PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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DEZEMBER 2020 | NR. 176 | GÖNNER-MAGA ZIN PARAPLEGIE SCHWERPUNKT Nottwil: Die Erweiterung der Klinik ist abgeschlossen 16 IPS: Ein starkes Team im Neubau 20 Ansteckend: Karin Kaisers Lebensmut 26 Beatmung: Die einzigar- tige Kompetenz des SPZ
Interaktiv und multimedial: Einblicke in die Welt von vier Querschnittgelähmten im Besucherzentrum ParaForum Kommen Sie vorbei! Mehr Informationen unter: www.paraforum.ch
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG 14 20 Liebe Mitglieder Schwerpunkt Klinikerweiterung «Baulärm war früher Krach, heute ist er Wachstumsmusik», sagte 6 DIE NEUE KLINIK IST ERÖFFNE T Nach fünf Jahren ein deutscher TV-Moderator treffend. Der Um- und Neubau des Bauzeit wurde das neue SPZ in Betrieb genommen. Ein Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) ist fertig, der Krach hat grosser Dank geht an die breite Bevölkerung. ein Ende und die Zukunftsmusik kann jetzt spielen. Eigentlich hätten wir den Dank gerne an einem Eröff- 13 «UNSER ZIEL IST EINE OP TIMALE VER SORGUNG » nungsfest an Sie alle gerichtet. Wir wollten den Gönnerinnen SPS-Direktor Joseph Hofstetter erläutert die Hintergründe und Spendern Danke sagen, die das Bauen am SPZ ermöglicht der Klinikerweiterung. haben. Und ebenso den Mitarbeitenden, die trotz erschwerter 14 DA S PAR AFORUM BEEINDRUCK T SEINE G Ä STE Bedingungen für unsere Patientinnen und Patienten da waren Eine Schulklasse aus Rapperswil-Jona erkundet das und den Klinikbetrieb vorbildlich und mit der gewohnt hohen Besucherzentrum. Behandlungsqualität am Laufen hielten. Aufgrund der Corona- Pandemie haben wir uns aber entschieden – schweren Herzens –, 16 EIN STARKES TE AM IM NEUBAU Dem Personal auf der die bereits vorbereiteten Feierlichkeiten abzusagen. Diese Aus- Intensivpflegestation ist kein Aufwand zu gross. gabe «Paraplegie» erlaubt Ihnen dennoch einen Blick hinter die Kulissen des neuen SPZ. 19 SEITENBLICK Meinrad Müllers geschultem Auge entging Gebot der Stunde ist, dass wir unsere Spitalinfrastruktur bei den Bauarbeiten nichts. auf die sich wandelnden Bedürfnisse der Betroffenen ausrich- ten und den Mitarbeitenden eine attraktive Arbeitsumgebung 20 BEGEGNUNG Karin Kaiser hat nach ihrem Velounfall zur Verfügung stellen, die es ermöglicht, auch in Zukunft die zurück in die Arbeitswelt gefunden – und verbreitet einen geforderten Abläufe bestens meistern zu können. So unter- ansteckenden Lebensmut. stützt der Neu- und Umbau ideal unsere Philosophie der vernetz- ten, interprofessionellen Versorgung – von der Akutphase über 26 SPIT ZENMEDIZIN FÜR ALLE (Teil 2) Die Beatmungs die Rehabilitation bis hin zur lebenslangen Begleitung. medizin des SPZ ist schweizweit einzigartig. Davon profitieren Als Regierungsrätin und Gesundheitschefin im Kanton auch Covid-19-Erkrankte. St. Gallen sowie als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) habe ich den 28 EIN GRÖSSERES «PAR ADIESLI» Den Wettbewerb Ansatz der integrierten bzw. interprofessionellen Versorgung für die neue Kinderkrippe auf dem Campus hat eine ganz aktiv in die Gesundheitspolitik getragen. Deshalb freue ich mich besondere Architektin gewonnen. besonders, diesen Weg gemeinsam mit der Schweizer Paraplegi- ker-Stiftung weiterentwickeln zu dürfen. Die neue Infrastruktur 30 ERFOLGREICHE SCHMER Z THER APIE Eindrückliche legt dafür eine optimale Basis. Doch wir wissen, dass wir unser Zahlen bestätigen die Behandlungsmethoden des Zentrums Ziel nur dank Ihrer Solidarität und Unterstützung erreichen. für Schmerzmedizin in Nottwil. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Und die Feierlich- 31 DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT … keiten? Die holen wir nach. Dirk Steglich ist der Mann für alle Fragen. «Hebed Sie sich Sorg und bliebed Sie gsund», 32 BLICK IN DIE WEST SCHWEIZ Für Samuel Shabi ist gegenseitige Hilfe «der Motor unserer Gesellschaft». 4 C AMPUS NOT T WIL Heidi Hanselmann 33 IHRE SEITE Präsidentin Schweizer Paraplegiker-Stiftung 34 AUSBLICK PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 3
CAMPUS NOT T WIL 30 Jahre Schweizer Paraplegiker-Zentrum «In Nottwil sind wir endlich am Ziel», schreibt SPZ-Gründer Guido A. Zäch in «Paraplegie» (Nr. 35), nachdem sein Bauprojekt am 4. Juli 1985 von der Gemeinde angenommen wurde. Am 6. September 1990 ist es dann so weit: Das neugebaute Schweizer Paraplegiker-Zentrum wird mit einem mehrtägigen Volksfest und rund 100 000 Besucherinnen und Besu- chern eröffnet (unteres Bild). 40 Jahre Schweizer Paraplegiker- 85 Jahre Guido A. Zäch Am 1. Oktober feierte die Schweizer Paraplegiker-Gruppe den runden Geburtstag ihres Gründers. Um seine Vereinigung Vision der ganzheitlichen Rehabilita- Am 27. April 1980 gründete tion von Menschen mit Querschnitt- Guido A Zäch die Schweizer lähmung verwirklichen zu können, Paraplegiker-Vereinigung (SPV). gründete er im Jahr 1975 die Schwei- Heute zählt die SPV 27 Roll- zer Paraplegiker-Stiftung (SPS) – das stuhl-Clubs aus der ganzen Fundament für ein weltweit einzig- Schweiz und 11 000 Mitglieder. artiges Leistungsnetz. www.spv.ch www.paraplegie.ch/spz30 Neue Ombudsstelle der Schweizer Paraplegiker- Stiftung Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat per 1. November eine Ombudsstelle für die Anliegen von Querschnittgelähmten «Sie verdienen eine und deren Angehörigen geschaffen. Die Goldmedaille …» Erfolgreicher Betroffenen können sich an die Stelle Schönes Kompliment für Sponsorenlauf wenden, wenn sie mit Leistungen nicht das Klinikpersonal: In den zufrieden sind und auf ihr Anliegen keine zufriedenstellende Umfragen zur Patienten- Zum diesjährigen Sponsoren- Antwort erhalten haben. Die unabhängige, neutrale Beratungs- zufriedenheit erhält das lauf für Querschnittgelähmte in und Beschwerdestelle wird von Benno Büeler (Bild) geleitet. SPZ in fast allen Bereichen Haiti kamen im September zahl- sehr gute und bessere reiche Läuferinnen und Läufer, www.paraplegie.ch/ombudsstelle Noten als im Vorjahr. Rollstuhlsportler und Zuschau- Bezüglich «Weiterempfeh- ende in die SPZ-Sportanlage. lung der Klinik», «Zusam- 42 Teilnehmende absolvierten Bushaltestellen menfassende Beurteilung» zusammen 190 Kilometer und und «Gut aufgehoben sammelten rund 13 000 Franken Die Schweizer Paraplegiker- sein» liegt der Zufrieden- für den Verein Haiti Rehab. Der Vereinigung (SPV) und Hotel- heitsindex zwischen 91,4 Betrag kommt dem Wiederauf- Sempachersee-Mitarbeiter und 94,5 Punkten – so bau der Spitalküche des Part- Fabian Kieliger (links) haben hoch wie noch nie. Die nerspitals HCBH in Cap Haïtien Ingenieuren der Stadt Luzern Zahlen widerspiegeln die zugute, die durch einen Sturm gezeigt, wie Bushaltestellen ausserordentliche Perso- zerstört worden ist. gebaut sein müssen, damit nalleistung während des Rollstuhlfahrer gut einstiegen können. Dabei setzten sich die Umbaus. www.haitirehab.ch Ingenieure auch selbst in den Rollstuhl. 4 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
CAMPUS NOT T WIL PRAXIS Dr. med. Guy Waisbrod Leitender Arzt Wirbel- säulenchirurgie und Orthopädie Zur Operation ans SPZ Der Mediziner Hans M. (54) brach sich bei Die SPG tanzt für Sie einem Reitunfall den zwölften Brustwirbel. Seine Nervenfunktionen im Rückenmark Da die Bevölkerung aufgrund der Corona-Pandemie nicht zum geplanten blieben bei dieser Verletzung intakt, doch Jubiläumsfest SPZ 30 nach Nottwil kommen konnte, wandte sich das Personal eine Keilbildung des Wirbelkörpers brachte der Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) mit einer viel beachteten Online- die Gefahr einer Instabilität mit sich, die mit Aktion an die Öffentlichkeit: Es hat eine Choreografie zur #Jerusalema- der Zeit zu einer Buckelbildung und starken challenge einstudiert, die derzeit weltweit ein Gefühl von Freude und Zusam- Schmerzen hätte führen können. Zusammen menhalt auslöst. Mit ihrem Tanz sagen die Mitarbeitenden mit und ohne mit dem Patienten entschieden wir uns für Rollstuhl Danke für die Unterstützung ihrer Arbeit für Querschnittgelähmte und eine Operation, die die Anatomie der Wirbel- setzen ein Zeichen dafür, dass Menschen mit Beeinträchtigungen säule wiederherstellt und die bisherige Mobi- Teil unserer Gesellschaft sind. lität erhält. Direktlink www.paraplegie.ch/spz30 zum Video Mit minimalinvasiven Verfahren – unterstützt durch Computernavigation – wurden über kleine Schnitte von wenigen Millimetern die Schrauben zur Stabilisierung in die benach- Active Shop in neuem Glanz barten Wirbel eingebracht und mithilfe eines Spezialgeräts der Zusammenbruch aufgerich- Active Communication – eine Tochter- tet. Die minimalinvasive Operationstechnik gesellschaft der Schweizer Paraplegi- hat die Muskulatur erhalten und eine rasche ker-Stiftung – hat seinen Online-Shop Rehabilitation ermöglicht. Die Höhe des für elektronische und didaktische Hilfs- gebrochenen Wirbelkörpers war wiederher- mittel rundum erneuert. Das Produkt- gestellt, und acht Monate nach dem Unfall angebot ist nach vier Lebensbereichen konnten die Schrauben und Stäbe entfernt geordnet: Kommunizieren, Lernen, werden, um die Bewegung der Wirbel- Arbeiten und Wohnen. Eine verbesserte gelenke wieder freizugeben. Heute ist Hans Für einen Alltag ohne Stürze Suche, Variantenartikel und Praxis- M. ohne wesentliche Beschwerden. empfehlungen bieten Orientierung und Nach einem Unfall wird Rolf Baders Erlebnis zugleich. Der Shop ist in Der ausgebildete Arzt veranlasste seine Ein- rechter Oberschenkelmuskel funktions- Deutsch und Französisch zugänglich. weisung ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum unfähig. Mehrere Therapieversuche mit (SPZ) ganz auf eigenen Wunsch. Ohne unser Oberschenkelschienen scheitern, viele Team persönlich zu kennen, wollte er sich Jahre lang prägen Stürze seinen Alltag. nur in Nottwil operieren lassen – ein schönes Nun ist es Spezialisten von Orthotec Zeichen für die Reputation des SPZ. gelungen, Bader ein «C-Brace»-System anzupassen – als erst zweitem Patien- ten in der Schweiz. Mit diesem compu- tergestützten Orthesensystem erhält der betroffene Patient nicht nur weit- gehende Sicherheit für ein Gehen und Stehen ohne Stürze, er kann damit sogar wieder Treppen steigen. www.paraplegie.ch/ wirbelsaeule www.orthotec.ch www.active-shop.ch PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 5
SCHWERPUNKT Die neue Klinik ist eröffnet Fünf Jahre Planung, fünf Jahre Bauzeit – im Herbst wurde das neue Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Betrieb genommen. Ein grosser Dank geht an die breite Bevölkerung, deren Spenden das Bauvorhaben wesentlich mitgetragen haben. 6 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
SCHWERPUNKT Die Aufgabe ist knifflig. Sobald man neben ein Zum Beispiel das Restaurant Centro in der Begeg- bestehendes Gebäude einen Neubau stellt, wird nungshalle. Es wurde dreimal grösser und hat das Bestehende zum «Alten» und die Bewohne- neue Räume und Funktionalitäten. Für die meis- rinnen und Bewohner möchten ins moderne Haus ten Architekten wäre dies ein klassischer Anbau. umziehen, das besser zu ihren Bedürfnissen passt. Doch in der Umsetzung von Hemmi und Fayet Das alte Haus war bisher eine Selbstverständlich- erkennen selbst langjährige Mitarbeitende nicht keit, es prägte ihr Leben und funktionierte. Doch mehr, wo das Alte endet und das Neue beginnt jetzt entstehen Grenzen zwischen den Gebäuden. – es fügt sich wie selbstverständlich ins Beste- Und Fragen tauchen auf: Wer kommt in den Neu- hende ein. bau? Was bleibt im alten Teil? Als Petra Hemmi und Serge Fayet vor fünf Reorganisation mit Folgen Jahren mit den Bauarbeiten zur Erweiterung des Trotzdem hat sich sehr viel verändert auf dem Schweizer Paraplegiker-Zentrums anfingen, hat- Campus. Mit dem neuen Nordtrakt schliesst ein ten die beiden Architekten diese Aufgabe schon markanter Riegel den Klinikkomplex Richtung gelöst – und sich gegen jede Form der Abgren- Sempachersee ab. In ihm befinden sich die Akut- zung entschieden. «In Nottwil sollten keine zwei medizin und die Intensivstation. Auf der Südseite Teile oder zwei Klassen entstehen», sagt Serge schiebt sich das neugebaute Besucherzentrum Fayet, «dazu gab es inhaltlich und formal kei- ParaForum mit seiner runden Glasfront wie nen Anlass.» Statt modisch-plakative Kontraste ein Kuchenstück zwischen die bestehenden zu setzen, liessen die Architekten einfach die Gebäude. Zudem wurde ein ganzer Büroneubau Unterschiede zwischen Alt und Neu verschwin- in den Innenhof des SPZ eingepasst. den. «Wir haben den bestehenden Teil sanft und Die Bettenhäuser und der Reha-Trakt wurden sorgfältig verändert, damit er mit den Neubauten renoviert, Passerellen gebaut, eine Tiefgarage eine Einheit bildet – eine hochmoderne Klinik, entstand, eine Sporthalle, ein Therapiegarten und die viel grösser ist und neue räumliche Qualitäten vieles mehr – während der Klinikbetrieb normal bietet, die aber ihren angestammten Charakter weitergeführt wurde. Insgesamt vergingen gut behalten hat.» zehn Jahre, seit das Zürcher Büro Hemmi Fayet Architekten die Ausschreibung gewonnen hat. Das Zuhause weiterbauen Bevor sie an die Detailplanung gingen, arbeiteten Dieser architektonische Kerngedanke hängt eng 28 Mitarbeitende des Kernteams zwei Wochen mit der Bedeutung des Schweizer Paraplegiker- lang im SPZ mit, um zu verstehen, wie die medi- Zentrums für Menschen mit einer Querschnittläh- zinischen und therapeutischen Abläufe tatsäch- mung zusammen, erklärt Petra Hemmi: «Das SPZ lich funktionieren. ist für viele ein Zuhause, in das sie immer wieder gerne zurückkommen. Deshalb wollten wir es im Sinne der ursprünglichen Vision weiterbauen.» Die Architekten haben es optimiert, erweitert und so angepasst, dass es rundum erneuert in die Zukunft gehen kann. Beim klaren Statement für das Bestehende fällt immer wieder der Respekt für die Ideen von SPZ-Gründer Guido A. Zäch und deren ursprüng- liche Umsetzung durch die Basler Architekten Wilfrid und Katharina Steib auf. Ihr eleganter Gebäudekomplex von 1990 ist immer modern geblieben. «Dem wollten wir nicht einfach unsere Ästhetik überstülpen», sagt Hemmi. Diese Hal- tung zieht sich wie ein roter Faden durch alle Petra Hemmi und Serge Fayet Erweiterungen auf dem Campus. Die Architekten der Klinikerweiterung. 8 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
SCHWERPUNKT Praktische Abkürzung: Verbindungs- passerelle zwischen Ost- und Westtrakt. Neues im Alten: Wartebereich zu den medizinischen Trainingstherapien. Rollstuhlparcours im neuen Therapiegarten. Im Jahr 2011 fing Hans Peter Gmünder als neuer SPZ-Direktor an und organisierte die Prozesse und Verantwortlichkeiten neu. Dabei wurden die Bereiche Akutmedizin und Rehabilitation räum- lich und organisatorisch getrennt. Die Reorgani- sation hatte bauliche Folgen: Wo sollen Therapien stattfinden? Wie viele Operationssäle braucht es? Wie viele Lifte? Einzel- oder Mehrbettzimmer? Grossraumbüros? Ausschlaggebend war jeweils die bestmögliche Verknüpfung der Patienten- wege und der Betriebsabläufe. «Wir standen vor einer Grundsatzentschei- dung», erklärt Gmünder. «Wollen wir nur die behördlichen Auflagen erfüllen und anstehende Renovationen ausführen? Oder möchten wir den Patientinnen und Patienten auch zukünftig eine optimale Versorgung anbieten können?» Eine wichtige Rolle spielte auch die betriebswirt- schaftliche Analyse, wie die angestrebte Qualität erbracht werden kann. Das Resultat: Statt für eine provisorische Bettenstation, die man nach der Renovation wieder abgerissen hätte, entschieden sich die Verantwortlichen für eine sinnvolle Klinik- erweiterung. Dies umso mehr, als die Auslastung oft über hundert Prozent lag und die Betreuung der Betroffenen an Kapazitätsgrenzen kam. Agile Planung als Erfolgsrezept Oft sind neue Spitalbauten bereits bei der Inbe- triebnahme veraltet, weil sich während ihrer lan- gen Planungs- und Realisierungszeit die Rahmen- bedingungen verändern. Seien es betriebliche Prozesse oder Anforderungen im Gesundheits- wesen, seien es Fortschritte in der Technologie oder behördliche Vorschriften. Solche Änderun- gen beeinflussen nicht nur die Behandlungsqua- lität. Zusatzlösungen und Umwege machen den Betrieb ineffizient und belasten die öffentlichen und privaten Budgets. Damit dies beim SPZ nicht passiert, setzte man auf eine «agile Planung». Mit diesem Instru- ment werden Lösungen nicht schon beim Projekt- start fixiert, sondern Änderungen so lange wie möglich zugelassen. «Durch die agile Planung ent- stand eine hohe Flexibilität», sagt der operative Leiter Paul Metzener. «Wir konnten die Infrastruk- tur an neue Aufgaben anpassen und gemeinsam nach der besten Lösung suchen.» Als erfahrener PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 9
SCHWERPUNKT Mit agiler Planung zur besten Lösung Parallel zur Bauplanung hat die Klinikleitung die Prozessland- schaft umorganisiert. Die neuen Prozesse wurden in der alten Infrastruktur getestet, um zu ver- 36 medizinische Bereiche stehen, was das neue Gebäude können muss. Dann wurde mit sind im SPZ untergebracht. Phase 1: Neue Prozesse in der alten Infrastruktur. in einem rollenden Änderungs- verfahren («agile Planung») die beste Lösung umgesetzt. SPZ Akut SPZ Ambulant SPZ Management und Dienste SPZ Management und Medizin SPZ Partizipation SPZ Rehabilitation Phase 2: Neue Prozesse in der neuen Infrastruktur. 204 Betten umfasst der gesamte Klinikkomplex. Bauherrenvertreter war Metzener Teil des «Baufo- see und die umgebende Natur frei. Die schönsten rums» – eines festen Entscheidungsgremiums, Zimmer hat die Intensivpflegestation (IPS) bekom- dem auch Hans Peter Gmünder, SPS-Direktor men, denn in Nottwil können IPS-Aufenthalte Joseph Hofstetter, der technische Leiter René bei Frischverletzten bis zu zehn Wochen dauern. Künzli und Serge Fayet angehörten. «Wir standen Die Atmosphäre ist hell und ruhig, am Bett stehen in ständigem Austausch», sagt Paul Metzener. nur jene Apparate, die für die Behandlung nötig «Dadurch waren Änderungswünsche kein Stör- sind. Das Sonnenschutzglas dunkelt automatisch faktor, sondern Teil der Aufgabe. Das geht aber ab und senkt die Wärmeaufnahme. Besonders nur, wenn man sich gegenseitig vertraut.» schätzen die Patientinnen und Patienten, dass Im Nachhinein bezeichnet Joseph Hofstetter die agile Planung als «Erfolgsrezept», dank dem die strengen Kosten- und Zeitvorgaben einge- « Wir durften an einer aussergewöhnlichen halten wurden (vgl. Seite 13). Durch die aktive Idee ein Stück weit mitbauen.» Einbindung der SPZ-Fachleute konnte die jeweils Petra Hemmi bestmögliche Umsetzung entwickelt werden. Zudem gab es Testzimmer, in denen Lösungs- sich die Fenster öffnen lassen und so eine Verbin- varianten in der Praxis erprobt wurden, bevor dung zur Aussenwelt ermöglicht wird. Die Mit- man sie definitiv einbaute. Und in einem «Soun- arbeitenden wiederum loben die aufgeräumte ding-Board» brachten die Patientinnen und Pati- Technik und dass sie von einem Vorraum aus enten ihre Sichtweise ein. immer zwei Zimmer gleichzeitig im Auge haben, ohne sie betreten zu müssen. So werden Ruhe- Ein Ort zum Wohlfühlen störungen vermieden. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Auf dem Im Anschluss an die IPS und in den zwei Campus ist eine kleine Stadt entstanden, in der Stockwerken darüber befindet sich die akutme- frischverletzte Menschen mit Querschnittlähmung dizinische Abteilung. Hier bleiben Patientinnen Der neue Nordtrakt sechs bis neun Monate zur Rehabilitation woh- und Patienten nach einem akuten Ereignis oder nen und sich entsprechend wohlfühlen sollen. einer Operation für eine kurze Zeit. Es sind eben- Intensivstation (dunkel) und Wer hier lebt, benötigt kein originelles Hotelzim- falls Einzelzimmer, da Akutpatienten oft Ruhe be- zwei Zimmergeschosse. Alle Fenster lassen sich öffnen. mer, sondern optimale Funktionalität. Dazu eine nötigen. Ein typisches Kennzeichen von Nottwil warme Ambiance und individuelle Freiräume, findet man auch im Nordtrakt: Die Balkone vor Blick in ein Patientenzimmer zum Beispiel für persönliche Bilder. den Patientenzimmern. Sie bieten einen zusätzli- der Akutabteilung. Im neuen Nordtrakt geben Fenster vom chen Aussenraum – und der Einbezug der Natur Grosszügige Lounges Boden bis zur Decke den Blick auf den Sempacher- unterstützt die Rehabilitation. erleichtern Begegnungen. 10 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
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SCHWERPUNKT Neu gestalteter Eingangsbereich vor der Schwimmhalle. Blick in eines der neuen Multispace-Grossraumbüros. Sorgfältiger Umgang mit Spenden Im September 2020 fand die 248ste Sitzung des Beim ersten Bau des Schweizer Paraplegiker-Zen- Bauforums statt. Das zeigt: Agile Planung geht trums von 1990 gingen die Verantwortlichen sehr nicht von alleine, sie bedeutet Spitzensport und sorgfältig mit den Spendengeldern um, indem kann für alle Projektbeteiligten anstrengend sein. sie eine möglichst langlebige Lösung angestrebt Dennoch überwiegen die guten Erinnerungen an haben. Die gleiche Haltung prägt auch das Kon- die intensive Zusammenarbeit. Das ist ausserge- zept des «Weiterbauens» der heutigen Campus- wöhnlich; häufig enden Grossbauprojekte weni- architekten. Sie haben dazu den Steibschen Bau ger harmonisch und verlängern sich in gerichtli- sehr genau studiert. «Zehn Jahre lang hat das chen Auseinandersetzungen. In Nottwil ist wieder SPZ unser Büro und unsere Lebensläufe mitge- einmal alles anders. Der einzige Wermutstrop- formt», blickt Serge Fayet zurück. «Wir durften fen nach der Bauerei ist, dass man aufgrund der an einer aussergewöhnlichen Idee ein Stück weit Corona-Pandemie das bereits geplante Volksfest mitbauen», ergänzt Petra Hemmi. «Das war für zur Eröffnung verschieben musste. mich sinnstiftend.» (kste / we, g. micciché) 12 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
SCHWERPUNKT «Unser oberstes Ziel war die optimale Versorgung der Patientinnen und Patienten» ten, und auch bezüglich der Erdbeben- und die ins Budget passen. Entscheidend war: der Feuersicherheit wurden die Vorschriften Verbessert sich dadurch die Situation der verschärft. Ein bisschen Kosmetik ergab da Patientinnen und Patienten oder der Mit- keinen Sinn. Uns wurde rasch klar: Wenn arbeitenden nachhaltig? Manchmal erwies wir etwas machen, dann richtig. sich die kostengünstigere Variante im Nach- hinein sogar als die praktischere. Unüblich ist die gemeinsame Projektleitung von Bauherr und Es gab auch keine Einsprachen, wie Architekt. dies bei Grossprojekten üblich ist. Dieses in der Schweiz erst selten genutzte Darauf bin ich als Jurist besonders stolz: Vorgehen brachte uns entscheidende Vor- Wir haben viele hochdotierte Aufträge Joseph Hofstetter Direktor der teile. In den zehn Jahren, die das Projekt erteilt und uns in allen Vergabeverfahren Schweizer Paraplegiker-Stiftung von den ersten Planersitzungen bis zum strikt an die festgelegten Abläufe gehalten; Abschluss dauerte, hat es sich immer wie- das bestätigen auch zwei Buchprüfungen der verändert und musste an neue Rah- der Firma BDO. So konnten alle Anbieter Joseph Hofstetter, wie haben Sie menbedingungen angepasst werden. Die unsere Entscheide nachvollziehen und letzt- den Bau-Abschluss erlebt? schlanke Organisation des Bauforums war lich auch akzeptieren. Bis auf zwei wurden Das Bauen war jahrelang ein fester Bestand- dafür ideal. Ich denke, der agile Planungs- übrigens alle Aufträge an Unternehmen in teil meiner täglichen Arbeit. Ich konnte vie- prozess war unser Erfolgsrezept: Neue Ideen der Schweiz vergeben, über die Hälfte an les mitgestalten und sehen, wie das Projekt oder auftauchende Probleme wurden sofort Firmen aus der Region. Denn als Stiftung wächst. Das war spannend. Aber ich muss geprüft, und wir konnten rasch reagieren, wollen wir auch zu unserer gesellschaftli- auch sagen: Wenn ich in den letzten Jahren wenn etwas noch verbesserungsfähig war. chen Verantwortung stehen. nachts einmal aufgewacht bin, dann war es Heute erkundigen sich andere Bauherren wegen des Baus. bei uns, wie wir das gemacht haben. Es war Haben die neuen Zimmer keine eine schrittweise Annäherung an die beste Überkapazitäten geschaffen? Wie belastet war der ganze Betrieb? Lösung. Nein, die hohe Auslastung geht weiter. Die Viele arbeiteten fünf Jahre lang auf einer als Reserve für die Zukunft geplante Betten- Baustelle. Mitarbeitende mussten in Provi- Parallel zur Bauplanung entstanden station wird bereits 2021 wieder genutzt. sorien zügeln, unter nicht idealen Bedingun- neue betriebliche Prozesse. Menschen mit einer Querschnittlähmung, gen arbeiten, wieder zurückzügeln, Lärm Zuerst wurden von SPZ-Direktor Hans die für «normale» Eingriffe in ein Akutspital und Umwege in Kauf nehmen – da ist man Peter Gmünder die Strukturen erarbeitet ihrer Region gingen und bei eintretenden froh, wenn es vorbei ist. Das Personal zeigte und dann der Bau danach ausgerichtet. Komplikationen dann ans SPZ überwiesen zum Glück viel Verständnis und Durchhalte- Dabei stand der Patientenweg stets im wurden, wenden sich heute direkt an uns. willen. Und gemeinsam mit den Bauleuten Mittelpunkt, vom Heli-Landeplatz über die So werden hohe Folgekosten vermieden feierten wir ein tolles Aufrichtefest. Akutphase und die Rehabilitation bis zur und die Querschnitt-Expertise in Nottwil lebenslangen Begleitung. Zuoberst stand gibt den Patientinnen und Patienten Sicher- Weshalb wurde der Neu- und die Frage: Wie können wir unsere Patien- heit für ihre Behandlung. Umbau notwendig? tinnen und Patienten optimal versorgen? Unter SPZ-Gründer Guido A. Zäch entstand Gleichzeitig sollte die neue Infrastruktur Aber gebaut wird nicht mehr? 1990 eine moderne Klinik mit grosszügigem den Mitarbeitenden die Arbeit möglichst Doch !… [lacht] Bereits im nächsten Jahr Raumangebot in einer noch heute beein- erleichtern. All diese Punkte zusammenzu- entsteht eine neue Krippe für die Kinder druckenden Architektur. Wir haben den bringen ist nicht immer einfach … unseres Personals (siehe Seite 28). Und Bestand immer gut gepflegt. Aber nach es folgen auch noch Anpassungen in der dreissig Jahren muss man eine Bettensta- … und dabei erst noch die Kosten Radiologie, mit denen wir aufgrund des tion einfach renovieren und die Klinikräume im Auge behalten. technologischen Fortschritts bewusst zuge- anpassen. Das Konzept der Mehrbett-Zim- Genau. Der Kredit von 250 Millionen Fran- wartet haben. Aber die grosse Baustelle ist mer war nicht mehr zeitgemäss. Zudem ken durfte nicht überschritten werden, das definitiv weg. Das SPZ ist «à jour» und für gab es Auflagen des Strominspektorats, die war für uns Ehrensache. Wir haben vieles die Zukunft gut aufgestellt. eine aufwändige Sanierung bedeutet hät- hinterfragt und nach Lösungen gesucht, (kste / we) PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 13
SCHWERPUNKT Das ParaForum beeindruckt seine Gäste Eine einladende, halbrunde Glasfront begrüsst die Schulklasse aus Rapperswil-Jona bei ihrem Besuch in Nottwil. Im neugebauten ParaForum erhalten die Kinder spannende Einblicke in die Welt von Menschen mit einer Querschnittlähmung. Die 22 Schülerinnen und Schüler der sechsten in den Rollstuhl und spüren, wie sich das anfühlt. Klasse aus Rapperswil-Jona stehen neugierig Eine 3D-Animation bringt ihnen näher, welche vor dem ParaForum. Im Unterricht entstand die Auswirkungen Rückenmarkverletzungen haben. Idee, im Rahmen ihres Lagers in Malters LU einen Anhand von Filmen können sie sehen, wie ein Abstecher nach Nottwil zu machen, um mehr Eingriff im Operationssaal abläuft, wie ein Tetra- über das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) plegiker mit gelähmten Fingern einen Computer und das Thema Querschnittlähmung zu erfahren. bedient oder wie ein Paraplegiker sich aus dem Anhand der Schulungsunterlagen des ParaForums Bett in den Rollstuhl transferiert. hat Lehrerin Myrtha Ruckli mit den Kindern den Die vier Menschen der WG zeigen sich auch Besuch vorbereitet. Sie schaute mit ihnen die von ihrer humorvollen Seite. Das ist später in der Funktionen der Wirbelsäule an, sensibilisierte auf Realität nicht anders. Denn nach dem ParaForum Freundliche Begrüssung: Begegnungen mit Menschen im Rollstuhl und bat übernimmt Tim Shelton die Klasse. Der 52-Jäh- die Glasfront des ParaForums. sie, Fragen zusammenzustellen, auf die in Nottwil rige sitzt seit einem Motorradunfall vor dreissig Antworten gefunden werden sollten. Jahren im Rollstuhl, in Nottwil arbeitet er als Peer Im neuen Besucherzentrum erhält die Gruppe Einblick ins Leben von Menschen mit Querschnitt- lähmung. Das ParaForum wurde im September « Ich möchte mit meinen Eltern zurück- 2019 eröffnet und bietet auf 400 Quadratmetern kommen. Sie müssen das auch sehen.» eine multimediale, interaktive Ausstellung in Jaël Hüppi, Schülerin Form einer fiktiven Wohngemeinschaft mit vier Betroffenen unterschiedlichen Alters. Counsellor und führt Besuchergruppen durchs Die Para- und Tetraplegiker empfangen die SPZ. Shelton, der anderen Querschnittgelähmten Schulklasse virtuell am Eingang, stellen sich vor mit allen möglichen Tipps zur Seite steht, stellt und öffnen ihre Zimmertüren. Via Audioguide von Anfang an klar: «Es gibt keine Tabus. Fragt erzählen sie, weshalb sie im Rollstuhl sitzen und alles, was euch interessiert.» wie sie ihrem Schicksal begegnen. Sie berichten von ihren beruflichen und privaten Plänen, aber «Das hat die Kinder berührt» Ein Schulbesuch auch von ihren Sorgen oder dem Umgang mit Vor dem Rundgang zeigt ein Film drei Menschen, von A bis Z ständigen Schmerzen. die das Schicksal schwer getroffen hat. Einer von Planen Sie einen Besuch in ihnen ist ein 17-jähriger Freestyle-Snowboarder, Nottwil? Zur optimalen Am Handbike und im Rollstuhl der sich bei einem Sprung schwer verletzt. Sein Vorbereitung Ihrer Klasse Die Schülerinnen und Schüler lernen Eigenheiten Traum, Profisportler zu werden, platzt jäh in die- bietet das ParaForum auch einer Wohnung kennen, die auf die Bedürfnisse sem Moment. Sein Unfall, die Einlieferung ins Spi- Schulungsunterlagen. von Querschnittgelähmten zugeschnitten ist. Sie tal, der Beginn eines anderen Lebens – «das hat werden sich bewusst, dass im Alltag vieles nicht die Kinder berührt», sagt Lehrerin Ruckli. «Und es www.paraplegie.ch/ mehr im gewohnten Tempo geht, etwa bei der hat sie animiert, im Nachgang unseres Besuchs in fuer-lehrpersonen Körperpflege. Sie setzen sich ans Handbike oder Nottwil viel darüber zu diskutieren.» 14 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
Die Kinder erkunden eine für sie neue Welt. Tim Shelton beantwortet jede Frage geduldig gelernt, den Rollstuhl als Teil meines Ichs zu Beantwortet jede Frage: Rund- und mit Witz. Der leidenschaftliche Rugbyspie- akzeptieren. Nach dem Unfall gab es zwei Optio- gang mit Tim Shelton (Mitte). ler erzählt von seiner Lust, überall auf der Welt nen: Entweder ich gebe auf oder ich mache das Lernen heisst: selber unterwegs zu sein, und nimmt die Klasse mit auf Beste aus der Situation. Ich entschied mich für ausprobieren. einen Rundgang durchs SPZ. Die Schülerinnen das Zweite.» Die Ausstellung ist interaktiv und Schüler blicken in eine der Übungswohnun- Die Kinder sind beeindruckt. «Uns ist klar und multimedial. gen, in der Reha-Patienten kurz vor dem Austritt geworden, wie schnell sich ein Leben komplett einige Tage alleine leben und sich auf die Zukunft verändern kann», sagt die elfjährige Luana Bann- daheim vorbereiten. Sie schauen in der Werkstatt wart. «Wir haben auch gesehen, wie man lernt, der Orthotec vorbei und lernen die Unterschiede mit einer Behinderung umzugehen. Der Besuch verschiedener Rollstuhlmodelle kennen. Und in im SPZ ist für mich eine wertvolle Erfahrung.» ParaForum der Turnhalle darf dann ein Rugby-Rollstuhl aus- Ihre zwölfjährige Kollegin Jaël Hüppi ergänzt: Öffnungszeiten probiert werden. «Ich habe mir bislang kaum Gedanken über eine Di – So: 10 – 17 Uhr Querschnittlähmung gemacht. Jetzt möchte ich Der Eintritt ist kostenlos. Aufgeben – oder das Beste machen unbedingt mit meinen Eltern das ParaForum und Tim Shelton baut Berührungsängste ab und ver- das SPZ besuchen. Sie müssen das alles mit eige- www.paraforum.ch mittelt viel Optimismus, wenn er sagt: «Ich habe nen Augen sehen.» (pmb / we) PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 15
SCHWERPUNKT 16 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
SCHWERPUNKT Ein starkes Team im Neubau Hochmoderne Technik, geräumige Zimmer und ein Personal, dem kein Aufwand zu gross ist. Ein Augenschein auf der neuen Intensivpflegestation im Nordtrakt. Ein bisschen Humor darf sein. «Wer hier arbeitet», lino Goldstein, «der vorhandene Platz, die hoch- sagt Paulino Goldstein, «muss dafür gemacht sein. moderne Infrastruktur – es sind einfach perfekte Und wir sind alle etwas schräge Vögel.» Paulino Bedingungen». Sechzehn Einzelzimmer stehen Goldstein arbeitet auf der Intensivpflegestation zur Verfügung. Zur Zeit werden nicht alle belegt, (IPS) im neuen Nordtrakt, er ist Berufsbildner und um das Personal nicht zu überlasten. Dazu sucht Instruktor. Und für den 35-jährigen Schweizer mit man auch neue Fachkräfte. chilenischen Wurzeln ist das, was er tut, viel mehr Goldstein leitet an diesem Morgen die Tages- als ein Broterwerb, es ist eine Berufung. Er sagt: schicht. Er geht durch die Gänge, erkundigt sich: «Wir sind so etwas wie die Anwälte der Patien- «Alles in Ordnung?» Jeweils zwei Personen küm- tinnen und Patienten. Für sie tun wir alles, was mern sich um zwei bis maximal drei Patientinnen irgendwie möglich ist.» und Patienten. Goldstein packt auch selber mit Paulino Goldstein Instruktor Es ist 6.50 Uhr an einem Morgen im Oktober, an. Nach dem Rapport mit den Ärzten kurz nach Intensivpflegestation (IPS) Schichtwechsel auf der Station. Claudia Gander, 7.30 Uhr kontrolliert er in «seinem» Patientenzim- die Teamleiterin während der Nacht, gibt der mer, ob die Geräte und Alarmfunktionen richtig Crew, die übernimmt, ein Update zu allen Patien- eingestellt sind und dass die Medikamentenver- tinnen und Patienten: Wo sind Komplikationen sorgung reibungslos läuft. aufgetreten? Wer befindet sich in welcher Ver- fassung? Was gilt es zu beachten? Zehn Minuten Hell, freundlich, geräumig dauert der Rapport, tägliche Routine. Die Zimmer bieten Blick auf den Sempachersee und den betroffenen Menschen eine Orientie- Ein Lächeln schadet nie In 33 Jahren als Intensiv-Pflegefachfrau meisterte Gander schon manche Krise. Sie lernte, mit hoher Belastung umzugehen, und machte die Erfah- «Vieles ist nicht planbar. Wir müssen in rung, dass ein Lächeln nie schadet. «Oft gäbe es jeder Situation hellwach sein.» allen Grund zum Heulen», sagt sie. «Aber was Paulino Goldstein hilft es? Selbst in scheinbar hoffnungslosen Fäl- len gibt es viele schöne Momente. Das motiviert und stärkt das positive Denken.» Zu ihrer Einstel- rungshilfe. Es sind einladende Räume, geflutet lung passen die Worte von Sören Kierkegaard, von Tageslicht. Die Deckenlampe kann Licht in die neben der Tür eines Patientenzimmers hän- verschiedenen Farben abgeben und so die Stim- gen: «Verstehen kann man das Leben rückwärts; mung beeinflussen. Die teils sperrigen Geräte blo- Zimmer mit viel Platz für die leben muss man es vorwärts.» ckieren nicht den Bodenraum, sondern hängen Intensivpflege. Mit dem Umzug in die neue IPS wurde die an der Decke, an der sie sich auch verschieben Arbeit keine andere; die Mitarbeitenden müssen lassen. «Das steigert die Flexibilität», sagt Pau- Schichtwechsel: Teamleiterin weiterhin hohe Anforderungen erfüllen. Aber lino Goldstein. «Wir haben mehr Platz, und alles Claudia Gander (Mitte) infor- der Alltag gestaltet sich in dieser Umgebung viel wirkt aufgeräumter.» Eine Erleichterung ist auch miert die Tagescrew. angenehmer. «Wie Tag und Nacht» seien die alte der Deckenlift, mit dem sich die Patientinnen und Dank abgetrenntem Vorraum und die neue Abteilung im Vergleich, meint Pau- Patienten aus dem Bett heben lassen. sind weniger Störungen nötig. PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 17
Auffallend ist die Ruhe. In der neugebauten IPS ist viel mehr Intimsphäre gewährleistet als vorher, und der geringere Lärmpegel reduziert die akute Verwirrtheit («Delir»). Ihre Daten erfassen die Pfle- genden im Computer im Zimmer oder – vor allem nachts – in einem abgetrennten Vorraum. Dieser ist so konzipiert, dass das Personal jeweils zwei Zimmer gleichzeitig im Blick hat. Lippen lesen Wer auf einer IPS arbeitet, benötigt ein Flair für Technik. «Es ist faszinierend, welche Möglich- keiten wir heute haben», sagt Goldstein. «Da ist es von Vorteil, Grundkenntnisse und Interesse an den Geräten mitzubringen.» Ein Beispiel ist das Gerät, mit dem hochgelähmte Personen Logopädin Sarah Stierli (hinten) sich bemerkbar machen können. In all den Jah- bei einem beatmeten Patienten. ren hat Goldstein auch gelernt, Lippen zu lesen: Gruppe mit starkem Zusammenhalt: «Der Spirit Vorne: HNO-Spezialist Dr. med. «Irgendwie schaffen wir es immer, miteinander im Team ist gewaltig», sagt Goldstein. Er sitzt beim Werner Müller (LUKS). zu kommunizieren.» Frühstück in der grosszügigen Lounge, zu der Zehn Kilometer spult Paulino Eine Pflegefachperson ist auch eine Anlauf- auch die Patientinnen und Patienten mit ihren Goldstein (links) täglich ab. stelle. Sie begleitet Besuchende und Angehörige, Angehörigen Zugang haben. Dann geht er zu sie trägt Anliegen weiter. «Das kann bisweilen einem beatmeten Patienten und unterstützt des- sehr emotional werden», sagt Goldstein. «Es gibt sen Abklärung durch die Logopädin. Goldstein aber auch Menschen, die in solch schwierigen agiert hellwach: «Wir bemühen uns, dass die Momenten ganz nüchtern funktionieren.» Das Betroffenen wieder selbstständig atmen lernen. IPS-Personal koordiniert Therapien aller Art, und Und die Logopäden schauen, dass es wieder mit manchmal einen Coiffeurtermin. Eine wichtige dem Reden und Schlucken klappt.» Voraussetzung in seinem Beruf sei ein hohes Mass Zehn Kilometer legt Paulino Goldstein pro an Empathie, neben Nervenstärke und Flexibili- Tag zurück: «Manchmal fühle ich mich am Abend tät, sagt Goldstein: «Sehr vieles ist nicht planbar. total leer, wie eine ausgepresste Zitrone.» Aber Wir müssen in jeder Situation hellwach sein.» Ein eine andere Berufung kann er sich nicht vorstel- Arzt sagte ihm einmal: «Ihr seid unsere verlänger- len. Es ist wie bei Claudia Gander: Die schönen ten Arme.» Das trifft es ganz gut. Momente geben dem Personal auf der IPS immer wieder neue Kraft und Moral. «Von den Patien- «Der Spirit im Team ist gewaltig» tinnen und Patienten kommt viel zurück zu uns», Die Abteilung im neugebauten Nordtrakt bildet sagt er. «Wenn ich ihre Fortschritte sehe, oder auch Intensiv-Pflegefachpersonen aus; im Sep- wenn sie mir ein Lächeln schenken, wenn etwas tember haben drei Studierende ihr Nachdiplom- gelingt – dann bin ich glücklich.» studium abgeschlossen. Sie seien eine intakte (pmb / febe) 18 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
SEITENBLICK Er kennt alle Geheimnisse Dem geschulten Auge von Meinrad Müller entging bei den Bauarbeiten nichts. Dieser Montag vor fünf Jahren beginnt besonders schön. Meinrad Müller steht auf dem Platz vor dem Schweizer Paraplegi- ker-Zentrum (SPZ) und fragt sich: «Und das alles willst du verlassen?» Die Antwort ist klar: Nein, er gehört zum SPZ. Eine Zeit lang trägt er den Gedanken mit sich, noch ein- mal etwas Neues anzufangen. Doch als er an diesem Morgen zur Arbeit geht, hat sich die Idee eines Jobwechsels erledigt. Im Juli 1990 fing Müller als 23-jähriger Sanitärinstallateur an, drei Monate vor der Eröffnung der Klinik. Er nahm die ers- ten Anlagen in Betrieb. Er stieg zum Leiter Gebäudetechnik auf, wurde Technik- und Baukoordinator sowie stellvertretender Lei- ter der Abteilung Technik & Sicherheit. Bessermacher, nicht Besserwisser Als das Neu- und Umbauprojekt in die Umsetzung ging, übernahm er die Funk- tion des Bindeglieds zwischen Stiftung und Bauleitung. Er koordinierte die Hand- werker, tauschte sich mit den Fachplanern aus, wusste, was wann und wo stattfand. Auch verantwortete er viele Bauabnahmen: Wurde sorgfältig gearbeitet? Muss nachge- sind bereits registriert, von Zimmern über und Bauten ist er für die Bewirtschaftung bessert werden? Seinem geschulten Auge Sanitärräume bis zu Schächten. Müller der Immobilien auf dem Campus zustän- entging nichts. kennt jeden Winkel: «Es gibt keinen Raum, dig. Er stellt die Schnittstellenfunktion in Dank seiner Erfahrung sah er nicht nur den ich nicht gesehen habe.» Wer ihm die den Projekten sicher und bringt die Anfor- Probleme, sondern oft auch eine Lösung. Abkürzung «1P 2.27» nennt, bekommt die derungen von Bauherr, Nutzenden, Betrieb Und wurden seine Vorschläge einmal nicht Antwort, es handle sich um das WC neben und Instandhaltung ein. Sein Pensum hat er umgesetzt, kam später eine Entschuldigung: dem Lift im Pflegetrakt Ost. Er hat den Über- leicht reduziert, um sich seinen Aufgaben «Ja, du hattest recht ...» Der 53-Jährige blick über Steigzonen, Wasserleitungen und als frisch gewählter Nottwiler Gemeinderat erzählt dies mit einem feinen Lächeln und Stromzufuhr, über alles, was irgendwie mit widmen zu können. fügt an: «Als Praktiker folge ich nur der Technik zu tun hat. Er weiss, wo es ist, wie Nottwil wurde zu seiner Heimat. Hier Logik. Ich wollte nie ein Besserwisser sein, es dorthin kam, wie es funktioniert. wohnt Meinrad Müller mit seiner Frau, mit sondern ein Bessermacher.» der er zwei erwachsene Töchter hat. «Ich Als der gebürtige Entlebucher vor Neue Aufgabe habe auch noch eine Million Mitarbeiterin- dreissig Jahren nach Nottwil kam, war er Sein Wissensschatz wurde durch 25 Jahre nen», sagt er mit einem Augenzwinkern – Teil eines kleinen Teams. Klinik und Cam- bei der Betriebsfeuerwehr vertieft, 13 Jahre und erzählt von seinem Hobby, dem Imkern. pus hatten längst nicht die Dimension von lang war er ihr Kommandant. Als junger Seine achtzehn Bienenvölker produzieren heute. Er kannte alle Mitarbeitenden mit Handwerker in Nottwil lernte er Guido A. einen begehrten Honig. «Im Bienenhaus bin Namen. Und wenn jemand das Unter- Zäch kennen, den Gründer des SPZ. Mit ihm ich in einer ganz anderen Welt», sagt er. nehmen verliess, gab es manchmal einen pflegt der Mitarbeiter der ersten Stunde «Da kann ich gut abschalten.» Abschalten, «feuchtfröhlichen Ausstand». noch heute einen guten Kontakt. um Energie zu tanken. Um wieder fit zu sein Blickt Meinrad Müller heute über den Mit dem Ende des Bauprojekts hat für die vielen Arbeiten auf dem Campus, die Campus, denkt er: «Das ist schon eine Rie- Meinrad Müller eine neue Aufgabe über- auf ihn warten. sengeschichte.» Über 4700 Raumnummern nommen: Als Verantwortlicher Immobilien (pmb / rob) PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 19
«Mein erstes Ziel war nicht, wieder gehen zu können, sondern trotz allem zufrieden zu leben.» Karin Kaiser
BEGEGNUNG Mit dem Schicksal hadern? Sicher nicht! Karin Kaiser ist nach einem Velounfall inkomplett querschnittgelähmt. Die begeisterungsfähige Ostschweizerin hat wieder zurück in die Arbeitswelt gefunden – und verbreitet einen ansteckenden Lebensmut. Es ist eine Oase der Ruhe. Karin Kaiser sitzt am suchung ans Unispital in Zürich. Als er nach der Teich in ihrem Garten und taucht die Füsse ins Heimkehr erschöpft ins Bett fällt, bricht sie zu Wasser. Sie blickt Richtung Säntis, dem majes- einer Trainingsrunde mit dem Rennrad auf. Die tätischen Berg in der Ferne, als sie eine überra- dreistündige Tour soll auf den Hemberg führen; schende Aussage macht: «Es klingt vielleicht selt- nahrhaft und doch Routine. sam, aber die Zeit nach dem Unfall hat mir die Nach 45 Minuten erreicht sie Herisau, den Augen geöffnet. Ich habe Dinge erlebt, die ich Oberkörper windschlüpfrig nach vorne gelegt, nicht mehr missen möchte.» die Unterarme eng zusammen auf dem Spezial- Die 48-Jährige ist im appenzellischen Ur- lenker. Als sie aufschaut, sieht sie plötzlich eine näsch aufgewachsen. Sie macht eine Lehre als stehende Autokolonne. Um einen Aufprall zu Betriebsassistentin bei der Post, wird dreifache vermeiden, will sie aufs Trottoir ausweichen. Sie Mutter und lebt mit ihrer Familie in Schweizers- reisst am Lenker, zieht nach rechts. «Das Velo holz, einem idyllischen Ortsteil von Bischofszell macht nicht, was ich will», schiesst es ihr durch TG mit rund dreihundert Einwohnern. Als sie sich den Kopf. Das Vorderrad bleibt hängen, es ist ihre von ihrem Mann trennt, bleiben sie und die Kin- letzte Erinnerung vor dem Sturz. der im Haus. Die Fasnächtlerin schliesst sich der Guggenmusik «Näbelhusaren» an und lernt dabei Das Ziel: zufrieden leben Urs Kaiser kennen. 2002 heiraten die beiden – am Autofahrer und Passantinnen leisten erste Hilfe. 11.11., dem Beginn der Fasnacht. Karin Kaiser wird ins Kantonsspital St. Gallen ge- Im Jahr 2009 entdeckt die begeisterungsfä- bracht und operiert. Zwei Tage später folgt der hige Frau den Laufsport. Sie hatte bisher kaum zweite Eingriff. Zwei Halswirbel sind gebrochen, Sport gemacht, jetzt rennt sie regelmässig und ist dazu ein Brustwirbel, sämtliche Rippen auf der bald in so guter Verfassung, dass sie sich an ihren rechten Seite und das Schulterblatt. Sie hat ein ersten Halbmarathon heranwagt. Schädel-Hirn-Trauma und eine leichte Hirnblu- tung, eine Rippe hat die Lunge durchbohrt. Die Auf einmal Triathletin Diagnose «inkomplette Querschnittlähmung» löst Im August 2017 ist sie zufällig in Hüttwilen, wo bei ihr keine besonderen Emotionen aus. Karin gerade ein Triathlon-Wettkampf stattfindet. Karin Kaiser hat nicht das Gefühl, ihr würde der Boden Kaiser faszinieren die Velos, bald weiss sie: Ich unter den Füssen weggezogen. möchte selber einmal einen Triathlon absolvieren. Sie hat nie gefragt, weshalb das Ausweich- Sie informiert sich über die Sportart, saugt alles manöver misslungen ist. Auch die Einstellung zum Wissenswerte auf, kauft ein Triathlon-Rennrad. Leben hat sich seit dem Unfall nicht geändert: Bald absolviert sie ein Trainingslager auf Mallorca. «Ich hadere nicht mit dem Schicksal, sondern «Halbbatziges», das kennt sie nicht. nehme die Situation an. Mein grosses Ziel war In ihrem Beruf auf der Post ist sie für die Brief- es nicht, wieder gehen zu können, sondern trotz zustellung zuständig und dauernd in Bewegung. allem zufrieden zu leben.» Ihr Mann ergänzt: Daneben trainiert sie und kümmert sich um ihren «Karin ist positiv bis zum Gehtnichtmehr.» Mann Urs, der 2014 an Leukämie erkrankt ist. Am Als die Eltern sie im Spital besuchen, sieht sie 1. Oktober 2019 begleitet sie ihn zu einer Unter- ihren Vater zum ersten Mal weinen. «Karin, du sitzt PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0 21
BEGEGNUNG ab jetzt im Rollstuhl», hört sie und antwortet: gilt und sich mit Beginn des Lockdowns in der «Ja nu. Die Welt geht deswegen nicht unter.» Sol- Schweiz erst recht abschottet. Sie spürt, wie sehr che knappen, starken Aussagen sind typisch für er sie braucht; aber auch, wie sehr sie seine Nähe diese bemerkenswerte Frau. Nie versinkt sie in sucht, erst recht in diesen seltsamen Zeiten. Selbstmitleid, stets denkt sie: «Irgendwie schaffe Gemeinsam überwinden sie Wochen, in ich das schon.» denen die Welt wegen des Virus aus den Fugen gerät. Eine starke Stütze sind auch ihre drei Kin- Video-Botschaft der Belegschaft der aus der ersten Ehe. Nur einmal kommt bei Von St. Gallen wird sie nach Nottwil ans Schwei- Karin Kaiser Krisenstimmung auf – beim ersten zer Paraplegiker-Zentrum verlegt. Als sie von der Versuch, ihren Garten vom Unkraut zu befreien. Intensivstation auf die Reha-Station kommt, kul- lern ihr erstmals Tränen über die Wangen – nicht, weil ihr die Aussicht auf ein Leben im Rollstuhl « Die Zeit nach dem Unfall hat mir die bewusst wird, sondern weil sie per WhatsApp eine spezielle Video-Botschaft bekommen hat. Augen geöffnet. Ich habe Dinge erlebt, Die Mitarbeitenden des Briefzentrums Hecht- acker St. Gallen wünschen Karin Kaiser viel Kraft die ich nicht mehr missen möchte.» und senden ihr Genesungswünsche. Karin Kaiser Teamleiterin Jasmina Bronja ist die treibende Kraft hinter dieser Aktion. Sie war eine der ers- Nach zehn Minuten gibt sie auf, sie kann diese ten Besucherinnen im Kantonsspital St. Gallen, Arbeit nicht ausführen und denkt sich: «Mein später fährt sie regelmässig aus der Ostschweiz Gott, jetzt verwildert alles.» Rückblickend lacht nach Nottwil, heute ist sie eine Freundin gewor- sie herzhaft über diesen Moment. den. «Für uns alle war die Nachricht von Karins Ihr Zustand verbessert sich zusehends. Im Unfall ein Schock», sagt sie. «Ich habe gelitten, Herbst kann sie bereits ohne Rollstuhl und Geh- weil ich noch nie einen so positiven Menschen hilfe ein paar Meter gehen, später meistert sie kennenlernte. Und wie zuverlässig sie ist.» Sie hat sogar einige Treppenstufen. Heute sagt sie: «Ich noch Karins Bemerkung aus der Intensivstation hoffe, dass es noch etwas besser wird. Aber ich im Ohr: «Jasmina, es tut mir mega Leid. Jetzt muss glaube nicht, dass ich je wieder wandern werde. jemand anderes meine Arbeit erledigen.» Ich muss einen sehr hohen Aufwand betreiben, In Nottwil macht die Patientin schnell Fort- damit ich nur schon die derzeitige Form aufrecht- schritte. Sie merkt aber auch, dass parallel zur erhalten kann.» Rehabilitation ein zweiter Kampf läuft – der um ihre Beziehung mit Urs. Viele Menschen besu- «Mach dir keine Sorgen …» chen sie, auch ihr Mann, aber eine Kommunika- Emotional wird es für die Rollstuhlfahrerin, als sie tion findet kaum mehr statt, weil er anderen den Anfang Juni wieder die Arbeit bei der Post auf- Vortritt lässt. Karin Kaiser belastet die Situation. nimmt. Ihre Kolleginnen und Kollegen empfan- Am ersten Novemberwochenende lädt sie kurzer- gen sie mit Blumen und Applaus. «Das war sehr hand allen Besuch aus, reserviert ein Zimmer im eindrücklich», erzählt Stefan Zürcher, der stellver- Hotel Sempachersee auf dem Campus und zieht tretende Leiter der Briefzustellregion St. Gallen sich mit Urs zurück. Das Paar führt ein klärendes und Appenzell. «Für uns war es ein bewegender Gespräch. «Das war eminent wichtig, um Miss- Moment, Karin wieder bei uns zu haben. Bereits verständnisse auszuräumen», sagt sie. nach zwei Tagen fühlte es sich an, als wäre sie nie Die Gartenpflege ist eines weg gewesen.» ihrer Hobbys. Einige Schritte – mit hohem Aufwand Das ist es, was Karin Kaiser meint, wenn sie Nach knapp sechs Monaten kann Karin Kaiser von Dingen redet, die sie nicht mehr missen Karin und Urs Kaiser geniessen Nottwil verlassen. Sie sehnt sich danach, wieder möchte – das Gefühl, nicht allein gelassen zu die Ruhe am Teich. an der Seite ihres gesundheitlich angeschlage- werden; die Freude, dass so viele Menschen Ungebrochene Bewegungs- nen Mannes zu sein, der als Corona-Risikopatient ihr zu verstehen gaben, für sie da zu sein. Auch freude auf dem Elektro-Dreirad. 22 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
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BEGEGNUNG Rückkehr mit Spalier: Ihre Kollegin- nen und Kollegen empfangen Karin Kaiser mit Blumen. Neuer Arbeitsplatz, gleicher Arbeit- geber: im Büro auf der Post. Winterthur, wo eine Integrationsstelle geschaf- fen worden ist, für die sie bald einmal als Favo- ritin feststand. Nach dem Aufbautraining strebt sie eine Umschulung zur Case Managerin an. Als Schnittstelle zwischen Sozialversicherung, Arbeit- geber und Arbeitnehmer möchte sie betroffenen Menschen bei der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt helfen. «Karin ist gut unterwegs und steckt voller Tatendrang», sagt Nathalie Bregy von ParaWork. «Sie ist bereits weit fortgeschritten in der Verar- beitung ihres Unfalls. Über solche Verläufe der Rehabilitation freue ich mich enorm.» Der Taten- drang – er ist Karin Kaiser nie abhandengekom- men. Heute fährt sie gerne mit dem Dreirad-E- Bike aus. Dass sie nicht mehr ausgiebige Velotou- ren machen kann, nimmt sie gelassen hin. Aber wenn sie eine Gruppe auf dem Rennrad sieht, beobachtet sie diese immer noch so fasziniert wie damals die Triathleten in Hüttwilen. Ihr Unfallvelo hat sie nicht entsorgt, es steht auf einer Rolle im oberen Stock des Einfamilien- hauses. Aber dass sie sich daraufsetzt, das kommt die Chefs hätten sie in Nottwil besucht, erzählt kaum vor. Lieber kümmert sie sich um ihren Karin Kaiser. «Sie wollten aber nicht über meine prächtigen Garten oder liest ein Buch, während Stelle diskutieren, stattdessen sagten sie: ‹Mach ihr die Katzen Sinto und Filou Gesellschaft leisten. dir keine Sorgen.› Diese Freundschaftsbesuche Karin Kaiser findet, dass sie keinen Grund hat, sich werde ich nie vergessen.» zu beklagen: «Mir geht es gut.» Während der Rehabilitation in Nottwil setzt (pmb / febe) sich die Patientin intensiv mit ihrer beruflichen Zukunft auseinander. Coach Nathalie Bregy von der Abteilung ParaWork des Schweizer Paraple- giker-Zentrums begleitet den Prozess ihrer Wie- dereingliederung. «Ich habe sie als Persönlichkeit mit hoher psychischer Widerstandskraft kennen- So hilft Ihr gelernt», sagt Bregy. Mitgliederbeitrag Die Gönnerunterstützung für Mitglieder Kein Grund zum Klagen ermöglichte Karin Kaiser die notwendigen Ihren früheren Aufgaben in der Briefzustellung Umbauten im Haus und ein Elektro-Drei- kann Karin Kaiser nicht mehr nachgehen, sie rad: «Dank der Schweizer Paraplegiker- erledigt stattdessen Administratives im Büro und Stiftung gab es keine finanziellen Probleme, steigert langsam ihr Pensum. Im Oktober wech- dafür bin ich extrem dankbar.» selt sie dann ins Case Management der Post in 24 PARAPLEGIE | D E Z E M B E R 2 0 2 0
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