Rückblenden. Geschichte und Erinnerung einer Naturkatastrophe in Bildern - metaphorik.de
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Rückblenden. Geschichte und Erinnerung einer Naturkatastrophe in Bildern Felix Mauch, TU München (felix.mauch@tum.de) Abstract Der vorliegende Beitrag stellt am Beispiel der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 die Frage nach Aspekten der bildhaften Erinnerung von Naturkatastrophen. Dafür werden aus historischer Perspektive konkrete ‘Erinnerungsbilder‘ auf ihre Kerninhalte analysiert, spezifische Motive identifiziert sowie Gedächtnisakteure und -institutionen herausgearbeitet. Dadurch soll die Bedeutung dieser Bildmotive für die Strukturen und Praxen lokaler Erinnerungsdiskurse aus einer kultur- wie umwelthistorischen Perspektive beleuchtet werden. Die empirische Analyse dieser Motive offenbart drei wesentliche Prozesse im Gedenken der ‘Großen Flut’: (1) wie zeitgenössische Erfahrungs- und Erwartungshorizonte die Bildproduktion und -wahrnehmung beeinflussen; (2) wie im historischen Verlauf Motive etabliert und tradiert, proaktiv (um)gedeutet, aber auch nachbelichtet und ergänzt werden; (3) wie das Wechselspiel zwischen offiziellen und neuformierten Gedächtniskollektiven ‘von unten‘ auf die performative Herstellung von Erinnerungsbildern einwirkt. Letztere stehen im Zentrum einer Gedächtnisgeschichte, die die Produktion von Erinnerungsinhalten, -praktiken und -institutionen gleichermaßen und chronologisch in den Blick nimmt. Nur unter diesen Voraussetzungen, so die grundlegende These, lassen sich Erinnerungsbilder in ihren Bedingungen und Affekthaushalten angemessen erfassen. Using the example of the Hamburg flood disaster of 1962, this article focuses on the visual memory of natural catastrophes. A historical perspective is utilized for the analysis of concrete visual memories and commemorative images according to their core content; to identify specific motives, and to visualize memory agents, actors, and institutions. Doing so characterizes the historical significance of these factors for the structures and practices of local memory discourses, in both cultural and environmental history. Empirical analysis of these motives reveals three major processes in the memory of Hamburg’s ‘Great Flood’: (1) how contemporary experiences and expectations influence the production and perception of certain images; (2) the ways in which images are established and handed down over the course of history and how this leads to a proactive (re-)interpretation, but also to additions and edits of the original images; (3) the impact of the interaction between the official and the newly formed collective memories ’from below’, and the resulting interpretations on the performative production of visual memories. The latter stand at the center of a historiographical approach focusing on the production of memory in the context of institutions and practices, in chronological order. This article argues that conceiving visual memories and commemorative images in accordance with their conditions and emotive processes is fundamental to their interpretation and understanding. 163
metaphorik.de 31/2020 1. Einleitung In seinem 1936 publizierten Nachlaß zu Lebzeiten formulierte Robert Musil in einer Sequenz „Unfreundlicher Betrachtungen“ den berühmt gewordenen Aphorismus, nachdem das Auffallendste an Denkmälern sei, dass man sie im Alltag gar nicht bemerke: „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar“ und „durch irgend etwas gegen jede Aufmerksamkeit imprägniert“ wäre (Musil 1957: 59).1 Im Lichte des anhaltenden memory booms und der jüngsten Streitdebatten um das ‘Denkmal für Freiheit und Einheit‘ oder die Beton-Stelen des sogenannten ‘Holocaust-Mahnmals‘ scheint es fast, als bedürfe die von Musil formulierte These einer Revision.2 Denkmale und die Geschichte, die sie verkörpern sollen, genießen derzeit eine hohe Aufmerksamkeit.3 Für Natur- katastrophen hingegen errichtet man nur selten Monumente. Dem klassischen Diktum des Mediävisten Arno Borst zufolge ist dieser Umstand dem „modernen Selbstverständnis“ geschuldet: „Es isoliert Katastrophen in der Gegenwart und eliminiert sie aus der Vergangenheit, weil sie die Zukunft nicht definieren sollen.“ (1981: 529). Gleichwohl bestehen Ausnahmen. Um das Gedenken der ‘Großen Flut‘4, die im Februar 1962 entlang der deutschen Nordseeküste insgesamt 347 Tote forderte und damit als die verheerendste Naturkatastrophe der Bundesrepublik gilt, formierte sich eine reichhaltige 1 Sein Zeitgenosse, der Stadt- und Architekturtheoretiker Lewis Mumford, verkündete gar den „Tod des Denkmals“, dessen Formensprache nicht mehr den Weltbildern der Moderne entspreche (1937: 265). 2 Einen Überblick über aktuelle Debatten und die Herausforderungen an institutionalisierte Gedenkstätten gibt Knigge (2020). Für eine dezidierte Kritik deutscher ‘Gegenwartsbewältigung‘ und Erinnerungskultur aus postmigrantischer Sicht vgl. Czollek (2020). 3 Eine Konjunktur öffentlichen Gedenkens diagnostiziert wiederholt der Historiker Jay M. Winter (2009). Zur gesellschaftlichen Grundsatzdiskussion um den ‘richtigen Umgang‘ mit der deutschen Vergangenheit seit 1945 vgl. Assmann (2013); Frölich/Jureit/Schneider (edd.) (2012). 4 Der Topos einer ‘Großen Flut’ diente sowohl Zeitgenossen als auch Erinnerungsakteuren zur Bezugnahme auf die Hamburger Hochwasserkatastrophe von 1962, vgl. u.a. Kirchenrat der Evang.-Luth. Kirche im Hamburgischen Staate (ed.) (1962); Freie und Hansestadt Hamburg (1963); Homfeld (1982); Hötte (ed.) (2012); Geschichtswerkstatt Harburg (2012). 164
Mauch: Rückblenden Gedächtnislandschaft, deren Gestalt durch Gedenktafeln oder Hochwasser- marken bestimmt ist.5 So ist in Hamburg und seinen flussnahen Stadteilen Wilhelmsburg, Waltershof sowie dem Alten Land, den Epizentren der Flutkatastrophe, die Dichte an Gedächtnisträgern am auffälligsten: Neben der zentralen Ehrenanlage auf dem Friedhof Ohlsdorf und dem Flutdenkmal an der Kirchdorfer Straße verkörpern ein Bronzerelief in Finkenriek, die ‘Wellenwand‘ im südelbischen Francop und Memoriale in Ovelgönne sowie dem Anleger Teufelsbrück in Nienstedten das formale Erinnern an die 315 Menschen, die vor Ort ihr Leben ließen.6 Die Erinnerung an die ‘Große Flut‘, so ließe sich auf Basis dieser Stichprobe argumentieren, ist buchstäblich fest im Stadtbild verankert. Was die Denkmale bedeuten sollen, lässt sich wunderbar erklären. Die Künstler und politischen Entscheidungsträger hinter ihrer Errichtung haben jeweils detaillierte Deutungsangebote vorgelegt. So ziert die Betonstelen des Wilhelmsburger Flutdenkmals der programmatische Erinnerungsimperativ „Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung“. Und auch die einer brechenden Woge nachempfundene ‘Wellenwand‘ soll ihren Betrachtern sowohl die Geschehnisse des Februars 1962 ins Gedächtnis rufen als auch vor den „Fluten, die noch kommen mögen“ (Die Welt 02.02.2002) warnen.7 Doch, so eine erste These, weder die Vielzahl an Erinnerungsträgern noch ihre Authentizität versprechende Zurschaustellung an den ‘Originalschauplätzen‘ des Naturdesasters sind automatisch mit einer lebendigen Erinnerungskultur gleichzusetzen.8 Im Gegenteil: Hamburgs Gedenksteine und Mahnmale verteilen sich auffällig unauffällig über den Stadtraum. Es scheint sogar, dass es gerade ihre steinerne Präsenz am stets selben Ort und ihre buchstäbliche 5 Siehe Fischer (2007: 153). Darüber hinaus zur Strukturdimension ortsgebundener Gedächtnisräume Fuge/Hering/Schmid (2010: 7-14). Dass Gedächtnisse topologisch strukturiert sind, veranschaulicht grundlegend Schlögel (2003: 269). 6 Eine detaillierte Übersicht findet sich in Mauch (2015). 7 So der verantwortliche Bildhauer Winni Schaak. Für die Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeld symbolisiere die ‘Wellenwand‘ ebenfalls die erinnerungspolitische Ermahnung, dass „auch 40 Jahre nach der Flut die Schrecken von damals und die Furcht vor neuen Katastrophen anhalte“ (Harburger Rundschau 18.02.2002). 8 Zur Kategorie der „Authentizität“ und ihrer Bedeutung für die Vergegenwärtigung der Vergangenheit vgl. Bernhardt/Sabrow/Saupe (2017: 9-22); Drecoll/Schaarschmidt/Zündorf (edd.) (2019). 165
metaphorik.de 31/2020 Unverrückbarkeit sind, die sie zu stummen Zeugen der Vergangenheit degradiert und im Musil’schen Sinne dem öffentlichen Bewusstsein entzogen haben. Denn „zu spät“ komme ein Denkmal ohnehin – sonst „wäre es kein Denkmal, das eine Vergangenheit Revue passieren läßt.“ Aber sei es „erst mal da […], schreibt es fest“, diagnostizierte der Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck einst den Erinnerungsboom der Jahrtausendwende (Koselleck 1996: 467). Um die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte des Gestern freizulegen, bedürfe es hingegen gänzlich anderer „Erinnerungsschleusen“ (Koselleck: 2000), die Vergangenes nicht als Element einer bestimmten, sondern einer Vielzahl an Geschichten konstituieren.9 Damit rückte Koselleck einen bis dato vernachlässigten Gesichtspunkt in den historiografischen Fokus: das Gedächtnis als Reflexionsinstanz.10 Ein Blickwechsel von einem als absolut gesetzten Andenken zu vielschichtig sedimentierten Memorialkulturen und ihren heterogenen Akteuren schien notwendig. Kosellecks Überlegungen kreisten in diesem Zusammenhang immer wieder um die visuelle Dimension von Geschichte und Erinnerung. Dahinter stand der Befund, dass zeitgenössische Erfahrungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts in einem nie gekannten Maße medialisiert wurden, weshalb sich sowohl historische Ereignisse als auch Strukturen nicht mehr ohne jene Medien denken ließen, die Erinnerungen produzieren, wiederholen, miteinander korrelieren und schließlich abbilden müssen.11 Aber würden dann nicht Bilder die Wirkkraft vergangener Ereignisse viel eher einfangen und in 9 Für eine Übertragung seiner Topoi des „Erfahrungsraums“ und des „Erwartungs- horizonts“ auf die Zeitgeschichte vgl. Graf/Herzog (2016). 10 Zentral: Radonic/Uhl (edd.) (2016). Gedächtnis als Reflexionsinstanz spielt außerdem im Selbstverständnis der „Public History“ eine zentrale Rolle, die zu verstehen versucht, welche Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart zukommt, siehe u.a. Zündorf (2014); Logge (2016). Zum „gemeinsamen Erbe“ europäischer Geschichte vgl. den Boer/Duch- hardt/Kreis/Schmale (edd.) (2012). 11 Entlang dieser Leitfrage hat sich eine seit den 1970er Jahren geführte Debatte über Geschichte als Ereignis und/oder Struktur unter den erinnerungs- und medienepistemo- logischen Vorzeichen einer Visual History aktualisiert. Ausführlich zum Forschungsfeld Danyel/Paul/Vowinckel (edd.) (2017). Außerdem Sebald/Döbler (edd.) (2017) und Rigney/Erll (2017). Aus mediengeschichtlicher Perspektive Bösch (2011). 166
Mauch: Rückblenden die Gegenwart transportieren können als gusseiserne Denkmale? Doch wenn ja, was wäre auf ihnen zu sehen? Und wer würde sie betrachten?12 Im Folgenden soll diesen Überlegungen am Beispiel der ‘Großen Flut‘ nach- gegangen und gefragt werden: Welche Bilder produzierten und tradierten die Erinnerung an die Naturkatastrophe? Auf welche Motive und historischen Referenzen griffen Erinnerungsakteure bei Bedarf zurück? Wie konstituierten sich erinnerungskulturelle Bilderwelten und worin bestand letztlich ihre Wirkung? Was zeigten sie und was gerade nicht? In welchen Motiven lassen sich die Kontinuitäten, Phasen und Emotionshaushalte dieser Geschichte ablesen? Und wie nahmen sie eine Beziehung zu ‘ihrem‘ Publikum auf und prägten „synchron deren Sichtweisen bzw. diachron deren Verständnis von Geschichte“ (Paul 2013)? 2. Bilderwelten und Naturkatastrophen In ihrer Phänomenalität als Ereignisse entziehen sich Naturkatastrophen dem verstehenden Zugriff. Sie lassen sich zwar quantifizieren, eine normative und „von ihren historischen und kulturellen Voraussetzungen gelöste Definition“ kann es hingegen kaum geben (Utz 2013: 11).13 Dass sie dennoch unbedingt bildwürdig sind, steht außer Zweifel. Wo Worte versagen, so eine weit verbreitete Ansicht, müssten die Bilder übernehmen. Ihre Darstellung dient somit einem ganz bestimmten Zweck: das Unfassbare des Ereignisses wird in das Zeichensystem der Kultur rückübersetzt, mit anderen Worten „kultiviert“ (ibid.: 14ff.).14 Für den Historiker stellen Katastrophenbilder entsprechend eine 12 Für die Geschichtswissenschaft bestehen heuristisch verschiedene Möglichkeiten, Bilder aufzufassen – als kollektive Geschichtsbilder, Selbst- oder Leitbilder, als Gattung, etwa Live-, Lichtbilder oder Fotografien, sowie jüngst auch Geschlechter- und Naturbilder. Zur generativen Kraft und Politik derartiger Bilder vgl. Sabrow (ed.) (2013); Groebner (2018). Aus der Wissenschaftsgeschichte u.a. Voss (2007). Zum Bildverständnis und der Bedeutung des „Iconic Turn“ für die Kulturwissenschaften vgl. Bachmann-Medick, (42010), die festhält, dass dieser nur unter Hinzuaddierung sowohl des visual als auch des pictorial turn seine Bedeutung gewinnt. 13 Zu den begrifflichen Leerstellen des Katastrophendiskurses empfiehlt sich Briese/Günther (2009). Das Spektakuläre der Katastrophe betonen Dünne/Hindemith/Kasper (edd.) (2018), während Eva Horn nicht zufällig als heute populärste Gestalt des Erhabenen in der Kunst den Katastrophenfilm identifiziert: Mit ihrem hohen Sensations- und Nachrichtenwert befriedigen Naturkatastrophen immer auch die unterschwellige Lust am Untergang (2014: 12). 14 Zur „bildlichen Umsetzung“ der Katastrophe siehe Walter (2010: 73ff.). 167
metaphorik.de 31/2020 heuristische Herausforderung dar. So sind sie keinesfalls über alle Zweifel erhabene Garanten vergangener Wirklichkeit, sondern entfalten ihre eigene Dynamik. Dadurch öffnen sie Darstellungsräume, die sich durch unmittelbare Koexistenz verschiedener Temporalitäten auszeichnen und so erst die Verschränkung von historischen und aktuellen Zeithorizonten ermöglichen. In seinen Filmtheorien hat der französische Philosoph Gilles Deleuze dieses Spannungsverhältnis mit den Begriffen des „Zeit-Bilds“ und des „Erinne- rungsbilds“, das mit Rückblenden arbeitet, um die Virtualität oder Irrealität des Gezeigten zu markieren, belegt (1989: 95-131).15 Letztere und ihre Spuren im kollektiven Flutgedächtnis Hamburgs analysiert dieser Beitrag. Er geht von der These aus, dass Erinnerungsbilder eine Scharnierfunktion ausüben. Über ihre Genese und ihren Gebrauch lässt sich nachvollziehen, wie das Unfassbare der Katastrophe zunächst eingefangen, im historischen Verlauf jedoch bedarfs- spezifisch weiterentwickelt wurde.16 Wie bestimmte Bilder erinnerungs- kulturelle Wirkmacht entfalteten, durch unterschiedliche Akteursgruppen angeeignet sowie in historisch variablen Konstellationen mit wechselnden Intentionen eingesetzt wurden, wird deshalb an vier aussagekräftigen Beispielen skizziert: 1) eine Ansicht von der ersten Trauerfeier für die Opfer der Flut auf dem Hamburger Rathausmarkt; (2) ein Cover des Spiegels, das einen gebrochenen Deich und das dahinter überschwemmte Wilhelmsburg zeigte; (3) das Konterfei Helmut Schmidts bei der Koordination der Rettungsmissionen im Überschwemmungsgebiet sowie schließlich (4) ein bei diesen Einsätzen entstandenes Bild der zahlreichen Helfer, das zum 50. Jahrestag der Flut im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel ausgestellt wurde.17 Für diese Auswahl ist zunächst eine Beobachtung aus der Gegenwart ausschlaggebend. Allen Aufnahmen ist gemeinsam, das sie als authentische ‘Urmomente‘ lokaler Erinnerungspraktiken zu Ikonen geworden sind, die sich bei Bedarf sofort abrufen und in bestehende Gedächtnismuster einordnen 15 Hier fällt nicht ein wichtiges Ereignis ins nächste, sondern, wie im wirklichen Leben, liegt die eigentliche Herausforderung im Meistern der Zwischenzeit, siehe Fahle (2002: 102). 16 In den jeweiligen historischen Kontexten können Bilder aktualisiert, aber ebenso auch modifiziert werden, vgl. Brink (2011: 108). 17 Schon Siegfried Kracauer widmete sich den Parallelen zwischen Fotografie und Geschichte. Beide würden Geschehenes nicht einfach illustrieren, vielmehr nähmen sie es in Besitz und dringen darin ein, vgl. (2009: 69); Baumann (2014: 107). 168
Mauch: Rückblenden lassen. Durch ihren hohen Wiedererkennungswert stehen sie heute geradezu paradigmatisch – und einem Denkmal nicht unähnlich – für die Geschichte der Flut. Gleichzeitig eignen sich gerade solche Idealbilder, um das ‘Gemachtsein‘, vor allem aber auch die Ambivalenz und Widerspenstigkeit kollektiver Erinnerungen empirisch offenzulegen. Methodisch richtet sich die Bildauswahl dabei an den Prämissen der historischen Gedächtnis- und Rezeptionsforschung aus.18 Deren jüngsten Erkenntnissen folgend, müssen Erinnerungsbilder als die Ergebnisse eines öffentlichen Aushandlungs- und Aneignungsprozesses verstanden werden, bei dem die Betrachter ihre jeweilige Sichtweise mit der im Bild gezeigten Geschichte verzahnen und dieser Bedeutung zuschreiben. Die vier ausgewählten Zeitdokumente halten Geschichte also nur vermeintlich objektiv fest. Ihr tatsächlicher Gehalt liegt immer nur in den Augen eben jener Betrachter. Erinnerungsbilder sind von ihrem Publikum abhängig, das sie stets aufs Neue mit eigenen Erwartungen belebt, denen die historische ‘Realität‘ notwendigerweise untergeordnet wird. Dieser Vielstimmigkeit ist heuristisch unbedingt Rechnung zu tragen. Denn „es gibt kein reines Ereignis“, wie der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in diesem Zusammenhang feststellt, „hoffen wir also nicht, dessen exakte Erinnerung zu finden. […] Alles hängt davon ab, wie jeder, gestützt auf Brocken, die Zeit der Geschichte organisiert, durcharbeitet und neu montiert.“ (2017: 23).19 Ob Natur- und anderen Katastrophen aus der Vergangenheit auch in der Gegenwart Bedeutung beigemessen wird (und wenn ja, welche), entscheiden also weder das Ausmaß ihrer Zerstörung noch normative Denkmalssetzungen. Es sind in erster Linie ihre Bilder, die im Gedächtnis bleiben.20 Eine Antwort auf die Frage, wie sie sich dort festsetzen und wessen Geschichte sie letztlich erzählen, liefert allerdings erst die historische Rückblende, also der Blick in die Geschichte der ‘Großen Flut‘ und auf die 18 Aus der Fülle an Publikationen vgl. die historiografischen Zugänge zur Bildrezeption und -aneignung von Moller (2018: 19–21). 19 Ausführlicher Didi-Huberman (2019). Auch die Geschichtswissenschaft ist vom reinen Ereignis als Analysekategorie längst abgerückt, vgl. grundlegend White (1999: 66-86). Zum Ereignis-Begriff vgl. Steinsiek (2013), hier insbesondere die theoretisch-methodischen Überlegungen, 35–83. 20 Als Überblick zur geschichtswissenschaftlichen Katastrophenforschung vgl. Willer (2019); Fortun, et al. (2017); Collet (2019: 13–25). 169
metaphorik.de 31/2020 Praktiken ihrer memorialen Vergegenwärtigung über die lange Dauer.21 Diese vielschichtigen Resonanzebenen gilt es für jedes Einzelmotiv mitzudenken, will man zu einem fundierten Urteil über die affektive ‘Macht‘ von Erinnerungs- bildern gelangen. Erst dann, argumentieren die Kunsthistoriker Matthias Schulz und Barbara Oettl, seien „Bilder in der Lage uns beim Durchschauen von Bildern zu helfen“.22 Zusammengefasst: Die vier ausgewählten Erinnerungsbilder weiten den Blick auf die Bewältigungskultur der Hamburger Sturmflut von 1962. Denn diese war weder nur als reines Ereignis geschichtsträchtig, und ebenso wenig existiert die eine unverfälschte Erinnerung daran. Die Bilder, die das zu Erinnernde tragen, stiften an und bewahren, verschleiern, instrumentalisieren und deuten sie auch um (Knoch 2016). Aber gerade weil sie das zu Erinnernde nicht normativ vorgeben, sondern mit ihrem Publikum und seinen wechselnden Ansprüchen verbunden bleiben, sind sie keine stummen, sondern vielstimmige Zeugen lebendiger Erinnerung und zeitgenössischer Vergegenwärtigung. Um Ian Hacking zu paraphrasieren: Bilder „haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben“.23 Robert Musil und Reinhart Koselleck hätte dieser Gedanke vermutlich gefallen. 3. Vom Ereignis zur Erinnerung: Bildgedächtnisse der ’Großen Flut‘ Wer im Februar 2012 über den Hamburger Rathausmarkt zwischen Binnen- alster und Nikolaifleet blickte, erkannte an dessen östlichem Ende eine schwarz umhängte Plakatwand, an der eine Schwarzweißfotografie hing. Diese zeigte im Hintergrund das Rathaus sowie im Zentrum den Vorplatz, der bis in alle Seitenstraßen mit Menschen restlos überfüllt war. Bei genauerem Hinsehen ließen sich vereinzelte auf Halbmast gehisste Fahnen und auch das verhüllte 21 Als Rückblende bezeichnet die Filmtheorie den Flashback, die Literaturwissenschaft als Analepse „jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses“, das „innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat“ (Genette ³2010: 21). 22 Das Nachdenken über Bildkulturen sowie über propagandistische Mechanismen und Strategien der Gewalt bedarf der historischen Tiefenschärfe; Interview mit Barbara Oettl und Matthias Schulz über den Umgang mit Gewaltbildern, in: L.I.S.A Wissenschaftsportal der Gerad Henkel Stiftung, 20. Dezember 2018. Vgl. außerdem Oettl (2018). 23 Der kanadische Wissenschaftstheoretiker schreibt eine solche Qualität eigentlich Begriffen zu, siehe Hacking (2001: 84). 170
Mauch: Rückblenden Eingangstor erkennen. Eine erklärende Texttafel war nicht angebracht, lediglich zwei Jahreszahlen – 2012 und 1962 – und darunter der Verweis auf die Ausstellung „Die Große Flut“, welche zeitgleich nebenan gezeigt wurde. Das Bild, davon gingen wohl zumindest seine Adressaten aus, sprach seine Betrachter offenbar von allein an und war nicht weiter erklärungsbedürftig. Bild 1: Fotowand auf dem Hamburger Rathausmarkt (2012) Welche Bedeutung dem Dargestellten im Auge des Betrachters beigemessen wird, versteht sich freilich nicht von selbst. Solche Kontextualisierungen sind einerseits kontingent, andererseits in die historische Situation ihrer Entstehung sowie die kollektiven Bedingungen ihrer Rezeption eingebunden. Was das Fotoplakat visuell abbildete, war allenfalls ein flüchtiger Eindruck aus der Vergangenheit, eine Spur zu dem, was einmal gewesen war. Was sich für Passanten auf dem Hamburger Rathausmarkt dabei offenbarte, war der Blick in zwei Welten: in die realhistorische Ebene der Momentaufnahme und in die zeichenhaft gestaltete Welt der Erinnerung. Was sie auf der Plakatwand de facto ausmachten und was sie nur zu sehen glaubten, weil sie schon andere Bilder im Kopf hatten, lässt sich nicht nachverfolgen. Wie die Neurologie nachweisen 171
metaphorik.de 31/2020 kann, ergänzt das Gehirn die fehlenden Teile eines Bildausschnitts mit „assoziativen Erinnerungen“ aus aktuellen Reizbeständen.24 Was das ‘Erinnerungsbild‘ zum 50. Jahrestag der ‘Großen Flut‘ überlieferte, war – den subjektiven Erzählungen eines Zeitzeugen ähnlich – also eine Interpretation der Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Gegenwart.25 Die vor dem Hamburger Rathaus installierte Fotografie stellte eine gewollte Erinnerung bereit. Sie sollte keinesfalls freie, sondern sehr bestimmte Assoziationen hervorrufen. Der Schnappschuss, der am gleichen Ort vor fünfzig Jahren, dem 26. Februar 1962, entstanden war, entsprach nicht unbedingt der gängigen Erwartungshaltung an ein Katastrophenbild. Er zeigte weder zerstörte Häuser, überflutete Straßenzüge noch andere gängige Katastrophenmotive, sondern die trauernde Hamburger Bevölkerung, die sich im Zuge der ersten offizielle Gedenkfeier für die 315 Opfer der Natur- katastrophe just am selben Ort versammelt hatte.26 Im Moment der Aufnahme war allen Anwesenden vor dem verhüllten Rathausportal bewusst, dass sie Zeugen eines verheerenden Ereignisses geworden waren. An jenem Montag ruhten der Verkehr sowie alle öffentlichen Veranstaltungen. Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Angehörige der Verstorbenen erhielten reser- vierte Plätze in den ersten Reihen, in ihrem Rücken versammelten sich mehr als 150.000 Trauernde. Wie auf dem Foto gut zu erkennen war, drängte sich die Menschenmasse bis an das Alsterufer am Jungfernstieg.27 Das passende Deutungsangebot zum Bild lieferte an jenem Februartag Hamburgs Erster Bürgermeister Paul Nevermann. Seine Ansprache wandte sich direkt an die Hinterbliebenen in den ersten Sitzreihen, denen er die bedingungslose Unterstützung der gesamten Hansestadt zusicherte. Man habe erkennen müssen, dass „die Kräfte des Menschengeistes, der Technik und aller 24 Siehe Staresina et al. (2019). Hierzu und für weitere Perspektiven einer Neurogeschichte vgl. außerdem Plamper (2012: 319). 25 Zur der erinnernden Rolle von Zeitzeugen und die geschichtsdidaktischen Potenziale der Oral History vgl. Bertram (2017). 26 Diese Zahl bezieht sich auf die in Hamburg verzeichneten Flutopfer. Trauertag für die Opfer der Sturmflut, 22.02.1962, in: Staatsarchiv Hamburg [StAHH], 131-1 II, 1024; Die Welt (27.02.1962). 27 Für Ablauf und Inhalte vgl. das Programm „Trauerakt für die Opfer der Sturmflutkatastrophe“, 26.02.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 900. 172
Mauch: Rückblenden Zivilisation nicht ausreichen, um die Wildheit der Natur zu bändigen“. Aber „nie zuvor […] in dieser Generation, selbst im Bombenkrieg nicht“, führte das Stadtoberhaupt den Gedanken weiter, „hat man Hamburg so bereit gesehen, das Unglück vieler Bürger mitzutragen, mitzuleiden und die Trauernden einzuhüllen in die Gemeinschaft […].“28 Die Naturgewalt, so der Kerngedanke der Rede, unterscheide weder zwischen Alt und Jung, noch Arm und Reich. Betroffen sei jeder. Und als eine solche „Notgemeinschaft“ werde man die Katastrophe auch gemeinsam überwinden (Hamburger Abendblatt 19.02.1962). Um das Geschehene in Worte zu fassen, blickte Nevermann in die Geschichte zurück. Bewusst zog er von der jüngst erlebten Flutkatastrophe einen Vergleich zur Bombardierung Hamburgs im ‘Feuersturm‘ des Sommers 1943. Im Vorfeld der Gedenkveranstaltung hatten bereits lokale Presseorgane sowie Polizei- senator Helmut Schmidt in seinem Lagebericht an die Bürgerschaft dieselbe Analogie gewählt.29 Auf dem Rathausmarkt setzte der Erste Bürgermeister die Interpretationslinie fort. An dramatischen Sprachbildern mangelte es ihm dabei nicht: „Diese letzte Woche […] wird keiner von uns vergessen können, bis an das Ende seiner Tage. Nur in den Bombennächten des Jahres 1943 und in der Feuersnot des Jahres 1842 wurde unsere Stadt von Heimsuchungen getroffen, die so schwer waren wie dieser letzte Schlag. Diese Leidenserfahrung wird uns Warnung und Aufruf sein.“ (Senat der Freien und Hansestadt Hamburg 1962: 56). Die Verknüpfung mag aus heutiger Sicht überraschen. Zu Beginn der 1960er Jahre waren die Katastrophen des ‘Feuersturms‘ und des ‘Großen Brands‘ für viele Stadtbewohner allerdings nicht nur negativ besetzt. Johannes Fried erklärt diesen Umstand mit einer Form der „strukturellen Amnesie“ (2012: 214). Spezifische Aspekte sinnhaltig zu erinnern, setze demzufolge voraus, dass andere ausblendet, ignoriert und als streichenswert deklariert werden. Und in Hamburgs kommunalem Gedenken dominierten mittlerweile die Erfolgs- narrative des gemeinsam gemeisterten Wiederaufbaus den Katastrophen- diskurs. Die Schrecken des Nationalsozialismus traten sukzessive dahinter 28 Ansprache Nevermann, 26.02.1962, in: StAHH, 131-1 II, 1024. 29 „Die Katastrophe, die wir erlebt haben, hat ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit dem Hamburger Brand nur im Zweiten Weltkriege erlebt haben,“ in: Stenographische Berichte der Hamburger Bürgerschaft [StenBerHB], 4. (Sonder-) Sitzung der Bürgerschaft (21.02.1962: 96). Siehe auch Die Welt (19.02.1962). 173
metaphorik.de 31/2020 zurück. Kriegsende und Luftangriffe, argumentiert Malte Thießen in diesem Zusammenhang, wurden „zu Kulissen eines unbelasteten Neuanfangs“ umgedeutet. In der öffentlichen Anteilnahme des ‘Stunde null‘-Gedenkens manifestierte sich „die Wandlung des städtischen Gesellschaftsbildes von der ‘Volks-‘ in die selbstbewusste und resiliente ‘Erfolgs-Gemeinschaft‘ des Wirtschaftswunders“ (2007: 245).30 Für Nevermann waren also weder die Gründe, die zur alliierten Operation Gomorrha geführt hatten, noch die Frage nach der eigenen Schuld von entscheidender Relevanz. Ihn und sein Publikum auf dem Rathausmarkt einte in diesem Moment, dass beide die Bombennächte als kollektive Schicksalsereignisse wie eben die Sturmflut empfanden. Einmal mehr standen sie nun in Trauer vereint und besannen sich der Katharsis, die auf die Katastrophe folgen sollte. Hamburgs politische Erinnerungsakteure fügten die Sturmflut unmittelbar in dieses Narrativ ein. Dazu gehörte an erster Stelle die Hervorhebung einer gefährlichen Natur im Sinne eines Gegners sowie seiner unkontrollierbaren Kräfte, die Hamburg in ihren Augen schlichtweg überwältigt hatten.31 Während Senat und Lokalpresse die Katastrophendeutung semantisch als Schicksal und höhere Gewalt rahmten und externalisierten, boten sie mit der ‘Not- gemeinschaft‘ gleichzeitig eine Metapher an, hinter deren sinnstiftendes Potenzial die Frage nach einer Schuld der verantwortlichen Stellen zurücktrat. Im emotionalen Appell, den das Schlagwort transportierte, konkretisierte sich ein Verbundenheit schaffender „Kitt der Katastrophe“ (Utz 2010: 65). Obwohl das Wasser in erster Linie die flussnahen Stadtteile südlich der Elbe überschwemmt hatte, modifizierten kollektive Trauerbekundungen und Gedenkveranstaltungen die Flut zu einem auf ganz Hamburg bezogenen und kollektiven Gemeinschaftserlebnis. Polizeisenator Helmut Schmidt erklärte den Topos einer gesamtstädtischen ‘Notgemeinschaft‘ gar zum Leitbild der öffentlichen Erinnerungspolitik des Senats. Verkörpere sie doch die „feste 30 Eine historische Einordnung bietet Herbert (2017: 619ff.). 31 „Aber im Ganzen haben die verantwortlichen Menschen nicht versagt, sie wurden überwältigt“, argumentierte Die Welt (29.12.1962). Ein vom Senat eingesetzter Sach- verständigenausschuss, die sogenannte ‘Friedrich-Kommission‘, sprach die verantwortlichen Behörden von jeder Schuld frei, da es bei „schicksalhaften Naturereignissen keine letzten Sicherheiten gibt“ (Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe, Hamburg 1962: 70). 174
Mauch: Rückblenden Zuversicht, dass Hamburg mit hanseatischer Zähigkeit und Risikobereitschaft in kurzer Zeit schöner wieder aufgebaut wird als zuvor“, auszudrücken.32 Prominentestes Denkmal des ‘Aufbauwillens‘ war das Rathaus selbst. Einst von den Flammen des ‘Großen Brands‘ zerstört, stand es nun wieder unverrückbar an seinem Platz. Von hier aus hatte Fritz Schumacher das „Kunstwerk Hamburg“ (Schumacher 1920) geplant, später Max Brauer den Wiederaufbau aus den Ruinen des ‘Feuersturms‘ organisiert. Im Innern des Gebäudes spiegelte der sogenannte Phönixsaal den hiesigen Katastrophenoptimismus allegorisch wider: Das geschundene und immer wieder aus der Asche aufer- standene Hamburg. Auf dem Gemälde des Künstlers Arthur Fitger (1897) wan- delte Hammonia, die Schutzpatronin Hamburgs, mit einem Rosenzweig in der Hand über die Trümmer der Stadt. Über dem Kunstwerk erhob sich aus der Asche der namensgebende Phönix. Darunter lieferte eine Zeile aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell jedem potenziellen Betrachter eine unmissverständliche Erklärung: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“33 Erinnerungsbilder haben stets einen Sinn und, wenn nötig, noch einen Hintersinn. Die Aufnahme, die im Februar 2012 vor dem Hamburger Rathaus stand, kam jedoch ohne eine solche Festschreibung aus. Die intendierte Botschaft war dennoch eindeutig. Der 1962 so zentrale Wiederaufbauwille, entfesselte Naturgewalten oder anderes Unheil mochten mittlerweile verblasst und zum steinernen Denkmal erstarrt sein. Der in der trauernden Masse versinnbildlichte Wunsch nach Gemeinschaft und Solidarität aber sollte sich dem Betrachter noch fünfzig Jahre nach der Sturmflut im Bild offenbaren. Das Fundament für eine solche Lesart hatten die Initiatoren der politisch motivierten Katastrophenerinnerung im Augenblick der Aufnahme angelegt. Ihre Nachfolger mussten nur noch in einer Rückblende darauf verweisen. 32 Helmut Schmidt an Erich Lüth (Direktor der Staatlichen Pressestelle), 15.03.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 901. 33 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 2. Szene (Attinghausen). 175
metaphorik.de 31/2020 4. Deutungshoheit über die Bilder: Katastrophenerinnerung im Zeitraffer Hamburgs Gedächtnisakteure praktizierten eine Fluterinnerung von Beginn an als öffentliche Angelegenheit. Publikumswirksamkeit war explizites Ziel. Die in nahezu allen Sachstandsberichten und Gedenkstunden aufschimmernden Metaphern des ‘Schicksalsschlags‘ und der ‘Bewährungsstunde‘ hielten das Unfassbare der Naturkatastrophe in bereits bekannten und deshalb leicht zu vermittelnden Deutungsangeboten fest, was entschieden zur symbolischen Überwindung der Krise beitrug.34 Trauerfeiern und Gedenkgottesdienste verknüpften eine Metaphorik vom Kampf gegen die Naturgewalten mit sinnstiftenden und kathartischen Analogien aus dem Fundus überwundener Katastrophen. Zeitungskommentare und Nachrichtensendungen unterfütter- ten das ‘Phönix-aus-der-Asche-Narrativ‘ indessen mit einer wahren Bilderflut. Im Rundfunk, auf Titelseiten und an Zeitungskiosken begegnete die Bevölke- rung in einer visuellen Dauerschleife den überschwemmten Wohngebieten und den Betroffenen, die vor Ruinen posierend das Ausmaß der Zerstörungen beglaubigten.35 Doch sie sah auch den heldenhaften Einsatz von über 20.000 NATO-, Bundeswehrsoldaten und zivilen Helfern im Überschwemmungs- gebiet, die Verletzte versorgten, Menschen in Rettungsboote hievten oder Sandsäcke aufschütteten.36 Die Sturmflut von 1962 war eines der ersten medialen Großereignisse der Bundesrepublik.37 Von keiner Naturkatastrophe waren bis dato so viele Bilder produziert und annähernd in Echtzeit verbreitet worden. Bereits bei allen Lagebesprechungen des zentralen Krisenstabs, der die Hilfseinsätze koor- dinierte, berichtete das lokale Pressekorps live und vor Ort. Direkte Bericht- erstattung, so das Kalkül des Senats, diente als Mittel zur Beruhigung der Lage: „Wer von der Umwelt abgeschnitten ist und von den Elementen bedroht wird“, 34 Unter vielen anderen: Senat der Freien und Hansestadt Hamburg (ed.) (1962: 56ff); Hamburger Abendblatt-Chronik (03.1962). 35 Zur Inszenierung von Katastrophenbildern vgl. ausführlich Hannig (2015: 50). 36 Vgl. den Überblick über den Einsatz der Bundeswehr im Katastrophenschutz, 19.02.1962, in: Bundesarchiv – Abteilung Militärarchiv, BW 1, 21627, 14–16 bzw. die Lagebesprechung des Katastrophendienststabes, 17.02.1962, in: StAHH, 135-1, VI 899. 37 Vgl. von Hodenberg (2006: 293). Allgemeiner: Conradi (2015); Bösch/Classen (2015: 449– 488). 176
Mauch: Rückblenden erläuterte Erich Lüth, Leiter der Staatlichen Pressestelle, das Vorgehen, der „erträgt alle Gefahr und alle Entbehrung leichter, sobald er selber genau weiß, was geschah, und beurteilen kann, was an Rettungs- und Hilfsmaßnahmen eingeleitet ist“.38 Die Aufnahmen der zahlreichen Kamerateams übertrugen die Katastrophe quasi in natura, sodass die ganze Nation daran teilhaben konnte. Das „Leiden anderer betrachten[d]“ (Sontag ⁵2017: 13), fanden sich die ‘Mitbetroffenen‘ in der Rolle des medial einbestellten Zeitzeugen wieder, der den sprichwörtlichen Schiffbruch vor allem als Zuschauer erlebte.39 Gleichzeitig vermittelten sie einen Eindruck vom heroischen und gemeinsamen Kampf gegen eine entfesselte Natur. Die namenlosen Helden verliehen der Katastrophe ein „menschliches Gesicht“.40 Eine derart asymmetrische Kon- stellation zwischen individuell erlittener und kollektiv wahrgenommener Katastrophenerfahrung prägte das prosperierende Bildgedächtnis der ‘Großen Flut‘ entscheidend mit. Aus den vielen Momentaufnahmen und Schnappschüssen stach ein Bild jedoch hervor. Der Spiegel veröffentlichte zwei Tage nach der Gedenkfeier am Rathausmarkt die Fotografie eines gebrochenen Deichs, die rasch ikonenhaften Status erlangen sollte.41 Während im Berichtsteil der Ausgabe ausführlich die alttestamentarische Metaphorik der Sintflut bemüht und der naive „Glaube an die Sekurität“ der modernen Großstadt zu Grabe getragen wurde, strahlte das Cover eine beinah sublime Ruhe aus. Der Bildausschnitt war menschenleer, jegliche Insignien des technologischen Fortschritts lagen vom Wasser überspült danieder. Die Aufnahme stammte aus Wilhelmsburg, der Flussinsel im Süden Hamburgs, die von zwei Armen der Elbe unmittelbar umschlossen in der 38 Brief von Erich Lüth an die Schriftleitung der Wilhelmsburger Zeitung, 27.02.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 900. 39 Der Aphorismus des ‘Schiffbruchs mit Zuschauer‘ geht auf Hans Blumenberg zurück, der diesen Schicksalsmoment der Überlebenskrise als Daseinsmetapher deutet: Verheerender könnte die Katastrophe nur sein, wenn sie keine Zuschauer hätte (1979). 40 Bgm. Nevermann: „Sie haben sich besonders ausgezeichnet“, 16.11.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 902. 41 Die Flut – Titelblatt des Spiegels, 28. Februar 1962, in: StAHH, 446-1, 48. In der gleichen Ausgabe erschien der Artikel „Stadt unter“, der auf das Cover der Zeitschrift mit der Bildunterschrift „Überschwemmter Hamburg-Stadtteil Wilhelmsburg: Wie Moses es beschrieb“ verwies, in: Der Spiegel (28.02.1962), 17. 177
metaphorik.de 31/2020 Flutnacht „wie eine Badewanne“ vollgelaufen war.42 Hier hatte die Katastrophe ihre meisten Opfer gefordert. Im Moment, als die Deiche unter der Sturmflut brachen, gab es trotz massiver Rettungseinsätze für zahlreiche Bewohner kein Entkommen. Von den 315 Hamburger Fluttoten kamen 222 allein aus Wilhelmsburg, und hier vor allem aus den sogenannten Nissenhütten.43 Bild 2: Stadt unter – Titelblatt des Spiegel Was das Bild zeigte, war das eine. Was es ausdrücken und wie es verstanden werden sollte, aber etwas anderes. Eine niedergerissene Hochwasserschutz- mauer samt überschwemmter Straßenzüge vermittelte allen Zuschauern des Zusammenbruchs einen ästhetisierten Eindruck der Geschehnisse, der den unübersichtlichen Ursache-Wirkungs-Komplex ebenso erfolgreich ausblendete wie das tatsächliche Leid in den Wilhelmsburger Flussniederungen. Darüber hinaus wussten Hamburgs politische Gedächtnisakteure das Motiv für den Entwurf eines komplementären Erinnerungsbildes zu nutzen: das des wieder geschlossenen Deichs. Am gleichen Tag, an dem der Spiegel den Deichbruch auf 42 Ebenfalls Der Spiegel, „Sturm statt Bombe“, 17.10.1962. 43 Siehe den Bericht über die Sturmflutkatastrophe, 26.04.1962, in: StAHH, 731-8, A 457. 178
Mauch: Rückblenden sein Titelblatt hob, erklärte Baudirektor Rudolf Büch vor der Bürgerschaft seine Pläne für eine umfassende Modernisierung der Hochwasserschutzanlagen. Das jüngste Unglück, hielt ein zeitnah erlassenes Richtliniengesetz fest, habe deutlich gemacht, dass „es erforderlich ist, die hamburgischen Elbmarschen durch ein völlig neues Deichsystem zu schützen“.44 Etwa einen Monat später war der Hochwasserschutz nicht nur wiederhergestellt, sondern in den Augen der verantwortlichen Behörden und Wasserbauingenieure sogar soweit verbessert worden, dass Vergleichbares „nach menschlichen Ermessen“ in Zukunft auszuschließen sei.45 Detaillierte Presseberichte und Sonderausstellungen stellten sicher, dass die lokale Bevölkerung erfuhr, welche Anstrengungen die Regierungsvertreter für die Garantie umfassender Sicherheit unternahmen.46 Die alten Flutmauern würden gegen ihre Nachfolger „wie ein Kinderspielzeug“ aussehen, umschrieb ein Zeitungskommentar das neu gewonnene Gefühl der Zuversicht und Sicherheit, das sich beim Blick auf die signifikant erhöhten Deichbauten einstellte (Hamburger Abendblatt 17.08.1962). Mit der Fertigstellung eines Sperrwerks am Baumwall im Oktober 1968 schloss das Amt für Strom und Hafenbau die Neuausrichtung des technischen Hochwasserschutzes ab. Während des Richtfestes unterstrich der amtierende Bausenator Cäsar Meister, dass nun nach Wilhelmsburg auch die Innenstadt und der Rathausmarkt vor Sturmfluten geschützt waren. Es sei außerdem ein weiteres Mal gelungen, eine Katastrophe als Gelegenheit zur erfolgreichen Umgestaltung des Stadtraums zu begreifen: „Wir können also mit Recht sagen“, frohlockte Meister im Stile Fritz Schumachers, die „Notwendigkeit, die Stadt vor dem Hochwasser zu schützen, hat uns auch die Möglichkeit gegeben, unsere Stadt schöner zu machen.“ 47 Das Bild vom geschlossenen Schutzwall erschien ihm deshalb so bedeutend, weil es eine gänzlich elementare Einstellung im Mensch-Natur-Verhältnis 44 Vgl. die Erläuterungen von Rudolf Büch bzgl. des Senatsantrags zur Sicherstellung eines raschen Wiederaufbaues der Hochwasserschutzanlagen, in: StenBerHB, 5. Sitzung der Bürgerschaft (28.02.1962: 109-111); Mitteilungen des Senats 154, Gesetz zur Ordnung deichrechtlicher Verhältnisse (02.10.1962: 431). 45 Imponierendes Wasserschutzprogramm, 28.05.1964, in: StAHH, 135-1 VI, 1788. 46 Vgl. Ausstellung über den Hochwasserschutz, 09.10.1963, in: StAHH, 135-1 VI, 1788. 47 Ansprache Senator Meister auf dem Richtfest für das Baumwallsperrwerk, 11.10.1968, in: StAHH, 135-1 VI, 1788. 179
metaphorik.de 31/2020 symbolisierte: die des Schutzes.48 Zum zehnjährigen Jubiläum der Katastrophe spiegelte sich in den technisch hochgerüsteten Flutmauern das wieder- gewonnene Vertrauen staatlich organisierter Sicherheit vor der Brachialgewalt des Wassers wider. Der Anspruch, Umweltgefahren nicht mehr passiv zu erleben, sondern den Schutz vor der Natur aktiv zu gestalten, fand im Deichbau seine idealtypische Entsprechung.49 Mit Abschluss der Erhöhungsarbeiten galt der Wasserlauf als domestiziert, ein erneutes Unheil als ausgeschlossen. Analog präsentierten Lokalpolitiker und Hochwasserschützer Deiche als die muster- gültigen Botschafter des Flutgedächtnisses. Sie transportierten die zeitgenös- sisch vorherrschende ‘Katastrophenkultur‘ des Gefahrenmanagements, die Flutrisiken bewusst in ihren Alltag integrierte, indem sie die erschütternden Erfahrungen der Vergangenheit erfolgreich in einen „retrospektiven Katastro- phenoptimismus“ umzudeuten vermochten (Elie/Gestwa 2014: 162). Jedes fertiggestellte Sperrwerk und jede erhöhte Flutmauer symbolisierte eine Rückkehr zur Normalität. Bild 3: Geschlossener Deich entlang der Harburger Chaussee in Wilhelmsburg (2015) Umgedeutet in eine Bewährungsprobe der Gemeinschaft, war die ‘Große Flut‘ nunmehr eine verarbeitete Anomalie, die dank technologischer Innovations- kraft kein zweites Mal zu erwarten war. Nicht umsonst steht dem modernen Katastrophenbegriff die Denkfigur der Anastrophe zur Seite.50 Optimismus und 48 Wie sich Gesellschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor der zerstörerischen Kraft der Natur zu schützen versuchten, beschreibt ausführlich Hannig (2019). 49 Siehe in anderem Zusammenhang Döring (2005). 50 Für eine weiterführende Begriffsbestimmung vgl. Claessens (1995). 180
Mauch: Rückblenden Vertrauen ersetzten Trauer und Leid. Das Bild vom gebrochenen Deich blieb vor allem als Kontrastfolie im Gedächtnis. Denn „die Erinnerung an jene Schreckensnacht vor zehn Jahren ist verblaßt“, konstatierte das Hamburger Abendblatts in einem Leitartikel (12.02.1972). Was hingegen im Gedächtnis bleiben würde, seien die Bilder der Rettungsmaßnahmen, aber vor allem der heilsame Blick auf die geschlossenen Hochwassermauern. In ihrer festen Gestalt verkörperten sie die idealen Denkmale, die gegen jede kritische Aufmerk- samkeit imprägniert und im Alltag unbemerkt die „Rückführung zur Normalität und die Bewältigung der Katastrophe“ moderierten (Scholz 2012: 13). An einem von der Wilhelmsburger Notgemeinschaft der Flutgeschädigten initiierten Flutehrenmal, das nur durch Spenden der ansässigen Bevölkerung errichtet werden konnte, beteiligte sich die Stadtverwaltung nicht.51 Dem offiziellen Gedenken der langen 1960er Jahre genügte die Sicht auf den Baumwall oder den Ringdeich um Wilhelmsburg. 5. Das Schweigen der Bilder: Nachbelichtungen ‘von unten‘ Indes: Die künstlich gewonnene Sicherheit erwies sich rasch als Illusion. Eine Serie an Sturmfluten, die zwischen 1973 und 1981 in Hamburg auflief, veränderte den Blick auf die Deiche. Trotz höherer Pegelstände hielten sie dem Wasser weiterhin stand. Doch Extremereignisse sahen auf einmal wie die neue Normalität eines Lebens am Fluss aus. Noch hielten die Schutzmauern – aber wie lange noch? Derartige Fragestellungen rüttelten an den Denkmälern normativer Erfolgsgeschichten und dynamisierten die Prämissen des Flutgedächtnisses grundlegend. Mit der iterativen Erfahrung kehrten nicht nur einfach Derivate alter Erinnerungen wieder. In der Rückblende kamen weitere hinzu. Von einer bewältigten Episode aus der Vergangenheit mutierte die ‘Große Flut‘ in eine „Problemgeschichte der Gegenwart“ (Raphael/Doering-Manteuffel 2008: 25). Ein Gefühl der Unruhe ergänzte den etablierten Katastrophen- optimismus um pessimistischere Szenarien. Die Rede vom Aufbruch oder gar dynamischen Zeiten – bis dato die zentralen Deutungsmodelle westdeutscher 51 Vgl. Beschränkte Ausschreibung für ein Denkmal zur Erinnerung an die Sturmflutkatastrophe 1962, 14.02.1964, in: StAHH, 446-1, 113; Wilhelmsburger Zeitung (20.07.1965). 181
metaphorik.de 31/2020 Meistererzählungen nach 1945 – verloren ihren Glanz.52 Je höher die Deiche wuchsen, desto mehr haftete ihnen das Bild einer Krise alter Gewissheiten an. Der Blick auf die technisch hochgerüsteten Schutzwälle offenbarte nunmehr auch den ökologischen Preis einer allenfalls noch vermeintlichen Sicherheit.53 Die Sperrwerke hatten nämlich nicht nur die Gefahren der Elbe aus der Stadt verdrängt, sondern den Strom auch von seinem natürlichen Einzugsgebiet und vielen Nebenflüssen abgeschnitten. Zudem hatten diverse Fahrrinnen- vertiefungen deren hydrologisches Profil drastisch verändert, sodass Sturm- fluten weitaus höher und schneller in der Hansestadt aufliefen als zuvor.54 Nicht mehr die Natur selbst, sondern der Schutz vor ihr erzeugte reflexive Probleme. Parallel zu den schwindenden Garantien des Hochwasserschutzes verloren auch die herkömmlichen Deutungsangebote von Wiederaufbau, Solidarität und Zusammenhalt an Attraktivität. In Wilhelmsburg, das seit der Flutnacht 1962 einem dramatischen sozioökonomischen Niedergang ausgesetzt war, stieß die Beschwörung der ‘Notgemeinschaft‘ an ihre Grenzen. Gefangen in der Abwärtsspirale einer ‘schleichenden Katastrophe‘, versandeten die bis dato etablierten und pauschalisierenden Sinnkonzepte zunehmend.55 Spätestens an diesem Punkt wurde deutlich, dass die Erinnerung an die Flut in wesentlich komplexeren Bahnen verlief, als es das offizielle Konsensgedächtnis vorspiegelte. Die Einsicht, dass die wiederkehrenden Flutepisoden auch die Eventualität eines weiteren verheerenden Desasters mit sich brachten sowie die Frage, ob das kollektive Flutgedächtnis überhaupt noch als ein gemein- schaftliches existierte, verlangten nach Anpassungen. Grundvoraussetzung für den Umgang mit der Flutkatastrophe blieb die Suche nach dem Sinn des 52 „Dieses Gefühl bleibt zwischen den einzelnen Katastrophen dauernd, aber diffus präsent, als Gefühl einer Zwischenzeit“ (Utz 2013: 234). Für eine zeithistorische Einordnung vgl. Geyer (2010). 53 Zum Begriff der ökologischen Krise und seiner Geschichte vgl. Müller/Schmieder (2018: 100). 54 Zeitgenössisch: Gudehus (1974: 2). 55 Für Scott Gabriel Knowles sind Katastrophen keine singulären, schnelllebigen Ereignisse, sondern „slow disaster”, die er als eine Verkettung von dynamischen Ereignisabläufen und den „long processes of environmental degradation and deferred maintenance“ versteht (2014: 777). 182
Mauch: Rückblenden Geschehenen. Doch Zuschauer wie Betroffene des ‘Schiffbruchs‘ hatten mittler- weile unterschiedliche Erinnerungsbilder vor Augen. Im Rathaus versuchten sich die Erinnerungsakteure des offiziellen Gedächtnisses weiter an der Neubelebung eines alten Mythos. Schon während der Rettungseinsätze und im Verlauf der ersten Gedenkjahre war die Metapher des ‘barmherzigen Samariters‘ eine ubiquitäre Diskursformel.56 Zwar hatte die vormoderne Vorstellung eines strafenden Gottes ausgedient, doch ein gewisses eschatologisches Moment blieb auch über das 20. Jahrhundert hinweg ein wirkmächtiger Topos der Katastrophendeutung. Die Ikonisierung der Bundeswehrsoldaten als ‘rettende Engel‘ hatte es in Anbetracht der Ohnmacht, mit der Behörden und Bevölkerung der Sturmflut in den ersten Stunden gegenüberstanden, ermöglicht, sinnstiftende Momente zu kreieren.57 Kein Erinnerungsbild erlangte in diesem Zusammenhang jedoch einen vergleich- baren Status wie die Figur Helmut Schmidts, der dem Chaos der Sintflut mit kühler Rationalität entgegentrat. Eine Woche nachdem der Spiegel den gebrochenen Deich auf sein Titelblatt gehoben und die Kapitulation der modernen Großstadt vor den entfesselten Gewalten der Natur betrauert hatte, kürte das Wochenmagazin den Polizeisenator zum „Herrn der Flut“ (Der Spiegel 07.03.1962). Eine Fotoaufnahme, die Schmidts feste Hand bei der Koordination der Rettungseinsätze demonstrierte, schuf ein Erinnerungsbild, das es erlaubte, „menschlichem Handeln [wieder] Macht über die Elemente zu verleihen und dieses Bestreben in einer Person […] sinnhaft zu verdichten“ (Soell 2003: 382).58 56 „Die Tat des barmherzigen Samariters trägt ihren Lohn in sich selber.“ Ansprache Bgm. Nevermann anlässlich der erstmaligen Verleihung der hamburgischen Dankmedaille, 04.07.1962, in: StAHH, 135-1 VI, 381. 57 „Es könnte das Leid, wie bei Christus, die große Stunde der Bewährung sein!“, predigte etwa der protestantische Landesbischof Karl Witte, 31.12.1962, in: Nordelbisches Kirchenarchiv, 98.41, 55. Siehe ebenfalls das Hamburger Abendblatt, 23.02.1962). 58 Die Aufnahme ist der Plankammer des Staatsarchivs Hamburg entnommen, in: StAHH, 720-1, Flut 1962. 183
metaphorik.de 31/2020 Bild 4: Konterfei Helmut Schmidt Zum dreißigsten Jahrestag der Sturmflut, deren Erinnerungskontext so politisch aufgeladen war wie lange nicht mehr, reaktivierte das offizielle Gedächtnis das Bild des vernunftgeleiteten Pragmatikers wieder. Bei der Eröffnung einer Fotoausstellung der Baubehörde im Rathaus reagierte der ‘Herr der Flut‘ höchstpersönlich auf die jüngsten Kontroversen um Elbver- tiefung und Deicherhöhung, aber auch auf die politische Großwetterlage eines wiedervereinten Deutschlands: Unbedingte Solidarität, aber mit Verstand und Umsicht, sei das Gebot der Stunde. Denn „auch aus Ängsten können Katastrophen geboren werden.“59 Auf der live übertragenen Feierstunde des Senats im Hamburger „Michel“ schmückte der Alt-Bundeskanzler das Motiv weiter aus. Er stehe hier als Zeitzeuge, „der damals dabei war“, aber gleichfalls „als einer, der als Christ Schlußfolgerungen anbieten möchte für heute und morgen“. Ein Zitat aus dem 1. Buch Mose schloss seine Ansprache ab: Um „unseres Bruders und unserer Schwestern Hüter [zu] sein, ehe daß sie […] ertränken […]“, gelte es Vernunft walten zu lassen: „Brüderlichkeit verlangt eben auch Vor-Sorge, damit das Unglück nicht geschehe.“60 Vielleicht, spekulierte die Süddeutsche Zeitung hinsichtlich des von Helmut Schmidt 59 Rede des Bundeskanzlers a.D. Helmut Schmidt bei der Gedenkstunde anlässlich der Eröffnung der Fotoausstellung „Sturmflut 1962“, 14.02.1992, in: StAHH, 135-1 VII, 1857. 60 Ansprache von Helmut Schmidt beim Gedenkgottesdienst in St. Michaelis, 16.02.1992, in: Gemeindearchiv St. Michaelis, 07.028.01, 1884, 1) [Hervorhebung im Original]. 184
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