungsboom der Jahrtausendwende (Koselleck 1996:
467). Um die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte des Gestern
freizulegen, bedürfe es hingegen gänzlich anderer „Erinnerungsschleusen“
(Koselleck: 2000), die Vergangenes nicht als Element einer bestimmten, sondern
einer Vielzahl an Geschichten konstituieren.9 Damit rückte Koselleck einen bis
dato vernachlässigten Gesichtspunkt in den historiografischen Fokus: das
Gedächtnis als Reflexionsinstanz.10
Ein Blickwechsel von einem als absolut gesetzten Andenken zu vielschichtig
sedimentierten Memorialkulturen und ihren heterogenen Akteuren schien
notwendig. Kosellecks Überlegungen kreisten in diesem Zusammenhang
immer wieder um die visuelle Dimension von Geschichte und Erinnerung.
Dahinter stand der Befund, dass zeitgenössische Erfahrungen im Verlauf des
20. Jahrhunderts in einem nie gekannten Maße medialisiert wurden, weshalb
sich sowohl historische Ereignisse als auch Strukturen nicht mehr ohne jene
Medien denken ließen, die Erinnerungen produzieren, wiederholen,
miteinander korrelieren und schließlich abbilden müssen.11 Aber würden dann
nicht Bilder die Wirkkraft vergangener Ereignisse viel eher einfangen und in

9
  Für eine Übertragung seiner Topoi des „Erfahrungsraums“ und des „Erwartungs-
horizonts“ auf die Zeitgeschichte vgl. Graf/Herzog (2016).
10
   Zentral: Radonic/Uhl (edd.) (2016). Gedächtnis als Reflexionsinstanz spielt außerdem im
Selbstverständnis der „Public History“ eine zentrale Rolle, die zu verstehen versucht, welche
Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart zukommt, siehe u.a. Zündorf (2014); Logge
(2016). Zum „gemeinsamen Erbe“ europäischer Geschichte vgl. den Boer/Duch-
hardt/Kreis/Schmale (edd.) (2012).
11
   Entlang dieser Leitfrage hat sich eine seit den 1970er Jahren geführte Debatte über
Geschichte als Ereignis und/oder Struktur unter den erinnerungs- und medienepistemo-
logischen Vorzeichen einer Visual History aktualisiert. Ausführlich zum Forschungsfeld
Danyel/Paul/Vowinckel (edd.) (2017). Außerdem Sebald/Döbler (edd.) (2017) und
Rigney/Erll (2017). Aus mediengeschichtlicher Perspektive Bösch (2011).

166
Mauch: Rückblenden

die Gegenwart transportieren können als gusseiserne Denkmale? Doch wenn
ja, was wäre auf ihnen zu sehen? Und wer würde sie betrachten?12
Im Folgenden soll diesen Überlegungen am Beispiel der ‘Großen Flut‘ nach-
gegangen und gefragt werden: Welche Bilder produzierten und tradierten die
Erinnerung an die Naturkatastrophe? Auf welche Motive und historischen
Referenzen griffen Erinnerungsakteure bei Bedarf zurück? Wie konstituierten
sich erinnerungskulturelle Bilderwelten und worin bestand letztlich ihre
Wirkung? Was zeigten sie und was gerade nicht? In welchen Motiven lassen
sich die Kontinuitäten, Phasen und Emotionshaushalte dieser Geschichte
ablesen? Und wie nahmen sie eine Beziehung zu ‘ihrem‘ Publikum auf und
prägten „synchron deren Sichtweisen bzw. diachron deren Verständnis von
Geschichte“ (Paul 2013)?

2.     Bilderwelten und Naturkatastrophen
In ihrer Phänomenalität als Ereignisse entziehen sich Naturkatastrophen dem
verstehenden Zugriff. Sie lassen sich zwar quantifizieren, eine normative und
„von ihren historischen und kulturellen Voraussetzungen gelöste Definition“
kann es hingegen kaum geben (Utz 2013: 11).13 Dass sie dennoch unbedingt
bildwürdig sind, steht außer Zweifel. Wo Worte versagen, so eine weit
verbreitete Ansicht, müssten die Bilder übernehmen. Ihre Darstellung dient
somit einem ganz bestimmten Zweck: das Unfassbare des Ereignisses wird in
das Zeichensystem der Kultur rückübersetzt, mit anderen Worten „kultiviert“
(ibid.: 14ff.).14 Für den Historiker stellen Katastrophenbilder entsprechend eine

12
   Für die Geschichtswissenschaft bestehen heuristisch verschiedene Möglichkeiten, Bilder
aufzufassen – als kollektive Geschichtsbilder, Selbst- oder Leitbilder, als Gattung, etwa Live-,
Lichtbilder oder Fotografien, sowie jüngst auch Geschlechter- und Naturbilder. Zur
generativen Kraft und Politik derartiger Bilder vgl. Sabrow (ed.) (2013); Groebner (2018). Aus
der Wissenschaftsgeschichte u.a. Voss (2007). Zum Bildverständnis und der Bedeutung des
„Iconic Turn“ für die Kulturwissenschaften vgl. Bachmann-Medick, (42010), die festhält, dass
dieser nur unter Hinzuaddierung sowohl des visual als auch des pictorial turn seine Bedeutung
gewinnt.
13
   Zu den begrifflichen Leerstellen des Katastrophendiskurses empfiehlt sich Briese/Günther
(2009). Das Spektakuläre der Katastrophe betonen Dünne/Hindemith/Kasper (edd.) (2018),
während Eva Horn nicht zufällig als heute populärste Gestalt des Erhabenen in der Kunst den
Katastrophenfilm identifiziert: Mit ihrem hohen Sensations- und Nachrichtenwert befriedigen
Naturkatastrophen immer auch die unterschwellige Lust am Untergang (2014: 12).
14
     Zur „bildlichen Umsetzung“ der Katastrophe siehe Walter (2010: 73ff.).

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heuristische Herausforderung dar. So sind sie keinesfalls über alle Zweifel
erhabene Garanten vergangener Wirklichkeit, sondern entfalten ihre eigene
Dynamik. Dadurch öffnen sie Darstellungsräume, die sich durch unmittelbare
Koexistenz verschiedener Temporalitäten auszeichnen und so erst die
Verschränkung von historischen und aktuellen Zeithorizonten ermöglichen.
In seinen Filmtheorien hat der französische Philosoph Gilles Deleuze dieses
Spannungsverhältnis mit den Begriffen des „Zeit-Bilds“ und des „Erinne-
rungsbilds“, das mit Rückblenden arbeitet, um die Virtualität oder Irrealität des
Gezeigten zu markieren, belegt (1989: 95-131).15 Letztere und ihre Spuren im
kollektiven Flutgedächtnis Hamburgs analysiert dieser Beitrag. Er geht von der
These aus, dass Erinnerungsbilder eine Scharnierfunktion ausüben. Über ihre
Genese und ihren Gebrauch lässt sich nachvollziehen, wie das Unfassbare der
Katastrophe zunächst eingefangen, im historischen Verlauf jedoch bedarfs-
spezifisch weiterentwickelt wurde.16 Wie bestimmte Bilder erinnerungs-
kulturelle Wirkmacht entfalteten, durch unterschiedliche Akteursgruppen
angeeignet sowie in historisch variablen Konstellationen mit wechselnden
Intentionen eingesetzt wurden, wird deshalb an vier aussagekräftigen
Beispielen skizziert: 1) eine Ansicht von der ersten Trauerfeier für die Opfer der
Flut auf dem Hamburger Rathausmarkt; (2) ein Cover des Spiegels, das einen
gebrochenen Deich und das dahinter überschwemmte Wilhelmsburg zeigte; (3)
das Konterfei Helmut Schmidts bei der Koordination der Rettungsmissionen im
Überschwemmungsgebiet sowie schließlich (4) ein bei diesen Einsätzen
entstandenes Bild der zahlreichen Helfer, das zum 50. Jahrestag der Flut im
Wilhelmsburger Reiherstiegviertel ausgestellt wurde.17
Für diese Auswahl ist zunächst eine Beobachtung aus der Gegenwart
ausschlaggebend. Allen Aufnahmen ist gemeinsam, das sie als authentische
‘Urmomente‘ lokaler Erinnerungspraktiken zu Ikonen geworden sind, die sich
bei Bedarf sofort abrufen und in bestehende Gedächtnismuster einordnen

15
    Hier fällt nicht ein wichtiges Ereignis ins nächste, sondern, wie im wirklichen Leben, liegt
die eigentliche Herausforderung im Meistern der Zwischenzeit, siehe Fahle (2002: 102).
16
  In den jeweiligen historischen Kontexten können Bilder aktualisiert, aber ebenso auch
modifiziert werden, vgl. Brink (2011: 108).
17
   Schon Siegfried Kracauer widmete sich den Parallelen zwischen Fotografie und Geschichte.
Beide würden Geschehenes nicht einfach illustrieren, vielmehr nähmen sie es in Besitz und
dringen darin ein, vgl. (2009: 69); Baumann (2014: 107).

168
Mauch: Rückblenden

lassen. Durch ihren hohen Wiedererkennungswert stehen sie heute geradezu
paradigmatisch – und einem Denkmal nicht unähnlich – für die Geschichte der
Flut. Gleichzeitig eignen sich gerade solche Idealbilder, um das ‘Gemachtsein‘,
vor allem aber auch die Ambivalenz und Widerspenstigkeit kollektiver
Erinnerungen empirisch offenzulegen. Methodisch richtet sich die Bildauswahl
dabei an den Prämissen der historischen Gedächtnis- und Rezeptionsforschung
aus.18 Deren jüngsten Erkenntnissen folgend, müssen Erinnerungsbilder als die
Ergebnisse eines öffentlichen Aushandlungs- und Aneignungsprozesses
verstanden werden, bei dem die Betrachter ihre jeweilige Sichtweise mit der im
Bild gezeigten Geschichte verzahnen und dieser Bedeutung zuschreiben. Die
vier ausgewählten Zeitdokumente halten Geschichte also nur vermeintlich
objektiv fest. Ihr tatsächlicher Gehalt liegt immer nur in den Augen eben jener
Betrachter. Erinnerungsbilder sind von ihrem Publikum abhängig, das sie stets
aufs Neue mit eigenen Erwartungen belebt, denen die historische ‘Realität‘
notwendigerweise untergeordnet wird.
Dieser Vielstimmigkeit ist heuristisch unbedingt Rechnung zu tragen. Denn „es
gibt kein reines Ereignis“, wie der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in
diesem Zusammenhang feststellt, „hoffen wir also nicht, dessen exakte
Erinnerung zu finden. […] Alles hängt davon ab, wie jeder, gestützt auf
Brocken, die Zeit der Geschichte organisiert, durcharbeitet und neu montiert.“
(2017: 23).19 Ob Natur- und anderen Katastrophen aus der Vergangenheit auch
in der Gegenwart Bedeutung beigemessen wird (und wenn ja, welche),
entscheiden also weder das Ausmaß ihrer Zerstörung noch normative
Denkmalssetzungen. Es sind in erster Linie ihre Bilder, die im Gedächtnis
bleiben.20 Eine Antwort auf die Frage, wie sie sich dort festsetzen und wessen
Geschichte sie letztlich erzählen, liefert allerdings erst die historische
Rückblende, also der Blick in die Geschichte der ‘Großen Flut‘ und auf die

18
   Aus der Fülle an Publikationen vgl. die historiografischen Zugänge zur Bildrezeption und
-aneignung von Moller (2018: 19–21).
19
   Ausführlicher Didi-Huberman (2019). Auch die Geschichtswissenschaft ist vom reinen
Ereignis als Analysekategorie längst abgerückt, vgl. grundlegend White (1999: 66-86). Zum
Ereignis-Begriff vgl. Steinsiek (2013), hier insbesondere die theoretisch-methodischen
Überlegungen, 35–83.
20
  Als Überblick zur geschichtswissenschaftlichen Katastrophenforschung vgl. Willer (2019);
Fortun, et al. (2017); Collet (2019: 13–25).

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Praktiken ihrer memorialen Vergegenwärtigung über die lange Dauer.21 Diese
vielschichtigen Resonanzebenen gilt es für jedes Einzelmotiv mitzudenken, will
man zu einem fundierten Urteil über die affektive ‘Macht‘ von Erinnerungs-
bildern gelangen. Erst dann, argumentieren die Kunsthistoriker Matthias
Schulz und Barbara Oettl, seien „Bilder in der Lage uns beim Durchschauen von
Bildern zu helfen“.22
Zusammengefasst: Die vier ausgewählten Erinnerungsbilder weiten den Blick
auf die Bewältigungskultur der Hamburger Sturmflut von 1962. Denn diese war
weder nur als reines Ereignis geschichtsträchtig, und ebenso wenig existiert die
eine unverfälschte Erinnerung daran. Die Bilder, die das zu Erinnernde tragen,
stiften an und bewahren, verschleiern, instrumentalisieren und deuten sie auch
um (Knoch 2016). Aber gerade weil sie das zu Erinnernde nicht normativ
vorgeben, sondern mit ihrem Publikum und seinen wechselnden Ansprüchen
verbunden bleiben, sind sie keine stummen, sondern vielstimmige Zeugen
lebendiger Erinnerung und zeitgenössischer Vergegenwärtigung. Um Ian
Hacking zu paraphrasieren: Bilder „haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir
vergessen haben“.23 Robert Musil und Reinhart Koselleck hätte dieser Gedanke
vermutlich gefallen.

3.    Vom Ereignis zur Erinnerung: Bildgedächtnisse der ’Großen Flut‘
Wer im Februar 2012 über den Hamburger Rathausmarkt zwischen Binnen-
alster und Nikolaifleet blickte, erkannte an dessen östlichem Ende eine schwarz
umhängte Plakatwand, an der eine Schwarzweißfotografie hing. Diese zeigte
im Hintergrund das Rathaus sowie im Zentrum den Vorplatz, der bis in alle
Seitenstraßen mit Menschen restlos überfüllt war. Bei genauerem Hinsehen
ließen sich vereinzelte auf Halbmast gehisste Fahnen und auch das verhüllte

21
   Als Rückblende bezeichnet die Filmtheorie den Flashback, die Literaturwissenschaft als
Analepse „jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses“, das „innerhalb der Geschichte zu
einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat“
(Genette ³2010: 21).
22
   Das Nachdenken über Bildkulturen sowie über propagandistische Mechanismen und
Strategien der Gewalt bedarf der historischen Tiefenschärfe; Interview mit Barbara Oettl und
Matthias Schulz über den Umgang mit Gewaltbildern, in: L.I.S.A Wissenschaftsportal der
Gerad Henkel Stiftung, 20. Dezember 2018. Vgl. außerdem Oettl (2018).
23
   Der kanadische Wissenschaftstheoretiker schreibt eine solche Qualität eigentlich Begriffen
zu, siehe Hacking (2001: 84).

170
Mauch: Rückblenden

Eingangstor erkennen. Eine erklärende Texttafel war nicht angebracht, lediglich
zwei Jahreszahlen – 2012 und 1962 – und darunter der Verweis auf die
Ausstellung „Die Große Flut“, welche zeitgleich nebenan gezeigt wurde. Das
Bild, davon gingen wohl zumindest seine Adressaten aus, sprach seine
Betrachter offenbar von allein an und war nicht weiter erklärungsbedürftig.

              Bild 1: Fotowand auf dem Hamburger Rathausmarkt (2012)

Welche Bedeutung dem Dargestellten im Auge des Betrachters beigemessen
wird, versteht sich freilich nicht von selbst. Solche Kontextualisierungen sind
einerseits kontingent, andererseits in die historische Situation ihrer Entstehung
sowie die kollektiven Bedingungen ihrer Rezeption eingebunden. Was das
Fotoplakat visuell abbildete, war allenfalls ein flüchtiger Eindruck aus der
Vergangenheit, eine Spur zu dem, was einmal gewesen war. Was sich für
Passanten auf dem Hamburger Rathausmarkt dabei offenbarte, war der Blick in
zwei Welten: in die realhistorische Ebene der Momentaufnahme und in die
zeichenhaft gestaltete Welt der Erinnerung. Was sie auf der Plakatwand de facto
ausmachten und was sie nur zu sehen glaubten, weil sie schon andere Bilder im
Kopf hatten, lässt sich nicht nachverfolgen. Wie die Neurologie nachweisen

                                                                              171
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kann, ergänzt das Gehirn die fehlenden Teile eines Bildausschnitts mit
„assoziativen Erinnerungen“ aus aktuellen Reizbeständen.24 Was das
‘Erinnerungsbild‘ zum 50. Jahrestag der ‘Großen Flut‘ überlieferte, war – den
subjektiven Erzählungen eines Zeitzeugen ähnlich – also eine Interpretation der
Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Gegenwart.25
Die vor dem Hamburger Rathaus installierte Fotografie stellte eine gewollte
Erinnerung bereit. Sie sollte keinesfalls freie, sondern sehr bestimmte
Assoziationen hervorrufen. Der Schnappschuss, der am gleichen Ort vor
fünfzig Jahren, dem 26. Februar 1962, entstanden war, entsprach nicht
unbedingt der gängigen Erwartungshaltung an ein Katastrophenbild. Er zeigte
weder zerstörte Häuser, überflutete Straßenzüge noch andere gängige
Katastrophenmotive, sondern die trauernde Hamburger Bevölkerung, die sich
im Zuge der ersten offizielle Gedenkfeier für die 315 Opfer der Natur-
katastrophe just am selben Ort versammelt hatte.26 Im Moment der Aufnahme
war allen Anwesenden vor dem verhüllten Rathausportal bewusst, dass sie
Zeugen eines verheerenden Ereignisses geworden waren. An jenem Montag
ruhten der Verkehr sowie alle öffentlichen Veranstaltungen. Schulen und
Geschäfte blieben geschlossen. Angehörige der Verstorbenen erhielten reser-
vierte Plätze in den ersten Reihen, in ihrem Rücken versammelten sich mehr als
150.000 Trauernde. Wie auf dem Foto gut zu erkennen war, drängte sich die
Menschenmasse bis an das Alsterufer am Jungfernstieg.27
Das passende Deutungsangebot zum Bild lieferte an jenem Februartag
Hamburgs Erster Bürgermeister Paul Nevermann. Seine Ansprache wandte
sich direkt an die Hinterbliebenen in den ersten Sitzreihen, denen er die
bedingungslose Unterstützung der gesamten Hansestadt zusicherte. Man habe
erkennen müssen, dass „die Kräfte des Menschengeistes, der Technik und aller

24
   Siehe Staresina et al. (2019). Hierzu und für weitere Perspektiven einer Neurogeschichte
vgl. außerdem Plamper (2012: 319).
25
  Zur der erinnernden Rolle von Zeitzeugen und die geschichtsdidaktischen Potenziale der
Oral History vgl. Bertram (2017).
26
   Diese Zahl bezieht sich auf die in Hamburg verzeichneten Flutopfer. Trauertag für die
Opfer der Sturmflut, 22.02.1962, in: Staatsarchiv Hamburg [StAHH], 131-1 II, 1024; Die Welt
(27.02.1962).
27
   Für Ablauf und Inhalte vgl. das Programm „Trauerakt für die Opfer der
Sturmflutkatastrophe“, 26.02.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 900.

172
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Zivilisation nicht ausreichen, um die Wildheit der Natur zu bändigen“. Aber
„nie zuvor […] in dieser Generation, selbst im Bombenkrieg nicht“, führte das
Stadtoberhaupt den Gedanken weiter, „hat man Hamburg so bereit gesehen,
das Unglück vieler Bürger mitzutragen, mitzuleiden und die Trauernden
einzuhüllen in die Gemeinschaft […].“28 Die Naturgewalt, so der Kerngedanke
der Rede, unterscheide weder zwischen Alt und Jung, noch Arm und Reich.
Betroffen sei jeder. Und als eine solche „Notgemeinschaft“ werde man die
Katastrophe auch gemeinsam überwinden (Hamburger Abendblatt 19.02.1962).
Um das Geschehene in Worte zu fassen, blickte Nevermann in die Geschichte
zurück. Bewusst zog er von der jüngst erlebten Flutkatastrophe einen Vergleich
zur Bombardierung Hamburgs im ‘Feuersturm‘ des Sommers 1943. Im Vorfeld
der Gedenkveranstaltung hatten bereits lokale Presseorgane sowie Polizei-
senator Helmut Schmidt in seinem Lagebericht an die Bürgerschaft dieselbe
Analogie gewählt.29 Auf dem Rathausmarkt setzte der Erste Bürgermeister die
Interpretationslinie fort. An dramatischen Sprachbildern mangelte es ihm dabei
nicht: „Diese letzte Woche […] wird keiner von uns vergessen können, bis an
das Ende seiner Tage. Nur in den Bombennächten des Jahres 1943 und in der
Feuersnot des Jahres 1842 wurde unsere Stadt von Heimsuchungen getroffen,
die so schwer waren wie dieser letzte Schlag. Diese Leidenserfahrung wird uns
Warnung und Aufruf sein.“ (Senat der Freien und Hansestadt Hamburg 1962:
56).
Die Verknüpfung mag aus heutiger Sicht überraschen. Zu Beginn der 1960er
Jahre waren die Katastrophen des ‘Feuersturms‘ und des ‘Großen Brands‘ für
viele Stadtbewohner allerdings nicht nur negativ besetzt. Johannes Fried erklärt
diesen Umstand mit einer Form der „strukturellen Amnesie“ (2012: 214).
Spezifische Aspekte sinnhaltig zu erinnern, setze demzufolge voraus, dass
andere ausblendet, ignoriert und als streichenswert deklariert werden. Und in
Hamburgs kommunalem Gedenken dominierten mittlerweile die Erfolgs-
narrative des gemeinsam gemeisterten Wiederaufbaus den Katastrophen-
diskurs. Die Schrecken des Nationalsozialismus traten sukzessive dahinter

28
     Ansprache Nevermann, 26.02.1962, in: StAHH, 131-1 II, 1024.
29
   „Die Katastrophe, die wir erlebt haben, hat ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit dem
Hamburger Brand nur im Zweiten Weltkriege erlebt haben,“ in: Stenographische Berichte der
Hamburger Bürgerschaft [StenBerHB], 4. (Sonder-) Sitzung der Bürgerschaft (21.02.1962: 96).
Siehe auch Die Welt (19.02.1962).

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zurück. Kriegsende und Luftangriffe, argumentiert Malte Thießen in diesem
Zusammenhang, wurden „zu Kulissen eines unbelasteten Neuanfangs“
umgedeutet. In der öffentlichen Anteilnahme des ‘Stunde null‘-Gedenkens
manifestierte sich „die Wandlung des städtischen Gesellschaftsbildes von der
‘Volks-‘ in die selbstbewusste und resiliente ‘Erfolgs-Gemeinschaft‘ des
Wirtschaftswunders“ (2007: 245).30 Für Nevermann waren also weder die
Gründe, die zur alliierten Operation Gomorrha geführt hatten, noch die Frage
nach der eigenen Schuld von entscheidender Relevanz. Ihn und sein Publikum
auf dem Rathausmarkt einte in diesem Moment, dass beide die Bombennächte
als kollektive Schicksalsereignisse wie eben die Sturmflut empfanden. Einmal
mehr standen sie nun in Trauer vereint und besannen sich der Katharsis, die auf
die Katastrophe folgen sollte.
Hamburgs politische Erinnerungsakteure fügten die Sturmflut unmittelbar in
dieses Narrativ ein. Dazu gehörte an erster Stelle die Hervorhebung einer
gefährlichen Natur im Sinne eines Gegners sowie seiner unkontrollierbaren
Kräfte, die Hamburg in ihren Augen schlichtweg überwältigt hatten.31 Während
Senat und Lokalpresse die Katastrophendeutung semantisch als Schicksal und
höhere Gewalt rahmten und externalisierten, boten sie mit der ‘Not-
gemeinschaft‘ gleichzeitig eine Metapher an, hinter deren sinnstiftendes
Potenzial die Frage nach einer Schuld der verantwortlichen Stellen zurücktrat.
Im emotionalen Appell, den das Schlagwort transportierte, konkretisierte sich
ein Verbundenheit schaffender „Kitt der Katastrophe“ (Utz 2010: 65). Obwohl
das Wasser in erster Linie die flussnahen Stadtteile südlich der Elbe
überschwemmt hatte, modifizierten kollektive Trauerbekundungen und
Gedenkveranstaltungen die Flut zu einem auf ganz Hamburg bezogenen und
kollektiven Gemeinschaftserlebnis. Polizeisenator Helmut Schmidt erklärte den
Topos einer gesamtstädtischen ‘Notgemeinschaft‘ gar zum Leitbild der
öffentlichen Erinnerungspolitik des Senats. Verkörpere sie doch die „feste

30
     Eine historische Einordnung bietet Herbert (2017: 619ff.).
31
   „Aber im Ganzen haben die verantwortlichen Menschen nicht versagt, sie wurden
überwältigt“, argumentierte Die Welt (29.12.1962). Ein vom Senat eingesetzter Sach-
verständigenausschuss, die sogenannte ‘Friedrich-Kommission‘, sprach die verantwortlichen
Behörden von jeder Schuld frei, da es bei „schicksalhaften Naturereignissen keine letzten
Sicherheiten gibt“ (Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen
Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe, Hamburg
1962: 70).

174
Mauch: Rückblenden

Zuversicht, dass Hamburg mit hanseatischer Zähigkeit und Risikobereitschaft
in kurzer Zeit schöner wieder aufgebaut wird als zuvor“, auszudrücken.32
Prominentestes Denkmal des ‘Aufbauwillens‘ war das Rathaus selbst. Einst von
den Flammen des ‘Großen Brands‘ zerstört, stand es nun wieder unverrückbar
an seinem Platz. Von hier aus hatte Fritz Schumacher das „Kunstwerk
Hamburg“ (Schumacher 1920) geplant, später Max Brauer den Wiederaufbau
aus den Ruinen des ‘Feuersturms‘ organisiert. Im Innern des Gebäudes
spiegelte der sogenannte Phönixsaal den hiesigen Katastrophenoptimismus
allegorisch wider: Das geschundene und immer wieder aus der Asche aufer-
standene Hamburg. Auf dem Gemälde des Künstlers Arthur Fitger (1897) wan-
delte Hammonia, die Schutzpatronin Hamburgs, mit einem Rosenzweig in der
Hand über die Trümmer der Stadt. Über dem Kunstwerk erhob sich aus der
Asche der namensgebende Phönix. Darunter lieferte eine Zeile aus Friedrich
Schillers Wilhelm Tell jedem potenziellen Betrachter eine unmissverständliche
Erklärung: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus
den Ruinen.“33
Erinnerungsbilder haben stets einen Sinn und, wenn nötig, noch einen
Hintersinn. Die Aufnahme, die im Februar 2012 vor dem Hamburger Rathaus
stand, kam jedoch ohne eine solche Festschreibung aus. Die intendierte
Botschaft war dennoch eindeutig. Der 1962 so zentrale Wiederaufbauwille,
entfesselte Naturgewalten oder anderes Unheil mochten mittlerweile verblasst
und zum steinernen Denkmal erstarrt sein. Der in der trauernden Masse
versinnbildlichte Wunsch nach Gemeinschaft und Solidarität aber sollte sich
dem Betrachter noch fünfzig Jahre nach der Sturmflut im Bild offenbaren. Das
Fundament für eine solche Lesart hatten die Initiatoren der politisch
motivierten Katastrophenerinnerung im Augenblick der Aufnahme angelegt.
Ihre Nachfolger mussten nur noch in einer Rückblende darauf verweisen.

32
   Helmut Schmidt an Erich Lüth (Direktor der Staatlichen Pressestelle), 15.03.1962, in:
StAHH, 135-1 VI, 901.
33
     Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 2. Szene (Attinghausen).

                                                                                    175
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4.     Deutungshoheit über die Bilder: Katastrophenerinnerung im
       Zeitraffer
Hamburgs Gedächtnisakteure praktizierten eine Fluterinnerung von Beginn an
als öffentliche Angelegenheit. Publikumswirksamkeit war explizites Ziel. Die in
nahezu allen Sachstandsberichten und Gedenkstunden aufschimmernden
Metaphern des ‘Schicksalsschlags‘ und der ‘Bewährungsstunde‘ hielten das
Unfassbare der Naturkatastrophe in bereits bekannten und deshalb leicht zu
vermittelnden Deutungsangeboten fest, was entschieden zur symbolischen
Überwindung der Krise beitrug.34 Trauerfeiern und Gedenkgottesdienste
verknüpften eine Metaphorik vom Kampf gegen die Naturgewalten mit
sinnstiftenden und kathartischen Analogien aus dem Fundus überwundener
Katastrophen. Zeitungskommentare und Nachrichtensendungen unterfütter-
ten das ‘Phönix-aus-der-Asche-Narrativ‘ indessen mit einer wahren Bilderflut.
Im Rundfunk, auf Titelseiten und an Zeitungskiosken begegnete die Bevölke-
rung in einer visuellen Dauerschleife den überschwemmten Wohngebieten und
den Betroffenen, die vor Ruinen posierend das Ausmaß der Zerstörungen
beglaubigten.35 Doch sie sah auch den heldenhaften Einsatz von über 20.000
NATO-, Bundeswehrsoldaten und zivilen Helfern im Überschwemmungs-
gebiet, die Verletzte versorgten, Menschen in Rettungsboote hievten oder
Sandsäcke aufschütteten.36
Die Sturmflut von 1962 war eines der ersten medialen Großereignisse der
Bundesrepublik.37 Von keiner Naturkatastrophe waren bis dato so viele Bilder
produziert und annähernd in Echtzeit verbreitet worden. Bereits bei allen
Lagebesprechungen des zentralen Krisenstabs, der die Hilfseinsätze koor-
dinierte, berichtete das lokale Pressekorps live und vor Ort. Direkte Bericht-
erstattung, so das Kalkül des Senats, diente als Mittel zur Beruhigung der Lage:
„Wer von der Umwelt abgeschnitten ist und von den Elementen bedroht wird“,

34
  Unter vielen anderen: Senat der Freien und Hansestadt Hamburg (ed.) (1962: 56ff);
Hamburger Abendblatt-Chronik (03.1962).
35
     Zur Inszenierung von Katastrophenbildern vgl. ausführlich Hannig (2015: 50).
36
    Vgl. den Überblick über den Einsatz der Bundeswehr im Katastrophenschutz, 19.02.1962,
in: Bundesarchiv – Abteilung Militärarchiv, BW 1, 21627, 14–16 bzw. die Lagebesprechung des
Katastrophendienststabes, 17.02.1962, in: StAHH, 135-1, VI 899.
37
   Vgl. von Hodenberg (2006: 293). Allgemeiner: Conradi (2015); Bösch/Classen (2015: 449–
488).

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erläuterte Erich Lüth, Leiter der Staatlichen Pressestelle, das Vorgehen, der
„erträgt alle Gefahr und alle Entbehrung leichter, sobald er selber genau weiß,
was geschah, und beurteilen kann, was an Rettungs- und Hilfsmaßnahmen
eingeleitet ist“.38 Die Aufnahmen der zahlreichen Kamerateams übertrugen die
Katastrophe quasi in natura, sodass die ganze Nation daran teilhaben konnte.
Das „Leiden anderer betrachten[d]“ (Sontag ⁵2017: 13), fanden sich die
‘Mitbetroffenen‘ in der Rolle des medial einbestellten Zeitzeugen wieder, der
den sprichwörtlichen Schiffbruch vor allem als Zuschauer erlebte.39 Gleichzeitig
vermittelten sie einen Eindruck vom heroischen und gemeinsamen Kampf
gegen eine entfesselte Natur. Die namenlosen Helden verliehen der
Katastrophe ein „menschliches Gesicht“.40 Eine derart asymmetrische Kon-
stellation zwischen individuell erlittener und kollektiv wahrgenommener
Katastrophenerfahrung prägte das prosperierende Bildgedächtnis der ‘Großen
Flut‘ entscheidend mit.
Aus den vielen Momentaufnahmen und Schnappschüssen stach ein Bild jedoch
hervor. Der Spiegel veröffentlichte zwei Tage nach der Gedenkfeier am
Rathausmarkt die Fotografie eines gebrochenen Deichs, die rasch ikonenhaften
Status erlangen sollte.41 Während im Berichtsteil der Ausgabe ausführlich die
alttestamentarische Metaphorik der Sintflut bemüht und der naive „Glaube an
die Sekurität“ der modernen Großstadt zu Grabe getragen wurde, strahlte das
Cover eine beinah sublime Ruhe aus. Der Bildausschnitt war menschenleer,
jegliche Insignien des technologischen Fortschritts lagen vom Wasser überspült
danieder. Die Aufnahme stammte aus Wilhelmsburg, der Flussinsel im Süden
Hamburgs, die von zwei Armen der Elbe unmittelbar umschlossen in der

38
   Brief von Erich Lüth an die Schriftleitung der Wilhelmsburger Zeitung, 27.02.1962, in: StAHH,
135-1 VI, 900.
39
   Der Aphorismus des ‘Schiffbruchs mit Zuschauer‘ geht auf Hans Blumenberg zurück, der
diesen Schicksalsmoment der Überlebenskrise als Daseinsmetapher deutet: Verheerender
könnte die Katastrophe nur sein, wenn sie keine Zuschauer hätte (1979).
40
   Bgm. Nevermann: „Sie haben sich besonders ausgezeichnet“, 16.11.1962, in: StAHH, 135-1
VI, 902.
41
   Die Flut – Titelblatt des Spiegels, 28. Februar 1962, in: StAHH, 446-1, 48. In der gleichen
Ausgabe erschien der Artikel „Stadt unter“, der auf das Cover der Zeitschrift mit der
Bildunterschrift „Überschwemmter Hamburg-Stadtteil Wilhelmsburg: Wie Moses es
beschrieb“ verwies, in: Der Spiegel (28.02.1962), 17.

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Flutnacht „wie eine Badewanne“ vollgelaufen war.42 Hier hatte die Katastrophe
ihre meisten Opfer gefordert. Im Moment, als die Deiche unter der Sturmflut
brachen, gab es trotz massiver Rettungseinsätze für zahlreiche Bewohner kein
Entkommen. Von den 315 Hamburger Fluttoten kamen 222 allein aus
Wilhelmsburg, und hier vor allem aus den sogenannten Nissenhütten.43

                            Bild 2: Stadt unter – Titelblatt des Spiegel

Was das Bild zeigte, war das eine. Was es ausdrücken und wie es verstanden
werden sollte, aber etwas anderes. Eine niedergerissene Hochwasserschutz-
mauer samt überschwemmter Straßenzüge vermittelte allen Zuschauern des
Zusammenbruchs einen ästhetisierten Eindruck der Geschehnisse, der den
unübersichtlichen Ursache-Wirkungs-Komplex ebenso erfolgreich ausblendete
wie das tatsächliche Leid in den Wilhelmsburger Flussniederungen. Darüber
hinaus wussten Hamburgs politische Gedächtnisakteure das Motiv für den
Entwurf eines komplementären Erinnerungsbildes zu nutzen: das des wieder
geschlossenen Deichs. Am gleichen Tag, an dem der Spiegel den Deichbruch auf

42
     Ebenfalls Der Spiegel, „Sturm statt Bombe“, 17.10.1962.
43
     Siehe den Bericht über die Sturmflutkatastrophe, 26.04.1962, in: StAHH, 731-8, A 457.

178
Mauch: Rückblenden

sein Titelblatt hob, erklärte Baudirektor Rudolf Büch vor der Bürgerschaft seine
Pläne für eine umfassende Modernisierung der Hochwasserschutzanlagen. Das
jüngste Unglück, hielt ein zeitnah erlassenes Richtliniengesetz fest, habe
deutlich gemacht, dass „es erforderlich ist, die hamburgischen Elbmarschen
durch ein völlig neues Deichsystem zu schützen“.44 Etwa einen Monat später
war der Hochwasserschutz nicht nur wiederhergestellt, sondern in den Augen
der verantwortlichen Behörden und Wasserbauingenieure sogar soweit
verbessert worden, dass Vergleichbares „nach menschlichen Ermessen“ in
Zukunft auszuschließen sei.45
Detaillierte Presseberichte und Sonderausstellungen stellten sicher, dass die
lokale Bevölkerung erfuhr, welche Anstrengungen die Regierungsvertreter für
die Garantie umfassender Sicherheit unternahmen.46 Die alten Flutmauern
würden gegen ihre Nachfolger „wie ein Kinderspielzeug“ aussehen, umschrieb
ein Zeitungskommentar das neu gewonnene Gefühl der Zuversicht und
Sicherheit, das sich beim Blick auf die signifikant erhöhten Deichbauten
einstellte (Hamburger Abendblatt 17.08.1962). Mit der Fertigstellung eines
Sperrwerks am Baumwall im Oktober 1968 schloss das Amt für Strom und
Hafenbau die Neuausrichtung des technischen Hochwasserschutzes ab.
Während des Richtfestes unterstrich der amtierende Bausenator Cäsar Meister,
dass nun nach Wilhelmsburg auch die Innenstadt und der Rathausmarkt vor
Sturmfluten geschützt waren. Es sei außerdem ein weiteres Mal gelungen, eine
Katastrophe als Gelegenheit zur erfolgreichen Umgestaltung des Stadtraums zu
begreifen: „Wir können also mit Recht sagen“, frohlockte Meister im Stile Fritz
Schumachers, die „Notwendigkeit, die Stadt vor dem Hochwasser zu schützen,
hat uns auch die Möglichkeit gegeben, unsere Stadt schöner zu machen.“ 47
Das Bild vom geschlossenen Schutzwall erschien ihm deshalb so bedeutend,
weil es eine gänzlich elementare Einstellung im Mensch-Natur-Verhältnis

44
   Vgl. die Erläuterungen von Rudolf Büch bzgl. des Senatsantrags zur Sicherstellung eines
raschen Wiederaufbaues der Hochwasserschutzanlagen, in: StenBerHB, 5. Sitzung der
Bürgerschaft (28.02.1962: 109-111); Mitteilungen des Senats 154, Gesetz zur Ordnung
deichrechtlicher Verhältnisse (02.10.1962: 431).
45
     Imponierendes Wasserschutzprogramm, 28.05.1964, in: StAHH, 135-1 VI, 1788.
46
     Vgl. Ausstellung über den Hochwasserschutz, 09.10.1963, in: StAHH, 135-1 VI, 1788.
47
   Ansprache Senator Meister auf dem Richtfest für das Baumwallsperrwerk, 11.10.1968, in:
StAHH, 135-1 VI, 1788.

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symbolisierte: die des Schutzes.48 Zum zehnjährigen Jubiläum der Katastrophe
spiegelte sich in den technisch hochgerüsteten Flutmauern das wieder-
gewonnene Vertrauen staatlich organisierter Sicherheit vor der Brachialgewalt
des Wassers wider. Der Anspruch, Umweltgefahren nicht mehr passiv zu
erleben, sondern den Schutz vor der Natur aktiv zu gestalten, fand im Deichbau
seine idealtypische Entsprechung.49 Mit Abschluss der Erhöhungsarbeiten galt
der Wasserlauf als domestiziert, ein erneutes Unheil als ausgeschlossen. Analog
präsentierten Lokalpolitiker und Hochwasserschützer Deiche als die muster-
gültigen Botschafter des Flutgedächtnisses. Sie transportierten die zeitgenös-
sisch vorherrschende ‘Katastrophenkultur‘ des Gefahrenmanagements, die
Flutrisiken bewusst in ihren Alltag integrierte, indem sie die erschütternden
Erfahrungen der Vergangenheit erfolgreich in einen „retrospektiven Katastro-
phenoptimismus“ umzudeuten vermochten (Elie/Gestwa 2014: 162). Jedes
fertiggestellte Sperrwerk und jede erhöhte Flutmauer symbolisierte eine
Rückkehr zur Normalität.

      Bild 3: Geschlossener Deich entlang der Harburger Chaussee in Wilhelmsburg (2015)

Umgedeutet in eine Bewährungsprobe der Gemeinschaft, war die ‘Große Flut‘
nunmehr eine verarbeitete Anomalie, die dank technologischer Innovations-
kraft kein zweites Mal zu erwarten war. Nicht umsonst steht dem modernen
Katastrophenbegriff die Denkfigur der Anastrophe zur Seite.50 Optimismus und

48
  Wie sich Gesellschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor der zerstörerischen Kraft der
Natur zu schützen versuchten, beschreibt ausführlich Hannig (2019).
49
     Siehe in anderem Zusammenhang Döring (2005).
50
     Für eine weiterführende Begriffsbestimmung vgl. Claessens (1995).

180
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Vertrauen ersetzten Trauer und Leid. Das Bild vom gebrochenen Deich blieb
vor allem als Kontrastfolie im Gedächtnis. Denn „die Erinnerung an jene
Schreckensnacht vor zehn Jahren ist verblaßt“, konstatierte das Hamburger
Abendblatts in einem Leitartikel (12.02.1972). Was hingegen im Gedächtnis
bleiben würde, seien die Bilder der Rettungsmaßnahmen, aber vor allem der
heilsame Blick auf die geschlossenen Hochwassermauern. In ihrer festen Gestalt
verkörperten sie die idealen Denkmale, die gegen jede kritische Aufmerk-
samkeit imprägniert und im Alltag unbemerkt die „Rückführung zur
Normalität und die Bewältigung der Katastrophe“ moderierten (Scholz 2012:
13). An einem von der Wilhelmsburger Notgemeinschaft der Flutgeschädigten
initiierten Flutehrenmal, das nur durch Spenden der ansässigen Bevölkerung
errichtet werden konnte, beteiligte sich die Stadtverwaltung nicht.51 Dem
offiziellen Gedenken der langen 1960er Jahre genügte die Sicht auf den
Baumwall oder den Ringdeich um Wilhelmsburg.

5.   Das Schweigen der Bilder: Nachbelichtungen ‘von unten‘
Indes: Die künstlich gewonnene Sicherheit erwies sich rasch als Illusion. Eine
Serie an Sturmfluten, die zwischen 1973 und 1981 in Hamburg auflief,
veränderte den Blick auf die Deiche. Trotz höherer Pegelstände hielten sie dem
Wasser weiterhin stand. Doch Extremereignisse sahen auf einmal wie die neue
Normalität eines Lebens am Fluss aus. Noch hielten die Schutzmauern – aber
wie lange noch? Derartige Fragestellungen rüttelten an den Denkmälern
normativer Erfolgsgeschichten und dynamisierten die Prämissen des
Flutgedächtnisses grundlegend. Mit der iterativen Erfahrung kehrten nicht nur
einfach Derivate alter Erinnerungen wieder. In der Rückblende kamen weitere
hinzu.
Von einer bewältigten Episode aus der Vergangenheit mutierte die ‘Große Flut‘
in eine „Problemgeschichte der Gegenwart“ (Raphael/Doering-Manteuffel
2008: 25). Ein Gefühl der Unruhe ergänzte den etablierten Katastrophen-
optimismus um pessimistischere Szenarien. Die Rede vom Aufbruch oder gar
dynamischen Zeiten – bis dato die zentralen Deutungsmodelle westdeutscher

51
   Vgl. Beschränkte Ausschreibung für ein Denkmal zur Erinnerung an die
Sturmflutkatastrophe 1962, 14.02.1964, in: StAHH, 446-1, 113; Wilhelmsburger Zeitung
(20.07.1965).

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Meistererzählungen nach 1945 – verloren ihren Glanz.52 Je höher die Deiche
wuchsen, desto mehr haftete ihnen das Bild einer Krise alter Gewissheiten an.
Der Blick auf die technisch hochgerüsteten Schutzwälle offenbarte nunmehr
auch den ökologischen Preis einer allenfalls noch vermeintlichen Sicherheit.53
Die Sperrwerke hatten nämlich nicht nur die Gefahren der Elbe aus der Stadt
verdrängt, sondern den Strom auch von seinem natürlichen Einzugsgebiet und
vielen Nebenflüssen abgeschnitten. Zudem hatten diverse Fahrrinnen-
vertiefungen deren hydrologisches Profil drastisch verändert, sodass Sturm-
fluten weitaus höher und schneller in der Hansestadt aufliefen als zuvor.54
Nicht mehr die Natur selbst, sondern der Schutz vor ihr erzeugte reflexive
Probleme.
Parallel zu den schwindenden Garantien des Hochwasserschutzes verloren
auch die herkömmlichen Deutungsangebote von Wiederaufbau, Solidarität und
Zusammenhalt an Attraktivität. In Wilhelmsburg, das seit der Flutnacht 1962
einem dramatischen sozioökonomischen Niedergang ausgesetzt war, stieß die
Beschwörung der ‘Notgemeinschaft‘ an ihre Grenzen. Gefangen in der
Abwärtsspirale einer ‘schleichenden Katastrophe‘, versandeten die bis dato
etablierten und pauschalisierenden Sinnkonzepte zunehmend.55 Spätestens an
diesem Punkt wurde deutlich, dass die Erinnerung an die Flut in wesentlich
komplexeren Bahnen verlief, als es das offizielle Konsensgedächtnis
vorspiegelte. Die Einsicht, dass die wiederkehrenden Flutepisoden auch die
Eventualität eines weiteren verheerenden Desasters mit sich brachten sowie die
Frage, ob das kollektive Flutgedächtnis überhaupt noch als ein gemein-
schaftliches existierte, verlangten nach Anpassungen. Grundvoraussetzung für
den Umgang mit der Flutkatastrophe blieb die Suche nach dem Sinn des

52
   „Dieses Gefühl bleibt zwischen den einzelnen Katastrophen dauernd, aber diffus präsent,
als Gefühl einer Zwischenzeit“ (Utz 2013: 234). Für eine zeithistorische Einordnung vgl. Geyer
(2010).
53
   Zum Begriff der ökologischen Krise und seiner Geschichte vgl. Müller/Schmieder (2018:
100).
54
     Zeitgenössisch: Gudehus (1974: 2).
55
   Für Scott Gabriel Knowles sind Katastrophen keine singulären, schnelllebigen Ereignisse,
sondern „slow disaster”, die er als eine Verkettung von dynamischen Ereignisabläufen und
den „long processes of environmental degradation and deferred maintenance“ versteht (2014:
777).

182
Mauch: Rückblenden

Geschehenen. Doch Zuschauer wie Betroffene des ‘Schiffbruchs‘ hatten mittler-
weile unterschiedliche Erinnerungsbilder vor Augen.
Im Rathaus versuchten sich die Erinnerungsakteure des offiziellen
Gedächtnisses weiter an der Neubelebung eines alten Mythos. Schon während
der Rettungseinsätze und im Verlauf der ersten Gedenkjahre war die Metapher
des ‘barmherzigen Samariters‘ eine ubiquitäre Diskursformel.56 Zwar hatte die
vormoderne Vorstellung eines strafenden Gottes ausgedient, doch ein gewisses
eschatologisches Moment blieb auch über das 20. Jahrhundert hinweg ein
wirkmächtiger Topos der Katastrophendeutung. Die Ikonisierung der
Bundeswehrsoldaten als ‘rettende Engel‘ hatte es in Anbetracht der Ohnmacht,
mit der Behörden und Bevölkerung der Sturmflut in den ersten Stunden
gegenüberstanden, ermöglicht, sinnstiftende Momente zu kreieren.57 Kein
Erinnerungsbild erlangte in diesem Zusammenhang jedoch einen vergleich-
baren Status wie die Figur Helmut Schmidts, der dem Chaos der Sintflut mit
kühler Rationalität entgegentrat. Eine Woche nachdem der Spiegel den
gebrochenen Deich auf sein Titelblatt gehoben und die Kapitulation der
modernen Großstadt vor den entfesselten Gewalten der Natur betrauert hatte,
kürte das Wochenmagazin den Polizeisenator zum „Herrn der Flut“ (Der Spiegel
07.03.1962). Eine Fotoaufnahme, die Schmidts feste Hand bei der Koordination
der Rettungseinsätze demonstrierte, schuf ein Erinnerungsbild, das es erlaubte,
„menschlichem Handeln [wieder] Macht über die Elemente zu verleihen und
dieses Bestreben in einer Person […] sinnhaft zu verdichten“ (Soell 2003: 382).58

56
   „Die Tat des barmherzigen Samariters trägt ihren Lohn in sich selber.“ Ansprache Bgm.
Nevermann anlässlich der erstmaligen Verleihung der hamburgischen Dankmedaille,
04.07.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 381.
57
   „Es könnte das Leid, wie bei Christus, die große Stunde der Bewährung sein!“, predigte
etwa der protestantische Landesbischof Karl Witte, 31.12.1962, in: Nordelbisches Kirchenarchiv,
98.41, 55. Siehe ebenfalls das Hamburger Abendblatt, 23.02.1962).
58
   Die Aufnahme ist der Plankammer des Staatsarchivs Hamburg entnommen, in: StAHH,
720-1, Flut 1962.

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                            Bild 4: Konterfei Helmut Schmidt

Zum dreißigsten Jahrestag der Sturmflut, deren Erinnerungskontext so
politisch aufgeladen war wie lange nicht mehr, reaktivierte das offizielle
Gedächtnis das Bild des vernunftgeleiteten Pragmatikers wieder. Bei der
Eröffnung einer Fotoausstellung der Baubehörde im Rathaus reagierte der
‘Herr der Flut‘ höchstpersönlich auf die jüngsten Kontroversen um Elbver-
tiefung und Deicherhöhung, aber auch auf die politische Großwetterlage eines
wiedervereinten Deutschlands: Unbedingte Solidarität, aber mit Verstand und
Umsicht, sei das Gebot der Stunde. Denn „auch aus Ängsten können
Katastrophen geboren werden.“59 Auf der live übertragenen Feierstunde des
Senats im Hamburger „Michel“ schmückte der Alt-Bundeskanzler das Motiv
weiter aus. Er stehe hier als Zeitzeuge, „der damals dabei war“, aber gleichfalls
„als einer, der als Christ Schlußfolgerungen anbieten möchte für heute und
morgen“. Ein Zitat aus dem 1. Buch Mose schloss seine Ansprache ab: Um
„unseres Bruders und unserer Schwestern Hüter [zu] sein, ehe daß sie […]
ertränken […]“, gelte es Vernunft walten zu lassen: „Brüderlichkeit verlangt
eben auch Vor-Sorge, damit das Unglück nicht geschehe.“60 Vielleicht,
spekulierte die Süddeutsche Zeitung hinsichtlich des von Helmut Schmidt

59
   Rede des Bundeskanzlers a.D. Helmut Schmidt bei der Gedenkstunde anlässlich der
Eröffnung der Fotoausstellung „Sturmflut 1962“, 14.02.1992, in: StAHH, 135-1 VII, 1857.
60
  Ansprache von Helmut Schmidt beim Gedenkgottesdienst in St. Michaelis, 16.02.1992, in:
Gemeindearchiv St. Michaelis, 07.028.01, 1884, 1) [Hervorhebung im Original].

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