PHYTOWISSENSCHAFT - Digitale Bibliothek
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PHYTOWISSENSCHAFT ANDREAS KOEBERLE wechselte mit sechs Mitarbeitern von Jena ans neue Michael-Popp-Forschungsinstitut der Universität Innsbruck. 26 zukunft forschung 01/20 Fotos: Andreas Friedle (2)
PHYTOWISSENSCHAFT DIE NATUR ALS APOTHEKE Rund 400.000 Pflanzenarten gibt es weltweit, chemisch beziehungsweise pharmakologisch gut untersucht wurde nur ein Bruchteil davon. Innsbrucker Forscher analysieren das Wirkstoffpotenzial von Pflanzen, um ihnen noch mehr heilende Kraft zu entlocken. I hm wird allerhand nachgesagt. Es soll zu gehen und einen Wirkstoffkandidaten bei Arthritis & Co. die Gelenke wie- zu entwickeln, der Entzündungen nicht der in Schwung bringen, es soll vor nur unterdrückt, sondern gezielt auflöst. Krebs und Herzinfarkt schützen, es soll „Ein erster vielversprechender Wirkstoff- die Hautalterung bremsen, ja es sei sogar kandidat wurde von uns patentiert. Er ist ein Anti-Aging-Mittel der Spitzenklasse: oral verfügbar, metabolisch stabiler als Vitamin E. 1922 erstmals chemisch identi- der körpereigene Vitamin-E-Metabolit fiziert, wurde 1938 seine Struktur aufge- und zeigt vielversprechende Wirkung in klärt. Seither wird an Alpha-Tocopherol, präklinischen Studien zu Bauchfellent- so der Fachausdruck für Vitamin E, ge- zündung, Asthma und Dermatitis“, sagt forscht, unter anderem weiß man, dass der Forscher, der auch die größte Apothe- es als Antioxidans zellschädigende freie ke der Welt nach geeigneten Kandidaten Radikale neutralisiert. In Zell- und Tier- durchstöbern will. Koeberle sucht Pflan- modellen wurde dies mehrmals bestätigt, zen, die über einen hohen Anteil an In- in klinischen Studien allerdings konnte haltsstoffen verfügen, die in Struktur und Vitamin E mit dieser Rolle noch nicht Funktion den körpereigenen Vitamin-E- überzeugen. Warum dies – möglicher- Stoffwechselprodukten sehr ähnlich sind. weise – so ist, zeigten 2018 Innsbrucker Pharmazeutinnen und Pharmazeuten ge- PHYTOVALLEY TIROL Größte Apotheke der Welt meinsam mit Kolleginnen und Kollegen In den vergangenen Jahren wurden in Das Wissen um die Heilkraft der Pflan- aus Deutschland, Frankreich und Italien. Tirol zahlreiche Arbeitsplätze im Bereich zen reicht weit zurück. Schon Dioskuri- „In dieser Studie konnten wir den ent- der Phytowissenschaften geschaffen, des, ein griechischer Arzt im ersten Jahr- zündungseindämmenden Wirkmecha- aktuell arbeiten rund 140 Forscherinnen hundert nach Christus, nannte in seiner nismus von Vitamin E aufklären. Wir und Forscher im Phytovalley Tirol. Neben großen Arzneimittellehre über 600 kata- zeigen, dass die Wirkung von Vitamin dem Anfang 2020 eröffneten Michael- logisierte Heilpflanzen. Auch die klassi- E nicht auf dem Vitamin selbst, sondern Popp-Forschungsinstitut wird seitens der sche Schulmedizin greift auf die Kraft der auf der eines körpereigenen Stoffwech- Universität Innsbruck an den Instituten Natur zurück – so ist Morphin die Leit- selprodukts beruht“, erläutert Andreas für Analytische Chemie & Radiochemie, substanz für starke Analgetika, Kokain Koeberle, der 2018 noch an der Universi- Pharmazie und Botanik an Pflanzenwirk- jene für Lokalanästhetika. tät Jena tätig war und 2019 als erster Pro- stoffen geforscht. Das ADSI, Bionorica „Mehr als 30 Prozent der Arzneistoffe fessor ans neugegründete Michael-Popp- Research, Tirol Kliniken, MCI und weitere lassen sich auf Naturstoffe zurückfüh- Forschungsinstitut der Universität Inns Partner ergänzen das Cluster Phytovalley. ren, einen sehr hohen Anteil haben Na- bruck berufen wurde. Das Stoffwech- „Das Phytovalley ist ein Vorzeigebei- turstoffe z. B. im Bereich der Antibiotika selprodukt, ein Metabolit mit Namen spiel, das mit der engen Verflechtung und Krebsmedikamente“, weiß Koeberle. Alpha-Carboxychromanol, hemmt die zwischen Akademia und Wirtschaft Eine Stärke von Naturstoffen sieht er in Bildung entzündungsfördernder Lipid- weltweit einmalig ist“, sagt Andreas ihrer sehr hohen Vielfalt, etwa in ihrer mediatoren und lässt die systemischen Koeberle, für den Österreich im Bereich 3D-Struktur: „Diese ist von größter Be- Spiegel an entzündungsauflösenden Li- der Phytoforschung „im Vergleich zu deutung, wenn der Naturstoff an einer pidmediatoren ansteigen. „Wir konnten anderen europäischen Staaten stark auf- Zielstruktur im Körper eine Wirkung beschreiben, wo genau der Wirkstoff an gestellt“ ist. Nach Koeberle, den sechs entfalten soll. Man kann sich das verein- der Zielstruktur, der 5-Lipoxygenase, an- Mitarbeiter von Jena nach Innsbruck facht wie einen Schlüssel vorstellen, der greift. Wir konnten auch zeigen, dass er begleitet haben, wird das Michael-Popp- in ein Schloss passen muss. Wenn be- in der Leber gebildet wird und sich stark Forschungsinstitut mit einer zweiten stimmte Schlüsselformen nicht zugäng- in Immunzellen am Ort der Entzündung Professur für Pflanzliche Biotechnologie lich sind – wie das bei synthetischen anreichert“, berichtet Koeberle. ausgestattet, das Berufungsverfahren für Wirkstoffen oft der Fall ist –, dann kann Dieses Wissen will er nun nutzen, um diese Stiftungsprofessur des Landes Tirol man damit auch nicht jedes Schloss öff- in der Entzündungstherapie neue Wege ist am Laufen. nen – d. h. nicht jeden Wirkmechanismus zukunft forschung 01/20 27
PHYTOWISSENSCHAFT adressieren.“ Die komplexen Strukturen So entdeckte er mit seinen heutigen von Naturstoffen haben aber auch einen Kolleginnen und Kollegen der Inns Nachteil: Sie stellen Forschung und Me- brucker Pharmakognosie in vietname- dikamentenentwicklung vor analytische sischen Heilpflanzen einen hochwirk- und synthetische Herausforderungen, samen Naturstoff, der in Immunzellen was sich negativ auf die Herstellungskos- angreift und diese umprogrammiert. „Sie ten niederschlagen kann. Mit ein Grund, bilden daraufhin nicht mehr die entzün- warum die großen Pharmaunternehmen dungsfördernden Leukotriene, die z. B. aus der Naturstoffforschung bereits vor bei Asthma die Kontraktion der Bron- Jahren weitgehend ausgestiegen sind, chien auslösen, sondern vielmehr ent- „was eine Lücke in die Entdeckung neuer zündungsauflösende Lipidmediatoren, Grundstrukturen reißt.“ In Tirol will sich wie Resolvine und Protectine, welche Koeberle nun – in interdisziplinärer Ko- die Entzündungsreaktion aktiv been- operation mit verschiedenen Innsbrucker den“, beschreibt Koeberle die Wirkung Arbeitsgruppen – der Erforschung von des Naturstoffs. Naturstoffen widmen, der Schwerpunkt Bei Studien zum programmierten Zell- liegt auf Entzündungen und Erkrankun- tod, darunter der Apoptose, stieß er mit ANDREAS KOEBERLE (* 1981 in Sig- gen mit entzündlichem Anteil. Dabei seiner Forschungsgruppe auf zwei neue maringen/Baden-Württemberg) studierte setzt Koeberle auf Lipide, besser bekannt Lipokine – Lipide mit hormonartiger Wir- Biochemie an der Universität Tübingen, als Fette. kung – aus dem Bereich der Membranli- wo er 2009 in Pharmazeutischer Chemie pide. Die erste Lipid-Gruppe unterdrückt promovierte. Nach einem Postdoc-Auf- Gute & böse Fette zelluläre Stressreaktionen, wie z. B. die enthalt an der Universität Tokio wurde „Bei Fetten darf man nicht nur an Kör- Autophagie, mittels der die Zelle eigene er 2011 Gruppenleiter am Lehrstuhl für perfett denken. Jede Zelle unseres Kör- Strukturen abbaut, um sie zu verwerten. Pharmazeutische/Medizinische Chemie an pers enthält zehn- bis hunderttausend Diese Lipid-Gruppe reguliert aber auch der Universität Jena, wo er 2012 auch die verschiedene Lipidmoleküle. Das sind andere stressassoziierte Signalwege und Leitung der institutionellen Lipidomics- weitaus mehr, als es Proteine im Körper Prozesse, was sich letzten Endes fördernd Einrichtung übernahm. Der mehrfach gibt“, informiert Koeberle. Lipide geben auf die Zellvermehrung und hemmend ausgezeichnete Forscher habilitierte sich der Zelle Struktur, dienen aber auch als auf die Apoptose auswirkt. Die zweite 2016. 2018 folgte eine Gastprofessur Lipid-Gruppe unterdrückt die Aktivie- an der Universität Wien in der Abteilung „Naturstoffe wurden über rung eines für das Überleben der Zellen für Pharmakognosie. Seit Oktober 2019 wichtigen Enzyms. „Unterstützt durch ist er Universitätsprofessor für Pflanz- Jahrmillionen im Zuge der das Phospholipid-Forschungszentrum liche Wirkstoffforschung am Michael- Evolution optimiert, um mit der Universität Heidelberg untersuchen Popp-Forschungsinstitut der Universität Biomolekülen in Wechselwirkung wir aktuell, wie wir mittels Phospholipi- Innsbruck. Finanziert wird das Institut treten zu können.“ Andreas Koeberle den aus Algen den Mechanismus nutzen über die Michael A. Popp nature science können, um Tumorresistenzmechanis- foundation und das Land Tirol. Popp ist men zu unterdrücken“, schildert Koeber- Vorstandsvorsitzender des deutschen Energiespeicher. Das Interesse von Koe le. Für seine Arbeit kann der Forscher auf Phytopharmakaunternehmens Bionorica berles Team gilt einer anderen Eigen- eine Lipidomics-Plattform zurückgreifen, SE, das seit 2005 die Forschungstochter- schaft: „Lipide wirken auch als Signal- die er in seiner Jenaer Zeit etabliert hat. firma Bionorica Research am Standort moleküle, das heißt sie haben hormonar- „Sie ermöglicht es uns, ein großes Spekt- Innsbruck betreibt. tigen Charakter.“ Von Prostaglandinen rum an Lipiden gleichzeitig zu analysie- etwa weiß man, dass sie die klassischen ren und damit zu untersuchen, wie sich Symptome einer Entzündung – Rötung, Naturstoffe auf Lipidprofile im Körper neistoffentwicklung seien, so Koeberle, in Schwellung, Schmerz und Fieber – ver- auswirken“, sagt der Biochemiker und Innsbruck fakultäts- und universitäts- mitteln. „Für den Großteil der Lipidmo- ergänzt: „Am Michael-Popp-Forschungs- übergreifend vertreten, „angefangen von leküle sieht das anders aus. Über deren institut haben wir ein High-Tech-Labor der Naturstoffanalytik und -isolierung bis biologische Aufgaben ist oft nur sehr mit Ultrahochleistungschromatografie, hin zur Durchführung von präklinischen wenig bekannt, jedoch kristallisiert sich Ionenmobilitätsspektrometrie und Mas- und klinischen Studien“. Zudem wird der immer mehr heraus, dass die Natur nicht senspektrometrie. Nur wenige Labore Wissenstransfer durch die Nähe zu loka- grundlos eine solche Vielfalt geschaffen in Europa sind in der Lage, eine solche len Unternehmen wie z. B. die Bionorica hat, sondern dass viele dieser Lipide spe- Lipidanalytik in der Tiefe und mit der Research entscheidend gefördert. Als Ge- zielle Aufgaben im Körper wahrnehmen. Empfindlichkeit durchzuführen.“ samtpaket ergibt dies eine kritische Mas- Ein gezielter Eingriff in das Lipidprofil Doch nicht nur die Infrastruktur, auch se, für die der Innsb rucker Chemiker durch Naturstoffe birgt somit großes das Know-how im Umfeld stimmen ihn Günther Bonn einen mittlerweile als Mar- therapeutisches Potenzial“, ist Koeberle für seine zukünftige Arbeit optimistisch. ke rechtlich geschützten Begriff prägte – überzeugt. Sämtliche Bereiche der pflanzlichen Arz- das „Phytovalley Tirol“. ah 28 zukunft forschung 01/20 Foto: Andreas Friedle
PHYSIK FEINSTAUB IN DER STADT Dämpfe von Salpetersäure und Ammoniak, die in den Zentren der Städte vorwiegend aus Autoabgasen entstehen, tragen zur Bildung von Feinstaub bei. VISUALISIERUNG von Luft-Austauschprozessen in einer Megacity: Saubere Luft (blau) vermischt sich mit der mit Schadstoffen angerei- cherten Luft (gelb), die vor allem durch verkehrsbedingte Emissionen auf Straßenniveau entsteht. I n urbanen Ballungszentren führen ho- für die ungleichmäßige Verteilung der wärmeren Bedingungen sind die Teilchen he Konzentrationen von Feinstaub zu Schadstoffe sind einerseits die hohen zu flüchtig und können daher keinen Bei- erheblichen Beeinträchtigungen der Schadstoffemissionen auf Straßenniveau. trag zum Wachstum liefern. Die Bildung Gesundheit. Besonders in den Winter- Andererseits dauert es einige Minuten, von Aerosolpartikeln aus Ammoniak und monaten ist die Situation in vielen asia bis sich die Straßenluft mit Luft aus der Salpetersäure tritt vermutlich nicht nur in tischen Mega-Citys dramatisch, wenn Umgebung vermischt. Dies führt dazu, Städten und Ballungsgebieten auf, son- Smog die Sichtweite stark reduziert und dass sich die beiden Schadstoffe Ammo- dern auch gelegentlich in höheren Luft- das Atmen schwerfällt. Feinstaubparti- niak und Salpetersäure in der Straßenluft schichten der Atmosphäre. Ammoniak, kel, deren Durchmesser kleiner als 2,5 kurzzeitig stark anreichern. Die hohen das hauptsächlich in der Landwirtschaft Mikrometer ist, entstehen vorwiegend di- Konzentrationen – wie die CLOUD-Ex- entsteht, gelangt durch aufsteigende rekt durch Verbrennungsprozesse. Darü- perimente zeigten – schaffen Bedingun- Luftströmungen aus bodennaher Luft in ber hinaus entsteht Feinstaub auch in der gen, unter denen die beiden Schadstoffe die obere Troposphäre, und Salpetersäure Luft, indem sich Gase aus organischen an Nanopartikeln kondensieren können: entsteht durch Blitze aus dem Stickstoff Substanzen, Schwefelsäure, Salpetersäure An wenige Nanometer großen Kondensa- der Luft. oder Ammoniak an winzige Nanoparti- tionskernen bildet sich Ammoniumnitrat „Es bilden sich bei den dort herrschen- kel anlagern. Rätselhaft war bisher, wie und lässt diese Partikel rasch anwachsen. den niedrigen Temperaturen neue Am- diese Feinstaubpartikel aus Gasen in den moniumnitratpartikel, die als Kondensa- Straßenschluchten von Mega-Citys neu Rasantes Wachstum tionskeime bei der Wolkenbildung eine gebildet werden. Diese Nanopartikel wachsen innerhalb Rolle spielen“, verdeutlicht der Ionen- Am Teilchenbeschleuniger CERN in weniger Minuten sehr rasch an. Sie wach- physiker Armin Hansel von der Univer- Genf hat ein internationales Team mit sen teilweise einhundert Mal schneller, sität Innsbruck die dadurch auch beste- Beteiligung von Forscherinnen und For- als dies bisher von anderen Schadstof- hende Klimarelevanz des Forschungser- schern der Universitäten Wien, Innsbruck fen, wie zum Beispiel Schwefelsäure, gebnisses. Hansel hat mit seinem Team und Frankfurt im internationalen Atmo- bekannt war. In urbanen Ballungszent- am Institut für Ionenphysik und Ange- sphären-Forschungsprojekt CLOUD in ren liefert der beobachtete Prozess einen wandte Physik im Rahmen eines FFG- einer Klimakammer Bedingungen nach- wichtigen Beitrag zur Bildung von Fein- Projektes ein neues Messverfahren gestellt: In den Straßenschluchten einer staub im Wintersmog. Denn der Prozess (PTR3-TOF-MS) entwickelt, um die Spu- Stadt kommt es zu einer lokalen Erhö- läuft nur bei Temperaturen von weniger rengase beim CLOUD-Experiment noch hung von Schadstoffen. Die Ursache als etwa plus fünf Grad Celsius ab. Bei empfindlicher zu analysieren. mb Foto: Neil M. Donahue zukunft forschung 01/20 29
MIKROBIOLOGIE CORONAVIREN IM ABWASSER Das regionale Auftreten von Coronaviren lässt sich im Abwasser frühzeitig erkennen. Österreichische Wissenschaftler arbeiten am Aufbau eines Monitoringsystems. Z ur Eindämmung des Coronavirus Zwei Forschungsgruppen – der Grup- haben sich bereits Anfang April zum SARS-CoV-2 ist es entscheidend, pe um Heribert Insam und einem Team „Coron-A“-Konsortium zusammenge- Infektionsketten frühzeitig zu er- um Norbert Kreuzinger an der TU Wien schlossen, um gemeinsam herauszufin- kennen. Nur so können neben den ge- – gelang es im April gleichzeitig, das Erb- den, wie das Auftreten von SARS-CoV-2 nerellen Maßnahmen zielgerichtete Ak- material von SARS-CoV-2 im Zulauf von in häuslichem Abwasser mit der Anzahl tionen gesetzt und die wirtschaftlichen zwei österreichischen Kläranlagen nach- der Infektionen im Einzugsgebiet von Auswirkungen solcher Maßnahmen be- zuweisen. „Solche Tests können einen Kläranlagen im Zusammenhang steht. grenzt werden. „Eine erfolgversprechen- besseren und rascheren Einblick in die de Möglichkeit, um einen umfassenden Ausbreitung von COVID-19 erlauben“, Kontrollstelle Kläranlage Überblick über die Ausbreitung der betont Insam. „Wir wollen ein Früh- Die Messungen im Abwasser sollen auch Krankheit und den Verlauf der Pandemie warn- bzw. Monitoringsystem aufbauen, neue Information über die Dunkelziffer zu erhalten, bietet die Untersuchung von mit dessen Hilfe die Gesundheitsbehör- an Infektionen liefern. Ein relevanter Teil Abwasserproben“, erklärt Heribert Insam den rasch Informationen über Auftreten an Infizierten, auch solche mit keinen vom Institut für Mikrobiologie der Uni- und Verbreitung des Virus erhalten.“ For- oder nur milden Symptomen, scheidet versität Innsbruck. „Im Abwasser ist das schungsteams der Medizinischen Univer- nämlich das Virus über den Stuhl aus. Virus noch bruchstückhaft vorhanden, es sität Innsbruck, der Technischen Univer- „Da die Fäkalien am Knotenpunkt Klär- ist aber nicht mehr infektiös.“ sität Wien und der Universität Innsbruck anlage zusammenlaufen, können aus der 30 zukunft forschung 01/20 Fotos: colourbox.de (1), AWV Achental-Inntal-Zillertal (1)
MIKROBIOLOGIE die Wissenschaftler mit Kläranlagen aus mehreren Regionen Österreichs zusam- men: den Kläranlagen Innsbruck, Ischgl, Strass/Zillertal sowie Zirl in Tirol, Salz- burg und Zell am See im Land Salzburg und Hohenems in Vorarlberg. Neben den großen Südtiroler Kläranlagen Bozen und Meran sind noch mehrere kleinere Anlagen im Vinschgau in das Projekt eingebunden. Ebenfalls als Partner mit im Boot ist die Kläranlage des Abwasser- IM ZULAUF österreichischer Kläranlagen zweckverbandes Liechtenstein. konnten Reste des SARS2-Coronavirus nachgewiesen werden. Auch in der Kläran- Monitoringsystem lage Strass/Zillertal wird das Abwasser auf Eine Herausforderung stellt auch die Da- Virus-Rückstände untersucht. tenauswertung dar, wobei es darum geht, zu den Einzugsgebieten der Kläranlagen passende Infektionszahlen bereitzustel- Spuren des Virenerbguts können detek- len, um Korrelationen zwischen den ge- tiert werden“, betont Heribert Insam. messenen Virenwerten im Abwasser und „Das ist von zentraler Bedeutung, weil der Krankheitsausbreitung herstellen die Menge viraler RNA im Abwasser zu können. „Dieses Monitoring könnte weit unter jener von infektiösen Tröpf- Gesundheitsbehörden unterstützen, die chen liegt.“ Wichtig ist zu betonen, dass über Zeitpunkt und Schwere von Inter- das Abwasser selbst nicht als Infektions- ventionen wie Kontaktvermeidung oder quelle gilt. „Auch wenn Viren-RNA im Quarantänemaßnahmen entscheiden Wasser nachgewiesen werden kann, be- müssen“, ist Heribert Insam überzeugt. deutet das nicht, dass vom Wasser eine „Den Behörden wird damit ein Instru- Analyse von dort entnommenen Proben Infektionsgefahr ausgeht“, beruhigen die ment in die Hand gegeben, mit dem die Rückschlüsse auf die Verbreitung der Wissenschaftler. Wirksamkeit der gesetzten Interventio- Infektionen in der Bevölkerung gezogen nen zeitnah abgeschätzt werden kann.“ werden“, erläutert der Mikrobiologe Wiederaufflammen erkennen An der Universität Innsbruck arbeiten Heribert Insam. „Dadurch kann ein zu- Derzeit arbeiten die beiden PhD-Studie- das Institut für Mikrobiologie sowie der sätzliches Instrument für ein aussage- renden Rudolf Markt und Nina Lackner Arbeitsbereich für Umwelttechnik ge- kräftiges Breiten-Screening bereitgestellt sowie die studentische Mitarbeiterin Eve- meinsam mit drei Ausgründungen der werden.“ lyn Peer am Institut für Mikrobiologie an Universität – BioTreaT, Sinsoma und hy- Ganz ähnliche Methoden wurden der Optimierung der Probenaufbereitung dro-IT – an dem Vorhaben: BioTreaT er- zum Nachweis von SARS-CoV-2 im Ab- und Analytik. Dies geschieht in enger hielt im Rahmen des Corona Emergency wasser auch bereits in den Niederlanden Abstimmung mit den weiteren Partnern Calls der Bundesregierung eine finanzi- und den USA eingesetzt. Mit diesen For- des Coron-A-Konsortiums vom Institut elle Förderung für das Vorhaben. Die schungsgruppen stehen die „Coron-A“- für Gerichtsmedizin der Medizinischen Regierung stellt dafür über die österrei- Partner in engem Kontakt und arbeiten Universität Innsbruck, der Agentur für chische Forschungsförderungsgesell- gemeinsam an der Umsetzung des Ver- Gesundheit und Ernährungssicherheit schaft FFG entsprechende Mittel zur Ver- fahrens in Österreich. Die ersten Schritte GmbH (AGES) und der TU Wien. „In fügung, welche die Forschung im Kampf in Innsbruck wurden vom Förderkreis fast allen bisher untersuchten Abwasser- gegen das Coronavirus beschleunigen 1669 der Universität Innsbruck finanziell proben konnten wir virale RNA nach- sollen. cf unterstützt. weisen und somit den Proof of Concept Anhand von Abwasserproben von erbringen“, freut sich Rudolf Markt, von Kläranlagen aus Tirol und dem Groß- dem auch die zündende Idee zu diesem raum Wien konnten die Wissenschaft- Projekt stammt. lerinnen und Wissenschaftler im April Das Team will nun Abwasserproben erste reproduzierbare Ergebnisse erzie- in unterschiedlicher räumlicher und len. Mit der auch für den Nachweis beim zeitlicher Auflösung sammeln und ana- Menschen eingesetzten PCR-Methode lysieren, um die Grundlagen für ein ab- wird dabei nicht das aktive, infektiöse wasserepidemiologisches Monitoring zu Virus nachgewiesen, sondern dessen vi- schaffen. Ein regionales Wiederaufflam- Die Mitglieder aus Nordtirol, Osttirol, Vorarlberg, Südtirol, Liechtenstein und Luxemburg unterstützen die Universität als rale RNA. Der Test reagiert somit auch men der Epidemie soll sich dadurch früh- Netzwerk von Verbündeten, als Brücke in die Gesellschaft – sowohl ideell als auch materiell. auf Virenbruchstücke. „Selbst geringste zeitig erkennen lassen. Aktuell arbeiten Infos: www.uibk.ac.at/foerderkreis1669 zukunft forschung 01/20 31
ÖKOLOGIE KLEINE URSACHE, GROSSE WIRKUNG Wasserflöhe gehören zu den kleinsten Bewohnern in heimischen Seen, sind für ein funktionierendes Ökosystem aber entscheidend. Der Ökologe Markus Möst untersucht diese Kleinstlebewesen im Bodensee. DIE IM BODENSEE heimische Wasserfloh- Art Daphnia longispina steht im Zentrum des Forschungsinteresses von Markus Möst (1). Der Forscher vom Institut für Ökologie der Universität Inns bruck untersucht auch sogenannte Dauereier, die im Seesediment gelagert sind (2, bei einer Probenentnahme an Bord). Durch die Schichten im Bohr- kern des Seesediments lassen sich die daraus gewonnenen Dauer- eier gut datieren (3, im Bild ein Ausschnitt des 1 Bohrkerns). 2 3 W asserflöhe zählen zur Gattung gewährleisten eine gute Wasserqualität, wasser-Ereignis zu viele Schwebstoffe ins der Krebse, sie sind daher auch indem sie Algen und Bakterien aus dem Wasser eingetragen, was dazu führte, dass keine Flöhe. Sie leben im uferfer- Wasser filtrieren. Zudem sind sie eine die Daphnien-Population im See zugrunde nen Freiwasserbereich, dem sogenannten wichtige Futterquelle für größere Wasser- ging. Das Fehlen dieser Art hatte zur Fol- Pelagial, und übernehmen hier eine zent- bewohner. Wie wichtig Wasserflöhe für ge, dass auch der gesamte Fischbestand im rale Funktion“, erklärt Markus Möst vom das Ökosystem See sind, verdeutlicht Möst See zusammengebrochen ist.“ Institut für Ökologie. Daphnien, so die la- anhand eines Beispiels: „Im Brienzersee Unter dem Titel „SeeWandel: Leben im teinische Bezeichnung der Wasserflöhe, im Kanton Bern wurden durch ein Hoch- Bodensee – gestern, heute und morgen“ 32 zukunft forschung 01/20 Fotos: Andreas Friedle (1), Markus Möst (2), Jana Isanta Navarro (1)
ÖKOLOGIE untersuchen Wissenschaftlerinnen und internationaler Kollegen Wasserfloh-Po- Um die Entwicklung der Hybridisie- Wissenschaftler aus sieben Forschungs- pulationen aus dem Bodensee sowie aus rungen der zwei Daphnien-Arten über einrichtungen Deutschlands, Österreichs zahlreichen deutschen, österreichischen, eine gewisse Zeit zu untersuchen, ent- und der Schweiz den Einfluss von Nähr- Schweizer und nordamerikanischen Seen nahmen die Ökologen Bohrkerne aus stoffrückgang, Klimawandel, gebiets- und sequenzierten ihre Genome. Der Ver- dem Seesediment und untersuchten die fremder Arten und anderer Stressfakto- gleich dieser Daten sollte zeigen, ob und dort abgelagerten Dauereier. „Aufgrund ren auf das Ökosystem Bodensee, seine zu welchem Grad Hybridisierungen der der oftmals ungestörten, chronologisch Biodiversität und Funktionsweise sowie beiden Arten Daphnia longispina und Daph- abgelagerten Schichten in den Bohrker- die menschliche Nutzung am See. Möst nia galeata stattgefunden haben. nen des Seesediments können wir die koordiniert den Teilbereich Pelagial des Diese Untersuchungen kombinier- daraus entnommenen Dauereier sehr Interreg-Projektes. ten die Innsbrucker Wissenschaftler mit gut datieren. Die Analyse zeichnet dann einem innovativen Ansatz. Sie nutzten ein sehr deutliches Bild der Entwicklung Nährstoff-Überschuss einen Reproduktionsmechanismus, den über ein relativ langes Zeitfenster in die Die im Bodensee heimische Art des Was- die Daphnien unter Stress anwenden. Vergangenheit, zu dem wir sonst keinen serflohs, Daphnia longispina, ist perfekt an „Daphnien vermehren sich normalerweise Zugang hätten“, erklärt Möst. Sein Team das Leben in Alpenseen angepasst und klonal, das heißt, sie teilen sich ohne Paa- hat Sedimentkerne aus drei Seen entnom- kann sehr gut in nährstoffarmen Gewäs- rungsvorgang. Wenn ihre Nahrung limi- men, um ein möglichst breites Spektrum sern überleben. Im Zuge der sogenannten tiert ist, ändern sie allerdings ihre Strate- an Ergebnissen zu erhalten. „Die ausge- Eutrophierung der Seen in den 1980er-Jah- gie, bilden Männchen und Weibchen aus, wählten Gewässer Zürichsee, Bodensee ren – durch die Verwendung phosphathal- paaren sich und legen sogenannte Dauer- und Walensee unterscheiden sich sowohl tiger Waschmittel, fehlende Kläranlagen eier ab, um den Fortbestand ihrer Popu- in ihrer geografischen Lage als auch im und eingeschwemmten Dünger kam es in lation zu sichern“, beschreibt Möst. Diese Besiedelungsgrad, was zu Unterschieden den Seen zu einem Nährstoff-Überschuss Dauereier werden von Wind, Strömungen in ihrer Eutrophierung führt“, erläutert – gelang es der invasiven Wasserfloh-Art und Tieren verbreitet, sie sinken aber auch der Ökologe. Daphnia galeata, sich im Bodensee anzusie- auf den Seeboden ab und werden dort im deln. „Diese invasive Daphnien-Art wächst Lauf der Zeit von Seesediment bedeckt. Deutliche Vermischungen schneller als Daphnia longispina, braucht Die ersten Ergebnisse dieser umfassenden dazu aber mehr Nährstoffe“, erklärt Möst. Analysen zeigen bereits einen deutlichen Eine Befürchtung der Forscherinnen und Genaustausch zwischen den Arten Daph- Forscher war deshalb, dass die heimische nia longispina und Daphnia galeata. „Die Daphnia longispina von ihren invasiven einzelnen Arten haben zum Teil geneti- Verwandten verdrängt werden könnte, sches Material der anderen Art in ihren was bei einer Rückkehr zum ursprüng- Genomen integriert“, resümiert Möst. Im lichen, geringen Nährstoffangebot fatal Zuge der Untersuchungen zeigte sich ei- wäre. „Wenn die invasive Art sich nicht an ne weitere Entwicklung für die Ökologie die neuen Bedingungen anpassen könnte, der Seen. „Nachdem die Eutrophierung würde die Wasserfloh-Population im Ge- mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielt, wässer zusammenbrechen“, beschreibt bemerken wir jetzt Auswirkungen des der Ökologe. Klimawandels auf den Lebensraum See. Der Eutrophierung der Gewässer wur- So tauchte vor rund drei Jahren eine wei- de inzwischen durch ein Verbot phosphat- tere Wasserfloh-Art, Daphnia cucullata, im haltiger Waschmittel und die Verbesse- Bodensee auf. Über die genauen Gründe rung der Kläranlagen entgegengewirkt, dieser Invasion können wir allerdings bis- wie sich diese Verbesserungen auf die lang nur spekulieren“, sagt Markus Möst. Eigenschaften der Wasserflöhe im Boden- Hybridisierungen mit dieser neuen Art see genau ausgewirkt haben, ist aber noch wären möglich und sind aus anderen unklar. „Im Rahmen unseres Forschungs- MARKUS MÖST absolvierte ein Master- Seen bekannt. Allerdings sind solche Hy- projektes interessiert uns vor allem, inwie- Studium der Zoologie an der Universität bridisierungen in den Voralpenseen selte- weit die invasive Art Daphnia galeata die Innsbruck, das er 2008 abschloss. Nach ner und auch im Labor lässt sich Daphnia heimischen Wasserflöhe Daphnia longispi- einer Zeit als Forschungsassistent an der cucullata mit den anderen Arten nur na beeinflusst hat und ob es hier zu einer Uppsala University in Schweden folgte schwer kreuzen. Ob dies an unterschied- Vermischung der Arten beziehungsweise ein PhD-Studium (2009-2014) am Was- lichen genetischen Schranken liegt oder zum Austausch von wichtigen Genen im serforschungsinstitut Eawag und an der andere Ursachen hat, steht genauso im Zuge der Hybridisierung gekommen ist“, ETH Zürich. Im Anschluss war Möst als Fokus der weiteren Forschungsarbeit wie erklärt Markus Möst. Postdoc an der University of Cambridge die unterschiedlichen Eigenschaften der Um dies herauszufinden, sammelten tätig, bevor er 2016 in die Arbeitsgruppe Hybride zwischen Daphnia longispina und Möst und die in das Projekt eingebundene Molekulare Ökologie am Innsbrucker Daphnia galeata im Vergleich zu ihren El- PhD-Studentin Tania Holtzem mit Hilfe Institut für Ökologie wechselte. ternarten. sr zukunft forschung 01/20 33
WISSENSTRANSFER QUANTENOPTIMIERUNG Das Lösen von komplexen Optimierungsproblemen steht im Fokus eines neuen Spin-offs der Universität Innsbruck und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. WOLFGANG LECHNER und Magdalena Hauser führen das neue Quanten-Unternehmen in Innsbruck. W eltweit arbeiten Unternehmen an chitecture sind Quantenbits für Optimie- Universität und Akademie gemeinsam mit den ersten kommerziellen Quan- rungsprobleme erstmals voll program- privaten Investoren ist ein weiterer Schritt, tencomputern, die den „Quan- mierbar – das war bis dato skalierbar noch um den wissenschaftlichen Vorsprung Eu- ten-Vorteil“ gegenüber herkömmlichen nicht möglich. Die Architektur erlaubt ropas bei den Quantentechnologien auch Computern ausspielen und erste nützli- auch die volle Parallelisierbarkeit von Al- in einen kommerziellen Erfolg umzumün- che Anwendungen finden. Das Lösen von gorithmen, die Leistungsengpässe verhin- zen. ParityQC ist bereits das zweite Quan- komplexen Optimierungsproblemen, die dert. Weil die Entwicklung von Software ten-Start-up im Portfolio der Uniholding heute auf den größten Supercomputern und Hardware nach Auffassung des Un- der Universität Innsbruck.“ berechnet werden, könnte in Zukunft mit ternehmens gemeinsam und gleichzeitig Quantencomputern sehr viel schneller und passieren muss, entwickelt ParityQC zur Aus Tirol in die Welt effizienter gelingen. Quantenoptimierung Architektur das dazugehörige Betriebs ParityQC agiert international, will aber gilt daher als vielversprechendste erste system ParityOS – eine Plattform, die weiterhin von Innsbruck aus tätig sein und Anwendung von Quantencomputern. Compiler, Optimierung von Algorithmen wird von den Geschäftsführern Wolfgang und Chip-Layouts automatisiert erstellt. Lechner und Magdalena Hauser aufge- Aus der Grundlagenforschung... baut. Hauser ist ehemalige Geschäftsfüh- Die in Innsbruck gegründete ParityQC ...in die Wirtschaft rerin des I.E.C.T. – Hermann Hauser, Mit- GmbH will den weltweiten Standard für „Österreich ist weltweit führend im Be- gründerin von AI Austria und wurde un- Quantenoptimierung setzen. Dabei profi- reich Quantenphysik. ParityQC hat dem- ter die Forbes 30 under 30 gewählt. Lech- tiert das Unternehmen vom internationa- nach großes Potenzial, aufbauend auf ner ist Professor am Institut für Theoreti- len Rennen um das beste Quantenbit und der exzellenten Forschung von Wolfgang sche Physik und hat u. a. im vergangenen den besten Algorithmus, da die an der Lechner, ein großer Player im Quanten- Jahr den Houska-Preis der B&C Privatstif- Universität Innsbruck und der Österrei- computermarkt zu werden. Ganz beson- tung mit dem der Firmengründung zu- chischen Akademie der Wissenschaften ders freut es mich, dass die Firma weiter- grunde liegenden Patent für die sogenann- (ÖAW) entwickelte und inzwischen pa- hin aus Österreich heraus agieren wird“, te LHZ-Architektur gewonnen. Entwickelt tentierte Architektur all diesen Plattfor- sagt Venture Capitalist Hermann Hauser, hat Lechner die Architektur gemeinsam men fundamentale Vorteile bietet: Sie ist der gemeinsam mit Herbert Gartner, Angel mit Philipp Hauke und Peter Zoller an der programmierbar, skalierbar und paralleli- Investor bei eQventure, in die ParityQC Universität Innsbruck und am Institut für sierbar – diese Kombination ist einzigartig. GmbH investiert hat. Rektor Tilmann Quantenoptik und Quanteninformation Mit der Parity Quantum Computing Ar- Märk ergänzt: „Diese Ausgründung von (IQOQI) der ÖAW. cf 34 zukunft forschung 01/20 Foto: ParityQC
WISSENSTRANSFER AQT GEHT STRATEGISCHE PARTNERSCHAFT EIN D as deutsche Quanten-Software-Start- up HQS und das Innsbrucker Hard- ware-Unternehmen Alpine Quantum Technologies (AQT) bündeln ihre Kräf- te zu einer strategischen Partnerschaft, um den Markt für die Anwendung von Quantencomputern gemeinsam zu er- schließen. Die globale Partnerschaft ver- bindet die Erfahrung von HQS Quantum Simulation bei der Bereitstellung von Software zur Erleichterung der bevorste- MOBILER HILFERUF henden Revolution im computergestütz- ten Materialdesign mit dem Know-how von AQT im Bereich des Ionenfallen- Quantencomputers. 2PCS Solutions, ein Spin-off der Uni Innsbruck, bietet im Kampf gegen den Coronavirus Hilfe an. E in ursprünglich für Seniorinnen tungsfunktion in Notfällen für Non-Pro- und Senioren konzipiertes Ruf- fit-Einsatzzwecke softwarelizenzkosten- und Ortungssystem in Pflege- und frei zur Verfügung zu stellen“, sagt Felix Betreuungseinrichtungen wird in CO- Piazolo vom Institut für Strategisches VID-19-Zeiten in provisorischen Kran- Management, Marketing und Tourismus kenpflegeeinrichtungen eingesetzt. Die an der Uni Innsbruck und Co-Gründer 2PCS Solutions GmbH, ein Spin-off der von 2PCS Solutions. Das System wurde „Derzeit lösen wir stark korrelierte Git- Uni Innsbruck, bietet im Kampf gegen bereits ad hoc in je zwei Pflegeheimen in termodelle mit Hilfe von DMRG (Den- den Coronavirus ihre Hilfe an. „Wir ha- Österreich und Deutschland als Zwi- sity Matrix Renormalization Group). ben uns auf Basis der aktuellen gesell- schenlösung für Notsituationen in An- Doch egal wie optimiert die Methode schaftsrelevanten Entwicklungen von spruch genommen. Die mobile Rufaus- auch sein mag, klassische Computer COVID-19 und der aktuellen Flüchtlings- lösung über einen Handfunksender oder sind grundsätzlich begrenzt“, sagt Mi- situation dazu entschieden, für zeitkriti- einen Birntaster ermöglicht eine eindeu- chaelMarthaler, CEO von HQS Quan- sche Einsatzzwecke in Pandemie- und tige Zuordnung und erleichtert den Pfle- tum Simulations, „während es eine Weile Krisengebieten die 2PCS Web-Plattform, gekräften den Überblick über die Patien- dauern wird, bis Quantencomputer die die 2PCS mobile App sowie die 2PCS Or- tinnen und Patienten. bestehenden Methoden überholen, wol- len wir die Lösung von kleinen Testmo- dellen auf dem AQT-Quantencomputer ermöglichen.“ UNI INNSBRUCK WIRD GASTGEBERIN DER UNI-KLETTER-WM AQT, ein Spin-off der Uni Innsbruck D ie Uni Innsbruck erhielt im Februar den Zuschlag zur Durchführung der World University Championship Sport Climbing 2022. Damit findet nach der Winter-Universiade im Jahr 2005 wieder ein universitäres Großsportereignis in Österreich statt. Die Bewerbung erfolg- und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, ist ein führendes Start- up im Rennen um den Bau eines Quan- te durch die nationale Universitäts-Sportorganisation Unisport Austria gemeinsam mit der tencomputers und realisiert mit Hilfe Universität Innsbruck, vertreten durch das Universitäts-Sportinstitut, und dem Kletterverband öffentlicher Investitionen Quantencom- Österreich. „Im Herzen der Alpen ist Sport ein zentrales Thema in Innsbruck. Ich freue mich puter, die auf der individuellen Manipu- sehr, dass die Universität Innsbruck wieder Austragungsort eines internationalen universitären lation von gefangenen geladenen Ato- Wettkampfes wird. Die für die Universität Innsbruck antretenden Athletinnen und Athleten men basieren. Die Ionenfallen-Plattform messen sich hier mit den Besten der Welt, hat eine geringe Fehlerrate und kann genauso wie unsere Forscherinnen und leicht auf größere Systeme hochskaliert Forscher. Spitzensport und Spitzenforschung werden. „Die Kombination der Theorie- verbinden Menschen mit ihren Fähigkei- und Software-Erfahrung von HQS mit ten, Ideen und Zielen in unterschiedlichen der Hardware- und Ingenieurskompe- Disziplinen international miteinander. Ich tenz von AQT wird den nutzer- und an- wünsche schon jetzt den Verantwortlichen wendungsorientierten Fortschritt erheb- alles Gute für die Vorbereitungen dieser Ver- lich erleichtern“, sagt Thomas Monz, anstaltung“, so Rektor Tilmann Märk. Geschäftsführer von AQT. Fotos: 2PCS Solutions (1), IQOQI Innsbruck/Harald Ritsch (1), Uni Innsbruck (1) zukunft forschung 01/20 35
MUSIKWISSENSCHAFT TRANSALPINE VERBUNDENHEIT Der Musikwissenschaftler Raymond Ammann hat sich mit der Geschichte des Jodelns im Alpenraum beschäftigt und vergleicht die Entwicklungen in Tirol und der Schweiz. EINE GRUPPE von S JodlerInnen aus der Steiermark ingen ohne Text und der Wechsel zwi- selbst, wenn man jemandem ganz intuitiv ein – Heli Gebauer, Gretl Steiner schen Brust- und Kopfstimme sind die ‚Juhuu’ zuruft. Beim lauten Rufen springt die und Willi Mayer (v.l.). Charakteristika eines Jodlers, der vor Stimme oft ungewollt in die Kopfstimme – die allem im Alpenraum weit verbreitet ist. Von Grundtechnik des Jodlers“, erklärt Raymond der Nachbildung des Alpenprofils durch Ammann, der sich aber vor allem mit der Ver- die Notenlinien bis hin zum Ausdruck von breitung des Jodlers wissenschaftlich ausein- Emotionen – zur Entstehung des Jodlers andersetzt. Diese Art des registerwechselnden existieren die unterschiedlichsten Theorien. Gesangs, von Brust- zu Kopfstimme, kam in Als gesichert gilt allerdings die ursprüng- der Schweiz in den Kuhreihen vor und war liche Funktion der musikalischen Vorform in Tirol als „Kuhschroa“ bekannt – jedenfalls des Jodlers, die zur Kommunikation gedient war es auch hier ein Kommunikationsmittel, haben soll. „Früher lebten die Menschen in um die Kühe zu rufen. Selbst wenn die Ge- den Alpen häufig weit auseinander. Der über sangstechnik schon länger existiert, der Be- weite Entfernungen hörbare Ruf half zur Ver- griff „Jodeln“ wurde erstmals 1796 von Ema- ständigung vom Berg ins Tal. Wanderinnen nuel Schikaneder – im Singspiel „Der Tyroler und Wanderer kennen dies vielleicht auch Wastl“ – als Gesangsbezeichnung verwendet. 36 zukunft forschung 01/20 Fotos: Eva Banholzer (1), privat (1)
MUSIKWISSENSCHAFT Im FWF-Projekt „,Tirolerei’ in der Schweiz“ Jahrhunderts das Jodeln sowohl in Österreich hat Raymond Ammann mit seinem Team die als auch in der Schweiz bei der Mehrheit der Transkulturalität sowie Transnationalität des städtischen Bevölkerung als streng patriotisch Jodlers untersucht. verschrien war und abgelehnt wurde.“ Diese Haltung hat sich vor allem in den vergange- Höhen und Tiefen nen zehn bis 15 Jahren deutlich verändert. Der Jodler blickt im österreichischen und Schweizer Alpenraum auf eine über 200-jähri- Jodler-Renaissance ge Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte Hat man früher, vor etwa 100 Jahren, noch zurück – und damit auf nicht nur musikali- das Jodeln in der Familie gelernt, so werden sche Höhen und Tiefen. „Die Vermischungen heute diverse Workshops zum Erlernen die- und Übernahmen des alpinen Gesangsgutes ser Gesangstechnik angeboten. „Neben den traditionellen Wegen des Ver- mittelns von Jodlern werden „Vor dem Hintergrund des deutsch heute moderne Jodelworkshops nationalistischenGedankengutes im Zweiten angeboten – häufig auch von Weltkrieg haben Schweizer Musiker versucht, ausgebildeten Sängerinnen und zu zeigen, dass sie sich deutlich vom deutschen Sängern, die hier eine Nische oder tirolerischen Jodler abgrenzen.“ Raymond Ammann gefunden haben“, erklärt der Musikwissenschaftler. Damit verändert sich nicht nur das An- verliefen vielseitig und auch gegenläufig, so- gebot, sondern auch die Klientel dieser Work- dass komplexe, mehrdimensionale und teil- shops. „Es sind hauptsächlich Städter, die In- weise beinahe unüberschaubare Übernahme- teresse an solchen Workshops haben“, so der prozesse bei deren Verbreitung mitspielten“, Experte, der erwähnt, dass das Jodeln, etwa erläutert Ammann, der betont, dass Forsche- in Verbindung mit Yoga oder Pilates, immer rinnen und Forscher seit über 100 Jahren den mehr auf eine Ebene der Geistigkeit gehoben Entstehungswegen des Jodlers auf der Spur und damit zu einer Art Lifestyle wird. Den sind. Dieses musikalische Kulturgut beschritt Körper zu öffnen und die Stimme zu befreien vielfältige geografische und soziale Wege und – so lauten Konzepte, mit denen die therapeu- durchlebte unterschiedliche Arten des Trans- tische Wirkung des Singens und Jodelns be- fers. „Damit einher ging ein sich mehrmals tont werden soll. „Derartige Entwicklungen wandelndes Verständnis von Authentizität, dürfte bereits Loriot in seinem Jodeldiplom das nicht nur den lokalen Umgang mit Jod- vorhergesehen haben, wenn auch mit einem lern und Jodelliedern maßgebend beeinfluss- Augenzwinkern“, schmunzelt Ammann. te, sondern auch die Bereitschaft zur Aneig- Im Gesang und vor allem im traditionellen nung und Übernahme fremden Musikgutes Jodler entwickelt sich ein starkes Wir-Gefühl wesentlich bestimmte“, so der Musikwissen- der Kulturen. „Während das Jodeln also in be- schaftler, der in seiner Forschung ein besonde- stimmten Zeiten ein Mittel zur Abgrenzung res Augenmerk auf die nationalen Identitäten, und Distinktion darstellte sowie zur nationa- den Kulturtransfer und die Authentizität ge- len Profilierung eingesetzt wurde, wirkt es RAYMOND AMMANN ist legt hat. heute durch die Vermittlung bei Workshops Musikethnologe am Institut Vor allem gegen Ende des 19. und zu Be- und Jodlertreffs sowie durch die Verbindung für Musikwissenschaft an der ginn des 20. Jahrhunderts wurde der Jodler mit verschiedenen Genres kulturverbindend Universität Innsbruck und für politische Zwecke instrumentalisiert. und stellt ein breites Identifikationsangebot Forscher an der Hochschule „Vor dem Hintergrund des deutschnationa- zur Verfügung, das weit über die nationalen, Luzern. Ammann lebt in der listischen Gedankengutes im Zweiten Welt- traditionellen, historischen und stilistischen Nähe von Luzern und in Inns krieg haben Schweizer Musiker versucht, zu Grenzen hinausgeht“, so der Musikwissen- bruck und interessiert sich für zeigen, dass sie sich deutlich vom deutschen schaftler. Die Internationalisierung des Jodlers unterschiedliche Forschungs- oder tirolerischen Jodler abgrenzen. Sie haben in Workshops sowie die Miteinbeziehung in regionen, wie die Polarregion, krampfhaft versucht, Eigenheiten im schwei- die Neue Volksmusik und andere Musikrich- Melanesien und die Alpen- zerischen Jodeln zu finden, die gegen eine tungen werden dafür sorgen, dass der Jodler region. Sein Forschungs- Gemeinsamkeit mit dem Tiroler Jodeln spre- in absehbarer Zeit nicht aussterben, sondern schwerpunkt liegt dabei auf chen“, verdeutlicht Ammann: „Die Funktio- durch seine Traditionsträgerinnen und -träger Ritualmusik, Jodeln und Mu- nalisierung des Jodelns durch den Nationalso- kontinuierlich umgeformt wird. In der Musik sikkognition. Ammann leitet zialismus sowie dessen Folklorisierung nach kommen Menschen zusammen, Kulturen verschiedene Forschungspro- dem Zweiten Weltkrieg führten dazu, dass werden verbunden und Grenzen überwunden jekte und doziert Musikethno- von den 1960er-Jahren bis zum Ende des 20. – auch ohne Diplom. dp logie und Popularmusik. zukunft forschung 01/20 37
GESCHICHTE HISTORISCHE DETEKTIVARBEIT Fragmente älterer Bücher als Teil neuer Bände wurden bisher öffentlich wenig beachtet, das ändert ein aktuelles Projekt. S ie befinden sich in Orgeln, in Altä- Die Historikerin ist Mitarbeiterin im etwa als Baumaterial,oder aber als Be- ren, wurden als Baumaterial ver- Projekt „Die abgelösten Handschriften- standteil neuer Bücher“, erklärt Sojer. wendet oder zu Spielwaren verar- fragmente der Universitäts- und Lan- Letztere Verwendung ist auch die an der beitet – in Holland etwa zu Drachen für desbibliothek Tirol und ihre digitale Er- Bibliothek erhaltene und verbreitete: Per- Kinder: Pergament- und Papierfragmente schließung“ (siehe Kasten). „Wir unter- gament oder Papier zerschnittener von aus Büchern des Mittelalters und der frü- scheiden mehrere Arten von Fragmen- Hand geschriebener Bücher findet sich hen Neuzeit, die nicht mehr gebraucht ten. Einmal die Katastrophenfragmente: dann zum Beispiel als zusammengekleb- wurden, fanden vielseitig Verwendung. Hier sind Bücher unvollständig, weil ter Karton und mit Leder überzogen als Und sie erlauben Rückschlüsse auf die ihnen sozusagen etwas ‚zugestoßen‘ ist, Einband von neueren Büchern wieder. Verbreitung von Schriften, erzählen da- etwa ein Feuer, eine Überschwemmung, durch eigene Geschichten – jedes Frag- aber auch bewusste Beschädigungen Herkunft der Fragmente ment wirft eine ganze Reihe von For- im Rahmen von kriegerischen Ausein- Wir assoziieren heute mit der Zerstörung schungsfragen auf. Die historische For- andersetzungen oder Verbrechen fallen von Büchern meist böse Absicht, die Ver- schung hat derartige Fragmente deshalb darunter. Außerdem Sammler- oder nichtung von Kulturgut ist zurecht ver- bereits seit Längerem zum Gegenstand, Kunstfragmente, für die Bücher eben- pönt. Dass mit der Weiterverwendung wie Claudia Sojer erklärt: „Die wissen- falls ganz bewusst zerschnitten wurden, von Pergament in anderen Produkten schaftliche Bearbeitung von Buchfrag- aber nicht, um sie zu zerstören, sondern zugleich Unliebsames zerstört werden menten reicht bis ins Mittelalter zurück um zum Beispiel golden verzierte Buch- sollte, war im Mittelalter und in der und etablierte sich durch die italienischen staben zu sammeln – die wurden dann frühen Neuzeit allerdings nicht zwangs- Humanisten, aber natürlich sind die Mit- an Sammler verkauft. Daneben, und das läufig der Fall: „Zum einen wissen wir tel, die uns dafür heute zur Verfügung ist ein sehr großer Teil, gibt es die Hand- von Pergamentmärkten, wo sozusagen stehen, deutlich umfassender und ma- werksfragmente: Hier wurden Bücher aus zweiter Hand Buchfragmente für chen die Arbeit auch um einiges leichter.“ für andere Zwecke weiterverarbeitet, die Weiterverwendung verkauft wur- 38 zukunft forschung 01/20 Fotos: Andreas Friedle (1), Claudia Sojer und ULB Tirol, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Frg. 11 (2)
GESCHICHTE DIE ABGELÖSTEN Handschriftenfragmente der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol und ihre digitale Erschließung“ ist ein über den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördertes dreijähriges Projekt. Angesiedelt ist es am Institut für Geschichts- wissenschaften und Europäische Ethnologie sowie in der Abteilung für Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek, untersucht werden die abgelösten Handschriften- fragmente der Bibliothek, die über das Portal „Fragmentarium. Digital Research Laboratory for Medieval Manuscript Fragments“ öffentlich zugänglich gemacht werden. Projektleiter ist Martin Wagendorfer (zu Beginn an der Universität Innsbruck, heute LMU München), Claudia Sojer (im Bild) ist – zusammen mit Viviana Kleinlercher, die das Projekt als studentische Hilfskraft unterstützt – Projektmitarbeiterin in Innsbruck. 2018 wurde das Projekt mit dem Eduard-Wallnöfer-Anerkennungspreis ausgezeichnet. Die zwei Abbildungen zeigen einen Buchumschlag (bestehend aus der Verleimung von zwei Papierblättern; linkes Bild) sowie zwei Buchdeckel (bestehend aus der Verleimung von je sechs Papierblättern; rechtes Bild). Der so zur Gänze aus Papier hergestellte Recyclingeinband befand sich auf einem Druck von 1545, die verwendeten Fragmente zeigen verschiedene theologische Texte in Bastarda von mehreren Händen, Ende 15./Anfang 16 Jh. den. Die Buchbinder und Handwerker, diese Fragmente systematisch digital Verknüpfung mit anderen – das macht die hier eingekauft haben, haben mit der zu erfassen und begibt sich auf Detek- diese Arbeit auch besonders spannend. Zerstörung meist nichts zu tun, und Per- tiv- und Puzzlearbeit: „Der erste Schritt Fragmente aus den USA können zum gament, letztlich ja Tierhaut, war wert- ist immer, das Fragment im Original zu Beispiel aus dem gleichen Buch stammen voll. Die Gründe, warum Fragmente auf untersuchen, und es dann zu digitali- wie ein Fragment in einem Buch hier in derartigen Märkten landeten, waren oft- sieren. Danach beginnt die Zuordnung: Innsb ruck und über ‚Fragmentarium‘ mals profan: Etwa wurden so Urkunden Das ist vergleichsweise leicht, wenn können wir den Ursprungsband rekons- und Verträge entsorgt, die einfach nicht ganze Seiten erhalten sind, da kann ich truieren und auch gemeinsam anzeigen“, mehr gültig waren.“ Aber auch Schriften, dann auf Anhieb zumindest Sprache, erklärt die Historikerin. Auch innerhalb die nicht gelesen werden konnten, lan- Schrifttyp und grob Inhalt feststellen, Tirols ist Derartiges schon gelungen: deten so auf derartigen Second-Hand- meist lässt sich das dann rasch zuord- Fragmente aus demselben Textzeugen Märkten – etwa hebräisches, syrisches nen. Kleinere Fragmente sind natürlich der „Weltchronik“ des Rudolf von Ems oder glagolitisches Schriftgut. „Viel deutlich schwieriger, manchmal haben finden sich zum Beispiel an der Univer- stammt auch aus Klosterauflösungen, wir auch nicht mehr als einzelne Papier- sitätsbibliothek, im Tiroler Landesarchiv, aber natürlich spielte auch religionspoli- oder Pergamentstreifen aus Buchfalzen. im Tiroler Landesmuseum und im Stift tische Konkurrenz eine Rolle: Ein katho- Aber auch da sind digitale Hilfsmittel Stams, außerdem in der Staatsbibliothek lisches Kloster kann mit protestantischen Gold wert.“ zu Berlin und in der Badischen Landes- Schriften wenig anfangen und verkauft Die Innsb rucker Fragmente werden bibliothek in Karlsruhe. sie deshalb zur Weiterverwertung“, sagt auf der Plattform „Fragmentarium“ Das aktuelle Projekt zur digitalen Er- Claudia Sojer. „Was außerdem häufig zu öffentlich zugänglich sein – ein wissen- schließung der Fragmente in der Univer- finden ist, sind zum Beispiel regionale schaftliches Forschungslabor, das, be- sitäts- und Landesbibliothek läuft bis Messbücher aus der Zeit vor dem Trien- ginnend mit großen Bibliotheken und Ende dieses Jahres, aber allein in Tirol ist ter Konzil. Damals, Mitte des 16. Jahr- Sammlungen, als zentrale Plattform für ein Großteil der Fragmente noch völlig hunderts, wurde die römisch-katholische die Bearbeitung und Untersuchung mit- unerschlossen: viel Raum für mögliche Liturgie vereinheitlicht, die Vorläufer telalterlicher Handschriftenfragmente Folgeprojekte also. „Am Beispiel der er- wurden schlicht nicht mehr gebraucht. dient. Mit der Österreichischen National- wähnten Weltchronik sehen wir, dass Gleiches gilt für Schulbücher, von denen bibliothek ist die zentrale wissenschaftli- sich da auch innerhalb Tirols viele Ver- zusätzliche Exemplare entsorgt wurden, che Bibliothek und größte Sammlung Ös- knüpfungen auftun, die aber großteils wenn diese abgenutzt oder deren Inhalte terreichs dort ebenso vertreten wie große noch nicht entdeckt sind. Hier sozusagen überarbeitet wurden.“ Bibliotheken und Sammlungen aus der im Rahmen eines Tiroler ‚Fragmentari- Insgesamt 233 abgelöste handschrift- ganzen Welt, etwa aus der Schweiz, ums‘ die Bestände im Bundesland zu er- liche Fragmente zählt Claudia Sojer an Frankreich und den USA – und nun eben schließen, Querverweise zu identifizie- der Universitäts- und Landesbiblio- auch die ULB Tirol. „‚Fragmentarium‘ ren und zugänglich zu machen, wäre ein thek. Sie arbeitet gemeinsam mit einer ermöglicht nicht nur die Darstellung der lohnendes Ziel und ein schönes Folge- studentischen Hilfskraft gerade daran, eigenen Fragmente, sondern auch die projekt“, sagt Claudia Sojer. sh zukunft forschung 01/20 39
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