BERNARD VON PLATE Notfalls mit Gewalt. Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter

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BERNARD VON PLATE
      Notfalls mit Gewalt. Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter

      D    ie OSZE zu stärken ist seit Jahren die erklärte
           Absicht ihrer Teilnehmerstaaten. Ein zentrales
      Thema dabei ist die Rolle der OSZE bei friedens-
                                                                andersetzen, daß seit dem Ende des Ost-West-
                                                                Gegensatzes alle Konflikte in Europa einen inner-
                                                                staatlichen Hintergrund hatten und voraussicht-
      erhaltenden Einsätzen. Als eigenständiges opera-          lich auch weiterhin haben werden. Weil es häufig
      tives Instrument 1992 auf der zweiten Helsinki-           keine eindeutig erkennbare Konfliktlinie gibt,
      Konferenz der (damals noch) KSZE konzipiert,              sind friedenserhaltende Maßnahmen bei inner-
      sollen diese Einsätze inner- wie zwischenstaatliche       staatlichen Konflikten zudem tendenziell gewalt-
      Konflikte umfassen und eine zivile wie militärische       trächtiger als bei der Befriedung zwischenstaat-
      Dimension haben. Der erste Test, in der Kosovo-           licher Konflikte.
      Krise im Oktober 1998, ist zwar an der Gewalt-                Will die OSZE ihr Mandat ausfüllen, muß sie
      bereitschaft der innerstaatlichen Konfliktakteure         von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen. Da-
      gescheitert, das heißt jedoch nicht, daß es statt         mit ist nicht ihre »Militarisierung« gemeint. Ihre
      dessen eine gewaltfreie Alternative (ohne militä-         Teilnehmerstaaten sollten sich jedoch dazu ent-
      rische Abstützung) zur Kosovo Verification Mis-           schließen, den gegebenen Ermessensspielraum
      sion (KVM) gegeben hätte. Einer »traditionellen«          auszuschöpfen und in eigener Verantwortung
      Peacekeeping-Rolle für die OSZE ist durch die             andere Organisationen mit der »robusten«, das
      sicherheitspolitischen Veränderungen seit Beginn          heißt den Einsatz militärischer Mittel gegebenen-
      der 90er Jahre weitgehend der Boden entzogen.             falls ausdrücklich einschließenden Unterstützung
      Daraus zu folgern, daß das Mandat für friedens-           friedenserhaltender Maßnahmen zu beauftragen.
      erhaltende Aufgaben der OSZE in die Reihe über-           Dies ist nicht zuletzt dadurch zu rechtfertigen,
      holter Beschlüsse gehört, hieße eine Option auf-          daß die Grenze zwischen »robusten« Maßnahmen
      zugeben, für die es insbesondere mit Blick auf            ohne ein VN-Mandat auf der einen Seite und
      Konfliktszenarien in Rußland und seinem Inter-            »Zwangsmaßnahmen«, die dem Sicherheitsrat vor-
      essenumfeld keinen multilateralen Ersatz gibt.            behalten bleiben, auf der anderen Seite durch den
      Daran hat auch die NATO-Rußland-Grundakte                 innerstaatlichen Charakter der Konfliktursachen
      nichts ändern können.                                     undeutlicher geworden ist. Auf jeden Fall sind
          Von grundsätzlicher Bedeutung für die Diskus-         robuste Maßnahmen mit einem OSZE-Mandat
      sion über die künftige Auslegung des 1992 erteil-         (moralisch) legitimer als etwa die selbstverantwor-
      ten Mandats sind zwei eng zusammenhängende                tete Gewaltanwendung eines Bündnisses.
      Fragenkomplexe:                                               Ist der Absolutheitsanspruch des Sicherheits-
       Sind friedenserhaltende Einsätze überhaupt ein          rats, daß er allein und nur mit Zustimmung der
         für die OSZE angemessenes Instrument? Was              fünf Veto-Staaten regionale Organisationen zu
         bedeutet der zunehmend größere Stellenwert             Zwangsmaßnahmen ermächtigen kann, auch dann
         innerstaatlicher Konfliktursachen für diese Op-        noch berechtigt, wenn dadurch die Ziele der
         tion?                                                  Vereinten Nationen ebenso wie die 1990 in
       Inwieweit soll die OSZE in bezug auf Gewalt-            Kopenhagen beschlossenen weitreichenden Ver-
         zuständigkeit bei Ausübung ihres Mandats Auf-          pflichtungen der KSZE / OSZE im Bereich der
         gaben übernehmen, die heute zur Prärogative            Menschenrechte und Grundfreiheiten (»Mensch-
         des VN–Sicherheitsrats gehören?                        liche Dimension«) Schaden nehmen? Soll dies ver-
      Will man der OSZE auch künftig eine friedenserhal-        mieden werden, so muß auf jeden Fall an der
      tende Rolle zuweisen, muß man sich damit ausein-          Absicht festgehalten werden, den normativen

368   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                              IPG 4/99
Bestand der OSZE in den Entscheidungsprozeß des        Bedeutung« sind. Dazu gehören die »Achtung der
Sicherheitsrats einzubringen. Es geht also nicht       Souveränität und territorialen Integrität; Zustim-
zwangsläufig darum, den Legitimationsbedarf            mung der Parteien; Unparteilichkeit; multilate-
für die Anwendung von Gewaltmitteln aus der            raler Charakter; klares Mandat ...«. 3
Zuständigkeit der Vereinten Nationen herauszu-             Bis in die jüngste Vergangenheit stand das
nehmen, sondern ihn durch einen Rückbezug auf          Mandat für friedenserhaltende Aufgaben der OSZE
die OSZE breiter zu fundieren. Aber auch eine          nur auf dem Papier. Es reflektiert die Aufbruch-
zunehmende Regionalisierung der Verantwortung          stimmung der beginnenden 90er Jahre und doku-
für die Ziele der Vereinten Nationen sollte kein       mentiert die hohen Erwartungen, die an die Mög-
Tabu-Thema sein.                                       lichkeiten friedenserhaltender Maßnahmen gerich-
    Der zentrale Einwand gegen die stärkere Ver-       tet waren. Insoweit war auch die OSZE (damals
ankerung einer Gewaltzuständigkeit im Rahmen           noch KSZE) vom Geist der »Agenda für den Frie-
der OSZE ist jedoch, daß sich auf der regionalen       den« beseelt, die der Generalsekretär der Vereinten
Ebene die Blockadesituation wiederholt, die, wie       Nationen (VN) im Januar 1992 im Auftrag des
beispielsweise im Vorfeld des Angriffs der NATO        Sicherheitsrats vorgelegt hatte.
auf Jugoslawien, im Sicherheitsrat durch das rus-          Nagorny–Karabach sollte nach einem Abkom-
sische Veto gegeben war. Der scheinbaren Aus-          men zwischen Armenien und Aserbeidschan der
weglosigkeit dieses Arguments kann nur begegnet        erste Anwendungsfall einer friedenserhaltenden
werden, wenn es möglich ist, sicherheitspolitische     Rolle der OSZE werden. Die im März 1999 wieder
Konstruktionen weiterzuentwickeln, die es Ruß-         zurückgenommene Kosovo-Verifizierungsmission
land erleichtern, sich an »robusten« friedenserhal-    sollte es, wenn auch nur für kurze Zeit und ohne
tenden oder eines Tages sogar an Zwangsmaßnah-         den beschlossenen Gesamtumfang zu erreichen,
men zu beteiligen, ohne sich unter das Kom-            sechs Jahre nach den Beschlüssen der zweiten
mando der NATO zu begeben.                             Helsinki-Konferenz – der weiten Definition von
                                                       1992 entsprechend – schließlich werden. War da-
                                                       mit – zumindest vorübergehend – ein Mandat mit
Das Mandat von 1992                                    Leben erfüllt, das aus der Sicht der Skeptiker die
                                                       OSZE überfordert und durch Entwicklungen seit
In den auf der Ratstagung in Kopenhagen 1997           1992 überholt ist?
beschlossenen »Leitlinien für ein OSZE-Charta-
Dokument über europäische Sicherheit« heißt es:
Die Teilnehmerstaaten werden »mit Nachdruck            Friedenserhaltende Maßnahmen – ein überholtes
prüfen, welche Rolle der OSZE in Zusammenhang          Mandat?
mit friedenserhaltenden Einsätzen angemessen
ist.« Bei diesen Überlegungen sollen die »einschlä-    1999 geht es nicht darum, die friedenserhaltenden
gigen OSZE-Dokumente« in Betracht gezogen              Maßnahmen einer Kosovo-Mission am Mandat
werden. 1
    Einschlägig ist das dritte Kapitel des Helsinki-
Dokuments von 1992. Es erklärt »Friedenserhal-         1. Das Kopenhagener Schlußdokument vom 18./19.12.
                                                       1997 ist abgedruckt in: »Bulletin [des BPA], No. 3«,
tung« zu einem wichtigen operativen Element der        9.1.1998 (Text der Leitlinien S. 20 ff.). Einen großen
»Gesamtfähigkeit der KSZE«. Die Formulierung           Teil der KSZE/OSZE-Dokumente enthält die von Ulrich
des Mandats 1992 ist zudem weit gesteckt. Es           Fastenrath herausgegebene Loseblattsammlung KSZE:
umfaßt inner- und zwischenstaatliche Konflikte,        Dokumente der Konferenz über Sicherheit und Zusam-
                                                       menarbeit in Europa, Neuwied u.a.: Luchterhand 1992 ff.
schließt ziviles und militärisches Personal ein und    Auch die OSZE bietet auf ihrer Homepage – vorwiegend
erstreckt sich von kleinen bis zu großen Opera-        auf Englisch – Zugang zu Dokumenten ihrer Gipfel-
tionen, »einschließlich Beobachter- und Überwa-        treffen und Ratstagungen.
chungskommissionen«. 2 Auf der Ratstagung in Rom       2. Text des Helsinki-Dokuments vom 9./10.7.1992 in:
                                                       »Bulletin, No. 82«, 23.7.1992.
einigten sich 1993 die KSZE-Teilnehmerstaaten auf      3. Zusammenfassung der Schlußfolgerungen des Rats-
eine Reihe von Prinzipien, die bei militärischen       treffens am 30.11./1.12.1993 in Rom in: »Bulletin,
Aktionen durch Drittparteien »von wesentlicher         No. 112«, 15.12.1993.

IPG 4/99                                                                   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter   369
von 1992 zu messen. Ohnehin ist manches, was              kommen ein Beschluß von höchster Aktualität,
      nach dem Ende des Ost-West-Konflikts von den              weil es sich hier um einen innerstaatlichen Konflikt
      Teilnehmerstaaten der OSZE beschlossen wurde,             handelt.
      Episode geblieben. Daß etliches auf dem Weg von               Theoretisch erfüllen können diese Bedingun-
      der KSZE zur OSZE zurückblieb, ohne jemals opera-         gen aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen zum
      tive Bedeutung erlangt zu haben, kennzeichnet             gegenwärtigen Zeitpunkt nur die Vereinten Natio-
      die OSZE als einen Prozeß und als eine Organisa-          nen. Dem steht jedoch entgegen, daß die Bereit-
      tion, deren Markenzeichen Flexibilität ist. Oft war       schaft der VN, weltweit friedenserhaltende Auf-
      es die jeweilige politische Konstellation, unter der      gaben zu übernehmen, ebenso zurückgeht, wie
      im Prozeß der Veränderungen der sicherheitspoli-          ihre Möglichkeiten schwinden, finanziell für sie
      tischen Landschaft in Europa Verabredungen                einzustehen. Statt dessen nehmen die Anstren-
      möglich und notwendig erschienen, die über den            gungen zu, für die Wahrnehmung friedenserhal-
      Tag ihrer Unterzeichnung hinaus keine oder nur            tender Maßnahmen nach regionalen Lösungen
      marginale Bedeutung erlangten. Die Praxis dik-            Ausschau zu halten. Ein ausdrücklicher Verzicht
      tierte der OSZE die politische Tagesordnung.              der OSZE auf eine friedenserhaltende Rolle oder
          Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu klären,        die Absicht, sie stillschweigend aufzugeben, würde
      ob nicht auch das Mandat der OSZE für friedenser-         also zu einem Zeitpunkt erfolgen, in dem sich
      haltende Maßnahmen in die Reihe überholter Be-            andere Regionen der Welt verstärkt auf die eige-
      schlüsse aufgenommen werden sollte. War es nur            nen Möglichkeiten besinnen. Die OSZE würde sich
      eine Durchlaufstation im Prozeß sicherheitspoli-          zurückziehen, anstatt den Beschluß der Teilneh-
      tischer Entwicklungen seit Beginn der 90er Jahre?         merstaaten von 1992, »daß die KSZE eine regionale
      Wäre eine Verifizierungsmission im Kosovo nur             Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der Charta
      eine Variante der OSZE-Rolle in Bosnien gewe-             der Vereinten Nationen (VNCh) ist und als solche
      sen, die mit der ursprünglichen Zielsetzung einer         ein wichtiges Bindeglied zwischen europäischer
      eigenständigen friedenserhaltenden Funktion der           und globaler Sicherheit darstellt«, über die vagen
      OSZE nicht verwechselt werden darf?                       Aussagen der VNCh hinaus mit Substanz zu füllen.
                                                                    Es war keine beliebig austauschbare Entschei-
                                                                dung des amerikanischen Sonderbotschafters
      OSZE-Friedenserhaltung ohne Alternative                   Holbrooke und des jugoslawischen Präsidenten
                                                                Milov sević im Oktober 1998, die OSZE mit der
      Die Überlegungen gehen von der Prämisse aus,              Überwachung der getroffenen Vereinbarungen zu
      daß auf die Option einer friedenserhaltenden Rolle        betrauen. Bei aller gelegentlich rechthaberischen
      der OSZE nur dann verzichtet werden sollte, wenn          Genugtuung derer, die natürlich von vornherein
      sich eine Alternative bietet. Diese müßte auf jeden       wußten, daß der Versuch der OSZE im Kosovo
      Fall sicherstellen, daß friedenserhaltende Maß-           scheitern würde, wird übersehen, daß keine andere
      nahmen nicht zu einer bilateralen oder sogar uni-         Organisation die allseitige Zustimmung für eine
      lateralen Angelegenheit werden, um der solchen            Verifizierungsmission gefunden hätte, an der unter
      Konstellationen innewohnenden Tendenz zur                 amerikanischer Leitung auch Rußland beteiligt
      Gewaltanwendung, zumal wenn sie von einem                 war. Eine gewaltfreie Alternative zur Kosovo Veri-
      Nachbarstaat wahrgenommen werden, keinen                  fication Mission (KVM) – ohne militärische Abstüt-
      Vorschub zu leisten. Das Prinzip der Multilatera-         zung zur Gewährleistung der Mandatserfüllung –
      lität ist insbesondere auch dann zu beachten, wenn        gab es jedenfalls nicht.
      es sich um Konfliktfälle innerhalb von Teilnehmer-            Dieser Befund reicht für die Option friedenser-
      staaten handelt, die in Übereinstimmung mit den           haltender Operationen der OSZE als Instrument
      Vereinbarungen von 1992 ausdrücklich durch das            der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung
      Mandat der OSZE für friedenserhaltende Aktivi-            jedoch so lange nicht aus, wie für die Gewaltzu-
      täten gedeckt sind. Das war im Zusammenhang               ständigkeit nicht Wege eröffnet werden, die nicht
      mit der Durchführung des zwischen dem Amtie-              ausnahmslos auf den Sicherheitsrat der Vereinten
      renden Vorsitzenden der OSZE und dem jugosla-             Nationen (VNSR) zulaufen. Für die unbewaffnete
      wischen Außenminister ausgehandelten Überein-             KVM hatte Jugoslawien seinen Schutz zugesagt.

370   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                               IPG 4/99
Für den Notfall waren Verabredungen mit der            Angriffshandlungen) der VNCh nicht mit der
NATO und der von ihr in Mazedonien stationierten       Eindeutigkeit gezogen werden kann, wie dies
Extraction Force getroffen worden. Wäre sie zum        in den Jahrzehnten der Ost-West-Konfrontation
Schutz der KVM eingesetzt worden, hätte dies –         unabdingbar war. So sollte bei einem Einsatz in
wenn auch völkerrechtlich nicht unumstritten –         Nagorny–Karabach die Anwendung von Gewalt
unter Berufung auf das Recht der »kollektiven          über das in seiner Reichweite ohnehin kontro-
Selbstverteidigung« gemäß Artikel 51 der VNCh          verse Recht auf Selbstverteidigung hinaus vor
ohne gesonderten Beschluß des VNSR geschehen           allem auch dann zulässig sein, wenn (1) bewaffnete
können. Dies war jedoch eine Konstruktion, die         Kräfte die OSZE gewaltsam daran hindern, ihren
keineswegs auf alle denkbaren friedenserhaltenden      Auftrag auszuführen; wenn es (2) darum geht,
Einsätze der OSZE übertragbar ist.                     angegriffene OSZE-Einheiten zu unterstützen; und
                                                       wenn (3) OSZE-Ausrüstungen verteidigt werden
                                                       müssen. Um diesem Aufgabenspektrum gerecht
Peace-keeping ohne Gewaltzuständigkeit –               werden zu können, sollte sich die friedenserhal-
ein ungelöstes Problem                                 tende Einheit aus einer Beobachtermission und
                                                       einer Sicherheitstruppe zusammensetzen. 4
Das Dilemma ist unübersehbar: Das Mandat, das              Schon zuvor war mit Blick auf die Gewalt-
die Teilnehmerstaaten 1992 der KSZE für frie-          dimension des beabsichtigten Auftrags auf dem
denserhaltende Aktivitäten erteilt haben, bleibt       KSZE-Gipfeltreffen in Budapest im Dezember 1994
nicht nur strikt in dem in Kapitel VI der VNCh         zugesagt worden, eine multilaterale Friedens-
vorgegebenen Rahmen (Friedliche Beilegung von          truppe der KSZE »mit einer entprechenden Resolu-
Streitigkeiten), sondern enthält zusätzlich einen      tion des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen«
Kanon von Bedingungen, die vor einem friedens-         zu unterstützen. 5 Offenbar war vom Beginn der
erhaltenden Einsatz der OSZE zu erfüllen sind.         Planungen an allen Beteiligten klar, daß friedenser-
Dazu gehören ein wirkungsvoller und dauerhafter        haltende Maßnahmen für Nagorny–Karabach
Waffenstillstand und die jederzeitige Sicherheit der   durch die Beschlüsse von 1992 und die Kompeten-
Missionsmitglieder.                                    zen der OSZE als regionale Abmachung der VN
    Damit wurde die Latte vor einem friedenser-        nicht gedeckt wären. Auch wenn das Abschluß-
haltenden Einsatz der OSZE auf eine Höhe gelegt,       dokument von Budapest hierzu nichts Ausdrück-
die nur in Ausnahmefällen überwunden werden            liches sagt – mit der Zusage eines Mandats des
kann: friedenserhaltende Maßnahmen im allsei-          Sicherheitsrats konnte nur eine Resolution auf der
tigen Einvernehmen nach der Beendigung eines           Grundlage von Kapitel VII der VNCh gemeint
zwischenstaatlichen Konflikts. Beide Bedingungen       sein, die eine Friedensmission auch zur Gewaltan-
beziehen sich auf die politische Konstellation der     wendung ermächtigen würde.
Ost-West-Konfrontation, in der friedenserhaltende          Das Unternehmen »Alba«, der Einsatz einer
Operationen bei innerstaatlichen Konflikten nicht      multilateralen Schutztruppe in Albanien in der
mit der Zustimmung des VNSR rechnen konnten.           ersten Hälfte des Jahres 1997, erfolgte zwar letzt-
Diese Konstellation hat sich indessen seit 1990 auf-   lich nicht unter der Verantwortung der OSZE,
gelöst. Das heißt, wenn davon die Rede ist, das        ähnelte jedoch insofern den Planungen für eine
Mandat von 1992 aktiv auszufüllen, dann genügt         friedenserhaltende Mission in Nagorny–Karabach,
es nicht, friedenserhaltende Maßnahmen in dem          als die von Italien geführte multilaterale Truppe
Rahmen zu erwägen, wie er sich in den Jahrzehn-        vom Sicherheitsrat ausdrücklich ermächtigt wurde,
ten der Bipolarität herausgebildet hatte.              auf der Grundlage von Kapitel VII der VNCh zu
    Schon bei den Vorbereitungen für einen frie-
denserhaltenden Einsatz in Nagorny–Karabach            4. Vgl. Marjanne de Kwaasteniet: »Alba. A lost oppor-
mußte die OSZE-Planungsgruppe darauf Rücksicht         tunity for the OSCE?«, in: Helsinki Monitor, (1998) 1,
nehmen, daß die Grenzlinie zwischen Maßnah-            S. 17 ff.
                                                       5. Text des auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Budapest
men gemäß Kapitel VI (Friedliche Beilegung von         (5./6.12.1994) verabschiedeten Dokuments (dort auch
Streitigkeiten) und Kapitel VII (Maßnahmen bei         die Umbenennung in OSZE) in: »Bulletin, No. 120«,
Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei              23.12.1994.

IPG 4/99                                                                   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter   371
handeln. Die als »robust« bezeichneten Einsatz-           Teil einer europäischen Sicherheitsordnung; einen
      regeln sehen das Recht der Gewaltanwendung                gesamteuropäischen Platz nehmen sie jedoch nicht
      dann vor, wenn dies zur Erreichung des Missions-          ein.
      ziels erforderlich sein sollte. 6                             Wenn die immer wieder postulierte Einheit des
          Mit beiden Operationen, der geplanten in              sicherheitspolitischen Raumes als Kernanliegen der
      Nagorny-Karabach und der durchgeführten in                OSZE mehr sein soll als eine Routineformel, dann
      Albanien, ist nicht versucht worden, die Gewalt-          gab es nicht nur im Kosovo keine Alternative zur
      zuständigkeit des Sicherheitsrats der Vereinten           OSZE. Dies gilt umso mehr für Konflikte inner-
      Nationen, der »regionale Abmachungen« gemäß               halb der Russischen Föderation und der Gemein-
      Artikel 53 VNCh zur Ausübung von Zwangsmaß-               schaft Unabhängiger Staaten. Mit der Zustim-
      nahmen ermächtigen kann, zu unterlaufen bzw.              mung Rußlands zu einer Intervention durch eine
      zu übergehen. Die Verknüpfung zwischen dem                andere Organisation kann hier nicht gerechnet
      VNSR und »regionalen Abmachungen« durch die               werden. Daran wird auch das Integrationspoten-
      Gewaltprärogative stellt sich jedoch zunehmend            tial der Europäischen Union in einer überschau-
      als Kern eines Problems heraus. Die Völkerrechts-         baren Zukunft nichts ändern können. Deshalb
      lage ist zwar eindeutig, doch der VNSR erweist sich       ist gerade angesichts der Erweiterung der NATO
      als Beschlußorgan für friedenserhaltende und frie-        danach zu fragen, welche Perspektive friedenser-
      denserzwingende Maßnahmen gerade bei inner-               haltenden Aufgaben der OSZE als dem multilate-
      staatlichen Konflikten als handlungsunfähig. Folgt        ralen Rahmen eingeräumt werden soll, in den
      daraus aber, daß die Rolle der OSZE für friedenser-       auch Rußland und seine Nachbarn eingebunden
      haltende Aktivitäten obsolet wird, weil ihre Durch-       werden können. Daß die NATO – die politische
      führung angesichts der überragenden Bedeutung             Bereitschaft ihrer Mitgliedstaaten einmal außer
      der innerstaatlichen Konfliktdimension nur noch           Betracht gelassen – diese Rolle spielen könnte, ist
      in seltenen Ausnahmefällen ohne Entscheidung              nach dem Krieg gegen Jugoslawien unwahrschein-
      des VNSR über die Anwendung von Gewaltmaß-                licher als jemals zuvor.
      nahmen möglich ist?
          Sollte sich durch diese Verknüpfung das Man-
      dat der zweiten Helsinki-Konferenz von 1992 als           Die NATO-Rußland-Grundakte liefert keine Antwort
      undurchführbar erweisen, dann verlöre nicht nur
      die OSZE eines ihrer Instrumente. Sie würde durch         Die Alternative, die europäische Sicherheit von der
      ihr Ausscheiden als Akteur vielmehr eine Lücke            Atlantischen Allianz oder von einem gesamteu-
      hinterlassen, die durch traditionelle Verteidigungs-      ropäischen Ansatzpunkt aus zu gestalten, war zu-
      bündnisse wie die NATO und die WEU nicht ge-              dem nie vorhanden. Insofern gibt es auch keine
      schlossen werden kann. Diese Beurteilung wird             verpaßte Chance, nicht in einer für die Sicherheits-
      nicht dadurch widerlegt, daß beide Organisa-              struktur Europas relevanten Weise auf die innere
      tionen auch als »regionale Abmachungen« gelten.           Entwicklung und das Außenverhalten anfangs der
      Die Frage ist nicht, ob sie der ohnehin nur vagen         Sowjetunion, seit Ende 1991 der Russischen Föde-
      Definition in Kapitel VIII der VNCh entsprechen.          ration durch gesamteuropäische Angebote einge-
      Politisch wichtig ist, daß sie mit einem Mandat des       wirkt zu haben. Oder, um es mit den institutio-
      VNSR für Aufgaben jenseits der eigenen Bündnis-           nellen Hauptprotagonisten der einen oder der
      grenzen nur schwerlich rechnen können. Die                anderen Seite zu benennen: Es ging nie um die
      VNSR-Resolution zugunsten der in Dayton aus-              Frage, wieviel OSZE nötig sei, um wieviel NATO
      gehandelten und in Paris unterzeichneten Rege-            möglich zu machen. Die beiden Organisationen
      lungen für Bosnien–Herzegowina dürfte ange-               sind nicht die Eckpunkte auf einem sicherheitspo-
      sichts der in der Zukunft wahrscheinlichen Kon-           litischen Kontinuum, das an seinem einen Ende
      fliktszenarien eher eine Ausnahme darstellen als          von einer gesamteuropäischen, auf seinem anderen
      einen Präzedenzfall. Der Rekurs der beiden Vertei-        Ende von einer atlantisch dominierten Struktur
      digungsbündnisse auf die Ziele der VN kann sie            markiert wird. Der Zusammenhang zwischen bei-
      aus der Enge ihrer politischen und geographi-
      schen Zuordnung nicht befreien. Sie sind zwar             6.   Vgl. Kwaasteniet: Alba, S. 21.

372   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                               IPG 4/99
den Organisationen beruht vielmehr auf dem             ein hilflos ausgeliefert wäre, würde sich jedenfalls
jeweils spezifischen und nicht kompensierbaren         eines wesentlichen Teils ihres möglichen Wertes
Anteil, den jede von ihnen zur Sicherheit und          begeben.
Stabilität in Europa beiträgt bzw. beitragen sollte.        Auch in Zukunft werden Konflikte in Europa
Insofern war es sachgerecht und politisch konse-       durch innerstaatliche Ursachen ausgelöst werden.
quent, die Beziehung der NATO zur russischen           Das ist vor allem deshalb besonders bemerkens-
Föderation in einer Vereinbarung wie der Grund-        wert, weil es dem VNSR aufgrund seiner Gewalt-
akte zu regeln und nicht der zumindest zeitweilig      zuständigkeit überlassen ist, sie als eine Bedro-
aufgetauchten Vorstellung nachzuhängen, Moskau         hung für den Frieden einzustufen, wozu er sich
im Rahmen der OSZE für den Erweiterungspro-            jedoch mit dem Argument der Nichteinmischung
zeß der NATO »entschädigen« zu wollen.                 allenfalls in seltenen Ausnahmen bereit finden
    Die Grundakte konnte jedoch den neural-            wird. In dem durch seine Gegensätzlichkeit span-
gischen Punkt friedenserhaltender Aktionen in          nungsreichen Begriffspaar »humanitäre Interven-
den Beziehungen Rußlands zur NATO nicht aus-           tion« wird dieses Dilemma in nachdrücklicher
räumen. Schon zuvor war die Teilnahme Rußlands         Weise offensichtlich. »Humanitäre Intervention«
an der IFOR- und später dann SFOR-Truppe in einer      ist immer ein Einsatz während eines Konflikts. Die
Weise geregelt worden, die das russische Kontin-       UNPROFOR ist nicht zuletzt daran gescheitert, daß
gent zumindest in formaler Hinsicht nicht als Teil     ihr Mandat dafür nicht ausreichte und sie darauf
eines von der NATO geführten Verbandes erschei-        nicht vorbereitet war. Deshalb ist – zunächst ein-
nen ließ. Bei der Umsetzung der Kosovo-Verein-         mal mit Blick auf die OSZE – zu klären, inwieweit
barung vom Oktober 1998 beteiligte sich Ruß-           es friedenserhaltende Maßnahmen bei innerstaat-
land zwar an der KVM, an der Luftüberwachung           lichen Konflikten auch unterhalb der Gewalt-
der Provinz nahm es jedoch – ungeachtet einer          schwelle geben kann, die das Mandat von 1992
anfänglichen Ankündigung – ebensowenig teil            nicht überschreiten.
wie an der in Mazedonien unter der Verantwor-
tung der NATO operierenden und von Frankreich
geführten Extraction Force.                            Die innerstaatliche Dimension von Sicherheit als
    Von der im Zusammenhang mit dem Dayton-            Problem friedenserhaltender Maßnahmen
Vertrag und seiner Umsetzung praktizierten Kom-
promißbereitschaft Rußlands kann zweifellos nicht      Gehören friedenserhaltende Aktivitäten, die jeg-
ausgegangen werden, wenn es sich um die Frage          liche Gewaltanwendung außerhalb des Rechts der
friedenserhaltender Maßnahmen auf dem rus-             Selbstverteidigung ausschließen, weitgehend der
sischen Territorium oder im unmittelbaren Inter-       Vergangenheit an? Dafür spricht, daß seit dem
essenumfeld handelt. Dabei fällt der Blick nicht       Ende des Ost-West-Gegensatzes alle Konflikte in
nur auf Tschetschenien, dessen Status noch             Europa einen innerstaatlichen Ursachenhinter-
nicht abschließend geregelt wurde. Es ist vielmehr     grund hatten bzw. haben, daß es dementspre-
davon auszugehen, daß der Prozeß der inneren           chend weder eine eindeutige Konfliktlinie wie bei
Neuordnung der russischen Föderation sich noch         zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen gibt,
eher an seinem Anfang befindet als bereits an          bzw. sie allenfalls die Ausnahme ist, noch einen
seinem Ende. Diese Feststellung ist nicht notwen-      klaren Waffenstillstand. Friedenserhaltende Maß-
digerweise mit der Erwartung verbunden, daß            nahmen bei innerstaatlichen Konflikten sind, so
sich Rußland am Vorabend weiterer, dem Tschet-         die den Ausführungen zugrundeliegende An-
schenien-Krieg ähnlicher Konflikte befindet. Auch      nahme, gewaltträchtiger, als dies nach zwi-
bei weniger dramatischen Anlässen ist zu fragen,       schenstaatlichen Auseinandersetzungen der Fall
inwieweit sie alternativlos der russischen Regie-      ist.
rung allein überlassen werden sollen, wenn gleich-          Von dieser Prämisse ausgehend ist zu fragen,
zeitig von der Absicht die Rede ist, Rußland fest in   welchen Beitrag die OSZE dazu leisten kann, auf
den europäischen Sicherheitsraum einzubinden.          vor allem zwei Trends eine Antwort zu geben:
Eine Europäische Sicherheitscharta, die weiteren        die zunehmende Verlagerung der Gewaltdimen-

tschetschenien-ähnlichen Szenarien von vornher-           sion in die Staaten hinein, und

IPG 4/99                                                                  Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter   373
  die Selbstblockade der VN, innerstaatlichem            erklärt wird 9, eine politische Verpflichtungser-
         Konfliktpotential gegebenenfalls auch gewalt-          klärung, die nahezu wortgleich in den im Juni
         sam entgegenzutreten. 7                                1999 vereinbarten Stabilitätspakt für Südosteuropa
      Zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß die OSZE        übernommen wurde.
      wie keine andere sicherheitsrelevante Organisation            Die Praxis hat sich nicht wortgetreu an den
      Europas ihr Augenmerk frühzeitig und nachdrück-           Geist des Dekalogs von 1975 gehalten. Das trifft in
      lich auf die innere Verfaßtheit ihrer Teilnehmerstaa-     Sonderheit für seinen sechsten Punkt zu: Nicht-
      ten und das innerstaatliche Konfliktpotential in der      einmischung in innere Angelegenheiten. Die Ver-
      postantagonistischen Dekade gelenkt hat. Sie hat          änderungen gilt es in einer europäischen Sicher-
      mit der Charta von Paris (1990), dem Dokument             heitscharta zu dokumentieren. So wie das Prinzip
      des Kopenhagener Treffens über die menschliche            1975 formuliert wurde, sollte es 1999 nicht wieder-
      Dimension der KSZE (1990) und dem 1994 in Buda-           holt werden. Es muß vielmehr ergänzt und dabei
      pest vereinbarten Verhaltenskodex zu politisch-           herausgestellt werden, daß die innere Entwick-
      militärischen Aspekten der Sicherheit (1994) eine         lung in den Teilnehmerstaaten in dem Maße Teil
      normative Berufungsgrundlage geschaffen 8 und             einer solidarischen Gesamtverantwortung ist, wie
      verfügt über einen beträchtlichen Erkenntnis- und         sie eine Gefahr für Stabilität und Sicherheit in
      Handlungsvorsprung, wofür die Aktivitäten des             Europa bedeutet.
      Hohen Kommissars für nationale Minderheiten, der              Es ist nicht von vornherein und in jedem Fall
      Langzeitmissionen und anderer Einsätze vor Ort            beabsichtigt, einem Teilnehmerstaat etwas auf-
      (Feldoperationen) beispielhaft sind. Dieser, ausge-       zuzwingen, wozu er seine Zustimmung nicht
      hend von der Schlußakte von Helsinki (1975) im            gegeben hat. Ziel ist es vielmehr, ein defensives
      Bezug auf die innerstaatliche Dimension von               Prinzip wie das Gebot der Nichteinmischung
      Sicherheit erreichte Fortschritt muß in einer euro-       durch die Zusage prinzipieller Bereitschaft zu
      päischen Sicherheitscharta festgeschrieben werden.        ersetzen, auch innerstaatliche Konfliktursachen zu
          Es widerspräche dem Prozeßcharakter der               einer Angelegenheit aller Teilnehmerstaaten zu
      OSZE, würde sich die angestrebte Europäische              machen. Ein derartiger Vorstoß würde insofern
      Sicherheitscharta auf den pauschalen Hinweis              zum Testfall im Verhältnis zu Rußland, als Moskau
      beschränken, daß die seit 1975 verabschiedeten            der OSZE gelegentlich eine umfassende Zuständig-
      Erklärungen (Schlußakte von Helsinki, Charta von          keit übertragen möchte, aber vor ihrer »Zudring-
      Paris oder der Verhaltenskodex zu politisch-              lichkeit« zurückscheut. Zunächst einmal geht es
      militärischen Aspekten der Sicherheit) unverändert        nur um die Richtung der Entwicklung. Sie sollte
      die Grundlage einer europäischen Sicherheitsord-          daran ausgerichtet sein, das Mandat der OSZE für
      nung darstellen. Das hieße unter Bezug auf die            friedenserhaltende Maßnahmen mit dem Rege-
      Schlußakte von 1975 einen Zustand legitimieren, in        lungsbedarf für innerstaatliche Konfliktursachen
      dem – der damaligen sicherheitspolitischen Kon-           enger zu verbinden.
      stellation entsprechend – gerade die innerstaatliche
      Dimension in der einzelstaatlichen Zuständigkeit
      belassen würde, die sich seit 1989 als die zentrale       7. Vgl. dazu Winrich Kühne: „Humanitäre NATO-
      Herausforderung einer europäischen Sicherheits-           Einsätze ohne Mandat? Ein Diskussionsbeitrag zur
                                                                Fortentwicklung der UNO-Charta“, unveröffentlichtes
      ordnung herausgestellt hat. Mit einer pauschalen          Arbeitspapier, Stiftung Wissenschaft und Politik, Eben-
      »Bekräftigung« (s. die Dokumente von Budapest             hausen, März 1999.
      1994 und Lissabon 1996) der »Prinzipien der               8. Text der Charta von Paris für ein neues Europa in:
      Schlußakte von Helsinki und der nachfolgenden             »Bulletin, No. 137«, 24.11.1990; Text des Dokuments des
                                                                Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension
      KSZE-Dokumente« (1994) bzw. »OSZE-Verpflich-              der KSZE in Kopenhagen vom 29.6.1990 in: Auswärtiges
      tungen« (1996) würde das Gewicht solcher Verein-          Amt (Hg.): 20 Jahre KSZE: 1973–1993, Bonn 1993; der
      barungen relativiert, in denen eine besonders             Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der
      schwerwiegende Gefahr für die Verwirklichung              Sicherheit ist Teil des Budapester Dokuments von 1994,
                                                                s. Fn. 5.
      der Bestimmungen »der menschlichen Dimen-
                                                                9. Text des Moskauer Treffens der Konferenz über die
      sion« ausdrücklich nicht zu einer »ausschließlich         menschliche Dimension der KSZE in: Auswärtiges Amt:
      inneren Angelegenheit des betroffenen Staates«            20 Jahre KSZE.

374   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                                 IPG 4/99
Exkurs: Gehör für nichtstaatliche Konfliktakteure        Die Vorgänge im Kosovo waren und sind eine
                                                     innerstaatliche Angelegenheit. Das schließt die
Wenn die Erfahrung zutrifft, daß alle Konflikte in   Legitimation zur Anwendung von Gewaltmitteln
Europa einen innerstaatlichen Charakter haben,       durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
dann sollten sich die in ein gemeinsames Doku-       zwar keineswegs grundsätzlich aus, machte sie
ment zu fassenden Prinzipien einer europäischen      andererseits aber höchst unwahrscheinlich. Die
Sicherheitsordnung nicht nur mit den Teilneh-        Gratwanderung begann genau an diesem Punkt.
merstaaten befassen, sondern auch darauf rea-        Sie verlief zwischen Nichtstun auf der einen und
gieren, daß innerstaatliche Akteure seit dem Ende    einer machtpolitischen Umgehung der Vetoposi-
des Ost-West-Konflikts eine zunehmend große          tion des Sicherheitsrats auf der anderen Seite. Auf
Rolle spielen. Gemeint sind an dieser Stelle nicht   beiden Seiten nehmen die Vereinten Nationen
die Nichtregierungsorganisationen und ihr viel-      Schaden. Insofern greift das vor allem im Zusam-
fach unverzichtbarer Beitrag zur Regelung von        menhang mit den Luftangriffen auf Jugoslawien
Konflikten. Die Rede ist vielmehr von nichtstaat-    vorgebrachte Argument zu kurz, daß die nichtle-
lichen Akteuren als Konfliktparteien. Die Kosovo-    gitimierte Intervention der NATO den VN einen
Befreiungsarmee (UCK) ist hierfür ein prominen-      unwiderruflichen Schaden zufüge. Es ist zumin-
tes, aber keineswegs in jeder Hinsicht typisches     dest um die Frage zu ergänzen, welche Einbuße an
Beispiel.                                            Glaubwürdigkeit die VN erfahren, wenn unter
    Eine europäische Sicherheitscharta, die sowohl   ihren Augen massive Menschenrechtsverletzungen
Bilanz der seit 1989 eingetretenen Veränderungen     geschehen oder, in der Sprache des Moskauer
als auch Programm sein soll, darf an der zuneh-      KSZE-Dokuments, eine »schwerwiegende Gefahr
menden Rolle nichtstaatlicher Konfliktparteien       für die Verwirklichung der Bestimmungen der
nicht vorbeisehen. Es sollte zu deren verbürgtem     Menschlichen Dimension« auftritt.
Recht werden, sich internationalen Foren wie             Im Zentrum des Dilemmas steht der Absolut-
der OSZE stellen, ohne von ihrem Heimatstaat         heitsanspruch eines Sicherheitsratsvotums, das die
durch das Verdikt des Terrorismus vorzeitig ge-      Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder finden
brandmarkt werden zu können. Geht es vor den         muß. Mit anderen Worten, es geht bei jeder Ent-
Europäischen Gerichtshof um die Möglichkeit der      scheidung um mehr als nur den konkreten Kon-
Individualklage, so sollte innerstaatlichen Kon-     fliktfall. Auf der Tagesordnung steht immer auch,
fliktakteuren zumindest ein Anhörungsrecht ge-       die 1945 in der VNCh vereinbarte Prärogative von
währt werden, das durch das Nichteinmischungs-       fünf Staaten zu behaupten und zur Geltung zu
gebot nicht ausgehebelt werden darf.                 bringen. Soll die vorrangige Gewaltzuständigkeit
                                                     der VN, von einem Monopol ist hier ausdrück-
                                                     lich nicht die Rede, bewahrt werden und nicht
Wider den Absolutheitsanspruch des Vetos             in den Verdacht geraten, vornehmlich zu einer
                                                     legalistischen Hürde vor den Machtinteressen eini-
Ungleich höher liegt die Latte in den Fällen, in     ger weniger Staaten zu degenerieren, dann ist es
denen es um mehr geht als um die Vereinbarung,       unerläßlich, Verfahrensregeln zu entwickeln, mit
sich mit friedlichen Mitteln auf einvernehmlicher    denen der grobe Klotz in der Gestalt einer Veto-
Grundlage in die inneren Angelegenheiten eines       mauer in das flexiblere Gebilde eines feinmaschi-
Staates »einmischen« zu können. Kann es so etwas     gen Zaunes umgebaut werden kann, in denen die
geben wie eine »gewaltsame Solidarität« gegen-       politische und völkerrechtliche Entwicklung seit
über einem Staat, der seine inneren Konflikte nur    der Verabschiedung der VNCh eingebunden ist.
unter Inkaufnahme massiver Verletzung men-           Überlegungen zugunsten einer Regionalisierung
schenrechtlicher Standards militärisch zu lösen      der Gewaltzuständigkeit sollten in diesem Zusam-
weiß? Der Kosovo ist hierfür ein, aber weder         menhang nicht mit einem Tabu belegt werden.
das erste noch vermutlich das letzte, Beispiel. Es
hat paradigmatische Bedeutung, ohne daß die
weiteren Erwägungen in jeder Hinsicht auf diesen
Konflikt bezogen sind.

IPG 4/99                                                                Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter   375
»OSCE first« muß weiterentwickelt werden                  nahmen auch dann wahrnimmt, wenn es vor-
                                                                aussichtlich nur mit robusten Mitteln eingelöst
      Wo liegt in dieser Blickrichtung ein möglicher            werden kann. Die VNCh sieht vor, daß »regionale
      Platz für die OSZE? Bezieht man sich ausschließlich       Abmachungen oder Einrichtungen« der Autorisie-
      auf die Dokumente und Prinzipien, deren Gültig-           rung durch den VNSR nur bedürfen, wenn es um
      keit nahezu bei jeder Gelegenheit bekräftigt wird,        die Durchführung von »Zwangsmaßnahmen«
      dann stellt sich Europa als ein sicherheitspoli-          geht. Aus dem Aufbau der Charta ergibt sich ein-
      tischer Raum dar, der allen anderen Regionen              deutig, daß mit dieser Bestimmung ausnahmslos
      der Welt voraus ist. Das gilt zumindest in seiner         Maßnahmen gemäß ihres Kapitels VII gemeint
      Papierform.                                               sind. Die friedenserhaltenden Aktivitäten, für die
          Die Frage ist, wie dieser normative Vorsprung         sich die KSZE 1992 zuständig erklärte, orientieren
      auch bei den Debatten und Entscheidungen                  sich aber ausnahmslos an den begrenzten Bedin-
      des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur            gungen, die in den Jahren des Ost-West-Konflikts
      Geltung gebracht werden kann. Den Vetomäch-               möglich waren.
      ten – die mit Ausnahme von China auch im Rah-                 Die Anforderungen, die heute und aller Wahr-
      men der OSZE über ein besonderes politisches              scheinlichkeit nach in Zukunft an friedenserhal-
      Gewicht verfügen – muß es bei Entscheidungen,             tende Maßnahmen zu richten sind, liegen dagegen
      die Europa betreffen, wie etwa im Zusammenhang            zwischen dem Mandat von 1992 und dem Kapitel
      mit dem Kosovo-Konflikt, erschwert werden,                VII der VNCh. Das hat ihnen die Bezeichnung
      machtpolitische Interessen über menschenrecht-            »Kapitel-sechseinhalb«-Maßnahmen eingebracht.
      liche und humanitäre Verpflichtungen zu stellen.          Es geht also nicht nur darum, das Mandat von
      Im Rahmen der OSZE mit ihren wöchentlichen                1992 zu bewahren und mit Leben zu erfüllen, son-
      Sitzungen im Ständigen Rat und vor dem Forum              dern es angesichts der Gewaltträchtigkeit inner-
      von 55 Teilnehmerstaaten könnte dies eher mög-            staatlicher Konfliktursachen zugunsten der breiten
      lich sein als hinter den verschlossenen Türen des         Normengrundlage der OSZE weiterzuentwickeln.
      Sicherheitsrats.                                          Das muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß
          Das Spannungsverhältnis zwischen Interessen           die OZSE zu einem Rahmen wird, der eine umfas-
      einerseits und Prinzipien und Normen andererseits         sende Gewaltkompetenz einschließt. Die robuste
      ist eine Erscheinung der realen Welt. Es ist jedoch       Durchsetzung friedenserhaltender Maßnahmen
      kein Beleg für einen prinzipiellen Gegensatz. Inso-       scheint jedoch unerläßlich zu sein, wenn den über-
      fern geht es immer wieder um den Versuch, kurz-           wiegenden Gefahren für eine europäische Sicher-
      fristig taktisch orientierte Verhaltensweisen der         heitsordnung nachhaltig begegnet werden soll. In
      Staaten von dem Ziel einer normativ geprägten             diesem Sinne hieße peace-keeping unter »sechsein-
      Sicherheitsordnung aus unter Druck zu setzen              halb«-Bedingungen auch die Legitimationsbe-
      und zu beeinflussen.                                      rechtigung für Zwangsmaßnahmen. Der Wortlaut
          Dies würde den erneuten Versuch einschließen,         von Kapitel VIII der VNCh steht dem nicht aus-
      die für den OSZE-Raum vereinbarten Normen                 drücklich entgegen.
      und Ordnungsprinzipien, da wo ihre Verletzung                 Es wird hier nicht dafür plädiert, die Legiti-
      innerstaatlichen Konflikten zugrunde liegt, in den        mationsnotwendigkeit für die Anwendung von
      Entscheidungsprozeß des VNSR einzubringen. Das            Gewaltmitteln aufzugeben. Ziel ist vielmehr, die
      heißt, für die Stärkung »regionaler Abmachungen«          Bemessungsgrundlage für ihren Einsatz durch
      ist der 1994 auf der Gipfelkonferenz in Budapest          einen stärkeren Rückbezug auf den breiten Nor-
      weitgehend gescheiterte Vorschlag aktueller denn          menbestand der OSZE auszuweiten. Muß, so wäre
      je, den VNSR in den Fällen gemeinsam anzurufen,           jedenfalls zu fragen, eine friedensgefährdende Miß-
      in denen die Teilnehmerstaaten Zwangsmaßnah-              achtung der im Rahmen der OSZE vereinbarten
      men für erforderlich halten, ohne daß dem die             Grundsätze deshalb hingenommen werden, weil
      direkt von einer Krise oder Konfliktsituation be-         sich die KSZE 1992 zu einer Rolle verpflichtet hat,
      troffenen Staaten zustimmen müssen.                       die den Bedingungen zum Ende des Jahrzehnts
          Dem gleichen Ziel dient die Empfehlung, daß           nicht in der Weise gerecht wird wie Anfang der
      die OSZE ihr Mandat für friedenserhaltende Maß-           90er Jahre offenbar noch erwartet oder erhofft?

376   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                              IPG 4/99
Wenn man bei friedenserhaltenden Maßnahmen            mehr aufgrund seiner Standards eine Lokomotiv-
aufgrund der Innerstaatlichkeit der Konfliktstruk-    funktion für die VN insgesamt übernehmen. Das
turen an der Gewaltfrage nicht vorbeikommt,           setzt allerdings die Anstrengung voraus, daß die
dann sollte die Konsequenz nicht sein, auf ein        OSZE-Teilnehmer die eingegangenen Verpflich-
Kompetenzprofil zurückzugehen, wie es die KSZE        tungen nicht ihrerseits taktischen Interessen
vor 1992 hatte, sondern das Mandat von 1992           opfern und sie jederzeit zur Geltung bringen.
weiterzuentwickeln bzw. selbstbewußter auszu-
füllen.
    Die Aufgabe der KVM war ohne eine militä-         Die Chancen für eine Einbindung Rußlands
rische Abstützung nicht zu erfüllen. Warum aber
muß die nicht ausreichende Zuständigkeit der          Der zentrale Einwand gegen eine generelle Option
OSZE für »Zwangsmaßnahmen« ein unverrück-             der OSZE für friedenserhaltende Einsätze, vor allem
bares Dogma bleiben, wenn der OSZE damit die          wenn sie robuster Maßnahmen oder sogar dar-
Perspektive für friedenserhaltende Aktivitäten        über hinaus gehender Gewaltanwendung bedür-
genommen wird, zu der es keine Alternative gibt?      fen, liegt auf der Hand: Warum sollte im Rahmen
Robuste Maßnahmen mit einem Mandat der OSZE           der OSZE ein Mandat für robuste oder sogar
wären moralisch legitimer, als es die selbstverant-   Zwangsmaßnahmen erreichbar sein, wenn dies im
wortete Gewaltanwendung eines Bündnisses oder         VNSR nicht möglich ist? An der Nichtbeteiligung
einer Koalition von Staaten sein kann. Aus diesen     Chinas an der OSZE allein könne es nicht liegen.
Erwägungen folgt nicht die Militarisierung der            Der kritische Hinweis ist natürlich berechtigt,
OSZE, das heißt ihre Ausstattung mit eigenen          und es gibt keine gesicherten Annahmen, die ihn
militärischen Strukturen, wie 1989/90 vereinzelt      widerlegen. Das gilt nach dem Krieg gegen Jugo-
erwogen. Ein solcher Schritt ist nicht nur deshalb    slawien in einem verstärkten Maße. Insbesondere
nicht gewollt, weil es für ihn keinen Konsens gäbe.   Rußland setzt alles daran, einen Wiederholungsfall
Er würde ein Rollenverständnis beschädigen, auf-      zu verhindern, indem es sowohl jeden Eingriff in
grund dessen paradoxerweise die eigene Macht-         die staatliche Souveränität kategorisch ausschließt
losigkeit die Bedingung für Handlungsmöglich-         und offenbar kompromißlos auf seiner Prärogative
keiten auch in Situationen ist, in denen sich die     als Vetomacht beharrt. Die Verhandlungen über
betroffenen Staaten mit dem Argument der Nicht-       eine Europäische Sicherheitscharta im Rahmen der
einmischung zu schützen versuchen. Die OSCE           OSZE bieten dafür vielfältige Belege.
Assistance Group to Chechnya und die Advisory             Dieser Sachstand ist jedoch nur das Abbild
and Monitory Group in Belarus sind hierfür            einer Momentaufnahme. Veränderungsperspekti-
beispielhaft. Es sollte auch in Zukunft dabei         ven sind auf ihr nicht sichtbar. Die vorgebrachten
bleiben, für eine robuste Unterstützung von OSZE-     Einwände lassen nicht erkennen, in welche Rich-
Maßnahmen auf andere Organisationen oder              tung sich eine europäische Sicherheitsordnung
Koalitionen angewiesen zu sein. Hier geht es allein   entwickeln sollte und welcher Schritte es bedarf,
um die Frage, ob die Schwelle zwischen einer          um sie dem doppelten Ziel anzunähern, Ruß-
kooperativen Sicherheitspolitik und ihrer Absiche-    land einzubinden und dabei der innerstaatlichen
rung mit (auch) militärischen Zwangsmitteln in        Dimension von Sicherheit hinreichend Rechnung
jedem Fall nur in New York bei den VN und nicht       zu tragen.
ebenso in Wien bei der OSZE überschritten werden          Die diesem Anliegen verpflichteten Überle-
darf.                                                 gungen sind zugegebenermaßen erste vorsichtige
    Das entscheidende Argument für die hier skiz-     Tastversuche. Für sie ist die Prämisse maßgebend,
zierte Entwicklungsrichtung ist, um es noch ein-      daß die Vetoposition Rußlands im VNSR – ähn-
mal mit anderen Worten zu wiederholen, der            liches gilt allerdings auch für weitere ständige Mit-
normative Vorsprung der OSZE im Vergleich zu          glieder des Sicherheitsrats – eine der letzten Stüt-
anderen Regionen der Welt. Ihn zur Geltung brin-      zen darstellt, mit denen sich Rußland gleichbe-
gen zu wollen, geschieht nicht in der Absicht, die    rechtigt auf der internationalen Ebene zu bewegen
Ziele und Grundsätze der VN zu unterlaufen und        und Gehör zu verschaffen meint. Keine russische
dabei zu relativieren. Der OSZE-Raum sollte viel-     Regierung wird gewillt und innenpolitisch in der

IPG 4/99                                                                 Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter   377
Lage sein, diesen Fuß aus der Tür internationaler         stand, daß sich zu einer Kosovo Implementation
      Teilhabe zurückzuziehen. Das ist zumindest dann           Force unter dem Kommando der NATO aus west-
      weitestgehend auszuschließen, wenn vermeintlich           licher Sicht offenbar keine plausible Alternative
      oder tatsächlich die Aussicht besteht, von der            bot beziehungsweise bietet.
      Ebene der VN aus den Handlungsspielraum der                   Gefragt ist ein Weg, auf dem eine größere
      NATO, als einem Instrument der einzig verblie-            Zuständigkeit der OSZE für Gewaltmaßnahmen
      benen Macht mit Weltgeltung, kontrollierend zu            einhergeht mit der Weiterentwicklung von Vorstel-
      beeinflussen. Die russische Zustimmung zu den             lungen, wie sie etwa im CJTF-Konzept (Combined
      Vereinbarungen von Dayton im VNSR muß eher als            Joint Task Forces) für maßgeschneiderte Streit-
      Ausnahme von der Regel angesehen werden denn              kräftekoalitionen einzelner NATO-Staaten mit Part-
      als Präzedenzfall.                                        nerstaaten bereits angelegt sind. Denkbar ist aber
          Angesichts des unkonsolidierten Zustandes             auch eine Intensivierung und aufgewertete Insti-
      Rußlands ist auf unabsehbare Zeit davon auszu-            tutionalisierung der Beziehungen Rußlands mit
      gehen, daß die negative Korrelation zwischen dem          der WEU. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf die
      Vorrecht als Vetomacht und den Einsatzoptionen            im Petersberger Abkommen der WEU vereinbarten
      der NATO in bezug auf den europäischen Sicher-            friedenserhaltenden Maßnahmen, die eine Gewalt-
      heitsraum nicht aufgelöst, nicht einmal gelockert         option einschließen. 10 Ohnehin ist ein Ungleich-
      wird. Das schließt indessen auf seiten der außen-         gewicht im Verhältnis Rußlands zur Europäischen
      politischen Entscheidungselite Moskaus die Mög-           Union, mit der ein 1997 in Kraft getretenes Part-
      lichkeit einer Regionalisierung der beim VNSR             nerschafts- und Kooperationsabkommen besteht,
      verankerten Gewaltzuständigkeit offenbar nicht            einerseits und zur WEU andererseits entstanden,
      grundsätzlich aus. Auch dafür finden sich Hin-            seit beide Organisationen durch die Verträge von
      weise in den Verhandlungen über eine Euro-                Maastricht und Amsterdam näher aneinander-
      päische Sicherheitscharta. In ihnen ist es nicht          gerückt sind, ein Prozeß, der durch die Einlas-
      zuletzt die russische Seite, die auf der Mandatsbe-       sungen des englischen Premiers Blair über eine
      rechtigung der OSZE für friedenserhaltende Maß-           engere europäische militärische Zusammenarbeit
      nahmen besteht. Das geschieht gewöhnlich mit              und durch die Beschlüsse auf dem Europäischen
      dem ausdrücklichen oder indirekten Hinweis auf            Rat in Köln Anfang Juni 1999 einen zusätzlichen
      solche Organisationen, die ihre prinzipielle Bereit-      politischen Auftrieb erhalten könnte. 11
      schaft für friedenserhaltende Maßnahmen erklärt               Hinter diesen Bemerkungen verbirgt sich die
      haben. Unbestritten ist, daß Moskau dabei in              Frage, ob eine größere Flexibität Rußlands erreich-
      erster Linie die Gemeinschaft Unabhängiger Staa-          bar wäre, wenn der Kooperationspartner im sicher-
      ten, oder das, was als Restgruppe aus ihr werden          heitspolitischen Bereich zunehmend auch EU / WEU
      könnte, im Auge hat. Insofern würde Moskau mit            heißen würde oder eine hybride Koalition außer-
      Hilfe der OSZE gerne für sich etwas in Anspruch           halb eines festen Bündnisrahmens wäre. Einiges
      nehmen, wozu es der NATO unter keinen gegen-              spricht auf jeden Fall für eine Politik, die die
      wärtig denkbaren Umständen ein Mandat erteilen            Schwelle höher legt, jenseits derer friedenser-
      würde. Das heißt aber mit anderen Worten, es              haltende Maßnahmen nur noch mit dem Poten-
      geht offenbar nicht um eine grudsätzliche Ableh-          tial der NATO durchführbar sind. Rußlands Nei-
      nung größerer regionaler Zuständigkeiten, son-            gung zu friedenserhaltenden Maßnahmen scheint
      dern um die Bedingungen, unter denen sie in               eng mit dem Motto verbunden zu sein: So-
      Europa umgesetzt werden könnten.
          Die Frage ist also, ob es Ansatzpunkte gibt
      oder entwickelt werden können, die es erlauben,           10. Die auf der Tagung des WEU-Ministerrates am
                                                                19.6.1992 auf dem Petersberg zu Bonn verabschiedete
      eine tendenzielle Regionalisierung der Gewaltzu-          Petersberg-Erklärung ist abgedruckt in: »Bulletin,
      ständigkeit mit der Weiterentwicklung sicherheits-        No. 68«, 23.6.1992.
      politischer Konstruktionen zu verbinden, die sich         11. Mit dem Thema befaßt sich ausführlich Peter
      nicht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in den          Schmidt: »Neuorientierung in der europäischen Sicher-
                                                                heitspolitik? Britische und britisch-französische Initia-
      Strukturen der NATO verfangen. Es war eine der            tiven«, unveröffentlichtes Arbeitspapier, Stiftung Wissen-
      Hürden, vor denen die russische Kosovo-Politik            schaft und Politik, Ebenhausen, Januar 1999.

378   Plate, Zur künftigen Rolle der OSZE als Friedensstifter                                                    IPG 4/99
viel NATO wie nötig, aber sowenig NATO wie mög-           jedoch um die Richtung, in der sich eine Kultur
lich. Diesem Motto kann jedoch nur entsprochen            regionaler Verantwortung entwickeln kann, die
werden, wenn innerstaatliche Konflikte zu einem           nicht deshalb eine größere Mandatskompetenz für
Zeitpunkt auf die internationale Agenda gesetzt           sich beansprucht, weil sie hinter den Zielen der
werden, zu dem Zwangsmaßnahmen nicht erfor-               VN zurückbleibt, sondern weil sie sich entschlos-
derlich sind oder den extensiv ausgelegten Kompe-         sener auf sie zubewegt.                        
tenzbereich »regionaler Abmachungen« (noch)
nicht überschreiten.
    Diese Überlegungen übersehen nicht die Ge-
fahr eines Rückfalls in eine sicherheitspolitische Kon-
stellation wechselnder Bündniszugehörigkeiten, wie
sie für Europa mehr als 200 Jahr lang bestimmend
waren. Im Gegenteil, dahinter steht vielmehr die
Sorge, daß genau dies geschehen könnte, wenn
eine Legitimation von Gewaltmaßnahmen durch
den VNSR ausbleibt und vor allem deshalb nicht
erreichbar ist, weil sie einem von Moskau nicht
akzeptierten Bündnis zugute käme.
    Wenn ein nicht-legitimierter Einsatz von
Gewaltmitteln ausgeschlossen werden soll, dann
scheint es unumgänglich zu sein, dieses Ziel auch
mit Hilfe der OSZE anzugehen. Dazu ist es erfor-
derlich, daß die OSZE ihre Mandate und Instru-
mente nachhaltig ausfüllt und wahrnimmt. Je
mehr sich die Teilnehmerstaaten der OSZE dazu
bereitfinden, für den vereinbarten Normenbe-
stand mit robusten Mitteln einzutreten, desto
dringender wird es, erneut über die Frage einer
größeren regionalen Gewaltzuständigkeit nachzu-
denken.
    Die Stimmen aus dem russischen Militär, die
der OSZE empfehlen, »mutiger« zu werden, das
heißt, ihren Beschluß zur Gewaltlosigkeit zu revi-
dieren, haben natürlich keine OSZE-Soldaten im
Auge. Ihnen geht es um das Mandat und den Frei-
raum (und letztlich dann auch um die finanzielle
Lastenteilung), nach eigenem Interesse und
Ermessen militärisch tätig zu werden. Doch muß
es dabei bleiben, wenn es gelingt, über die Frage
militärischer Mittel nicht nur im Rahmen der
NATO nachzudenken?
    Sowenig wie eine europäische Sicherheitsord-
nung ein in sich geschlossenes Projekt sein kann,
so problematisch wäre es, eine Europäische Sicher-
heitscharta als ein abschließendes Dokument zu
formulieren. Es sollte Entwicklungsziele enthalten,
und Regelungen, die es gewährleisten, die Ziele
im Rahmen der Charta anzustreben. Es geht nicht
um den einen großen Schritt zu einer Regionalisie-
rung von Gewaltzuständigkeit. Es handelt sich

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