Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
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N° 2/2020 Momentum Das österreichische Journal für positive Suchttherapie Herausgegeben vom Anton Proksch Institut Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte 1
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! V iele Superlative wurden in den letzten Monaten strapaziert, um die Herausforderun- gen, die durch die globale CoVid-19-Pandemie entstanden sind, zu beschreiben. Von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg war die Rede, von einer Welt, die nie wieder so sein würde wie zuvor, von bisher ungeahnten Transformationsprozessen für Gesellschaft und Wirtschaft. Wir im Anton Proksch Institut fokussieren uns auf die psychosozialen Folgeerschei- nungen des ersten Halbjahres 2020. Sicher haben Sie sich in den letzten Monaten gefragt, was es zum Beispiel in Menschen auslöst, wenn sie über lange Zeit keinen physischen Kontakt zu anderen haben 4 Ein maskierter Spaziergang durch den Alltag (Seiten 18–21); oder was es für uns als Gesellschaft bedeutet, wenn wir einander nur noch maskiert begegnen (Seiten 4–7). Es freut mich, dass wir mit der Biologin Elisabeth Oberzau- Margarethe cher und der Journalistin Margarethe Engelhardt-Krajanek Engelhardt-Krajanek zwei renommierte Gastautorinnen gefunden haben, die diese 8 beiden Aspekte der Corona-Krise beleuchten. Unterwegs auf neuen Pfaden Selbstverständlich möchten wir Ihnen auch einen Gabriele Gottwald- Einblick geben, wie wir im Anton Proksch Institut mit der Nathaniel CoVid-19-Krise umgegangen sind. Lassen Sie mich eines vor- weg sagen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses 12 Virus vernichtet Dogma Ernst C. Zach und seiner unterschiedlichen Einrichtungen haben Großarti- ges geleistet. Es ist uns gelungen, während der gesamten Zeit nicht nur den Betrieb aufrecht zu erhalten, sondern – phasen- 18 Kommunikation ist mehr als Worte Elisabeth Ober- weise als einzige Einrichtung für Suchtkranke in Österreich – Patientinnen und Patienten neu aufzunehmen. Dabei hat uns die Überzeugung geleitet, dass Suchtbehandlung kein zaucher elektiver Eingriff ist. Was das genau bedeutet, können Sie 22 „Sie laufen Gefahr, den Weg zurück ins reale Leben nicht zu an verschiedenen Stellen in „Momentum“ nachlesen – aus der Perspektive der Organisation, aus der Perspektive eines Arztes und aus der Perspektive einer Patientin. finden“ Und wo findet man in Phasen der Unsicherheit Orien- Roland Mader tierung? Die Redaktion hat nachgelesen bei den Denkern und Denkerinnen aus Philosophie und Soziologie. Die spannendsten Zitate finden Sie auf den Seiten 24 und 25. Die CoVid-19-Krise ist noch nicht vorbei – trotzdem erlauben wir uns eine erste Nachlese der vergangenen Monate. Selbstverständlich freuen wir uns darüber, wenn Sie unser Heft weiterempfehlen. Kostenlose Abonnements können Sie weiterhin per Mail an abo@api.or.at bestellen. Genießen Sie den Sommer und vor allem: Achten Sie auf sich und damit auch auf andere! Bleiben Sie gesund! DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS Geschäftsführerin 3
Ein maskierter Spaziergang durch den Alltag Was bis vor wenigen Monaten noch völlig undenkbar war, prägt seit Ausbruch der Corona-Pandemie auch in Österreich das Straßenbild: Menschen tragen Masken, um sich selbst und andere zu schützen. Aber was macht das mit uns? Eine psychologische und kulturhistorische Betrachtung. MARGARETHE ENGELHARDT-KRAJANEK B eim notwendig gewordenen Besuch in einer kann, um das Infektionsrisiko zu vermindern. Hände Zahnambulanz zeigt sich, dass die Gruppe waschen, Abstand halten, Maske tragen – das waren der Patientinnen und Patienten ausnahmslos die Slogans, die uns mehr als drei Monate lang be- medizinische Masken trägt. In der U-Bahn hingegen gleitet haben. Ist mit dem Ablegen der Maske nun wird beim Maskenschmuck der Individualität Rech- auch die Angst beseitigt, die diese verborgen hat? nung getragen. Fast alle halten sich an die Masken- Die medizinischen Masken, die im Zeitalter pflicht. Eine ältere Frau mit schwerem Einkaufswagen der CoVid-19-Pandemie das Straßenbild prägen, streift genervt ihre Maske ab, um zu telefonieren, sind zu 95 Prozent zum Fremdschutz gedacht. Diese was ihr strafende Blicke seitens der anderen Fahr- Masken verbergen Nase und Mund. Die Maske MAG. DR. gäste einbringt. Ein junger Mann spielt maskenfrei soll von allen getragen werden, um Aerosole – also MARGARETHE mit seinem Handy. Seine Körperhaltung strahlt so Mikropartikel in der Atemluft, an die sich Viren an- ENGELHARDT-KRA- viel aggressive Abwehr aus, dass niemand es wagt, heften können – nicht zu verstreuen. Damit wird ein JANEK ist Kultur- ihn zu maßregeln. Man stellt sich von ihm weg und Infektionsrisiko reduziert. Was die CoVid-19- Maske wissenschaftlerin, Wissenschaftsjourna- wendet ihm den Rücken zu. Ein anderer, einen Kaf- frei lässt, ist die Augenpartie. Der Kontakt zum listin und Buchautorin. feebecher in der Hand, kämpft mit dem Impuls, die anderen wird über den Blick hergestellt, die Maske Sie studierte an der Maske hochzustreifen und zu trinken. Die Blicke der selbst mutiert häufig zum modischen Accessoire. Sie Universität für Fahrgäste lassen ihn innehalten. Erst als er aussteigt, wird zum individuellen Ausdruck einer Angst, sich angewandte Kunst nimmt er einen kräftigen Schluck. anzustecken, und soll diese gleichzeitig bannen. und dem Max Reinhardt Seminar in Mit 15. Juni 2020 wurde die Maskenpflicht in Öster- Die ganz anderen Masken in der „Traumnovelle“ Wien. 1996 promo- vierte sie an der reich weitgehend aufgehoben. Ausgenommen Anders die schwarzen Masken in Arthur Schnitzlers Bergischen Universität sind unter anderem Ambulanzen, Apotheken und „Traumnovelle“: sie bedecken Stirn, Augenpartie Wuppertal im Fach- öffentliche Verkehrsmittel. Zumindest vorläufig. und Backenknochen. Der Mund als Symbol von bereich Kommuni- Denn für ein großes Aufatmen ist es noch zu früh. Sinnlichkeit und Sexualität bleibt frei. Diese Masken kation und Ästhetik. Die Corona-Pandemie ist nicht überwunden. Noch sollen verhüllen, um Lusterfüllung zu gewährleisten. Seit 1992 ist sie Ö1 ist kein Impfstoff gefunden, der vor der Erkrankung „Die anderen männlichen Masken strömten Redakteurin mit den Schwerpunkten Sozio- schützt. Nach wie vor sterben weltweit Menschen an herein, die Türen nach beiden Seiten schlossen sich. logie, Psychologie und dieser Viruserkrankung. Und die Maske gehört zu Fridolin stand alleine da im Mönchsgewand mitten Pädagogik. den drei Strategien, die jede und jeder anwenden unter bunten Kavalieren.“ 4
Getrieben von seinen unerfüllten Sehn- ,Spiel‘. Die Maske, so müsste man sagen, ist eine süchten wird Schnitzlers Protagonist Fridolin in eine ,todernste‘ Angelegenheit, bei der es im Wortsinne maskierte Gesellschaft eingeführt. Die Augenmas- um die ,letzten‘, noch eher freilich um die ,ersten ken und Capes der Teilnehmerinnen und Teilneh- Dinge‘ des menschlichen Seins geht.“ mer garantieren Anonymität. Diese ermöglicht der Repräsentieren Blumen, Schmetterlinge und erlesenen Gesellschaft an einem geheimen Ort, Vampirzähne, die CoVid-19-Masken schmücken, orgiastische Feste zu feiern. Gesichert wird diese magische Kräfte? Sind diese stark genug, um die Veranstaltung durch ein Losungswort, das Fridolin Angst vor einer lebensbedrohenden Krankheit zu nicht kennt. überwinden? Angst warnt vor Gefahr Die Maske verbirgt die Angst zählt zu den basalen Affekten. Ihre Aufgabe ist es, vor einer Gefahr zu warnen. Flight or fight Angst der Ansteckung. Beim ist die Reaktion, die sie auslöst. Sigmund Freud Gegenüber löst sie jedoch bezeichnet diese als Realangst: „Sie erscheint uns nun als etwas sehr Rationelles und Begreifliches.“ Schrecken aus. Eine Infektion durch einen unberechenbaren Virus wie CoVid-19 löst diese Realangst aus. Sich mit einer Maske zu schützen, ist ein Akt des Selbst- „Die Maske herunter!“ Riefen einige zugleich. erhaltungstriebes. Warum dann die aufgemalten Wie zum Schutz hielt Fridolin die Arme vor sich Zähne, die manche Masken schmücken? Die Her- hingestreckt. Tausendmal schlimmer wäre es ihm zen, Blumenmuster, Totenköpfe, die Maskenträger erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht und Maskenträgerinnen selbstbewusst zur Schau unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter stellen? angekleideten nackt. Und mit fester Stimme sagte „Maskierte Angst“: Mit dieser Publikation er: „Wenn einer von den Herren sich durch mein ließen bereits 2011 Wissenschaftlerinnen und Erscheinen in seiner Ehre gekränkt fühlen sollte, so Wissenschaftler aus Freiburg, Basel und Bordeaux erkläre ich mich bereit, ihm in üblicher Weise Ge- aufhorchen. Sie hatten die Vorgänge im Gehirn bei nugtuung zu geben. Doch meine Maske werde ich der Entstehung und Unterdrückung von Ängsten nur in dem Falle ablegen, dass sie alle das Gleiche im Computer simuliert. In der Fachzeitschrift „PLoS tun, meine Herren.“ Computational Biology“ erklärten Ioannis Vlachos Mit der möglichen Demaskierung wird aus vom Bernstein Center der Universität Freiburg und der Scharade Ernst, das Spiel verwandelt sich in WissenschaftlerInnen aus Bordeaux und Basel erst- Konfrontation und wird zur Gefahr. Die Lust, das mals, auf welche Weise scheinbar abgelegte Ängste Triebgeschehen einer Gruppe fokussiert sich auf in Wirklichkeit nur verdeckt, aber nicht verschwun- eine Person, bereit, den Eindringling zu zerstören. den sein können. Der Grund für die Hartnäckigkeit Nur durch die Unterstützung einer Unbekannten von Ängsten ist, dass sie tief sitzen: Unter dem gelingt es Fridolin, zu fliehen. Am folgenden Tag Großhirn liegt in unserem Denkorgan, der „Mandel- wird die Frau tot aufgefunden. kern“. Was bis zu diesem Zeitpunkt am Tierversuch Die CoVid-19-Maske verbirgt die Angst vor erfolgreich untersucht wurde, war die Beobachtung, einer unmittelbaren Gefahr: der Ansteckung. Beim dass Angstreaktionen durch positive Erfahrungen Gegenüber löst sie jedoch Schrecken aus. überdeckt werden können. Hatten die Versuchstiere verlernt, sich zu ängstigen? Der Gegner wird eingeschüchtert „Schon als Kinder haben wir gelernt, dass man mit ei- Komplexe Nervennetze ner Maske Leute erschrecken kann, und wir erinnern Ioannis Vlachos und seine Kollegen entdeckten nun, uns vielleicht auch noch an die lustvoll-angespannte dass bei Angstverhalten zwei Gruppen von Nerven- Erwartung, in der wir uns unserem ,Opfer‘ unbemerkt zellen im Mandelkern eine Rolle spielen. In einer näherten“, schreibt Gerhard Schmitz in seinem Essay: Computersimulation, in der sie die Nervennetze Maske und Angst. Bemerkungen aus psychoanalyti- nachbauten, ließ sich anschaulich demonstrieren, scher Sicht. Er verweist darauf, dass in sogenannten wie die Maskierung der Angst konkret abläuft: Eine primitiven Zivilisationen Masken eine wichtige Funkti- Gruppe von Zellen steuert das Angstverhalten, die on in kriegerischen Auseinandersetzungen hatten. In zweite die Unterdrückung von Angst. Ist die zweite Kombination mit Drohgebärden und Kampfgeschrei Gruppe aktiv, verhindert sie, dass die Aktivität der sollten sie den Gegner einschüchtern und seiner ersten an andere Stellen im Gehirn weitergeleitet Selbstermächtigung berauben. wird. Trotzdem sind die Verbindungen zwischen den „Die bedeutsame Rolle, die die Maske im Feld Zellen, die Angst kodieren, noch vorhanden. Sobald der sozialen und religiösen Praktiken aller Zivilisa- die Maskierung wegfällt, zum Beispiel durch eine tionen gespielt hat […] muss uns ein Hinweis darauf Veränderung des Kontexts, werden diese Verbin- sein, dass es bei ihrem Einsatz mehr geht als um ein dungen wieder aktiv und die Angst kehrt zurück. 6
„Die Maske ist eine Bühne, auf der die Maske möglich sein? […] Wenn sie beim TIPPS ZUM WEITERLESEN: Gefahrensituation inszeniert wird,“ schreibt Ger- Beschauer gleichwohl eine affektive Reak- Sigmund Freud, „Vorlesungen zur hard Schmitz. Er nähert sich dem Phänomen aus tion auslöst, muss die Gefahr eine andere Einführung in die Psychoanalyse“ tiefenpsychologischer Sicht und argumentiert mit sein, als eine objektiv-materielle.“ Psychologie Fischer, Frankfurt am Main Sigmund Freud. Dieser unterscheidet Angst, Furcht 1991 und Schrecken. Das Paradoxon der Maske „Angst bezieht sich auf den Zustand und sieht Die Maske, so folgert Gerhard Schmitz, Arthur Schnitzler, „Traumnovelle und andere Erzählungen“, Das erzählerische vom Objekt ab, während Furcht die Aufmerksamkeit entfaltet erst ihre Wirkung, indem sie Werk Band 6, Fischer Verlag, Frankfurt gerade auf das Objekt richtet. Schreck scheint hin- wahrgenommen wird. Damit löst sie am Main 1961 gegen einen besonderen Sinn zu haben, nämlich die eine Erinnerung an den Schrecken der Wirkung einer Gefahr hervorzuheben, welche nicht Trennung, des Verlustes, den Akt der Alfred Schäfer, Michael Wimmer (Hrsg), von einer Angstbereitschaft empfangen wird.“ „Ur-Trennung“ aus, an die Kastrations- „Masken und Maskierungen“, Grenz- Angst, so Freud, bezeichne einen Zustand, angst. „Unter dem bewussten Motiv, überschreitungen Band 3, Springer in dem man sich auf eine Gefahr vorbereitet „mag einen anderen zu erschrecken, liegt der Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2000 sie auch eine unbekannte sein. […] Schreck [...] unbewusste ,Wille zur Angst des ande- benennt den Zustand, in den man gerät, wenn ren‘. Was diesen Willen ins Werk zu setzen hilft, ist man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu das Wissen um die Wirkung der Maske.“ Die Maske sein.“ Warum erschrecken Menschen, wenn sie eine zielt auf diese Urerfahrung ab, sie löst dadurch Maske sehen? Warum lösen Masken Angst aus? Ohnmacht aus, Lähmung, Angst und beraubt damit „Die Gefahr, mit der sich der Beschauer un- das Gegenüber seiner Handlungsfähigkeit. vorbereitet konfrontiert sieht, kann von nirgendswo Die CoVid19-Masken lösen ein Paradoxon anders als ihr selbst ausgehen.“ schreibt Gerhard aus. Wer seine Maske ablegt, wird zur Gefahr. Schmitz über das Erschrecken vor einer Maske. Gleichzeitig signalisieren die Masken, die andere Doch die Maske aus Papier, Holz, Farbe oder Mull tragen, dass wir alle gefährdet sind. Gemildert wird ist an sich ungefährlich. Was ist im Zusammenhang diese Angst nur durch den Blick, den Augenkontakt, mit Masken also unter einer „Gefahr“ zu verstehen? die Beziehung zum anderen. Sehen und gesehen „Freud geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, werden heißt auch: sich gemeinsam der Gefahr dass, wer einer Maske angesichtig wird, ,in Gefahr bewusst sein und sich davor, so gut es geht, zu kommt‘. […] Wie aber sollte das gegenüber einer schützen. Mundschutz, global betrachtet In Asien ist der Mundschutz im zumindest halbwegs gesund Das steigert vielleicht Alltag schon seit vielen Jahren durch den Alltag zu kommen. auch die Akzeptanz der Maske. etabliert; das gilt selbstver- Freilich dient die Maske Immerhin: Etwa 60 Prozent ständlich auch für den Urlaub, nicht nur dem Gesundheits- von 1.000 österreichischen wo er dann wiederum in Schön- schutz, sondern kann auch als Befragten gaben Anfang Juli brunn, Dürnstein oder Hallstatt Accessoire verstanden werden. an, sie seien für eine Wiederein- für Kopfschütteln bei den Öster- Die passende Maske zu jedem führung der Maskenpflicht im reicherinnen und Österreichern Outfit – was vielen Asiatinnen Handel und in der Gastronomie. gesorgt hat. Bis Corona kam. und Asiaten schon Infektionskrankheiten lange nicht mehr wie die Schweinegrippe oder fremd ist, das das Ansteckungsrisiko in der hat Europa jetzt ultra-überfüllten U-Bahn zur binnen weniger Rush Hour haben dazu geführt, Monate ereilt. Vom dass Menschen in Fernost auf aus Bettwäsche die Maske als Mittel zur Präven- upgecycelten tion setzen. Ein weiterer Faktor Modell über das ist die Luftqualität: Im Smog Emblem des Lieb- von Megastädten wie Bangkok, lings-Sportvereins Hanoi oder Peking kann eine bishin zum Modell Atemschutzmaske helfen, des Luxus-Labels. Foto: Getty Images 7
Unterwegs auf neuen Pfaden Der CoVid19-bedingte Lockdown stellte das Anton Proksch Institut vor völlig neue Herausforderungen. Es gelang, das Haus durchgehend offen zu halten – mit viel Engagement, Teamgeist und der Überzeugung, dass Suchtbehandlung kein elektiver Eingriff ist. GABRIELE GOTTWALD-NATHANIEL D er 13. März 2020 hätte im wahrsten Sinn des In dieser Besprechung wurde mir klar: Wir Wortes ein Feier-Tag im Anton Proksch Insti- sind ein wichtiger Baustein in der Aufrechterhaltung tut sein sollen. Das Festzelt war bestellt, das der Gesundheitsversorgung und müssen andere Catering vorbereitet, die Ehrengäste eingeladen. Gesundheitseinrichtungen entlasten. Aber wir sind Die Grundsteinlegung für den Neubau des Hauses anders als die anderen. Unsere Herausforderun- in Wien-Liesing stand an – ein echter Meilenstein gen unterscheiden sich von denen vieler anderer in der mehr als 60-jährigen Geschichte des Anton Institutionen. Wir müssen einen Weg finden, um die Proksch Instituts. Versorgung von suchtkranken Menschen in dieser Wie Sie wissen, kam es anders. Just am 13. herausfordernden Zeit sicherzustellen. März 2020 verkündete die Bundesregierung das, was man später als „Lockdown“ bezeichnen würde. Akut-Spitäler mussten entlastet werden Der Alltag, wie wir ihn kannten, existierte von einem Das hatte einerseits ganz praktische Gründe. Nie- Tag auf den anderen nicht mehr, an irgendwelche mand wusste Mitte März, inwieweit die Spitalska- DSA GABRIELE Feiern war schon gar nicht zu denken. Wir hatten pazitäten in Österreich für CoVid-19-Patientinnen GOTTWALD- den Festakt ohnehin schon ein paar Tage zuvor und -Patienten ausreichend sein würden. Jeden NATHANIEL, MAS, abgesagt, um unsere Patientinnen und Patienten, Tag sahen wir in den Nachrichten die schrecklichen ist seit über 20 Jahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Gäste keinem Bilder aus Norditalien, die nahe legten: Auch bei am Anton Proksch unnötigen Risiko auszusetzen. uns könnten Ärztinnen und Ärzte bald vor der Frage Institut tätig und seit 2011 dessen stehen, wen sie überhaupt noch behandeln sollen Geschäftsführerin. Sie Im Krisenmodus und wen nicht. Also war ganz klar: Die Spitäler ist stellvertretende Also verbrachte ich – wie viele andere in unserem müssen entlastet werden, wer nicht unbedingt in Vorsitzende bei arbeit Land – diesen mittlerweile berühmt gewordenen ein Krankenhaus muss, soll dort in den nächsten plus Wien, Vorstands- Freitag den 13. nicht feiernd, sondern im wahrsten Wochen auch nicht sein. mitglied beim Verein Sinn des Wortes im Krisenmodus. Genauer gesagt Und darüber hinaus stellten Personen, die JUVIVO, Gründerin und ehrenamtliche in einer Koordinationssitzung der MA 24 (Anm.: sich im öffentlichen Raum aufhalten – und das tun Obfrau von gabarage- Magistratsabteilung der Stadt Wien für strategische Suchtkranke im urbanen Raum unterschiedlich upcycling design und Gesundheitsversorgung) gemeinsam mit einer häufig – in der Hochphase der CoVid19-Infektionen hat einen Lehrauftrag Reihe von Vertreterinnen und Vertretern anderer ein Risiko dar; für sich selbst und für andere. Unter an der Donau-Univer- Wiener Krankenanstalten. anderem aus diesen beiden Überlegungen heraus sität Krems. 9
gab es die ganz klar ausgesprochene Festlegung, Das war für jene, die schon vor der Corona- das Anton Proksch Institut offen zu halten. Als Teil Krise Patientinnen und Patienten bei uns waren, des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerk, aber sicher die größte Umstellung im Therapie-Alltag: auch als wichtiger Bestandteil der Versorgungsland- das Ausgangsverbot, das notwendig war, um das schaft für Suchtkranke in Österreich. Ansteckungsrisiko zu minimieren. Manche Patien- tinnen und Patienten haben ihre Therapie frühzeitig Suche nach unserem eigenen Weg beendet. Ein Teil auch, weil sie die CoVid-19-Hoch- Auf der Suche nach unserem eigenen Weg durch phase lieber zu Hause oder mit ihren Familien die Krise hat uns aber auch unsere Haltung ge- verbringen wollten. Andere waren froh, im Haus leitet, dass Sucht eine chronisch-rezidivierende bleiben zu können – sie haben sich bei uns sicher Erkrankung ist und als solche zu behandeln ist. Ein und geschützt gefühlt, sowohl vor der Ansteckung geplanter stationärer Aufenthalt im Anton Proksch als auch vor einem möglichen Rückfall in ihr altes Institut kann nicht auf unbestimmte Zeit aufgescho- Suchtverhalten. ben werden; die Behandlung einer Suchtkrankheit ist kein elektiver Eingriff. Der richtige Zeitpunkt ist Völlig neue Abläufe entscheidend für den Therapieerfolg und lässt sich Wir wollten aber nicht nur jene Patientinnen und nicht beliebig nach vorne und nach hinten verschie- Patienten, die bereits im Haus waren, weiter behan- ben. deln; wir wollten auch neue aufnehmen, und zwar nicht nur aus anderen stationären Einrichtungen wie etwa Akutspitälern, sondern sozusagen auch von zu Die Behandlung einer Hause weg. Es entstand die Idee einer Aufnahme- station: Neue Patientinnen und Patienten blieben Suchtkrankheit ist kein anfangs 14 Tage, später sieben Tage isoliert in elektiver Eingriff. Der richtige einem eigenen Bereich unter individueller Betreu- ung. Erst nach einem negativen Corona-Test wurden Zeitpunkt ist entscheidend. sie daraufhin in den allgemeinen Therapiebereich verlegt. So ist es uns tatsächlich gelungen, in der Dieser Therapieerfolg kann durch ambulante Hoch-Zeit der CoVid-19-Schutzmaßnahmen bis Unterstützungsmaßnahmen im Vorfeld oder in der Ende Juni über 300 Patientinnen und Patienten auf- Nachbetreuung gefestigt werden, diese wiederum zunehmen. Übrigens als einzige Suchtklinik in ganz können aber dort, wo dies medizinisch-therapeu- Österreich in dieser hohen Anzahl. tisch angezeigt ist, einen stationären Aufenthalt Binnen weniger Wochen haben wir also nicht ersetzen. Ganz abgesehen davon, dass die Art und Weise, wie wir unsere Patientinnen Patientinnen und Patienten, die aufgrund eines lang- und Patienten betreuen und behandeln, drastisch jährigen Substanzmissbrauchs nicht nur psychisch, verändert. Möglich war das nur mittels enger Ab- sondern auch physisch häufig schwer angegriffen stimmung im Team – von der Geschäftsleitung über sind, zur CoVid19-Hochrisikogruppe zu zählen sind. die kollegiale Führung, das klinisch-therapeutische Personal, das Hygieneteam bis hin zur Verwaltung, Ein Krisenstab und dutzende Fragen der hauseigenen Küche, der Reinigung und dem Es war also Zeit zu handeln. Der rasch installierte Betriebsrat. Unsere enorme Expertise zu der Frage, Krisenstab des Anton Proksch Instituts trat zu Beginn was unsere Patientinnen und Patienten brauchen, täglich zusammen. Es galt, eine Fülle komplexer hat uns dabei unterstützt und geleitet. Fragen zu klären, allem voran: Wie schützen wir die Gleichzeitig haben wir auf größtmögliche Menschen, die in unserem Haus arbeiten und die Transparenz gesetzt und Patientinnen und Patienten Menschen, die behandelt werden, vor einer CoVid- sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer 19-Infektion? Aber auch: Wie schaffen wir es, die neuen Hauszeitung informiert. Das hat die Akzep- psychische Belastung aller Beteiligten so gering wie tanz für die teilweise doch sehr einschneidenden möglich zu halten? Wie gelingt es rasch, die Infra- Maßnahmen spürbar gesteigert. struktur für völlig veränderte Abläufe herzustellen? Wie können Therapiemaßnahmen weitergeführt Zusammenhalt während der Krise werden? Wie müssen Dienstpläne in dieser speziel- Wir haben also das erlebt, was wohl viele Organi- len Zeit aussehen? Und so weiter. sationen aus den vergangenen Monaten kennen: Im regulären Betrieb sind unsere Patientin- einen Innovationsschub, der zwar aus einer Krisen- nen und Patienten selbstverständlich nicht im Haus situation entstanden ist, uns aber als Team enorm „ein- oder weggesperrt“, sondern können sich frei gestärkt hat. Der Zusammenhalt und die Dynamik bewegen. Regelmäßige therapeutische Ausgänge während der Krise waren getragen vom Gefühl: Wir gehören zum fixen Angebot während der stationä- haben eine hohe Verantwortung für unsere Patien- ren Behandlung. tinnen und Patienten, für die Mitarbeiterinnen und 10
Mitarbeiter, aber auch für das Anton Proksch Institut und Patienten. Wir konnten durch die gemeinsamen als Institution. Wir sind für sie da und wir wissen, was Anstrengungen bisher auch wichtige und notwen- wir tun. dige Arbeitsplätze für die ambulante und stationäre Das gilt im Übrigen auch für unsere Außen- stellen, die Ambulanzen in Wien, die Suchtbera- tungsstellen in Niederösterreich und unserer „Re- Wir haben uns etwas getraut. haHUT“, eine stationäre Rehabilitationseinrichtung in der Hinterbrühl bei Mödling. Oder aber auch für Und wir wurden belohnt mit unser Angebot der ganztägig ambulanten Therapie. neuen Erkenntnissen und Auch dort wurden die Betreuung und Behandlung weitergeführt, wir haben ganz neue, digitale Me- positivem Feedback. thoden getestet und stark auf „in regelmäßigem Kontakt bleiben“ gesetzt (siehe S. 12). Die Lernkurve Versorgung und Behandlung von suchtkranken war in diesen Wochen und Monaten enorm hoch. Menschen in Österreich erhalten - und damit fach- liche Expertise. Arbeitsplätze gesichert Wir haben einmal mehr den Menschen in den Wir haben uns etwas getraut. Und wir wurden Mittelpunkt gestellt. Das ist und bleibt die Maxime belohnt. Mit neuen Erkenntnissen, aber auch mit unseres Handelns. Auch - oder gerade - in einer enorm positivem Feedback unserer Patientinnen Krise. „Der Mensch im Mittelpunkt“ Im täglichen Handeln – ob Corona-Krise oder nicht – lässt sich das Anton Proksch Institut vom Motto „Der Mensch im Mittelpunkt“ leiten. Was bedeutet das konkret? Hier finden Sie das Leitbild des Hauses: • Positive Veränderungen im Leben •S ucht ist eine Krankheit mit vielen sind jederzeit möglich. Dazu braucht Ursachen und lässt sich nicht auf es Freude, Lust und Genuss - Zutaten, einen auslösenden Faktor reduzieren. die uns das Leben täglich bietet. Das Sucht ist eine gut zu behandelnde aktive und genussvolle Teilnehmen Erkrankung - Unsere Methoden sind am Leben wird bei uns in der Sucht- state of the art. therapie in den Vordergrund gestellt, um wieder die schönen Seiten am • Gemeinsames therapeutisches Ziel Leben entdecken zu können. unserer differenzierten Behandlungs- strategien sind sowohl Modelle der • Wir orientieren uns an den Stärken „harm reduction“ als auch die „absti- und positiven Faktoren im Leben. nenzgestützte Therapie“. • Damit leben wir ein Menschenbild, • Wir legen Wert auf die Zusammen- das Diskriminierung strikt ablehnt arbeit von unterschiedlichen be- und ein selbstbestimmtes und freud- handelnden Berufsgruppen und ein volles Leben in den Mittelpunkt der ganzheitliches Menschenbild. Denn Bemühungen rückt. nur so kann individuelle Entwicklung im Sinne gesunder Lebensgestaltung • Wir begegnen einander mit Respekt, die Rehabilitation fördern. Wertschätzung und Achtung der Menschenwürde. In einem haltgeben- den Klima haben Eigenverantwort- lichkeit und Freiwilligkeit ihren Platz. Wir handeln immer nach den Prinzi- pien der Akzeptanz, Parteilichkeit und Gendersensibilität. 11
Virus vernichtet Dogma Jahrzehntelang war es undenkbar, psychologische und psychotherapeutische Behandlung ohne direkten Kontakt durchzuführen. Dann kam Corona. Ein Erfahrungsbericht aus dem Anton Proksch Institut. ERNST C. ZACH I n Österreich gilt seit jeher ein klares Dogma: psy- Realitäten schafft – auch finanziell im gewohnten chologische und psychotherapeutische Behand- Rahmen abgegolten werden würden. Mehr oder lung ist nur dann möglich, wenn sich Therapeut weniger stillschweigend wurden so die oben an- bzw. Therapeutin und Klient bzw. Klientin im selben geführten Abschnitte der Psychologen- und Psycho- Raum aufhalten. Dies ist auch klar in den gesetz- therapeutengesetze außer Kraft gesetzt. lichen Rahmenbedingungen festgehalten: Behand- Gleichzeitig erlebte ich in der Suchtberatung lung – sei es in der Psychologie oder Psychotherapie sowie in der eigenen Praxis die Aufgabe, von einem – hat „persönlich und unmittelbar“ zu erfolgen. Das Tag auf den anderen komplett auf „Fernbehand- bedeutete in der gängigen Interpretation „in physi- lung“ via Telefon oder/und Videotelefonie umzu- scher Nähe“. Alles andere war im besten Falle eine stellen. Damit begann für mich eine Reise in eine Form von Beratung – und mitgeschwungen hatte bislang unbekannte Welt der Behandlung. das Verdikt: von minderer Qualität. Am Anfang gab es in der Suchtberatung nur Auch die Arbeit in den Suchtberatungsstellen mehr das Telefon. Ich begann, meine Klientinnen des Anton Proksch Instituts war bis Anfang 2020 und Klienten durchzurufen, und erklärte ihnen die rein auf persönliche Kontakte vor Ort ausgerichtet: neue Situation. Sicher auch durch die anfängliche MAG. ERNST CHRIS- TIAN ZACH studierte Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiterinnen und „Wir halten zusammen“-Stimmung unterstützt, Psychologie an der Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, wurde dieses Angebot sehr gerne angenommen. Universität Wien Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – alle In meiner persönlichen Stichprobe gab es gerade und ist Klinischer arbeiteten vor Ort, das Telefon diente fast aus- eine Person, die meinte: Dann warten wir halt, bis Psychologe und schließlich dazu, Termine auszumachen, sowie zur wieder ein persönlicher Termin möglich ist. Nach Psychotherapeut. ersten Kontaktaufnahme. drei Wochen meldete sich auch diese Person wieder Im Anton Proksch Institut leitete er und ersuchte um einen Telefontermin. von 1988–2004 den Plötzlich war alles anders Bereich Arbeits- und Im März 2020 war dann plötzlich alles anders: In Mehr Konzentration erforderlich Beschäftigungsthera- einer Rasanz, die keinerlei Inkubationszeit Platz ließ, Am Montag nach dem Lockdown begann ich mit pie, 1990–2010 den vernichtete das Virus das Dogma der physischen der telefonischen Therapie. Etwas wurde sofort Bereich Informations- Nähe: Bereits in der zweiten Märzwoche – kurz vor deutlich: Die Arbeit via Telefon ist ungleich an- technologie. Seit 2018 dem Lockdown – wurde seitens der Österreichi- strengender und erfordert mehr Konzentration. Aus ist er Standortleiter der Suchtberatungs- schen Gesundheitskasse bekanntgegeben, dass meiner Erfahrung gibt es hier mehrere Ursachen: stelle Wiener Therapien über Videotelefonie und Telefon abge- 1. Einfache technische Probleme des Hö- Neustadt. halten werden dürften und – was ja durchaus schnell rens: Die Tonqualität kann – bedingt durch Verbin- 12
Foto: Getty Images 13
dung und Telefone – sehr schlecht sein. In manchen Wahrnehmung der Termine von der Klientin/vom Fällen ist es dann bereits eine Herausforderung, den Klienten auf die Behandlerin/den Behandler über. Wortsinn erfassen zu können. Zum anderen fielen für die Klientinnen und Klienten 2. Auch bei guter Tonqualität ist es über die Aufwände Fahrtzeit und Fahrtkosten weg. Ohne Telefon oft deutlich schwerer, Feinheiten und Modu- hier bereits einen statistischen Nachweis zu haben, lationen wahrzunehmen. habe ich den Eindruck, dass weniger Termine ent- 3. Das Fehlen von Mimik und Bewegung fallen sind. hinterlässt ein Gefühl der partiellen Blindheit, und man versucht automatisch, diese durch ein Mehr an „Hätt‘ i jetzt voll vergessen“ Aufmerksamkeit beim Hören auszugleichen. Diese „nachgehende“ Vorgehensweise hat Vorteile 4. In der Telefonie haben in der Regel Ge- und Nachteile. Ein Gesprächsbeginn wie „Hallo, ah sprächspausen keinen Platz. Dies erhöht den Druck ja, na des hätt‘ i jetzt voll vergessen, gut dass Sie mi auf beiden Seiten. anrufen“ oder ein „Ja, hallo – ja, laut is‘ hier, ich geh 5. Schwierig wird es auch besonders bei schon raus. War Einkaufen beim Merkur und jetzt Klientinnen und Klienten mit geringeren Kennt- bin ich beim Wirten eingekehrt“ kann positiv oder nissen der deutschen Sprache. Im persönlichen negativ gesehen werden. Gespräch kann wenn nötig auch mit Händen und Eine Erkenntnis wurde in der Zeit seit März Füßen kommuniziert werden. 2020 für mich sehr klar: Eine komplette Behandlung vom Erstgespräch beginnend via Telefon abzu- handeln, stellt einen massiven Qualitätsverlust und Durch die Umstellung auf eine starke Behinderung der Arbeit dar. Bei jenen Klientinnen und Klienten, die während des Lock- Telefonkontakte wurden wir downs über Erstgespräch hinzukamen, bemerkte ich: Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung deutlich niederschwelliger. dauert – falls überhaupt möglich – deutlich länger als mit „echtem“ Kontakt. Erstgespräche via Telefon Die Qualität und Tiefe der Gespräche sind sind auch für Klientinnen und Klienten nicht attraktiv. sehr unterschiedlich. Zwei Faktoren sind hier aus- Zusammengefasst: Behandlungen via Telefon schlaggebend: Menschen, denen die Sprache ein sind jedenfalls besser als keine Behandlung und gutes, sicheres Werkzeug der Kommunikation ist, Betreuung. Wenn die sprachlichen Fähigkeiten und können mit der rein auditiven Gesprächssituation die Qualität der Tonübertragung gut sind und eine sehr gut umgehen. Das erleichtert die Arbeit der tragfähige therapeutische Beziehung vorhanden Behandlerin bzw. des Behandlers. ist, sind sie der persönlichen Behandlung nahezu gleichwertig. Faktor Beziehung Doch der wichtigste Faktor ist – wenig überraschend wie in allen therapeutischen Kontakten – die Be- Behandlung über Videotelefonie ziehung: Wenn zuvor in persönlichen Kontakten Einen besonders Platz hat in allen Bereichen in den bereits eine tragfähige, gute Beziehung aufgebaut letzten Monaten die Videotelefonie bekommen. werden konnte, stellt die Einschränkung auf das rein Wenn aktuell jemand von einem „Meeting“ spricht, Auditive kaum einen Nachteil dar. Je nach Ausprä- ist dies sofort mit der Vorstellung einer Videokonfe- gung dieser beiden Faktoren ist im Telefonat von renz verbunden. Videotelefonie ist nun tatsächlich einem oberflächlichen, kurzen Anruf bis zu einem im Mainstream angekommen und stellt eine Option tiefen, ausgiebigen Gespräch alles möglich. für viele Lebensbereiche dar. Die Vorteile werden Die organisatorische Umstellung auf Tele- wir in die Zukunft mitnehmen, hier ist einiges im fonkontakte erzeugte nach meiner Erfahrung einen Umbruch. interessanten Nebeneffekt: Wir wurden deutlich Angesichts des CoVid-19 Lockdowns war niedrigschwelliger. Bis zur Umstellung auf Tele- mir sofort klar, dass Videotelefonie die beste und fonkontakte im März 2020 war der Ablauf in der einzige Chance bietet, Behandlung und Therapie Terminambulanz so: Wenn die Person zum verein- weiter durchführen zu können. Bei dieser Über- barten Zeitpunkt nicht erschien – was im Kontext der legung half mir sicher mein technischer Background Sucht immer wieder geschieht – verfiel der Termin. und meine jahrelange Erfahrung mit Videotelefonie Mit der Umstellung auf Telefonkontakte in der und Videokonferenzen. Suchtberatung wurde der Ablauf geändert: Die Be- Auf Seite der Klientinnen und Klienten stellen handlerinnen und Behandler riefen die Klientinnen allerdings fehlende technische Ausstattung und und Klienten zum vereinbarten Zeitpunkt an. mangelndes Wissen die größten Hindernisse für die Dadurch wurde die Schwelle zur Wahr- Videotelefonie dar. Meistens ist beides miteinander nehmung unserer Angebote in zwei Bereichen verbunden: Wer sich nicht auskennt oder keinen deutlich gesenkt. Zum einen ging durch den aktiven Bezug zu neuen Medien hat, hat zumeist auch keine Anruf zur vereinbarten Zeit die Verantwortung zur guten Geräte und Internetanbindung. 14
Somit sind leider einige Menschen von Nicht alle therapeutischen Techniken sind der Möglichkeit der Behandlung über Videotele- über Videotelefonie anwendbar, nicht alle Informati- fonie ausgeschlossen. Höheres Alter, niedrigerer on, die wir aus den persönlichen Kontakten gewohnt Bildungsgrad bzw. geistige Leistungsfähigkeit und sind, verfügbar (z.B. Geruch, ein nicht unwichtiger schlechte Einkommenssituation sind hier hinderliche Faktor in der Suchtbehandlung). Doch ist nach Faktoren. Auch die prinzipielle Ablehnung und Skep- meiner Erfahrung der letzten Monate mit Video- sis neuen Medien gegenüber muss genannt werden. telefonie eine qualitativ hochwertige Behandlung Dies erlebe ich interessanterweise zumeist eher im sehr gut möglich, wenn die betreute Person und Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Für mich begann die Ära der Videotelefonie in der Behandlung am 14. und 15. März – also am Videotelefonie ist ein Wochenende nach dem Lockdown – mit der Er- stellung einer technischen Anleitung. Meine erste Guckloch in die Welt der Behandlung mit Hilfe der Videotelefonie folgte kurz danach. Anfänglich ist es eine ungewohnte Situation: Klientinnen und Klienten. Sich selbst am Bildschirm zu sehen, kann durch- aus irritieren. Verblüffend schnell wurde aber die alle technischen Rahmenbedingungen passen. Mit therapeutische Arbeit via Videotelefonie für mich zur wenigen Einschränkungen für die Suchttherapie: So gewohnten Routine und im Unterschied zur reinen ist es schwieriger zu erkennen, ob eine Person aktu- Telefonie zu einem nahezu vollwertigen Ersatz. Ich ell unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht. Meine habe auch Klientinnen und Klienten, die die Kontak- Lösung ist dazu eine einfache: Wenn ich unsicher te über Videotelefonie bevorzugen, einfach weil Zeit bin, frage ich geradeheraus – eine Strategie, die ich und Aufwand für die Fahrt in die Praxis entfallen. auch im physisch-persönlichen Gespräch anwende. Und nicht ideal ist es, Klientinnen und Klienten mit Heiße Diskussion über Sicherheit Problemen mit ausuferndem Internetgebrauch über In der Institution der Suchtberatung dauerte die Um- Videotelefonie zu betreuen. stellung auf Video-Beratung aus strukturellen Grün- den etwas länger. Nicht hilfreich war dabei auch die überhitzte Diskussion zur Sicherheit der Videotele- fonie. Durch den Lockdown war von einem Tag auf den anderen das Thema Kommunikation via Internet in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Kaum ein Tag, an dem nicht ein Medium einen neuen Bericht zu gewaltigen Sicherheitslücken verbreitete. Im Kontakt mit Klientinnen und Klienten merk- te ich interessanterweise nichts davon. Auch wenn ich bei technisch affinen Personen das Angebot, ge- Resümee und Ausblick macht habe, ein End-to-End verschlüsseltes System zu verwenden, so blieben auch diese lieber bei ihren Wenn keine physisch-persönlichen Termine möglich sind, ist in je- gewohnten Produkten wie Zoom oder Skype. Die dem Fall eine Betreuung über Telefon oder Videomeeting eine gute Sicherheitsdiskussion war also eine, die Institutionen Unterstützung. Die Arbeit über Telefon hat sehr große Einschrän- und sowie Behandlerinnen und Behandler geführt kungen, vor allem, wenn zuvor kein persönliches Kennenlernen und haben - nicht jedoch die Klientinnen und Klienten. somit kein Beziehungsaufbau möglich war. Die Videotelefonie hin- gegen weist deutlich weniger Einschränkungen auf und ermöglicht Guckloch in die private Welt Behandlungen auf hohem Niveau. Eine weitere Besonderheit bietet die Behandlung Allem Anschein nach wird uns die virtuelle Behandlung noch via Videotelefonie: Sie ist für die Behandlerin oder einige Zeit begleiten. Hierzu ein Zitat aus der aktuell gültigen „Hand- den Behandler ein Guckloch in die private Welt der lungsempfehlung für niedergelassene nichtärztliche Gesundheits- Klientin oder des Klienten, zumeist in einen Wohn- berufe“, die das Gesundheitsministerium herausgegeben hat: „Zu raum. Interessant ist auch die Frage, welche Regeln bevorzugen ist nach wie vor, dass Behandlungen/Therapien – soweit für die Behandlung gelten. Manche sind eindeutig möglich – mit digitalen Hilfsmitteln/per Telefon erfolgen.“ zu beantworten: Völlig klar ist, dass Klientin oder Kli- Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die nun erfahrenen ent und Behandlerin oder Behandler ungestört sein Möglichkeiten und Chancen, die die Videotelefonie bietet – vor sollten. Viele andere Fragen gehören noch überlegt allem in der leichteren Verfügbarkeit und Niedrigschwelligkeit durch und können nur individuell entschieden werden: Ist Wegfall der Anreise liegen – einen fixen Platz im therapeutischen Be- es in Ordnung, wenn sich die Klientin oder der Klient handlungssetting behalten, wenngleich ich vor allem zu Beginn der während der Therapie im eigenen Wohnzimmer Behandlung physisch-persönliche Termine als wichtig und unver- eine Zigarette anzündet? Oder passt es, wenn eine zichtbar sehe. Die klassische Telefonie wünsche ich mir hingegen in Klientin oder ein Klient die Videositzung in seinem naher Zukunft wieder auf Terminvereinbarung und Notfall reduziert. Auto sitzend via Smartphone absolviert? 15
„Ich bin gerade vor Corona noch hineingerutscht“ Johanna ist wegen einer Alkoholsucht Patientin im Anton Proksch Institut. Das ist ihre Geschichte. AUFGEZEICHNET VON MICHAEL ROBAUSCH I ch bin 50 Jahre alt und komme ursprünglich aus und bin in die Ambulanz gegangen. Es war alles Wien. Seit dem 12. März bin ich im Anton Proksch angstbesetzt. Ich habe mich gefragt, was ich hier Institut, also seit kurz vor dem Lockdown. Ich tue, wie es wird – ob ich nicht lieber gleich wieder mache einen Alkohol-Entzug. Ich habe den Alkohol gehen soll. Aber die Gelassenheit des Arztes, mit ursprünglich als Selbstmedikation gegen meine De- dem ich gesprochen habe, hat mich sehr beein- pressionen verwendet. Über drei Jahre lang war ich druckt. Zwei Tage später habe ich meinen Platz deswegen auch bei einer Psychotherapeutin. Es ist bekommen. Ich war dann nur noch froh, dass es dann eine absolute berufliche Überlastung dazu ge- jetzt gleich geht. Dass ich nicht lange warten muss. kommen, in Wirklichkeit war es schon ein Burnout. Ich bin gerade vor Corona noch hineingerutscht. Wegen meiner Alkoholsucht eine Therapie zu Mir wurde gesagt, dass die Standarddauer machen war schon früher ein Thema. Ich habe dann für eine Therapie acht Wochen ist. Darauf habe auch wieder trocken gelebt, aber es ist zu einem ich mich auch eingestellt. Nach drei Wochen ist Rückfall gekommen. Ich war über einen Monat mir aber klar geworden, dass ich es in dieser Zeit im Krankenstand. Da hat sich die Spirale immer nicht schaffen werde. Ich war nicht so weit. Ich habe schneller zu drehen angefangen. Jetzt bin ich hier. dann zweimal um je vier Wochen verlängert. Erst in Es ist eine der gescheitesten Ideen meines Lebens meiner siebenten Woche hier habe ich begonnen, gewesen, mich in Behandlung zu begeben. Kraft zu schöpfen. So groß war der Druck, aus dem ich gekommen bin. Ich war so erschöpft, obwohl Alkoholikerin in dritter Generation der körperliche Entzug bei mir nicht so wahnsinnig Schon länger ist mir bewusst gewesen, dass mein schlimm gewesen ist. Trinkverhalten problematisch ist. Irgendwie war dann der Punkt gegeben, an dem ich mir gesagt Rückzug dank Corona habe: Entweder ich tue jetzt etwas dagegen, oder Was ich von Corona mitbekommen habe? Den es wird mich endgültig zugrunde richten. Ich bin ersten geplanten Ausgang nach zehn Tagen in Alkoholikerin in dritter Generation. Ich möchte nicht, Therapie hat es für mich nicht mehr gegeben. Ganz dass die Sucht den gleichen Weg nimmt wie bei ehrlich: Ich war heilfroh, dass ich nicht hinausge- meinen Verwandten. musst habe, sondern mich komplett auf mich selbst Das Anton Proksch Institut ist mir von meiner konzentrieren konnte. Ich war für die Möglichkeit ehemaligen Therapeutin empfohlen worden. Ich des Rückzugs sehr dankbar. Man hat bemerkt, dass habe meinen ganzen Mut zusammengenommen es im Haus viele Besprechungen im Hintergrund 16
Foto: Getty Images „Ich mache Pläne für die Zeit nach der Therapie. Daran merke ich, dass ich bereit bin.“ gibt. Dass daran gearbeitet wird, dass es trotz allem legt, bei den meisten anderen Leuten die gleichen hier weiterlaufen kann. Es hat Umbauten gegeben, sind. Dass wir mit den gleichen Problemen kämpfen. die Häuser wurden separiert, aus dem Speisesaal Es ist ein wohltuender Austausch. Es ist gut, dass Sessel entfernt. Es gab Zeitfenster für die verschie- hier ein vorurteilsfreier Ort ist. Alkoholkrankheit ist denen Abteilungen, in denen man dort hingehen extrem stigmatisiert, bei Frauen ganz besonders. konnte. Was das Wohnen betrifft, habe ich den Jack- Das Therapieangebot ist trotz Corona weit pot gezogen: ein Einzelzimmer. gefächert: Es gibt Bewegungsangebote, Kunstthe- Mich hat es beeindruckt, dass kurzfristig rapie, Kinotherapie, Musik. Man kann auch eigene immer Lösungen gefunden worden sind. Es hat ja Projekte verwirklichen. Eigentlich ist mir nie langwei- keine Vorlaufzeiten gegeben. Die Therapie-Grup- lig. Ich glaube, viele genießen die Phasen der Ruhe pen waren wegen der Beschränkungen kleiner. und Erholung. Für mich war es Balsam für die Seele, Das Personal ist mit Mund-Nasenschutz unterwegs, dass ich mich einfach nur in den Garten habe setzen Patientinnen und Patienten tragen ihn nur, wenn sie können. Er ist so schön, mit den alten Bäumen. Da einen Termin bei einem Arzt oder einer Ärztin ha- haben wir Glück. Das ist auch therapeutisch! ben. Es wurden ja alle, die aufgenommen wurden, Ich glaube, es ist mir seit Jahrzenten nicht auf Corona getestet. Weil Besuche nicht möglich mehr so gut gegangen wie jetzt. Ich habe auch waren, habe ich zu meiner Familie über Telefon wichtige Impulse für mein Leben danach be- Kontakt gehalten, das ist komplett okay. Andere kommen. Ich weiß, dass es da einiges gibt, was ich leiden da vielleicht stärker. persönlich verändern muss. Damit ich nicht mehr dorthin komme, wo ich vorher war. Das möchte ich Ein vorurteilsfreier Ort unter allen Umständen verhindern. Meine Familie Meine Hauptansprechpartner ist mein Bezugsthe- unterstützt mich sehr, steht zu mir. Das ist eine rapeut. Da gibt es intensive Gespräche, zweimal in große Erleichterung. Ich mache Pläne für die Zeit der Woche. Falls etwas Dringliches auftaucht, hat er nach der Therapie. Daran merke ich, dass ich bereit aber auch sonst Zeit für mich. Es gibt auch Grup- bin. Als erstes werde ich Pizza essen! Seit einigen pentherapien, wo man Themen untereinander be- Tagen ist das jetzt so. Davor hatte ich Angst vor dem sprechen kann. Das finde ich so hilfreich! Man sieht, Draußen, denn ich wusste ja: Hier bin ich an einem dass viele Situationen, von denen man glaubt, okay, geschützten Ort. Nun gehe ich mit Zuversicht. das ist nur bei mir so – dass andere das ganz ähnlich erleben. Dass Strategien, die man sich so zurecht- 17
Kommunikation ist mehr als Worte Wir plaudern und berühren einander, um Nähe herzustellen – das tut unserer Psyche gut. Das Fehlen physischer Begegnungen war daher für viele Menschen während des Corona-Lockdowns eine große Belastung. Trotzdem müssen wir wohl noch eine Weile durchhalten. ELISABETH OBERZAUCHER E ines der evolutionären Erfolgsrezepte der beim Plaudern nicht dieselben Bindungshormone Spezies Homo sapiens ist die ausgeprägte ausschütten. Deshalb verzichten wir auch nicht ganz soziale Ausrichtung. Der Zusammenschluss darauf – allerdings äußert sich soziale Fellpflege bei in größere Gruppen bedeutete für unsere Vorfah- uns weniger darin, dass wir uns Parasiten aus dem ren, dass sie neue Lebensräume erschließen und Haarkleid pflücken, sondern eher darin, dass wir Nahrungsquellen nutzen konnten, die ihnen als Fussel entfernen, die Kleidung zurechtrücken, oder Einzellebewesen nicht zugänglich gewesen wären. uns einfach nur so berühren. Das Gruppenleben erfordert aber auch eine Kombi- Diese Berührungen finden meist statt, ohne nation von Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die es dass wir groß darüber nachdenken, und deshalb uns erlauben, die soziale Struktur aufzubauen und sind wir uns gar nicht dessen bewusst, wie wichtig Beziehungen zu pflegen. sie nicht nur für unser soziales Miteinander, sondern Unsere nächsten Verwandten bedienen sich auch für unser individuelles Wohlbefinden sind. der sozialen Fellpflege, um ihre Beziehungen zu stärken. Durch die Fellpflege wird Hingabe kom- Unglücklicher Begriff: Social Distancing muniziert, und es werden Hormone ausgeschüttet, Um zu verhindern, dass die Corona-Pandemie außer die die Bindung zwischen den Individuen stärken. Kontrolle gerät, wurden Regeln verhängt, die uns Je größer die Gruppe, in der Primaten zusammen- zum Distanzhalten zwangen. Etwas unglücklich ge- leben, desto mehr Zeit muss in die soziale Fellpflege wählt ist hier der Begriff des Social Distancing, weil investiert werden. Der britische Forscher Robin Dun- dieser nahelegt, dass wir unsere Sozialbeziehungen bar hat berechnet, dass wir Menschen knapp die völlig einstellen. Wenn wir uns nur auf unsere bio- Hälfte unserer Zeit damit verbringen müssten, uns logischen Mechanismen der Pflege von Sozialbe- gegenseitig zu lausen, wenn wir uns allein auf den ziehungen verlassen müssten, dann wäre das auch MAG. DR. sozialen Kleber der Fellpflege verlassen würden. Er tatsächlich die Konsequenz gewesen. ELISABETH OBER- kam deshalb zu dem Schluss, dass wir die Sprache Doch dank technischer Hilfsmittel war es uns ZAUCHER (Jahrgang vornehmlich als soziales Instrument erfunden in dieser Situation durchaus möglich, trotz physi- 1974) ist Verhaltens- haben, um unsere Beziehungen effizienter pflegen scher Distanz unsere Sozialkontakte zu pflegen. Im biologin und forscht zu können. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Vergleich mit der letzten großen Pandemie, der und lehrt seit 2001 an der Fakultät für Großteil unserer Unterhaltungen sich um soziale Spanischen Grippe, stehen uns heute viel mehr Lebenswissenschaften Inhalte dreht. Allerdings ist die Sprache nicht so Möglichkeiten zur Verfügung, um unsere sozialen der Universität Wien. effektiv wie das gegenseitige Berühren, da wir Bedürfnisse zu befriedigen. War man damals darauf 18
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reduziert, Briefe zu schreiben, erlebten im Frühjahr verfasst und die fehlende Sorgfalt führt dazu, dass 2020 Videotelefonieplattformen den finalen Durch- wir ungenau kommunizieren. bruch. Selbst technophobe und innovationsscheue Bei einem Telefonat kommt immerhin die Menschen näherten sich dieser Kommunikations- sprachbegleitende Information hinzu. Die Intonation form an, weil sie klassischen Distanzkommunika- dient dazu, Doppeldeutigkeiten zu klären, und kann tionsmitteln in einer Hinsicht massiv überlegen ist: die Bedeutung des Gesagten massiv verändern. Ein Hier sind zumindest Teile der nichtsprachlichen Lächeln ist auch am Telefon hörbar, genauso wie Kommunikationskanäle auch involviert. die gerunzelte Stirn. Wenn wir unser Gegenüber obendrein auch noch sehen können, wird die Kom- munikation um nichtsprachliche Signale erweitert. Textnachrichten und Emails Das reduziert nicht nur Missverständnisse, es erhöht auch die Effizienz einer Besprechung. Wenn man sind besonders anfällig Zustimmung nicht dadurch äußern muss, dass alle Beteiligten nacheinander verbal ja sagen, sondern dafür, Missverständnisse sie gleichzeitig durch einen nach oben deutenden hervorzurufen. Daumen die gleiche Botschaft schicken können, erleichtert dies das Gespräch immens. Bei Briefen, Emails und Textnachrichten ist Eine Videokonferenz jagt die andere man auf das rein Sprachliche reduziert. Diese Form Durch das Erschließen zusätzlicher Kommunika- der Kommunikation gibt keinen Raum für die Einfär- tionskanäle kann parallel kommuniziert werden, es bung des Geschriebenen durch sprachbegleitende kann also nichtsprachliches Feedback dafür sorgen, und nichtsprachliche Signale. Die Einführung von dass die Sprecherinnen und Sprecher gleich wissen, Emojis sollte den Bedarf nach leicht verständlichen wenn sie nicht verstanden wurden, oder ob die an- Indikatoren decken, die für die Einordnung von deren etwas ergänzen möchten. Freilich empfinden Aussagen unverzichtbar sind. Dennoch sind speziell viele gerade im beruflichen Kontext das Teilen des Textnachrichten und Emails besonders anfällig Videos bei Besprechungen als Eindringen in ihre dafür, Missverständnisse hervorzurufen. Anders Privatsphäre, besonders wenn sie gerade im Home als Briefe werden diese Textformen eher schnell Office sitzen. Da aber die Vorteile durch die Erweite- Der Homo urbanus und seine Prägung Arbeitsschwerpunkte von Elisabeth 2015 ist sie die wissenschaftliche biologischen Wurzeln unseres Verhal- Oberzaucher sind Mensch-Umwelt- Leiterin des Vereins Urban Human, im tens und zeigt die Herausforderungen Interaktionen, Kommunikation sowie gleichen Jahr erhielt sie gemeinsam des modernen Großstadtlebens auf. Attraktivität und Partnerwahl. Seit mit Karl Grammer den als „alternati- Unsere heutige urbane Lebens- ven Nobelpreis“ bezeichneten und weise unterscheidet sich teilweise in der Wissenschaft renommierten massiv von den Bedingungen, auf Ig-Nobelpreis für eine Studie, in der die wir im Laufe unserer Evolutions- sie erforschte, wie viele Kinder ein geschichte biologische Antworten Mann zeugen kann. Darüber hinaus gefunden haben. Wie verhalten sich ist Oberzaucher Mitglied des Wissen- Menschen in Städten? Wie müssen schaftskabaretts Science Busters. Städte beschaffen sein, damit Men- schen sich dort wohl fühlen? In einem Dem menschlichen Verhalten auf tiefen Verständnis der menschlichen der Spur Natur verankerte Lösungsvorschläge In ihrem aktuellen Buch „Homo bieten praktische Ansätze für Architek- urbanus“ (Springer Verlag, März 2017) ten, Stadtplaner und Privatpersonen. begibt sich Elisabeth Oberzaucher auf eine spannende Spurensuche nach www.oberzaucher.eu den evolutionären Rahmenbedingun- gen, die unsere physische und soziale Umwelt geprägt haben. Sie erklärt die 20
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