PHYTOWISSENSCHAFT - Digitale Bibliothek

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     ANDREAS KOEBERLE wechselte mit sechs Mitarbeitern von Jena ans neue Michael-Popp-Forschungsinstitut der Universität Inns­bruck.

26   zukunft forschung 01/20                                                                                            Fotos: Andreas Friedle (2)
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    DIE NATUR ALS APOTHEKE
    Rund 400.000 Pflanzenarten gibt es weltweit, chemisch beziehungsweise pharmakologisch gut
­untersucht wurde nur ein Bruchteil davon. Inns­brucker Forscher analysieren das Wirkstoffpotenzial von
                     Pflanzen, um ihnen noch mehr heilende Kraft zu entlocken.

I
    hm wird allerhand nachgesagt. Es soll                                                 zu gehen und einen Wirkstoffkandidaten
    bei Arthritis & Co. die Gelenke wie-                                                  zu entwickeln, der Entzündungen nicht
    der in Schwung bringen, es soll vor                                                   nur unterdrückt, sondern gezielt auflöst.
Krebs und Herzinfarkt schützen, es soll                                                   „Ein erster vielversprechender Wirkstoff-
die Hautalterung bremsen, ja es sei sogar                                                 kandidat wurde von uns patentiert. Er ist
ein Anti-Aging-Mittel der Spitzenklasse:                                                  oral verfügbar, metabolisch stabiler als
Vitamin E. 1922 erstmals chemisch identi-                                                 der körpereigene Vitamin-E-Metabolit
fiziert, wurde 1938 seine Struktur aufge-                                                 und zeigt vielversprechende Wirkung in
klärt. Seither wird an Alpha-Tocopherol,                                                  präklinischen Studien zu Bauchfellent-
so der Fachausdruck für Vitamin E, ge-                                                    zündung, Asthma und Dermatitis“, sagt
forscht, unter anderem weiß man, dass                                                     der Forscher, der auch die größte Apothe-
es als Antioxidans zellschädigende freie                                                  ke der Welt nach geeigneten Kandidaten
Radikale neutralisiert. In Zell- und Tier-                                                durchstöbern will. Koeberle sucht Pflan-
modellen wurde dies mehrmals bestätigt,                                                   zen, die über einen hohen Anteil an In-
in klinischen Studien allerdings konnte                                                   haltsstoffen verfügen, die in Struktur und
Vitamin E mit dieser Rolle noch nicht                                                     Funktion den körpereigenen Vitamin-E-
überzeugen. Warum dies – möglicher-                                                       Stoffwechselprodukten sehr ähnlich sind.
weise – so ist, zeigten 2018 Inns­brucker
Pharmazeutinnen und Pharmazeuten ge-          PHYTOVALLEY TIROL                               Größte Apotheke der Welt
meinsam mit Kolleginnen und Kollegen          In den vergangenen Jahren wurden in         Das Wissen um die Heilkraft der Pflan-
aus Deutschland, Frankreich und Italien.      Tirol zahlreiche Arbeitsplätze im Bereich   zen reicht weit zurück. Schon Dioskuri-
   „In dieser Studie konnten wir den ent-     der Phytowissenschaften geschaffen,         des, ein griechischer Arzt im ersten Jahr-
zündungseindämmenden Wirkmecha-               aktuell arbeiten rund 140 Forscherinnen     hundert nach Christus, nannte in seiner
nismus von Vitamin E aufklären. Wir           und Forscher im Phytovalley Tirol. Neben    großen Arzneimittellehre über 600 kata-
zeigen, dass die Wirkung von Vitamin          dem Anfang 2020 eröffneten Michael-         logisierte Heilpflanzen. Auch die klassi-
E nicht auf dem Vitamin selbst, sondern       Popp-Forschungsinstitut wird seitens der    sche Schulmedizin greift auf die Kraft der
auf der eines körpereigenen Stoffwech-        Universität Inns­bruck an den Instituten    Natur zurück – so ist Morphin die Leit-
selprodukts beruht“, erläutert Andreas        für Analytische Chemie & Radiochemie,       substanz für starke Analgetika, Kokain
Koeberle, der 2018 noch an der Universi-      Pharmazie und Botanik an Pflanzenwirk-      jene für Lokalanästhetika.
tät Jena tätig war und 2019 als erster Pro-   stoffen geforscht. Das ADSI, Bionorica         „Mehr als 30 Prozent der Arzneistoffe
fessor ans neugegründete Michael-Popp-        Research, Tirol Kliniken, MCI und weitere   lassen sich auf Naturstoffe zurückfüh-
Forschungsinstitut der Universität Inns­      Partner ergänzen das Cluster Phytovalley.   ren, einen sehr hohen Anteil haben Na-
bruck berufen wurde. Das Stoffwech-           „Das Phytovalley ist ein Vorzeigebei-       turstoffe z. B. im Bereich der Antibiotika
selprodukt, ein Metabolit mit Namen           spiel, das mit der engen Verflechtung       und Krebsmedikamente“, weiß Koeberle.
Alpha-Carboxychromanol, hemmt die             zwischen Akademia und Wirtschaft            Eine Stärke von Naturstoffen sieht er in
Bildung entzündungsfördernder Lipid-          weltweit einmalig ist“, sagt Andreas        ihrer sehr hohen Vielfalt, etwa in ihrer
mediatoren und lässt die systemischen         Koeberle, für den Österreich im Bereich     3D-Struktur: „Diese ist von größter Be-
Spiegel an entzündungsauflösenden Li-         der Phytoforschung „im Vergleich zu         deutung, wenn der Naturstoff an einer
pidmediatoren ansteigen. „Wir konnten         anderen europäischen Staaten stark auf-     Zielstruktur im Körper eine Wirkung
beschreiben, wo genau der Wirkstoff an        gestellt“ ist. Nach Koeberle, den sechs     entfalten soll. Man kann sich das verein-
der Zielstruktur, der 5-Lipoxygenase, an-     Mitarbeiter von Jena nach Inns­bruck        facht wie einen Schlüssel vorstellen, der
greift. Wir konnten auch zeigen, dass er      begleitet haben, wird das Michael-Popp-     in ein Schloss passen muss. Wenn be-
in der Leber gebildet wird und sich stark     Forschungsinstitut mit einer zweiten        stimmte Schlüsselformen nicht zugäng-
in Immunzellen am Ort der Entzündung          Professur für Pflanzliche Biotechnologie    lich sind – wie das bei synthetischen
anreichert“, berichtet Koeberle.              ausgestattet, das Berufungsverfahren für    Wirkstoffen oft der Fall ist –, dann kann
   Dieses Wissen will er nun nutzen, um       diese Stiftungsprofessur des Landes Tirol   man damit auch nicht jedes Schloss öff-
in der Entzündungstherapie neue Wege          ist am Laufen.                              nen – d. h. nicht jeden Wirkmechanismus

                                                                                                                 zukunft forschung 01/20   27
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     adressieren.“ Die komplexen Strukturen           So entdeckte er mit seinen heutigen
     von Naturstoffen haben aber auch einen        Kolleginnen und Kollegen der Inns­
     Nachteil: Sie stellen Forschung und Me-       brucker Pharmakognosie in vietname-
     dikamentenentwicklung vor analytische         sischen Heilpflanzen einen hochwirk-
     und synthetische Herausforderungen,           samen Naturstoff, der in Immunzellen
     was sich negativ auf die Herstellungskos-     angreift und diese umprogrammiert. „Sie
     ten niederschlagen kann. Mit ein Grund,       bilden daraufhin nicht mehr die entzün-
     warum die großen Pharmaunternehmen            dungsfördernden Leukotriene, die z. B.
     aus der Naturstoffforschung bereits vor       bei Asthma die Kontraktion der Bron-
     Jahren weitgehend ausgestiegen sind,          chien auslösen, sondern vielmehr ent-
     „was eine Lücke in die Entdeckung neuer       zündungsauflösende Lipidmediatoren,
     Grundstrukturen reißt.“ In Tirol will sich    wie Resolvine und Protectine, welche
     Koeberle nun – in interdisziplinärer Ko-      die Entzündungsreaktion aktiv been-
     operation mit verschiedenen Inns­brucker      den“, beschreibt Koeberle die Wirkung
     Arbeitsgruppen – der Erforschung von          des Naturstoffs.
     Naturstoffen widmen, der Schwerpunkt             Bei Studien zum programmierten Zell-
     liegt auf Entzündungen und Erkrankun-         tod, darunter der Apoptose, stieß er mit        ANDREAS KOEBERLE (* 1981 in Sig-
     gen mit entzündlichem Anteil. Dabei           seiner Forschungsgruppe auf zwei neue           maringen/Baden-Württemberg) studierte
     setzt Koeberle auf Lipide, besser bekannt     Lipokine – Lipide mit hormonartiger Wir-        Biochemie an der Universität Tübingen,
     als Fette.                                    kung – aus dem Bereich der Membranli-           wo er 2009 in Pharmazeutischer Chemie
                                                   pide. Die erste Lipid-Gruppe unterdrückt        promovierte. Nach einem Postdoc-Auf-
                 Gute & böse Fette                 zelluläre Stressreaktionen, wie z. B. die       enthalt an der Universität Tokio wurde
     „Bei Fetten darf man nicht nur an Kör-        Autophagie, mittels der die Zelle eigene        er 2011 Gruppenleiter am Lehrstuhl für
     perfett denken. Jede Zelle unseres Kör-       Strukturen abbaut, um sie zu verwerten.         Pharmazeutische/Medizinische Chemie an
     pers enthält zehn- bis hunderttausend         Diese Lipid-Gruppe reguliert aber auch          der Universität Jena, wo er 2012 auch die
     verschiedene Lipidmoleküle. Das sind          andere stressassoziierte Signalwege und         Leitung der institutionellen Lipidomics-
     weitaus mehr, als es Proteine im Körper       Prozesse, was sich letzten Endes fördernd       Einrichtung übernahm. Der mehrfach
     gibt“, informiert Koeberle. Lipide geben      auf die Zellvermehrung und hemmend              ausgezeichnete Forscher habilitierte sich
     der Zelle Struktur, dienen aber auch als      auf die Apoptose auswirkt. Die zweite           2016. 2018 folgte eine Gastprofessur
                                                   Lipid-Gruppe unterdrückt die Aktivie-           an der Universität Wien in der Abteilung
     „Naturstoffe wurden über                     rung eines für das Überleben der Zellen         für Pharmakognosie. Seit Oktober 2019
                                                   wichtigen Enzyms. „Unterstützt durch            ist er Universitätsprofessor für Pflanz-
      ­Jahrmillionen im Zuge der
                                                   das Phospholipid-Forschungszentrum              liche Wirkstoffforschung am Michael-
       ­Evolution optimiert, um mit                der Universität Heidelberg untersuchen          Popp-Forschungsinstitut der Universität
        Biomolekülen in Wechselwirkung             wir aktuell, wie wir mittels Phospholipi-       Inns­bruck. Finanziert wird das Institut
        treten zu können.“     Andreas Koeberle   den aus Algen den Mechanismus nutzen            über die Michael A. Popp nature science
                                                   können, um Tumorresistenzmechanis-              foundation und das Land Tirol. Popp ist
                                                   men zu unterdrücken“, schildert Koeber-         Vorstandsvorsitzender des deutschen
     Energiespeicher. Das Interesse von Koe­       le. Für seine Arbeit kann der Forscher auf      Phytopharmakaunternehmens Bionorica
     berles Team gilt einer anderen Eigen-         eine Lipidomics-Plattform zurückgreifen,        SE, das seit 2005 die Forschungstochter-
     schaft: „Lipide wirken auch als Signal-       die er in seiner Jenaer Zeit etabliert hat.     firma Bionorica Research am Standort
     moleküle, das heißt sie haben hormonar-       „Sie ermöglicht es uns, ein großes Spekt-       Inns­bruck betreibt.
     tigen Charakter.“ Von Prostaglandinen         rum an Lipiden gleichzeitig zu analysie-
     etwa weiß man, dass sie die klassischen       ren und damit zu untersuchen, wie sich
     Symptome einer Entzündung – Rötung,           Naturstoffe auf Lipidprofile im Körper        neistoffentwicklung seien, so Koeberle, in
     Schwellung, Schmerz und Fieber – ver-         auswirken“, sagt der Biochemiker und          Inns­bruck fakultäts- und universitäts-
     mitteln. „Für den Großteil der Lipidmo-       ergänzt: „Am Michael-Popp-Forschungs-         übergreifend vertreten, „angefangen von
     leküle sieht das anders aus. Über deren       institut haben wir ein High-Tech-Labor        der Naturstoffanalytik und -isolierung bis
     biologische Aufgaben ist oft nur sehr         mit Ultrahochleistungschromatografie,         hin zur Durchführung von präklinischen
     wenig bekannt, jedoch kristallisiert sich     Ionenmobilitätsspektrometrie und Mas-         und klinischen Studien“. Zudem wird der
     immer mehr heraus, dass die Natur nicht       senspektrometrie. Nur wenige Labore           Wissenstransfer durch die Nähe zu loka-
     grundlos eine solche Vielfalt geschaffen      in Europa sind in der Lage, eine solche       len Unternehmen wie z. B. die Bionorica
     hat, sondern dass viele dieser Lipide spe-    Lipidanalytik in der Tiefe und mit der        Research entscheidend gefördert. Als Ge-
     zielle Aufgaben im Körper wahrnehmen.         Empfindlichkeit durchzuführen.“               samtpaket ergibt dies eine kritische Mas-
     Ein gezielter Eingriff in das Lipidprofil        Doch nicht nur die Infrastruktur, auch     se, für die der Inns­b rucker Chemiker
     durch Naturstoffe birgt somit großes          das Know-how im Umfeld stimmen ihn            Günther Bonn einen mittlerweile als Mar-
     therapeutisches Potenzial“, ist Koeberle      für seine zukünftige Arbeit optimistisch.     ke rechtlich geschützten Begriff prägte –
     überzeugt.                                    Sämtliche Bereiche der pflanzlichen Arz-      das „Phytovalley Tirol“.           ah

28   zukunft forschung 01/20                                                                                                   Foto: Andreas Friedle
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PHYSIK

                  FEINSTAUB IN DER STADT
                           Dämpfe von Salpetersäure und Ammoniak, die in den Zentren der Städte
                        vorwiegend aus Autoabgasen entstehen, tragen zur Bildung von Feinstaub bei.

VISUALISIERUNG von Luft-Austauschprozessen in einer Megacity: Saubere Luft (blau) vermischt sich mit der mit Schadstoffen angerei-
cherten Luft (gelb), die vor allem durch verkehrsbedingte Emissionen auf Straßenniveau entsteht.

I
    n urbanen Ballungszentren führen ho-     für die ungleichmäßige Verteilung der         wärmeren Bedingungen sind die Teilchen
    he Konzentrationen von Feinstaub zu      Schadstoffe sind einerseits die hohen         zu flüchtig und können daher keinen Bei-
    erheblichen Beeinträchtigungen der       Schadstoffemissionen auf Straßenniveau.       trag zum Wachstum liefern. Die Bildung
Gesundheit. Besonders in den Winter-         Andererseits dauert es einige Minuten,        von Aerosolpartikeln aus Ammoniak und
monaten ist die Situation in vielen asia­    bis sich die Straßenluft mit Luft aus der     Salpetersäure tritt vermutlich nicht nur in
tischen Mega-Citys dramatisch, wenn          Umgebung vermischt. Dies führt dazu,          Städten und Ballungsgebieten auf, son-
Smog die Sichtweite stark reduziert und      dass sich die beiden Schadstoffe Ammo-        dern auch gelegentlich in höheren Luft-
das Atmen schwerfällt. Feinstaubparti-       niak und Salpetersäure in der Straßenluft     schichten der Atmosphäre. Ammoniak,
kel, deren Durchmesser kleiner als 2,5       kurzzeitig stark anreichern. Die hohen        das hauptsächlich in der Landwirtschaft
Mikrometer ist, entstehen vorwiegend di-     Konzentrationen – wie die CLOUD-Ex-           entsteht, gelangt durch aufsteigende
rekt durch Verbrennungsprozesse. Darü-       perimente zeigten – schaffen Bedingun-        Luftströmungen aus bodennaher Luft in
ber hinaus entsteht Feinstaub auch in der    gen, unter denen die beiden Schadstoffe       die obere Troposphäre, und Salpetersäure
Luft, indem sich Gase aus organischen        an Nanopartikeln kondensieren können:         entsteht durch Blitze aus dem Stickstoff
Substanzen, Schwefelsäure, Salpetersäure     An wenige Nanometer großen Kondensa-          der Luft.
oder Ammoniak an winzige Nanoparti-          tionskernen bildet sich Ammoniumnitrat           „Es bilden sich bei den dort herrschen-
kel anlagern. Rätselhaft war bisher, wie     und lässt diese Partikel rasch anwachsen.     den niedrigen Temperaturen neue Am-
diese Feinstaubpartikel aus Gasen in den                                                   moniumnitratpartikel, die als Kondensa-
Straßenschluchten von Mega-Citys neu                 Rasantes Wachstum                     tionskeime bei der Wolkenbildung eine
gebildet werden.                             Diese Nanopartikel wachsen innerhalb          Rolle spielen“, verdeutlicht der Ionen-
   Am Teilchenbeschleuniger CERN in          weniger Minuten sehr rasch an. Sie wach-      physiker Armin Hansel von der Univer-
Genf hat ein internationales Team mit        sen teilweise einhundert Mal schneller,       sität Inns­bruck die dadurch auch beste-
Beteiligung von Forscherinnen und For-       als dies bisher von anderen Schadstof-        hende Klimarelevanz des Forschungser-
schern der Universitäten Wien, Inns­bruck    fen, wie zum Beispiel Schwefelsäure,          gebnisses. Hansel hat mit seinem Team
und Frankfurt im internationalen Atmo-       bekannt war. In urbanen Ballungszent-         am Institut für Ionenphysik und Ange-
sphären-Forschungsprojekt CLOUD in           ren liefert der beobachtete Prozess einen     wandte Physik im Rahmen eines FFG-
einer Klimakammer Bedingungen nach-          wichtigen Beitrag zur Bildung von Fein-       Projektes ein neues Messverfahren
gestellt: In den Straßenschluchten einer     staub im Wintersmog. Denn der Prozess         (PTR3-TOF-MS) entwickelt, um die Spu-
Stadt kommt es zu einer lokalen Erhö-        läuft nur bei Temperaturen von weniger        rengase beim CLOUD-Experiment noch
hung von Schadstoffen. Die Ursache           als etwa plus fünf Grad Celsius ab. Bei       empfindlicher zu analysieren.      mb

Foto: Neil M. Donahue                                                                                              zukunft forschung 01/20   29
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MIKROBIOLOGIE

                               CORONAVIREN IM
                                 ABWASSER
                      Das regionale Auftreten von Coronaviren lässt sich im Abwasser frühzeitig erkennen.
                        Österreichische Wissenschaftler arbeiten am Aufbau eines Monitoringsystems.

     Z
           ur Eindämmung des Coronavirus            Zwei Forschungsgruppen – der Grup-         haben sich bereits Anfang April zum
           SARS-CoV-2 ist es entscheidend,       pe um Heribert Insam und einem Team           „Coron-A“-Konsortium zusammenge-
           Infektionsketten frühzeitig zu er-    um Norbert Kreuzinger an der TU Wien          schlossen, um gemeinsam herauszufin-
     kennen. Nur so können neben den ge-         – gelang es im April gleichzeitig, das Erb-   den, wie das Auftreten von SARS-CoV-2
     nerellen Maßnahmen zielgerichtete Ak-       material von SARS-CoV-2 im Zulauf von         in häuslichem Abwasser mit der Anzahl
     tionen gesetzt und die wirtschaftlichen     zwei österreichischen Kläranlagen nach-       der Infektionen im Einzugsgebiet von
     Auswirkungen solcher Maßnahmen be-          zuweisen. „Solche Tests können einen          Kläranlagen im Zusammenhang steht.
     grenzt werden. „Eine erfolgversprechen-     besseren und rascheren Einblick in die
     de Mög­lichkeit, um einen umfassenden       Ausbreitung von COVID-19 erlauben“,                Kontrollstelle Kläranlage
     Überblick über die Ausbreitung der          betont Insam. „Wir wollen ein Früh-           Die Messungen im Abwasser sollen auch
     Krankheit und den Verlauf der Pandemie      warn- bzw. Monitoringsystem aufbauen,         neue Information über die Dunkelziffer
     zu erhalten, bietet die Untersuchung von    mit dessen Hilfe die Gesundheitsbehör-        an Infektionen liefern. Ein relevanter Teil
     Abwasserproben“, erklärt Heribert Insam     den rasch Informationen über Auftreten        an Infizierten, auch solche mit keinen
     vom Institut für Mikrobiologie der Uni-     und Verbreitung des Virus erhalten.“ For-     oder nur milden Symptomen, scheidet
     versität Inns­bruck. „Im Abwasser ist das   schungsteams der Medizinischen Univer-        nämlich das Virus über den Stuhl aus.
     Virus noch bruchstückhaft vorhanden, es     sität Inns­bruck, der Technischen Univer-     „Da die Fäkalien am Knotenpunkt Klär-
     ist aber nicht mehr infektiös.“             sität Wien und der Universität Inns­bruck     anlage zusammenlaufen, können aus der

30   zukunft forschung 01/20                                                                           Fotos: colourbox.de (1), AWV Achental-Inntal-Zillertal (1)
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MIKROBIOLOGIE

                                                                                           die Wissenschaftler mit Kläranlagen aus
                                                                                           mehreren Regionen Österreichs zusam-
                                                                                           men: den Kläranlagen Inns­bruck, Ischgl,
                                                                                           Strass/Zillertal sowie Zirl in Tirol, Salz-
                                                                                           burg und Zell am See im Land Salzburg
                                                                                           und Hohenems in Vorarlberg. Neben den
                                                                                           großen Südtiroler Kläranlagen Bozen
                                                                                           und Meran sind noch mehrere kleinere
                                                                                           Anlagen im Vinschgau in das Projekt
                                                                                           eingebunden. Ebenfalls als Partner mit
                                                                                           im Boot ist die Kläranlage des Abwasser-
                                             IM ZULAUF österreichischer Kläranlagen        zweckverbandes Liechtenstein.
                                             konnten Reste des SARS2-Coronavirus
                                             nachgewiesen werden. Auch in der Kläran-                   Monitoringsystem
                                             lage Strass/Zillertal wird das Abwasser auf   Eine Herausforderung stellt auch die Da-
                                             Virus-Rückstände untersucht.                  tenauswertung dar, wobei es darum geht,
                                                                                           zu den Einzugsgebieten der Kläranlagen
                                                                                           passende Infektionszahlen bereitzustel-
                                             Spuren des Virenerbguts können detek-         len, um Korrelationen zwischen den ge-
                                             tiert werden“, betont Heribert Insam.         messenen Virenwerten im Abwasser und
                                             „Das ist von zentraler Bedeutung, weil        der Krankheitsausbreitung herstellen
                                             die Menge viraler RNA im Abwasser             zu können. „Dieses Monitoring könnte
                                             weit unter jener von infektiösen Tröpf-       Gesundheitsbehörden unterstützen, die
                                             chen liegt.“ Wichtig ist zu betonen, dass     über Zeitpunkt und Schwere von Inter-
                                             das Abwasser selbst nicht als Infektions-     ventionen wie Kontaktvermeidung oder
                                             quelle gilt. „Auch wenn Viren-RNA im          Quarantänemaßnahmen entscheiden
                                             Wasser nachgewiesen werden kann, be-          müssen“, ist Heribert Insam überzeugt.
                                             deutet das nicht, dass vom Wasser eine        „Den Behörden wird damit ein Instru-
Analyse von dort entnommenen Proben          Infektionsgefahr ausgeht“, beruhigen die      ment in die Hand gegeben, mit dem die
Rückschlüsse auf die Verbreitung der         Wissenschaftler.                              Wirksamkeit der gesetzten Interventio-
Infektionen in der Bevölkerung gezogen                                                     nen zeitnah abgeschätzt werden kann.“
werden“, erläutert der Mikrobiologe            Wiederaufflammen erkennen                     An der Universität Inns­bruck arbeiten
Heribert Insam. „Dadurch kann ein zu-        Derzeit arbeiten die beiden PhD-Studie-       das Institut für Mikrobiologie sowie der
sätzliches Instrument für ein aussage-       renden Rudolf Markt und Nina Lackner          Arbeitsbereich für Umwelttechnik ge-
kräftiges Breiten-Screening bereitgestellt   sowie die studentische Mitarbeiterin Eve-     meinsam mit drei Ausgründungen der
werden.“                                     lyn Peer am Institut für Mikrobiologie an     Universität – BioTreaT, Sinsoma und hy-
  Ganz ähnliche Methoden wurden              der Optimierung der Probenaufbereitung        dro-IT – an dem Vorhaben: BioTreaT er-
zum Nachweis von SARS-CoV-2 im Ab-           und Analytik. Dies geschieht in enger         hielt im Rahmen des Corona Emergency
wasser auch bereits in den Niederlanden      Abstimmung mit den weiteren Partnern          Calls der Bundesregierung eine finanzi-
und den USA eingesetzt. Mit diesen For-      des Coron-A-Konsortiums vom Institut          elle Förderung für das Vorhaben. Die
schungsgruppen stehen die „Coron-A“-         für Gerichtsmedizin der Medizinischen         Regierung stellt dafür über die österrei-
Partner in engem Kontakt und arbeiten        Universität Inns­bruck, der Agentur für       chische Forschungsförderungsgesell-
gemeinsam an der Umsetzung des Ver-          Gesundheit und Ernährungssicherheit           schaft FFG entsprechende Mittel zur Ver-
fahrens in Österreich. Die ersten Schritte   GmbH (AGES) und der TU Wien. „In              fügung, welche die Forschung im Kampf
in Inns­bruck wurden vom Förderkreis         fast allen bisher untersuchten Abwasser-      gegen das Coronavirus beschleunigen
1669 der Universität Inns­bruck finanziell   proben konnten wir virale RNA nach-           sollen. cf
unterstützt.                                 weisen und somit den Proof of Concept
  Anhand von Abwasserproben von              erbringen“, freut sich Rudolf Markt, von
Kläranlagen aus Tirol und dem Groß-          dem auch die zündende Idee zu diesem
raum Wien konnten die Wissenschaft-          Projekt stammt.
lerinnen und Wissenschaftler im April          Das Team will nun Abwasserproben
erste reproduzierbare Ergebnisse erzie-      in unterschiedlicher räumlicher und
len. Mit der auch für den Nachweis beim      zeitlicher Auflösung sammeln und ana-
Menschen eingesetzten PCR-Methode            lysieren, um die Grundlagen für ein ab-
wird dabei nicht das aktive, infektiöse      wasserepidemiologisches Monitoring zu
Virus nachgewiesen, sondern dessen vi-       schaffen. Ein regionales Wiederaufflam-       Die Mitglieder aus Nordtirol, Osttirol, Vorarlberg, Südtirol,
                                                                                           Liechtenstein und Luxemburg unterstützen die Universität als
rale RNA. Der Test reagiert somit auch       men der Epidemie soll sich dadurch früh-      Netzwerk von Verbündeten, als Brücke in die Gesellschaft –
                                                                                           sowohl ideell als auch materiell.
auf Virenbruchstücke. „Selbst geringste      zeitig erkennen lassen. Aktuell arbeiten      Infos: www.uibk.ac.at/foerderkreis1669

                                                                                                                             zukunft forschung 01/20       31
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ÖKOLOGIE

                               KLEINE URSACHE,
                               GROSSE WIRKUNG
         Wasserflöhe gehören zu den kleinsten Bewohnern in heimischen Seen, sind für ein funktionierendes
     ­Ökosystem aber entscheidend. Der Ökologe Markus Möst untersucht diese Kleinstlebewesen im Bodensee.

                                                                                                                                  DIE IM BODENSEE
                                                                                                                                  heimische Wasserfloh-
                                                                                                                                  Art Daphnia longispina
                                                                                                                                  steht im Zentrum des
                                                                                                                                  Forschungsinteresses
                                                                                                                                  von Markus Möst (1).
                                                                                                                                  Der Forscher vom
                                                                                                                                  Institut für Ökologie
                                                                                                                                  der Universität Inns­
                                                                                                                                  bruck untersucht auch
                                                                                                                                  sogenannte Dauereier,
                                                                                                                                  die im Seesediment
                                                                                                                                  gelagert sind (2, bei
                                                                                                                                  einer Probenentnahme
                                                                                                                                  an Bord). Durch die
                                                                                                                                  Schichten im Bohr-
                                                                                                                                  kern des Seesediments
                                                                                                                                  lassen sich die daraus
                                                                                                                                  gewonnenen Dauer-
                                                                                                                                  eier gut datieren (3, im
                                                                                                                                  Bild ein Ausschnitt des
      1                                                                                                                           Bohrkerns).

                                                     2     3

     W
                asserflöhe zählen zur Gattung            gewährleisten eine gute Wasserqualität,     wasser-Ereignis zu viele Schwebstoffe ins
                der Krebse, sie sind daher auch          indem sie Algen und Bakterien aus dem       Wasser eingetragen, was dazu führte, dass
                keine Flöhe. Sie leben im uferfer-       Wasser filtrieren. Zudem sind sie eine      die Daphnien-Population im See zugrunde
     nen Freiwasserbereich, dem sogenannten              wichtige Futterquelle für größere Wasser-   ging. Das Fehlen dieser Art hatte zur Fol-
     Pelagial, und übernehmen hier eine zent-            bewohner. Wie wichtig Wasserflöhe für       ge, dass auch der gesamte Fischbestand im
     rale Funktion“, erklärt Markus Möst vom             das Ökosystem See sind, verdeutlicht Möst   See zusammengebrochen ist.“
     Institut für Ökologie. Daphnien, so die la-         anhand eines Beispiels: „Im Brienzersee       Unter dem Titel „SeeWandel: Leben im
     teinische Bezeichnung der Wasserflöhe,              im Kanton Bern wurden durch ein Hoch-       Bodensee – gestern, heute und morgen“

32   zukunft forschung 01/20                                                                          Fotos: Andreas Friedle (1), Markus Möst (2), Jana Isanta Navarro (1)
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ÖKOLOGIE

untersuchen Wissenschaftlerinnen und           internationaler Kollegen Wasserfloh-Po-           Um die Entwicklung der Hybridisie-
Wissenschaftler aus sieben Forschungs-         pulationen aus dem Bodensee sowie aus           rungen der zwei Daphnien-Arten über
einrichtungen Deutschlands, Österreichs        zahlreichen deutschen, österreichischen,        eine gewisse Zeit zu untersuchen, ent-
und der Schweiz den Einfluss von Nähr-         Schweizer und nordamerikanischen Seen           nahmen die Ökologen Bohrkerne aus
stoffrückgang, Klimawandel, gebiets-           und sequenzierten ihre Genome. Der Ver-         dem Seesediment und untersuchten die
fremder Arten und anderer Stressfakto-         gleich dieser Daten sollte zeigen, ob und       dort abgelagerten Dauereier. „Aufgrund
ren auf das Ökosystem Bodensee, seine          zu welchem Grad Hybridisierungen der            der oftmals ungestörten, chronologisch
Biodiversität und Funktionsweise sowie         beiden Arten Daphnia longispina und Daph-       abgelagerten Schichten in den Bohrker-
die menschliche Nutzung am See. Möst           nia galeata stattgefunden haben.                nen des Seesediments können wir die
koordiniert den Teilbereich Pelagial des          Diese Untersuchungen kombinier-              daraus entnommenen Dauereier sehr
Interreg-Projektes.                            ten die Inns­brucker Wissenschaftler mit        gut datieren. Die Analyse zeichnet dann
                                               einem innovativen Ansatz. Sie nutzten           ein sehr deutliches Bild der Entwicklung
       Nährstoff-Überschuss                    einen Reproduktionsmechanismus, den             über ein relativ langes Zeitfenster in die
Die im Bodensee heimische Art des Was-         die Daphnien unter Stress anwenden.             Vergangenheit, zu dem wir sonst keinen
serflohs, Daphnia longispina, ist perfekt an   „Daphnien vermehren sich normalerweise          Zugang hätten“, erklärt Möst. Sein Team
das Leben in Alpenseen angepasst und           klonal, das heißt, sie teilen sich ohne Paa-    hat Sedimentkerne aus drei Seen entnom-
kann sehr gut in nährstoffarmen Gewäs-         rungsvorgang. Wenn ihre Nahrung limi-           men, um ein möglichst breites Spektrum
sern überleben. Im Zuge der sogenannten        tiert ist, ändern sie allerdings ihre Strate-   an Ergebnissen zu erhalten. „Die ausge-
Eutrophierung der Seen in den 1980er-Jah-      gie, bilden Männchen und Weibchen aus,          wählten Gewässer Zürichsee, Bodensee
ren – durch die Verwendung phosphathal-        paaren sich und legen sogenannte Dauer-         und Walensee unterscheiden sich sowohl
tiger Waschmittel, fehlende Kläranlagen        eier ab, um den Fortbestand ihrer Popu-         in ihrer geografischen Lage als auch im
und eingeschwemmten Dünger kam es in           lation zu sichern“, beschreibt Möst. Diese      Besiedelungsgrad, was zu Unterschieden
den Seen zu einem Nährstoff-Überschuss         Dauereier werden von Wind, Strömungen           in ihrer Eutrophierung führt“, erläutert
– gelang es der invasiven Wasserfloh-Art       und Tieren verbreitet, sie sinken aber auch     der Ökologe.
Daphnia galeata, sich im Bodensee anzusie-     auf den Seeboden ab und werden dort im
deln. „Diese invasive Daphnien-Art wächst      Lauf der Zeit von Seesediment bedeckt.              Deutliche Vermischungen
schneller als Daphnia longispina, braucht                                                      Die ersten Ergebnisse dieser umfassenden
dazu aber mehr Nährstoffe“, erklärt Möst.                                                      Analysen zeigen bereits einen deutlichen
Eine Befürchtung der Forscherinnen und                                                         Genaustausch zwischen den Arten Daph-
Forscher war deshalb, dass die heimische                                                       nia longispina und Daphnia galeata. „Die
Daphnia longispina von ihren invasiven                                                         einzelnen Arten haben zum Teil geneti-
Verwandten verdrängt werden könnte,                                                            sches Material der anderen Art in ihren
was bei einer Rückkehr zum ursprüng-                                                           Genomen integriert“, resümiert Möst. Im
lichen, geringen Nährstoffangebot fatal                                                        Zuge der Untersuchungen zeigte sich ei-
wäre. „Wenn die invasive Art sich nicht an                                                     ne weitere Entwicklung für die Ökologie
die neuen Bedingungen anpassen könnte,                                                         der Seen. „Nachdem die Eutrophierung
würde die Wasserfloh-Population im Ge-                                                         mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielt,
wässer zusammenbrechen“, beschreibt                                                            bemerken wir jetzt Auswirkungen des
der Ökologe.                                                                                   Klimawandels auf den Lebensraum See.
   Der Eutrophierung der Gewässer wur-                                                         So tauchte vor rund drei Jahren eine wei-
de inzwischen durch ein Verbot phosphat-                                                       tere Wasserfloh-Art, Daphnia cucullata, im
haltiger Waschmittel und die Verbesse-                                                         Bodensee auf. Über die genauen Gründe
rung der Kläranlagen entgegengewirkt,                                                          dieser Invasion können wir allerdings bis-
wie sich diese Verbesserungen auf die                                                          lang nur spekulieren“, sagt Markus Möst.
Eigenschaften der Wasserflöhe im Boden-                                                           Hybridisierungen mit dieser neuen Art
see genau ausgewirkt haben, ist aber noch                                                      wären möglich und sind aus anderen
unklar. „Im Rahmen unseres Forschungs-           MARKUS MÖST absolvierte ein Master-           Seen bekannt. Allerdings sind solche Hy-
projektes interessiert uns vor allem, inwie-     Studium der Zoologie an der Universität       bridisierungen in den Voralpenseen selte-
weit die invasive Art Daphnia galeata die        Inns­bruck, das er 2008 abschloss. Nach       ner und auch im Labor lässt sich Daphnia
heimischen Wasserflöhe Daphnia longispi-         einer Zeit als Forschungsassistent an der     cucullata mit den anderen Arten nur
na beeinflusst hat und ob es hier zu einer       Uppsala University in Schweden folgte         schwer kreuzen. Ob dies an unterschied-
Vermischung der Arten beziehungsweise            ein PhD-Studium (2009-2014) am Was-           lichen genetischen Schranken liegt oder
zum Austausch von wichtigen Genen im             serforschungsinstitut Eawag und an der        andere Ursachen hat, steht genauso im
Zuge der Hybridisierung gekommen ist“,           ETH Zürich. Im Anschluss war Möst als         Fokus der weiteren Forschungsarbeit wie
erklärt Markus Möst.                             Postdoc an der University of Cambridge        die unterschiedlichen Eigenschaften der
   Um dies herauszufinden, sammelten             tätig, bevor er 2016 in die Arbeitsgruppe     Hybride zwischen Daphnia longispina und
Möst und die in das Projekt eingebundene         Molekulare Ökologie am Inns­brucker           Daphnia galeata im Vergleich zu ihren El-
PhD-Studentin Tania Holtzem mit Hilfe            Institut für Ökologie wechselte.              ternarten.                         sr

                                                                                                                      zukunft forschung 01/20   33
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                QUANTENOPTIMIERUNG
              Das Lösen von komplexen Optimierungsproblemen steht im Fokus eines neuen Spin-offs der
                    Universität Inns­bruck und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

     WOLFGANG LECHNER und Magdalena Hauser führen das neue Quanten-Unternehmen in Inns­bruck.

     W
               eltweit arbeiten Unternehmen an      chitecture sind Quantenbits für Optimie-      Universität und Akademie gemeinsam mit
               den ersten kommerziellen Quan-       rungsprobleme erstmals voll program-          privaten Investoren ist ein weiterer Schritt,
               tencomputern, die den „Quan-         mierbar – das war bis dato skalierbar noch    um den wissenschaftlichen Vorsprung Eu-
     ten-Vorteil“ gegenüber herkömmlichen           nicht möglich. Die Architektur erlaubt        ropas bei den Quantentechnologien auch
     Computern ausspielen und erste nützli-         auch die volle Parallelisierbarkeit von Al-   in einen kommerziellen Erfolg umzumün-
     che Anwendungen finden. Das Lösen von          gorithmen, die Leistungsengpässe verhin-      zen. ParityQC ist bereits das zweite Quan-
     komplexen Optimierungsproblemen, die           dert. Weil die Entwicklung von Software       ten-Start-up im Portfolio der Uniholding
     heute auf den größten Supercomputern           und Hardware nach Auffassung des Un-          der Universität Inns­bruck.“
     berechnet werden, könnte in Zukunft mit        ternehmens gemeinsam und gleichzeitig
     Quantencomputern sehr viel schneller und       passieren muss, entwickelt ParityQC zur               Aus Tirol in die Welt
     effizienter gelingen. Quantenoptimierung       Architektur das dazugehörige Betriebs­        ParityQC agiert international, will aber
     gilt daher als vielversprechendste erste       system ParityOS – eine Plattform, die         weiterhin von Inns­bruck aus tätig sein und
     Anwendung von Quantencomputern.                Compiler, Optimierung von Algorithmen         wird von den Geschäftsführern Wolfgang
                                                    und Chip-Layouts automatisiert erstellt.      Lechner und Magdalena Hauser aufge-
      Aus der Grundlagenforschung...                                                              baut. Hauser ist ehemalige Geschäftsfüh-
     Die in Inns­bruck gegründete ParityQC                   ...in die Wirtschaft                 rerin des I.E.C.T. – Hermann Hauser, Mit-
     GmbH will den weltweiten Standard für          „Österreich ist weltweit führend im Be-       gründerin von AI Austria und wurde un-
     Quantenoptimierung setzen. Dabei profi-        reich Quantenphysik. ParityQC hat dem-        ter die Forbes 30 under 30 gewählt. Lech-
     tiert das Unternehmen vom internationa-        nach großes Potenzial, aufbauend auf          ner ist Professor am Institut für Theoreti-
     len Rennen um das beste Quantenbit und         der exzellenten Forschung von Wolfgang        sche Physik und hat u. a. im vergangenen
     den besten Algorithmus, da die an der          Lechner, ein großer Player im Quanten-        Jahr den Houska-Preis der B&C Privatstif-
     Universität Inns­bruck und der Österrei-       computermarkt zu werden. Ganz beson-          tung mit dem der Firmengründung zu-
     chischen Akademie der Wissenschaften           ders freut es mich, dass die Firma weiter-    grunde liegenden Patent für die sogenann-
     (ÖAW) entwickelte und inzwischen pa-           hin aus Österreich heraus agieren wird“,      te LHZ-Architektur gewonnen. Entwickelt
     tentierte Architektur all diesen Plattfor-     sagt Venture Capitalist Hermann Hauser,       hat Lechner die Architektur gemeinsam
     men fundamentale Vorteile bietet: Sie ist      der gemeinsam mit Herbert Gartner, Angel      mit Philipp Hauke und Peter Zoller an der
     programmierbar, skalierbar und paralleli-      Investor bei eQventure, in die ParityQC       Universität Inns­bruck und am Institut für
     sierbar – diese Kombination ist einzigartig.   GmbH investiert hat. Rektor Tilmann           Quantenoptik und Quanteninformation
     Mit der Parity Quantum Computing Ar-           Märk ergänzt: „Diese Ausgründung von          (IQOQI) der ÖAW.                     cf

34   zukunft forschung 01/20                                                                                                         Foto: ParityQC
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                                                                                                                             AQT GEHT STRATEGISCHE
                                                                                                                              PARTNERSCHAFT EIN

                                                                                                                          D    as deutsche Quanten-Software-Start-
                                                                                                                               up HQS und das Inns­brucker Hard-
                                                                                                                          ware-Unternehmen Alpine Quantum
                                                                                                                          Technologies (AQT) bündeln ihre Kräf-
                                                                                                                          te zu einer strategischen Partnerschaft,
                                                                                                                          um den Markt für die Anwendung von
                                                                                                                          Quantencomputern gemeinsam zu er-
                                                                                                                          schließen. Die globale Partnerschaft ver-
                                                                                                                          bindet die Erfahrung von HQS Quantum
                                                                                                                          Simulation bei der Bereitstellung von
                                                                                                                          Software zur Erleichterung der bevorste-

           MOBILER HILFERUF                                                                                               henden Revolution im computergestütz-
                                                                                                                          ten Materialdesign mit dem Know-how
                                                                                                                          von AQT im Bereich des Ionenfallen-
                                                                                                                          Quantencomputers.
     2PCS Solutions, ein Spin-off der Uni Inns­bruck, bietet im Kampf
                    gegen den Coronavirus Hilfe an.

E
      in ursprünglich für Seniorinnen                                        tungsfunktion in Notfällen für Non-Pro-
      und Senioren konzipiertes Ruf-                                         fit-Einsatzzwecke softwarelizenzkosten-
      und Ortungssystem in Pflege- und                                       frei zur Verfügung zu stellen“, sagt Felix
Betreuungseinrichtungen wird in CO-                                          Piazolo vom Institut für Strategisches
VID-19-Zeiten in provisorischen Kran-                                        Management, Marketing und Tourismus
kenpflegeeinrichtungen eingesetzt. Die                                       an der Uni Inns­bruck und Co-Gründer
2PCS Solutions GmbH, ein Spin-off der                                        von 2PCS Solutions. Das System wurde            „Derzeit lösen wir stark korrelierte Git-
Uni Inns­bruck, bietet im Kampf gegen                                        bereits ad hoc in je zwei Pflegeheimen in    termodelle mit Hilfe von DMRG (Den­-
den Coronavirus ihre Hilfe an. „Wir ha-                                      Österreich und Deutschland als Zwi-          sity Matrix Renormalization Group).
ben uns auf Basis der aktuellen gesell-                                      schenlösung für Notsituationen in An-        Doch egal wie optimiert die Methode
schaftsrelevanten Entwicklungen von                                          spruch genommen. Die mobile Rufaus-          auch sein mag, klassische Computer
COVID-19 und der aktuellen Flüchtlings-                                      lösung über einen Handfunksender oder        sind grundsätzlich begrenzt“, sagt Mi-
situation dazu entschieden, für zeitkriti-                                   einen Birntaster ermöglicht eine eindeu-     chael­Marthaler, CEO von HQS Quan-
sche Einsatzzwecke in Pandemie- und                                          tige Zuordnung und erleichtert den Pfle-     tum Simulations, „während es eine Weile
Krisengebieten die 2PCS Web-Plattform,                                       gekräften den Überblick über die Patien-     dauern wird, bis Quantencomputer die
die 2PCS mobile App sowie die 2PCS Or-                                       tinnen und Patienten.                       bestehenden Methoden überholen, wol-
                                                                                                                          len wir die Lösung von kleinen Testmo-
                                                                                                                          dellen auf dem AQT-Quantencomputer
                                                                                                                          ermöglichen.“
UNI INNS­BRUCK WIRD GASTGEBERIN DER UNI-KLETTER-WM
                                                                                                                             AQT, ein Spin-off der Uni Inns­bruck

D     ie Uni Inns­bruck erhielt im Februar den Zuschlag zur Durchführung der World University
      Championship Sport Climbing 2022. Damit findet nach der Winter-Universiade im Jahr
2005 wieder ein universitäres Großsportereignis in Österreich statt. Die Bewerbung erfolg-
                                                                                                                          und der Österreichischen Akademie der
                                                                                                                          Wissenschaften, ist ein führendes Start-
                                                                                                                          up im Rennen um den Bau eines Quan-
te durch die nationale Universitäts-Sportorganisation Unisport Austria gemeinsam mit der                                  tencomputers und realisiert mit Hilfe
Universität Inns­bruck, vertreten durch das Universitäts-Sportinstitut, und dem Kletterverband                            öffentlicher Investitionen Quantencom-
Österreich. „Im Herzen der Alpen ist Sport ein zentrales Thema in Inns­bruck. Ich freue mich                              puter, die auf der individuellen Manipu-
sehr, dass die Universität Inns­bruck wieder Austragungsort eines internationalen universitären                           lation von gefangenen geladenen Ato-
Wettkampfes wird. Die für die Universität Inns­bruck antretenden Athletinnen und Athleten                                 men basieren. Die Ionenfallen-Plattform
                                                    messen sich hier mit den Besten der Welt,                             hat eine geringe Fehlerrate und kann
                                                    genauso wie unsere Forscherinnen und                                  leicht auf größere Systeme hoch­skaliert
                                                    Forscher. Spitzensport und Spitzenforschung                           werden. „Die Kombination der Theorie-
                                                    verbinden Menschen mit ihren Fähigkei-                                und Software-Erfahrung von HQS mit
                                                    ten, Ideen und Zielen in unterschiedlichen                            der Hardware- und Ingenieurskompe-
                                                    Disziplinen international miteinander. Ich                            tenz von AQT wird den nutzer- und an-
                                                    wünsche schon jetzt den Verantwortlichen                              wendungsorientierten Fortschritt erheb-
                                                    alles Gute für die Vorbereitungen dieser Ver-                         lich erleichtern“, sagt Thomas Monz,
                                                    anstaltung“, so Rektor Tilmann Märk.                                  Geschäftsführer von AQT. 

Fotos: 2PCS Solutions (1), IQOQI Inns­bruck/Harald Ritsch (1), Uni Inns­bruck (1)                                                                zukunft forschung 01/20   35
MUSIKWISSENSCHAFT

                                               TRANSALPINE
                                              VERBUNDENHEIT
                                        Der Musikwissenschaftler Raymond Ammann hat sich mit der Geschichte
                                       des Jodelns im Alpenraum beschäftigt und vergleicht die Entwicklungen in
                                                                Tirol und der Schweiz.

     EINE GRUPPE von

                                       S
     ­JodlerInnen aus der Steiermark         ingen ohne Text und der Wechsel zwi-     selbst, wenn man jemandem ganz intuitiv ein
      – Heli Gebauer, Gretl Steiner          schen Brust- und Kopfstimme sind die     ‚Juhuu’ zuruft. Beim lauten Rufen springt die
      und Willi Mayer (v.l.).                Charakteristika eines Jodlers, der vor   Stimme oft ungewollt in die Kopfstimme – die
                                       allem im Alpenraum weit verbreitet ist. Von    Grundtechnik des Jodlers“, erklärt Raymond
                                       der Nachbildung des Alpenprofils durch         Ammann, der sich aber vor allem mit der Ver-
                                       die Notenlinien bis hin zum Ausdruck von       breitung des Jodlers wissenschaftlich ausein-
                                       Emotionen – zur Entstehung des Jodlers         andersetzt. Diese Art des registerwechselnden
                                       existieren die unterschiedlichsten Theorien.   Gesangs, von Brust- zu Kopfstimme, kam in
                                       Als gesichert gilt allerdings die ursprüng-    der Schweiz in den Kuhreihen vor und war
                                       liche Funktion der musikalischen Vorform       in Tirol als „Kuhschroa“ bekannt – jedenfalls
                                       des Jodlers, die zur Kommunikation gedient     war es auch hier ein Kommunikationsmittel,
                                       haben soll. „Früher lebten die Menschen in     um die Kühe zu rufen. Selbst wenn die Ge-
                                       den Alpen häufig weit auseinander. Der über    sangstechnik schon länger existiert, der Be-
                                       weite Entfernungen hörbare Ruf half zur Ver-   griff „Jodeln“ wurde erstmals 1796 von Ema-
                                       ständigung vom Berg ins Tal. Wanderinnen       nuel Schikaneder – im Singspiel „Der Tyroler
                                       und Wanderer kennen dies vielleicht auch       ­Wastl“ – als Gesangsbezeichnung verwendet.

36   zukunft forschung 01/20                                                                                   Fotos: Eva Banholzer (1), privat (1)
MUSIKWISSENSCHAFT

Im FWF-Projekt „,Tirolerei’ in der Schweiz“     Jahrhunderts das Jodeln sowohl in Österreich
hat Raymond Ammann mit seinem Team die          als auch in der Schweiz bei der Mehrheit der
Transkulturalität sowie Transnationalität des   städtischen Bevölkerung als streng patriotisch
Jodlers untersucht.                             verschrien war und abgelehnt wurde.“ Diese
                                                Haltung hat sich vor allem in den vergange-
           Höhen und Tiefen                     nen zehn bis 15 Jahren deutlich verändert.
Der Jodler blickt im österreichischen und
Schweizer Alpenraum auf eine über 200-jähri-               Jodler-Renaissance
ge Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte      Hat man früher, vor etwa 100 Jahren, noch
zurück – und damit auf nicht nur musikali-      das Jodeln in der Familie gelernt, so werden
sche Höhen und Tiefen. „Die Vermischungen       heute diverse Workshops zum Erlernen die-
und Übernahmen des alpinen Gesangsgutes         ser Gesangstechnik angeboten. „Neben den
                                                             traditionellen Wegen des Ver-
                                                             mittelns von Jodlern werden
„Vor dem Hintergrund des deutsch­                           heute moderne Jodelworkshops
 nationalistischen­­Gedankengutes im Zweiten                 angeboten – häufig auch von
 ­Weltkrieg haben Schweizer ­Musiker versucht,               ausgebildeten Sängerinnen und
  zu zeigen, dass sie sich deutlich vom ­deutschen Sängern, die hier eine Nische
  oder ­tirolerischen Jodler ­abgrenzen.“ Raymond Ammann gefunden haben“, erklärt der
                                                             Musikwissenschaftler. Damit
                                                             verändert sich nicht nur das An-
verliefen vielseitig und auch gegenläufig, so- gebot, sondern auch die Klientel dieser Work-
dass komplexe, mehrdimensionale und teil- shops. „Es sind hauptsächlich Städter, die In-
weise beinahe unüberschaubare Übernahme- teresse an solchen Workshops haben“, so der
prozesse bei deren Verbreitung mitspielten“, Experte, der erwähnt, dass das Jodeln, etwa
erläutert Ammann, der betont, dass Forsche- in Verbindung mit Yoga oder Pilates, immer
rinnen und Forscher seit über 100 Jahren den mehr auf eine Ebene der Geistigkeit gehoben
Entstehungswegen des Jodlers auf der Spur und damit zu einer Art Lifestyle wird. Den
sind. Dieses musikalische Kulturgut beschritt Körper zu öffnen und die Stimme zu befreien
vielfältige geografische und soziale Wege und – so lauten Konzepte, mit denen die therapeu-
durchlebte unterschiedliche Arten des Trans- tische Wirkung des Singens und Jodelns be-
fers. „Damit einher ging ein sich mehrmals tont werden soll. „Derartige Entwicklungen
wandelndes Verständnis von Authentizität, dürfte bereits Loriot in seinem Jodeldiplom
das nicht nur den lokalen Umgang mit Jod- vorhergesehen haben, wenn auch mit einem
lern und Jodelliedern maßgebend beeinfluss- Augenzwinkern“, schmunzelt Ammann.
te, sondern auch die Bereitschaft zur Aneig-       Im Gesang und vor allem im traditionellen
nung und Übernahme fremden Musikgutes Jodler entwickelt sich ein starkes Wir-Gefühl
wesentlich bestimmte“, so der Musikwissen- der Kulturen. „Während das Jodeln also in be-
schaftler, der in seiner Forschung ein besonde- stimmten Zeiten ein Mittel zur Abgrenzung
res Augenmerk auf die nationalen Identitäten, und Distinktion darstellte sowie zur nationa-
den Kulturtransfer und die Authentizität ge- len Profilierung eingesetzt wurde, wirkt es         RAYMOND AMMANN ist
legt hat.                                       heute durch die Vermittlung bei Workshops        Musikethnologe am Institut
   Vor allem gegen Ende des 19. und zu Be- und Jodlertreffs sowie durch die Verbindung           für Musikwissenschaft an der
ginn des 20. Jahrhunderts wurde der Jodler mit verschiedenen Genres kulturverbindend             Universität Inns­bruck und
für politische Zwecke instrumentalisiert. und stellt ein breites Identifikationsangebot          Forscher an der Hochschule
„Vor dem Hintergrund des deutschnationa- zur Verfügung, das weit über die nationalen,            Luzern. Ammann lebt in der
listischen Gedankengutes im Zweiten Welt- traditionellen, historischen und stilistischen         Nähe von Luzern und in Inns­
krieg haben Schweizer Musiker versucht, zu Grenzen hinausgeht“, so der Musikwissen-              bruck und interessiert sich für
zeigen, dass sie sich deutlich vom deutschen schaftler. Die Internationalisierung des Jodlers    unterschiedliche Forschungs-
oder tirolerischen Jodler abgrenzen. Sie haben in Workshops sowie die Miteinbeziehung in         regionen, wie die Polarregion,
krampfhaft versucht, Eigenheiten im schwei- die Neue Volksmusik und andere Musikrich-            Melanesien und die Alpen-
zerischen Jodeln zu finden, die gegen eine tungen werden dafür sorgen, dass der Jodler           region. Sein Forschungs-
Gemeinsamkeit mit dem Tiroler Jodeln spre- in absehbarer Zeit nicht aussterben, sondern          schwerpunkt liegt dabei auf
chen“, verdeutlicht Ammann: „Die Funktio- durch seine Traditionsträgerinnen und -träger          Ritualmusik, Jodeln und Mu-
nalisierung des Jodelns durch den Nationalso- kontinuierlich umgeformt wird. In der Musik        sikkognition. Ammann leitet
zialismus sowie dessen Folklorisierung nach kommen Menschen zusammen, Kulturen                   verschiedene Forschungspro-
dem Zweiten Weltkrieg führten dazu, dass werden verbunden und Grenzen überwunden                 jekte und doziert Musikethno-
von den 1960er-Jahren bis zum Ende des 20. – auch ohne Diplom.                        dp        logie und Popularmusik.

                                                                                                            zukunft forschung 01/20   37
GESCHICHTE

                                  HISTORISCHE
                                 DETEKTIVARBEIT
                 Fragmente älterer Bücher als Teil neuer Bände wurden bisher öffentlich wenig beachtet,
                                            das ändert ein aktuelles Projekt.

     S
           ie befinden sich in Orgeln, in Altä-       Die Historikerin ist Mitarbeiterin im                    etwa als Baumaterial,­­oder aber als Be-
           ren, wurden als Baumaterial ver-        Projekt „Die abgelösten Handschriften-                      standteil neuer Bücher“, erklärt Sojer.
           wendet oder zu Spielwaren verar-        fragmente der Universitäts- und Lan-                        Letztere Verwendung ist auch die an der
     beitet – in Holland etwa zu Drachen für       desbibliothek Tirol und ihre digitale Er-                   Bibliothek erhaltene und verbreitete: Per-
     Kinder: Pergament- und Papierfragmente        schließung“ (siehe Kasten). „Wir unter-                     gament oder Papier zerschnittener von
     aus Büchern des Mittelalters und der frü-     scheiden mehrere Arten von Fragmen-                         Hand geschriebener Bücher findet sich
     hen Neuzeit, die nicht mehr gebraucht         ten. Einmal die Katastrophenfragmente:                      dann zum Beispiel als zusammengekleb-
     wurden, fanden vielseitig Verwendung.         Hier sind Bücher unvollständig, weil                        ter Karton und mit Leder überzogen als
     Und sie erlauben Rückschlüsse auf die         ihnen sozusagen etwas ‚zugestoßen‘ ist,                     Einband von neueren Büchern wieder.
     Verbreitung von Schriften, erzählen da-       etwa ein Feuer, eine Überschwemmung,
     durch eigene Geschichten – jedes Frag-        aber auch bewusste Beschädigungen                                     Herkunft der Fragmente
     ment wirft eine ganze Reihe von For-          im Rahmen von kriegerischen Ausein-                         Wir assoziieren heute mit der Zerstörung
     schungsfragen auf. Die historische For-       andersetzungen oder Verbrechen fallen                       von Büchern meist böse Absicht, die Ver-
     schung hat derartige Fragmente deshalb        darunter. Außerdem Sammler- oder                            nichtung von Kulturgut ist zurecht ver-
     bereits seit Längerem zum Gegenstand,         Kunstfragmente, für die Bücher eben-                        pönt. Dass mit der Weiterverwendung
     wie Claudia Sojer erklärt: „Die wissen-       falls ganz bewusst zerschnitten wurden,                     von Pergament in anderen Produkten
     schaftliche Bearbeitung von Buchfrag-         aber nicht, um sie zu zerstören, sondern                    zugleich Unliebsames zerstört werden
     menten reicht bis ins Mittelalter zurück      um zum Beispiel golden verzierte Buch-                      sollte, war im Mittelalter und in der
     und etablierte sich durch die italienischen   staben zu sammeln – die wurden dann                         frühen Neuzeit allerdings nicht zwangs-
     Humanisten, aber natürlich sind die Mit-      an Sammler verkauft. Daneben, und das                       läufig der Fall: „Zum einen wissen wir
     tel, die uns dafür heute zur Verfügung        ist ein sehr großer Teil, gibt es die Hand-                 von Pergamentmärkten, wo sozusagen
     stehen, deutlich umfassender und ma-          werksfragmente: Hier wurden Bücher                          aus zweiter Hand Buchfragmente für
     chen die Arbeit auch um einiges leichter.“    für andere Zwecke weiterverarbeitet,                        die Weiterverwendung verkauft wur-

38   zukunft forschung 01/20                                               Fotos: Andreas Friedle (1), Claudia Sojer und ULB Tirol, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Frg. 11 (2)
GESCHICHTE

                                             DIE ABGELÖSTEN Handschriftenfragmente der Universitäts- und Landesbibliothek
                                             Tirol und ihre digitale Erschließung“ ist ein über den Jubiläumsfonds der Österreichischen
                                             Nationalbank gefördertes dreijähriges Projekt. Angesiedelt ist es am Institut für Geschichts-
                                             wissenschaften und Europäische Ethnologie sowie in der Abteilung für Sondersammlungen
                                             der Universitäts- und Landesbibliothek, untersucht werden die abgelösten Handschriften-
                                             fragmente der Bibliothek, die über das Portal „Fragmentarium. Digital Research Laboratory
                                             for Medieval Manuscript Fragments“ öffentlich zugänglich gemacht werden. Projektleiter ist
                                             Martin Wagendorfer (zu Beginn an der Universität Inns­bruck, heute LMU München), Claudia
                                             Sojer (im Bild) ist – zusammen mit Viviana Kleinlercher, die das Projekt als studentische
                                             Hilfskraft unterstützt – Projektmitarbeiterin in Inns­bruck. 2018 wurde das Projekt mit dem
                                             Eduard-Wallnöfer-Anerkennungspreis ausgezeichnet.
                                             Die zwei Abbildungen zeigen einen Buchumschlag (bestehend aus der Verleimung von zwei
                                             Papierblättern; linkes Bild) sowie zwei Buchdeckel (bestehend aus der Verleimung von je
                                             sechs Papierblättern; rechtes Bild). Der so zur Gänze aus Papier hergestellte Recyclingeinband
                                             befand sich auf einem Druck von 1545, die verwendeten Fragmente zeigen verschiedene
                                             theologische Texte in Bastarda von mehreren Händen, Ende 15./Anfang 16 Jh.

den. Die Buchbinder und Handwerker,          diese Fragmente systematisch digital            Verknüpfung mit anderen – das macht
die hier eingekauft haben, haben mit der     zu erfassen und begibt sich auf Detek-          diese Arbeit auch besonders spannend.
Zerstörung meist nichts zu tun, und Per-     tiv- und Puzzlearbeit: „Der erste Schritt       Fragmente aus den USA können zum
gament, letztlich ja Tierhaut, war wert-     ist immer, das Fragment im Original zu          Beispiel aus dem gleichen Buch stammen
voll. Die Gründe, warum Fragmente auf        untersuchen, und es dann zu digitali-           wie ein Fragment in einem Buch hier in
derartigen Märkten landeten, waren oft-      sieren. Danach beginnt die Zuordnung:           Inns­b ruck und über ‚Fragmentarium‘
mals profan: Etwa wurden so Urkunden         Das ist vergleichsweise leicht, wenn            können wir den Ursprungsband rekons-
und Verträge entsorgt, die einfach nicht     ganze Seiten erhalten sind, da kann ich         truieren und auch gemeinsam anzeigen“,
mehr gültig waren.“ Aber auch Schriften,     dann auf Anhieb zumindest Sprache,              erklärt die Historikerin. Auch innerhalb
die nicht gelesen werden konnten, lan-       Schrifttyp und grob Inhalt feststellen,         Tirols ist Derartiges schon gelungen:
deten so auf derartigen Second-Hand-         meist lässt sich das dann rasch zuord-          Fragmente aus demselben Textzeugen
Märkten – etwa hebräisches, syrisches        nen. Kleinere Fragmente sind natürlich          der „Weltchronik“ des Rudolf von Ems
oder glagolitisches Schriftgut. „Viel        deutlich schwieriger, manchmal haben            finden sich zum Beispiel an der Univer-
stammt auch aus Klosterauflösungen,          wir auch nicht mehr als einzelne Papier-        sitätsbibliothek, im Tiroler Landesarchiv,
aber natürlich spielte auch religionspoli-   oder Pergamentstreifen aus Buchfalzen.          im Tiroler Landesmuseum und im Stift
tische Konkurrenz eine Rolle: Ein katho-     Aber auch da sind digitale Hilfsmittel          Stams, außerdem in der Staatsbibliothek
lisches Kloster kann mit protestantischen    Gold wert.“                                     zu Berlin und in der Badischen Landes-
Schriften wenig anfangen und verkauft           Die Inns­b rucker Fragmente werden           bibliothek in Karlsruhe.
sie deshalb zur Weiterverwertung“, sagt      auf der Plattform „Fragmentarium“                  Das aktuelle Projekt zur digitalen Er-
Claudia Sojer. „Was außerdem häufig zu       öffentlich zugänglich sein – ein wissen-        schließung der Fragmente in der Univer-
finden ist, sind zum Beispiel regionale      schaftliches Forschungslabor, das, be-          sitäts- und Landesbibliothek läuft bis
Messbücher aus der Zeit vor dem Trien-       ginnend mit großen Bibliotheken und             Ende dieses Jahres, aber allein in Tirol ist
ter Konzil. Damals, Mitte des 16. Jahr-      Sammlungen, als zentrale Plattform für          ein Großteil der Fragmente noch völlig
hunderts, wurde die römisch-katholische      die Bearbeitung und Untersuchung mit-           unerschlossen: viel Raum für mögliche
Liturgie vereinheitlicht, die Vorläufer      telalterlicher Handschriftenfragmente           Folgeprojekte also. „Am Beispiel der er-
wurden schlicht nicht mehr gebraucht.        dient. Mit der Österreichischen National-       wähnten Weltchronik sehen wir, dass
Gleiches gilt für Schulbücher, von denen     bibliothek ist die zentrale wissenschaftli-     sich da auch innerhalb Tirols viele Ver-
zusätzliche Exemplare entsorgt wurden,       che Bibliothek und größte Sammlung Ös-          knüpfungen auftun, die aber großteils
wenn diese abgenutzt oder deren Inhalte      terreichs dort ebenso vertreten wie große       noch nicht entdeckt sind. Hier sozusagen
überarbeitet wurden.“                        Bibliotheken und Sammlungen aus der             im Rahmen eines Tiroler ‚Fragmentari-
   Insgesamt 233 abgelöste handschrift-      ganzen Welt, etwa aus der Schweiz,              ums‘ die Bestände im Bundesland zu er-
liche Fragmente zählt Claudia Sojer an       Frankreich und den USA – und nun eben           schließen, Querverweise zu identifizie-
der Universitäts- und Landesbiblio-          auch die ULB Tirol. „‚Fragmentarium‘            ren und zugänglich zu machen, wäre ein
thek. Sie arbeitet gemeinsam mit einer       ermöglicht nicht nur die Darstellung der        lohnendes Ziel und ein schönes Folge-
studentischen Hilfskraft gerade daran,       eigenen Fragmente, sondern auch die             projekt“, sagt Claudia Sojer.       sh

                                                                                                                       zukunft forschung 01/20   39
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