Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...

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Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
Preisverleihung an
Julie Froud, Michael Moran (†),
Sukhdev Johal, Angelo Salento
und Karel Williams
für ihr Buch
„Die Ökonomie des Alltagslebens:
Für eine neue Infrastrukturpolitik“

Preisverleihung an
Hubertus Bardt, Sebastian Dullien,
Michael Hüther und Katja Rietzler
für ihren Artikel
„Für eine solide Finanzpolitik:
Investitionen ermöglichen!“

Berlin, 4. März 2020
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
Der Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik wird vergeben von der
Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die unselbstständige Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung in der Friedrich-
Ebert-Stiftung konzentriert sich – gemäß ihrem Stiftungsziel – auf die För-
derung und Auszeichnung von Beiträgen, die grundsätzliche Probleme der
Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, der
Technologieentwicklung und ihrer Auswirkungen auf die Humanisierung der
Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt zum Gegenstand haben.

Hans Matthöfer (1925–2009) war ein führender deutscher Gewerkschafter
und Sozialdemokrat. Zwischen 1974 und 1982 war er Minister in mehreren
Bundesregierungen, davon vier Jahre Finanzminister unter Helmut Schmidt,
der selbst auch dem Beirat der Stiftung angehörte.

Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeberin: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9219; 030 26935 9229
www.fes.de/wiso Fotos: Mark Bollhorst ISBN 978-3-96250-632-2

Diese Publikation wurde vollständig aus Mitteln der Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung finanziert.
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
Preisverleihung an
Julie Froud, Michael Moran (†),
Sukhdev Johal, Angelo Salento
und Karel Williams
für ihr Buch
„Die Ökonomie des Alltagslebens:
Für eine neue Infrastrukturpolitik“

Preisverleihung an
Hubertus Bardt, Sebastian Dullien,
Michael Hüther und Katja Rietzler
für ihren Artikel
„Für eine solide Finanzpolitik:
Investitionen ermöglichen!“

Berlin, 4. März 2020
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
Vorwort

    Kurt Beck
    Ministerpräsident a. D., Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Ebert-Stiftung

    Die Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung in der Fried-      Die Verleihung des mit 10.000 Euro dotierten Haupt-
    rich-Ebert-Stiftung hat im Laufe des Jahres 2013 be-      preises und des mit 5.000 Euro dotierten Sonderpreises
    schlossen, der gerade auch in Deutschland in der Wis-     entspricht somit den Zielen der Stiftung, die von Hans
    senschaft, Politik und Presse zu einseitig geführten      Matthöfer (1925–2009) – einem bekannten SPD-Politi-
    wirtschaftspolitischen Debatte durch die Auslobung        ker und Gewerkschafter, der zwischen 1974 und 1982
    eines Preises für Wirtschaftspublizistik zu mehr Plura-   Minister in mehreren Bundesregierungen war – und sei-
    lität zu verhelfen.                                       ner Frau Traute ins Leben gerufen wurde. Ich freue mich
                                                              sehr, dass wir diese Preisverleihung dank des finanziellen
    Mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspubli-        Engagements der Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung
    zistik „Wirtschaft.Weiter.Denken.“ sollen Wirtschafts-    auch in diesem Jahr wieder vornehmen können.
    und Sozialwissenschaftler_innen geehrt werden, die
    jenseits der volkswirtschaftlichen Standardtheorie oder   Der Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik wird
    des makroökonomischen Mainstreams neue Antwor-            im Jahr 2020 damit zum sechsten Mal verliehen. Heraus-
    ten auf die großen wirtschafts- und gesellschaftspoli-    ragende ausländische Preisträger_innen, die der deut-
    tischen Herausforderungen unserer Zeit suchen und         schen wirtschaftspolitischen Debatte wichtige Impulse
    entwickeln.                                               geliefert haben, waren in den Vorjahren:

4   Kurt Beck
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
•   Mark Blyth (Preisträger 2015), für sein Buch Wie          •   das Buch von Axel Stommel, Basics der Ökonomie:
    Europa sich kaputtspart: Die gescheiterte Idee der Aus-       Wirtschaftspolitik, Staat und Steuern, Büchner Verlag,
    teritätspolitik;                                              03/2019;

•   Mariana Mazzucato (Preisträgerin 2016), für ihr Buch      •   das Buch von Julie Froud, Michael Moran (†), Suk-
    Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von           hdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams, Die
    Innovation und Wachstum;                                      Ökonomie des Alltagslebens: Für eine neue Infrastruk-
                                                                  turpolitik, Suhrkamp Verlag, 08/2019.
•   Oliver Nachtwey (Preisträger 2017), für sein Buch
    Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der     Die Mitglieder der unabhängigen Auswahl-Jury:
    regressiven Moderne;
                                                              •   Frau Dr. Brigitte Preissl, ehemalige Chefredakteurin
•   Branko Milanovic (Preisträger 2018), für sein Buch            der Fachzeitschriften Wirtschaftsdienst und Intereco-
    Die ungleiche Welt: Migration, das Eine Prozent und           nomics beim ZBW – Leibniz-Informationszentrum
    die Zukunft der Mittelschicht;                                Wirtschaft,

•   Adam Tooze (Preisträger 2019), für sein Buch Cra-         •   Herr Prof. Dr. Peter Bofinger von der Universität
    shed: Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert           Würzburg, ehemaliges Mitglied des Sachverständi-
    haben, sowie Harald Schumann und Elisa Simantke               genrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-
    (Sonderpreisträger_innen 2019), für ihren Artikel             chen Entwicklung,
    Blackrock: Ein Geldkonzern auf dem Weg zur globalen
    Vorherrschaft.                                            •   Herr Thomas Fricke, ehemaliger Chefökonom der
                                                                  Financial Times Deutschland, heute u. a. Cheföko-
Im Rahmen des Nominierungsverfahrens sind im                      nom der European Climate Foundation, Direktor
Herbst vergangenen Jahres über 50 Vorschläge – neben              des Forum New Economy und Kolumnist bei Der
Büchern auch Blog-Beiträge, Kolumnen, Kommentare,                 Spiegel
Reportagen und Artikel in Zeitungen sowie Fachzeit-
schriften – bei uns eingegangen. Für diese rege Betei-        haben dann im Rahmen eines intensiven Begutach-
ligung möchte ich mich im Namen der Hans-und-                 tungsverfahrens aus den fünf Finalist_innen die Ge-
Traute-Matthöfer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-            winner_innen ermittelt. Auch Ihnen möchte ich für
Stiftung ebenfalls sehr herzlich bedanken. Die große          Ihr Engagement und Ihre Mitwirkung sehr herzlich
Anzahl an Einsendungen und auch die vielen posi-              danken.
tiven Rückmeldungen in den vergangenen Wochen
zeigen, dass wir mit der Verleihung dieses Buchpreises        Der Hauptpreis 2020 geht an:
richtig liegen.
                                                              •   Julie Froud, Michael Moran (†), Sukhdev Johal, An-
Auf die Shortlist für die diesjährige Verleihung des Hans-        gelo Salento und Karel Williams, für ihr Buch Die
Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik „Wirtschaft.         Ökonomie des Alltagslebens: Für eine neue Infrastruk-
Weiter.Denken.“ schafften es von den eingegangenen                turpolitik.
Einsendungen:
                                                              Darüber hinaus hat sich die Jury entschieden, neben
•   das Buch von Lea Elsässer, Wessen Stimme zählt:           dem Hauptpreis auch einen Sonderpreis für herausra-
    Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland,       gende und außerordentliche wirtschaftspublizistische
    Campus Verlag, 11/2018;                                   Leistungen zu vergeben.

•   das Buch von Ulrike Herrmann, Deutschland, ein            Der Sonderpreis 2020 geht an:
    Wirtschaftsmärchen: Warum es kein Wunder ist, dass
    wir reich geworden sind, Westend Verlag, 09/2019;         •   Hubertus Bardt, Sebastian Dullien, Michael Hüther
                                                                  und Katja Rietzler, für ihren Artikel Für eine solide
•   das Buch von Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und             Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!, erschienen
    Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach          als IMK Report 152/2019 und als IW-Policy Paper
    dem Boom, Suhrkamp Verlag, 05/2019;                           10/2019.                                                 5
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
Die Jury begründet ihre Entscheidung folgendermaßen:

    Die Träger_innen des Hauptpreises legen in ihrem Buch
    dar, wie stark öffentliche Infrastruktur in den vergange-
    nen Jahren nur noch nach finanziellen Renditeaspekten
    angeboten worden ist, und zeigen die negativen Wir-
    kungen dieser Politik auf. Sie plädieren daher für neue
    Formen der Zusammenarbeit zwischen privaten und
    öffentlichen Akteur_innen, um funktionsfähige Infra-
    strukturen für Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen.

    Die Träger_innen des Sonderpreises demonstrieren, wie
    die Investitionsschwäche in Deutschland durch eine
    mutige Wirtschaftspolitik überwunden werden kann.
    Dabei gelang es den Ökonom_innen, frühere ideologi-
    sche Grenzen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-
    interessen zu überwinden.

    Frau Brigitte Preissl und Herr Thomas Fricke erläutern
    in ihrer Laudatio auf die Preisträger_innen noch etwas
    genauer die Gründe, warum die Jury sich für die beiden
    Preisträger_innen entschieden hat.

    Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre der Re-
    den, die während des Festaktes zur Preisverleihung am
    4.3.2020 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin gehal-
    ten wurden: die Festrede von Norbert Walter-Borjans,
    Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei
    Deutschlands, die Laudatio von Brigitte Preissl und
    Thomas Fricke sowie die Dankesreden von den Preis-
    träger_innen Julie Froud, Sebastian Dullien und Michael
    Hüther.

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Festrede

Norbert Walter-Borjans
Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, mit dieser Festrede die Gelegenheit zu    Jetzt hoffe ich, dass ich Sie neugierig gemacht habe. Wel-
haben, zwei spannende Themen anzusprechen, die nicht      che Schlüsse ich konkret aus der Lektüre gezogen habe,
nur Politik und Ökonomie herausfordern, sondern un-       erzähle ich Ihnen später.
sere Partei zum Nachdenken anregen und uns helfen,
unsere Wirtschaftspolitik weiterzuentwickeln.             Zuallererst aber, und das ist das Wichtigste, gratulie-
                                                          re ich den Preisträger_innen zu ihren Preisen. Bei der
Sowohl das Buch Die Ökonomie des Alltagslebens und die    Friedrich-Ebert-Stiftung bedanke ich mich für die Einla-
daraus abgeleitete Forderung nach einer „neuen Infra-     dung, die Rede halten zu dürfen. Denn wir haben zwei
strukturpolitik“ sowie die Frage nach den notwendigen     Preisträgerteams, und die ehren zu dürfen, ist auch für
Investitionen für die Zukunft Deutschlands, die im        mich eine große Ehre. Beide beschäftigen sich in ih-
Zentrum des Debattenbeitrags des Instituts für Makro-     rer Arbeit mit einer Thematik, die mich schon lange
ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und des            vor dem Amt des Vorsitzenden der Sozialdemokrati-
Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) stehen, sollten   schen Partei umgetrieben hat, und das war immer die
nicht einfach nebeneinander betrachtet, sondern müssen    Frage: Wie sichern wir eigentlich nachhaltig unseren
zwingend zusammengedacht werden.                          Wohlstand? Wie sichern oder gewährleisten wir, dass

Norbert Walter-Borjans                                                                                                 7
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dieser Wohlstand möglichst vielen, möglichst allen zu-      eine Richtungsfrage in der Politik, sondern es geht um
    gutekommt? Und wie gewährleisten wir auch, dass wir         etwas ganz Grundlegendes. Wenn wir unsere Zukunft
    diesen Wohlstand nicht auf dem Rücken der Zukunft           sichern wollen, dann müssen wir investieren – und das
    und auf dem Rücken anderer Regionen der Welt erwirt-        muss der Staat in einem ganz großen Umfang tun.
    schaften? Beide Werke weisen uns Wege und geben An-
    regungen.                                                   Meine Glückwünsche gelten auch der Jury des Hans-
                                                                Matthöfer-Preises. Diejenigen, die die diesjährigen Preis-
    Insofern gehen meine Glückwünsche an die Autor_in-          träger_innen ausgewählt haben, hatten die kluge Idee,
    nen des Hauptpreises: Julie Froud, Michael Moran,           beides zusammenzubringen und zusammenzudenken.
    Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams. Sie       Beide Themen sorgen für Aufmerksamkeit und werden
    zeigen, wie ich finde, in einer sehr interessanten Wei-     die Perspektive der hoffentlich zahlreichen Leser_innen
    se, womit sich Politik, womit wir uns eigentlich alle be-   verschieben und somit sehr wirkungsmächtig werden.
    schäftigen müssen, wenn wir das Richtige tun und dafür      Das passt gut zum Motto des Preises und zum Namens-
    sorgen wollen, dass wir einen Wohlstand für alle haben,     geber Hans Matthöfer: Wirtschaft.Weiter.Denken. Darum
    der so angelegt ist, dass er eben nicht nur einer Genera-   geht es bei den Preisen: weiter denken. Und vor allem:
    tion dient.                                                 anders denken.

    Natürlich gratuliere ich auch ganz herzlich den Autor_
    innen des Sonderpreises: Katja Rietzler, Hubertus Bardt,    Hauptpreis – Fundamentalökonomie und neue
    Sebastian Dullien und Michael Hüther. Dadurch, dass         Infrastrukturpolitik
    hier welche zusammenkommen, von denen man norma-
    lerweise denken würde, dass sie auf verschiedenen Seiten    Beim diesjährigen Hans-Matthöfer-Preis steht die Funda-
    argumentieren, wird deutlich: Es geht nicht um irgend-      mentalökonomie im Mittelpunkt. Gemeint ist ein the-

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oretischer Ansatz, der auf die Bereitstellung von für das     Das Buch beschert uns zugleich die Möglichkeit, ei-
Alltagsleben wichtiger Infrastruktur abzielt. Wir erwarten,   nen anderen Blick auf die Dinge unseres alltäglichen
dass der Strom aus der Steckdose, das Wasser aus dem          Lebens und der sich dahinter verbergenden Infra-
Hahn kommt. Wenn wir uns verletzen, kommt ein Kran-           struktur zu werfen: Es geht um die ökonomischen
kenwagen – hoffentlich. Vom Bahnhof bringt uns ein Zug        Voraussetzungen des Alltagslebens. Das meinen die
zum gewünschten Ort – oder auch nicht. Erst wenn etwas        Autor_innen mit „Fundamentalökonomie“: selbstver-
mal nicht funktioniert, wird uns die Bedeutung dieser         ständliche Dinge des täglichen Lebens, die nicht oder
Voraussetzungen der modernen Zivilisation bewusst.            kaum mehr wahrgenommen werden, aber enorme Be-
                                                              deutung haben, wenn sie fehlen, eingeschränkt oder
Die Entwicklung der Fundamentalökonomie, die                  gar begrenzt werden oder nur zu hohen Kosten zu er-
Bereitstellung von Infrastruktur, um einmal ein mo-           halten sind.
dernes Vokabular zu benutzen, begann schon in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die wachsen-         Diese Ökonomie des Alltagslebens und das Postulat einer
den Städte Kanalisationen anlegten und für sauberes           neuen Infrastrukturpolitik sind die Kernbestandteile des
Trinkwasser sorgten. Das war eine gemeinsame Leis-            Buches. Seine Botschaften sind klar und deutlich:
tung der Gesellschaft und ein durchaus moralisches
Projekt, das zweierlei im Blick hatte: Die Maßnahmen          1.   Es zeigt den Ausweg auf aus der Falle der Profitorien-
verbesserten das Leben der Menschen im Allgemei-                   tierung und Ökonomisierung aller Dinge des tägli-
nen und machten sie zugleich produktiver. Dennoch,                 chen Lebens.
das Thema ist äußerst aktuell. Und es geht bei dieser
Perspektive auch nicht um öffentliche Infrastruktur,          2.   Was die Infrastrukturen des täglichen Lebens betrifft,
sondern darum, eine Ökonomie zu schaffen, die zu-                  sind Gewinnmaximierungsdenken und der Primat
vorderst am Gemeinwohl orientiert ist.                             des Ökonomischen abzulehnen.

                                                                                                                            9
Preisverleihung an Julie Froud, Michael Moran ( ), Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
3.   Gefordert ist eine Ökonomie und Infrastruktur im         nem Vorwort zum Buch zu Recht den Ausverkauf der
          Dienste der Menschen.                                    Grundlagen solidarisch-bürgerlichen Wirtschaftens.

     Interessant ist das Buch allein schon deshalb, weil es eine   Das kennen wir auch in Deutschland, wenn der Neo-
     Form der Ökonomie beschreibt, die Wege in die Zukunft         liberalismus sich im politischen und wirtschaftlichen
     weist und uns begreifen lässt, welche Bedeutung eine gut      Denken durchgesetzt hat. Die Privatisierung von kom-
     funktionierende, bezahlbare und allen zur Verfügung           munalen Wohnungsbeständen und von Angeboten der
     stehende Infrastruktur hat. Darüber hinaus wird dafür         Daseinsvorsorge wie Gas und Wasser zeigt, dass Privati-
     plädiert, dass der Staat wieder mehr Verantwortung für        sierung verteuert und die Qualität nicht unbedingt er-
     das Gemeinwohl übernimmt, und der Wirtschaft eine             höht. Profitstreben bei diesen elementaren Infrastruk-
     dienende Rolle gegenüber der Gesellschaft zugewiesen.         turen sind mehr als schädlich. Deshalb sollten wir das
                                                                   Buch als Mahnung begreifen und aus den aufgeführten
     Das Buch ist notwendig, da die Fundamentalökonomie            negativen Beispielen lernen.
     als ein für die Politik handlungsleitendes Element in den
     vergangenen Jahren in den Hintergrund rückte und ihre         Und nicht zuletzt schließen sich wichtige Fragen für die
     Kapitalisierung, besser die der Daseinsvorsorge, statt-       Zukunft an: Sind Facebook und Google noch private
     fand. Zum Bruch mit der Fundamentalökonomie kam               Anbieter von digitalen Medien? Oder sind es im Grunde
     es, als die großen Privatisierungswellen der Daseinsvor-      schon fundamentalökonomische Institutionen, die eben-
     sorge begannen und staatliche Leistungen „verhökert“          falls einem öffentlichen Auftrag unterliegen sollten?
     wurden. Tafelsilber wurde verkauft. Das führte auch
     in der Folge schlichtweg zu höheren Preisen und Ein-          Das Plädoyer für eine neue Infrastrukturpolitik bedarf
     schränkungen des Leistungsangebots, aber auch dazu,           darüber hinaus auch der notwendigen Investitionen in
     dass Wettbewerb und Renditedenken in immer mehr               diese Infrastruktur. Das verbindet auch beide Auszeich-
     Bereiche unseres Alltages vorgedrungen sind. Es wird          nungen. Für den Vorschlag, massiv in die Infrastruktur
     nicht mehr gefragt, was dem Menschen, was der Allge-          zu investieren, gibt es den diesjährigen Sonderpreis.
     meinheit dient, sondern vielmehr, wie sich der Gewinn
     maximieren lässt.
                                                                   Sonderpreis – Investitionen ermöglichen!
     Durch Rekommunalisierung und Reprivatisierung von
     Gas- und Wasserversorgung, Verkehrsinfrastruktur und          „Investitionen“ ist für mich das Schlüsselwort für die
     Wohnungen wird nun seit einigen Jahren versucht,              Zukunft unseres Landes. Wir haben einen Investitions-
     mühsam und mit viel Geld die Infrastruktur, das Tafel-        stau, der dringend behoben werden muss. Unsere In-
     silber wieder zurückzukaufen. Langsam setzt sich wieder       frastruktur ist marode und erneuerungsbedürftig. Diese
     der Gedanke durch: Die Daseinsvorsorge ist Staatsauf-         Defizite gibt es auch, weil dem Prinzip der Fundamen-
     gabe und nicht Spielball von Privatinteressen und des         talökonomie zu wenig Rechnung getragen wurde.
     Kapitals. Investorengruppen sollten nicht darüber be-
     stimmen und verfügen. Die Daseinsvorsorge muss für            Wir sind deshalb gut beraten, dieses Thema anzupacken.
     die Menschen da sein und nicht umgekehrt.                     Ich freue mich sehr, dass die Gewerkschaften und die
                                                                   Wirtschaft in großer Einigkeit das auch so sehen.
     Es geht bei diesem Thema um die soziale Infrastruktur
     – nicht mehr und nicht weniger. Einige haben das ver-         Die Berichte des Instituts für Makroökonomie und Kon-
     standen, aber leider noch nicht alle. Wir werden noch         junkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung und des In-
     viel diskutieren und Überzeugungsarbeit leisten müssen.       stituts der deutschen Wirtschaft zeigen sehr eindringlich
                                                                   die Notwendigkeit und nennen konkrete Zahlen. Gefor-
     Ein Hinweis sei noch erlaubt, weil er wichtig ist zum         dert sind 450 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitio-
     Einordnen der Inhalte des Buches: Das Buch beschäf-           nen für die nächsten zehn Jahre.
     tigt sich mit Großbritannien als paradigmatischem Bei-
     spiel dieses Privatisierungsfanatismus. Wir alle kennen       Vor dem Hintergrund einer Vernachlässigung der öffent-
     die Geschichte des Landes und wie die Gier des Kapi-          lichen Investitionen in den vergangenen beiden Jahr-
     tals nach Privatisierung und Profitmaximierung den            zehnten muss es nun gelten, die Infrastruktur auf den
     gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land erodieren             neuesten Stand zu bringen und den aufgelaufenen Inves-
10   ließ und zerstörte. Wolfgang Streeck nennt es in sei-         titionsrückstand schrittweise abzubauen. Die Bewälti-
gung der demografischen Alterung und die Dekarboni-          In dem Zusammenhang möchte ich gerne den Namens-
sierung der Volkswirtschaft erfordern zudem in den kom-      geber des Preises, Hans Matthöfer, zitieren, der 1993 in
menden Jahren einen gewaltigen Kraftakt. Die Infrastruk-     seinem Buch Agenda 2000: Vorschläge zur Wirtschafts-
tur muss an ein postfossiles Zeitalter und den für eine      und Gesellschaftspolitik schrieb: „Es werden in Zukunft
alternde Bevölkerung benötigten volkswirtschaftlichen        nur dann zusätzliche Arbeitsplätze in ausreichender Zahl
Strukturwandel angepasst werden.                             geschaffen und bestehende gesichert, wenn die Verwen-
                                                             dungsseite des Sozialprodukts zugunsten von Investi-
Die Autor_innen versprechen sich von der Initiative          tionen umstrukturiert wird, um unter anderem die Wirt-
wirtschaftliche Vorteile über Jahrzehnte hinweg. Investi-    schaft umfassend zu modernisieren, Energie und Roh-
tionen werden hier nicht als notwendiges Übel begriffen,     stoffe sparsamer zu verwenden, mehr Umweltschutz zu
sondern als ein Konjunkturprogramm, als ein Moderni-         gewährleisten, die berufliche Aus- und Fortbildung zu för-
sierungsprogramm für die Zukunft unserer Volkswirt-          dern sowie humanere Arbeitsbedingungen zu schaffen.“
schaft, aber auch als ein stabilisierendes Element für den
Erhalt unseres Wohlstandes.                                  Wie weitsichtig, damals schon.

Wir sind den Autor_innen dankbar, dass sie uns als           Weitsichtigkeit schließt aber auch mit ein, das Corona-
SPD in unserer Meinung bestärken, ein Investitionspro-       Virus und dessen volkswirtschaftliche Folgen zu beden-
gramm zu fordern, aber auch den Weg aufzeigen, wie es        ken. Wir wissen letztlich noch nicht, welche Auswirkun-
funktionieren wird. Wichtig ist es mir zu betonen, dass      gen es auf die Volkswirtschaften global und national
Investitionen auch die Grundlage für Innovationen sind.      hat. Diese können reichen von eher schwachen bis ganz
                                                             starken. Die internationalen Börsen reagieren schon.
Innovationen sichern den Wohlstand von morgen, die-          Der Arbeitsmarkt zeigt erste Anzeichen und manche
nen aber auch der Umwelt und dem Klimaschutz. Und            Branchen geben Alarm.
zu guter Letzt sind Investitionen auch zentral für den
Zusammenhalt in diesem Land. Solange wir weiterhin           Wir müssen vorbereitet sein. Olaf Scholz redet deshalb
fundamentale Ungleichheiten zwischen Stadt und Land          zu Recht von einem vielleicht notwendigen Konjunk-
haben, zwischen einzelnen Vierteln in unseren Städten,       turpaket. Handeln der Bundesregierung ist gefordert.
kann Zusammenhalt nicht wachsen und nicht bestehen.

Das Geld für Investitionen muss aber irgendwo herkom-        Schlussfolgerungen – Wirtschaftspolitik der SPD
men. Gerade bei einer lahmenden Konjunktur und einer
eher schwierigen wirtschaftlichen Perspektive ist das eine   Welche Schlussfolgerungen leiten wir aus den Ideen und
banale, aber wichtige Erkenntnis. Die Wachstumsprog-         Forderungen der Preisträger_innen ab? Wie stellen wir
nosen für dieses und nächstes Jahr zeigen eine deutliche     uns als SPD eine zukunftsfähige Wirtschaft vor, die unse-
Verlangsamung. Die neuesten Zahlen im Jahreswirt-            ren Grundwerten folgt, unserem Anspruch nach sozialer
schaftsbericht der Bundesregierung gehen von einer           Gerechtigkeit genügt und auf Nachhaltigkeit setzt?
leichten Erholung der Konjunktur von 1,1 Prozent für
dieses Jahr aus. Das nach einem Wachstum von 0,6 Pro-        Ziel muss es sein, eine progressive sozialdemokratische
zent im vergangenen Jahr. 2021 soll es dann noch ein         Wirtschaftspolitik zu entwerfen. Es geht darum, sozial-
wenig besser werden mit 1,3 Prozent. Schauen und hof-        demokratische Antworten auf die großen Herausforderun-
fen wir, dass nichts dazwischenkommt und den Optimis-        gen dieses Jahrzehnts wie Digitalisierung, Klimawandel,
mus dämpft.                                                  Globalisierung, demografischer Wandel und die unglei-
                                                             che Verteilung zu finden.
Die Investitionen müssen verstetigt, ja sogar dynami-
siert werden. Der Bund hat seine Investitionen für dieses    Uns geht es auch darum, eine normative Orientierung
Jahr schon deutlich gesteigert. Im Bundeshaushalt sind       für eine Wirtschaftspolitik nach Überwindung des neo-
die investiven Maßnahmen mit 160 Milliarden Euro             liberalen Zeitalters zu finden. Es geht zudem darum,
um ein Drittel höher als zwischen 2013 und 2017. Das         Ideen für konkrete Handlungsfelder zu entwickeln wie
wird aber nicht reichen. Deshalb darf auch die „schwarze     u.  a. für den gestaltenden und investierenden Staat, für
Null“ nicht zum Fetisch werden und die Schuldenbremse        strategische und ökologische Industriepolitik, für soziales
nicht zur Zukunftsbremse – so haben wir es im Dezember       und inklusives Wachstum, für Politik für einen starken
2019 auf unserem Bundesparteitag beschlossen.                (digitalen) Mittelstand, für Rahmenbedingungen für            11
gutes, nachhaltiges Unternehmertum, für die Demokra-       Beiträge leisten können, die der Gesellschaft dienen und
     tisierung der Wirtschaft und letztlich für Gute Arbeit.    im Dienst für die Menschen eingesetzt werden können.
                                                                Das ist gelebte Corporate Social Responsibility und Ver-
     Warum wir das wollen, haben wir mit unserem Beschluss      antwortung von Unternehmen. Nur so erhalten wir
     auf dem Bundesparteitag im Dezember 2019 zur Halb-         Wohlstand und den sozialen Frieden in unserem Land.
     zeitbilanz der Großen Koalition deutlich gemacht. Wir
     haben unsere Ziele für die Zukunft festgelegt und unsere   Ich wiederhole mich, dazu braucht es Investitionen. Nur
     Orientierung formuliert. Ich nenne eine entscheidende      so kann das Gemeinwohl erreicht werden.
     Passage aus dem Beschluss, um deutlich zu machen, was
     uns antreibt: „Wir wollen aus Wandel Fortschritt ma-       Ich wünsche allen Preisträger_innen, dass Ihre Ideen
     chen: technischen Fortschritt, ökonomischen Fortschritt,   und Vorschläge Gehör finden und dass es viele gibt, die
     ökologischen Fortschritt und sozialen Fortschritt. Unser   sie auch umsetzen. Ich werde mein Möglichstes dazu
     Ziel ist ein nachhaltiger Wohlstand für die Vielen statt   beitragen.
     immer mehr Reichtum für die Wenigen. Wir wollen,
     dass Menschen die Anerkennung erhalten, die sie verdie-    Herzlichen Dank!
     nen. Den technologischen Fortschritt durch die Digitali-
     sierung und den Klimaschutz wollen wir dafür nutzen,
     dass es den Menschen bessergeht.“

     Gemeinwohl

     Auf einen Aspekt möchte ich zum Schluss noch einge-
     hen, der mir besonders in diesem Kontext wichtig ist. Es
     geht um das Gemeinwohl als Ziel wirtschaftspolitischen
     Handelns.

     Uns geht es darum, die Menschen zu unterstützen, die
     hart arbeiten, z. B. als Pfleger_innen, Paketbot_innen
     oder als Erzieher_innen, als Feuerwehrmänner und
     -frauen oder als Polizist_innen. Diese Menschen brau-
     chen gute Löhne und anständige Arbeitsbedingungen.

     Uns geht es um eine gut ausgebaute Infrastruktur, Mo-
     bilität für alle zu bezahlbaren Preisen, funktionierende
     und gut ausgestattete Schulen und Zugang zu einem leis-
     tungsfähigen Internet überall.

     Uns geht es darum, dass Vermögende mehr als bisher
     herangezogen werden, um unser Land als Wirtschafts-
     standort auch für unsere Nachkommen zu sichern.

     Unser Land hat viele Unternehmer_innen, die das ge-
     nauso sehen und Verantwortung für unsere Gesellschaft
     übernehmen. Sie fühlen sich dem Gemeinwohl ver-
     pflichtet. Das ist gut so. Mit diesen Unternehmer_innen-
     Persönlichkeiten arbeiten wir zusammen für die Zukunft
     unseres Landes und für das Gemeinwohl.

     Das fordern übrigens auch unsere Preisträger_innen: Die
     Fundamentalökonomie bietet Ansätze, wie Genossen-
12   schaften, Familien-, aber auch Großunternehmer_innen
Laudatio

Brigitte Preissl
Mitglied der Jury des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik

Der Hans-Matthöfer-Preis 2020 wird für ein Buch verge-       kret an der Erstellung des Manuskripts beteiligt waren
ben, das eine neue Infrastrukturpolitik fordert. Bezug ge-   von der Alliance Manchester Business School, Manches-
nommen wird im Wesentlichen auf Beispiele aus Groß-          ter University, die Professor_innen Julie Froud, Karel
britannien und Italien. Wie die neuerdings lauter und        Williams und der 2018 verstorbene Politikwissenschaft-
grundsätzlicher werdenden Debatten in Deutschland            ler Michael Moran, von der Queen Mary University in
zeigen, ist das Thema aber auch hier von hoher Rele-         London Professor Sukhdev Johal und von der Università
vanz. Die Diskussion um Errichtung, Erhaltung und            del Salento in Lecce Professor Angelo Salento.
Weiterentwicklung von Infrastrukturen scheint an vie-
len Stellen in einer Sackgasse zu stecken und droht dort     Diese Liste steht für den im Buch konsequent durch-
erst einmal zu verharren. Was ist schiefgelaufen, und wie    gehaltenen interdisziplinären Anspruch. Die Expertise
kommen wir da wieder heraus? Das vorliegende Buch            reicht von Finanzinnovationen über Management, Orga-
setzt sich weitsichtig und ebenso radikal innovativ wie      nisation und Unternehmensstrategie bis hin zu Politik-
pragmatisch konstruktiv mit diesen Fragen auseinander        wissenschaft und Wirtschafts- und Arbeitssoziologie. Die
und gibt wertvolle Anregungen zu deren Beantwortung.         länderübergreifende Perspektive öffnet den Blick für die
                                                             unterschiedlichen Voraussetzungen und Implikationen
Es beruht auf der Forschungsarbeit von mehr als 20 For-      eines fundamentalökonomischen Konzepts in verschie-
scher_innen des Foundational-Economy-Projekts. Kon-          denen Ländern.

Brigitte Preissl                                                                                                        13
Das Buch Die Ökonomie des Alltagslebens plädiert für eine    nachhaltigen Wirtschaften und vom Zusammenleben
     konsequent gemeinwohlorientierte Infrastrukturpolitik.       im 21. Jahrhundert.
     Der Ansatz erscheint zunächst visionär und in hohem
     Maße idealistisch. Lässt man sich jedoch auf das Ge-
     dankenspiel ein und folgt den mutigen Plänen für eine        Was ist schiefgelaufen?
     fundamental anders konzipierte Daseinsvorsorge, sind
     die Vorteile schnell zu erkennen. Das Konzept folgt          In vielen Ländern Europas wurden in den vergangenen
     konsequent dem Anliegen des Hans-Matthöfer-Preises.          Jahrzehnten öffentliche Dienstleistungsangebote privati-
     Wirtschaft wird hier in der Tat weitergedacht. Es geht um    siert. Klagen über eine schwerfällige Staatsbürokratie und
     ein Verlassen des ausgetretenen Pfades und um ein „So        die Überzeugung von der Notwendigkeit eines schlanken
     könnte es besser gehen“, was außerordentlich inspirie-       Staates waren wesentliche Treiber dieses Prozesses. Der
     rend wirkt. Die Foundational Economy – oder Funda-           Glaube an die Überlegenheit des Marktes war in der öko-
     mentalökonomie – ist aber kein reines Gedankenkon-           nomischen Wissenschaft ebenso wie in der Politik und
     strukt. Sie entspringt einer sehr konkreten Analyse der      den Medien so groß, dass viele Privatisierungsverfahren
     Fehler der Vergangenheit und entwickelt daraus eine          weder innerhalb der Verwaltung sorgfältig geprüft noch
     alternativ aufgestellte Fundamentalökonomie. Und da          demokratisch legitimiert wurden. „Geschäftsgeheim-
     wird es spannend.                                            nisse“ verhinderten oft eine wirksame parlamentarische
                                                                  Kontrolle.
     Zwei Eigenschaften kennzeichnen diese neue Funda-
     mentalökonomie:                                              Die Euphorie – auch und besonders unter Ökonom_in-
                                                                  nen – war groß, denn erwartet wurde, dass die Privatisie-
     1.   Sie umfasst materielle und immaterielle Infrastruk-     rung zu Effizienzsteigerung, mit sinkenden Kosten und
          turgüter, die von essenzieller Bedeutung für das All-   Preisen sowie zu einer Innovationswelle führen werde.
          tagsleben sind, etwa das, was man englisch unter        Es ist unbestritten, dass in vielen Bereichen Produktivi-
          „utilities“ oder deutsch unter „Daseinsvorsorge“        tätsfortschritte erzielt wurden. Doch die Beispiele im
          fassen kann. Sie schließt Dienstleistungen ein, auf     Buch Die Ökonomie des Alltagslebens zeigen, dass diese
          die wir alle im Laufe des Lebens irgendwann ange-       weder im erwarteten Umfang in Form sinkender Preise
          wiesen sind, wie medizinische Versorgung, Bildung,      weitergegeben noch für notwendige Investitionen in
          Kinderbetreuung oder Alterssicherung.                   Infrastruktur und Servicequalität genutzt wurden. Dies
                                                                  war nicht zuletzt Ergebnis überhöhter Renditeerwar-
     2.   Zweitens gilt: Es handelt sich um Güter, auf die alle   tungen. Die sogenannte Finanzialisierung, das heißt die
          Bürger_innen – unabhängig von Status und Ein-           Einbindung der Geschäftstätigkeit in komplexe Finanz-
          kommen – ein Recht haben sollten, da sie die Vor-       produkte, deren einziges Ziel die Vermehrung der ein-
          aussetzung dafür sind, überhaupt wirtschaften und       gesetzten Finanzmittel ist, führte zu einer Ablösung der
          ein Leben in der Gesellschaft führen zu können.         Unternehmensstrategien vom Zweck der Leistungser-
                                                                  stellung. Ob die gelieferte Dienstleistung qualitativen
     Was Teil der fundamentalökonomischen Infrastruktur           Ansprüchen genügt, die gewählte Umsetzung sachge-
     sein soll, ist Ergebnis demokratischer Abstimmung. Da-       recht und kundenfreundlich ist oder die Arbeitsbedin-
     mit ist die neue Fundamentalökonomie ebenso ein po-          gungen erträglich, ob die Investition langfristig zu einer
     litisches wie ein ökonomisches Projekt. Sie setzt voraus,    besseren Versorgung führt, spielt dabei keine Rolle.
     dass die Versorgung mit fundamentalökonomischen
     Angeboten in ausreichender Quantität und Qualität als
     elementare Staatsaufgabe anerkannt wird.                     Wie kommen wir aus dieser Situation raus?

     Das Buch macht deutlich, dass es nicht darum gehen           Die Schlussfolgerung des Autor_innenteams ist, dass es
     kann, endlich die Reparatur einer maroden Brücke in          dringend geboten ist, die Aktivitäten der Fundamental-
     Gang zu bringen oder die Deutsche Bahn so auszustat-         ökonomie dem Gemeinwohl zu verpflichten sowie die
     ten, dass sie für modernen Transport im Zeichen des          Gestaltung der zugehörigen Angebote wieder näher an
     Klimawandels gerüstet ist. Es geht auch nicht um den         die Bürger_innen heranzuführen.
     nächsten kleinen Rentenzuschuss für irgendeine beson-
     ders bedürftige Gruppe. Es geht um ein ganz neues Ver-       Der Anspruch der Gesellschaft auf Leistungen der Funda-
14   ständnis vom Umgang mit kollektiven Ressourcen, vom          mentalökonomie wird explizit auf Unternehmen ausge-
dehnt. Denn auch sie müssen darauf vertrauen können,           4.   Hybride Allianzen: Die Politik alleine wird weder
dass fundamentale Infrastrukturleistungen vorhanden                 die Konzipierung noch die Governance der neuen
sind. Diese müssen nicht notwendig vom Staat selbst                 Systeme bewältigen können. Hier müssen neuarti-
erbracht werden oder kostenlos sein. Wichtig ist aber,              ge institutionelle und organisatorische Lösungen
dass die beauftragten Agenten im Sinne des Gemein-                  gefunden werden. Selbst wenn Politiker_innen das
wohls handeln und entsprechend kontrolliert werden.                 Konzept mittragen, ist zu bedenken, dass durch Spar-
Zudem sollte die Finanzierung Kalkülen unterliegen,                 politik und Auslagerung die Kompetenzen für eine
die die Kosten der Leistungserstellung plus einer ver-              Erneuerung von Infrastrukturen in den Ministeri-
handelten Rendite, die von den Autor_innen mit etwa                 en oft nicht mehr vorhanden sind. Auch besitzen
fünf Prozent veranschlagt wird, widerspiegeln und nicht             Kommunalverwaltungen in Zeiten rigider Spar-
die Gewinnprojektionen abstrakter Finanzprodukte. In                politik nicht die administrativen Ressourcen, um
diesem Sinne ist das Financial Engineering als Leitlinie            komplexe Neuerungen zur Stärkung der Fundamen-
der Geschäftsmodelle durch die Orientierung an einem                talökonomie zu realisieren. Die Heterogenität der
moralischen Zweck zu ersetzen.                                      politischen und institutionellen Strukturen in den
                                                                    Ländern Europas verlangt flexible Lösungen. Die
Für die Fundamentalökonomie ergeben sich hieraus fol-               Autor_innen sprechen von „hybriden Allianzen“,
gende Prinzipien:                                                   die eingegangen werden müssen, um jeweils im
                                                                    konkreten Fall die richtige Mischung von zentraler
1.   Bürgerbeteiligung: Die Bürger_innen stimmen über               und dezentraler, genossenschaftlicher, privater oder
     die Prioritäten, nach denen die zu erbringenden Leis-          öffentlicher Ausgestaltung zu finden. Daher werden
     tungen zu sortieren sind, ab. Es liegt auf der Hand,           zunächst lokale und regionale Experimente vorge-
     dass dabei lokale und regionale Belange sowie örtlich          schlagen, um die Tragfähigkeit der gefundenen Lö-
     verankerte Organisationsformen eine größere Rolle              sungen zu testen.
     spielen werden, als dies gegenwärtig der Fall ist. Bür-
     gerbeteiligung verlangt aber auch, wie das Autor_in-      Die zu bewältigenden Veränderungen scheinen gigan-
     nenteam klar betont, eine gute Balance zwischen           tisch; die Lösungsvorschläge müssen für jedes Land und
     Rechten und Pflichten der Beteiligten und ein von         jedes Element der Fundamentalökonomie erst durch-
     Solidarität getragenes Anspruchsmanagement.               komponiert werden. Sie müssen sich im Experiment be-
                                                               währen und sich auf verschiedenen Ebenen der demo-
2.   Priorität der Politik: Die Politik muss die Gestal-       kratischen Entscheidungsfindung durchsetzen.
     tungshoheit über die Leistungen der Fundamental-
     ökonomie zurückgewinnen. Werden private Betrei-           Das alles sollte uns aber nicht davon abhalten, den Au-
     ber_innen beauftragt, muss der Staat mehr Einfluss        tor_innen zu folgen, wenn sie die entscheidenden Fragen
     auf deren Geschäftsgebaren nehmen. Geheimver-             stellen: Wie kann es sein, dass wir uns bei allen Produk-
     träge ohne demokratische Kontrolle passen nicht in        tivitätsfortschritten, bei ständigem Wachstum des So-
     dieses Konzept.                                           zialprodukts und immer weiter fortschreitender Technik
                                                               fundamentalökonomische Güter immer weniger leisten
3.   Finanzierung und Steuerreformen: Bezahlbare Ge-           können? Wie kann es sein, dass Solidarität als Merkmal
     bühren für die Inanspruchnahme der Infrastruktur          sozialer Marktwirtschaft heute so schlecht im Kurs steht,
     werden auch in Zukunft als eine wichtige Quelle           obwohl die Gesellschaft doch insgesamt immer reicher
     der Finanzierung gesehen. Darüber hinaus ist es           wird. Das Autor_innenteam des Buches Die Ökonomie des
     aber unumgänglich, die in den vergangenen Jahren          Alltagslebens hat sich diesen Fragen gestellt.
     in fast allen Ländern sinkenden staatlichen Inves-
     titionen in materielle Infrastrukturen wieder zu er-      Wir danken Ihnen für dieses Buch!
     höhen. Zudem bedürfen die geplanten Leistungen
     der Fundamentalökonomie erheblicher staatlicher           In diesem Jahr wird neben dem Hans-Matthöfer-Preis
     Unterstützung. Um diese zu ermöglichen, wird eine         für Wirtschaftspublizistik „Wirtschaft.Weiter.Denken.“
     Reform der Steuersysteme vorgeschlagen. Gerechte-         ein „Sonderpreis für außerordentliche wirtschaftspubli-
     re Steuern auf Kapitaleinkommen, die Bekämpfung           zistische Leistungen“ vergeben. Dieser Preis geht an ein
     von Steuervermeidungspraktiken sowie höhere Ver-          weiteres Autor_innenteam. Dazu gehören Hubertus Bardt
     mögen- und Bodenwertsteuern bieten hohe Poten-            und Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirt-
     ziale zur Erschließung zusätzlicher Ressourcen.           schaft (IW) sowie Sebastian Dullien und Katja Rietzler      15
vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturfor-            der öffentlichen Infrastruktur. In vielen Punkten weisen
     schung (IMK). Ausgezeichnet wird ihr Policy Paper mit        sie eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide sehen erheb-
     dem Titel Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen er-   liche Mängel in der Wahrnehmung der Verantwortung
     möglichen! Es räumt mit dem Irrglauben auf, nur durch        für die Grundlagen des Wirtschaftens durch die Politik.
     schwarze Nullen, rigide durchgesetzte Schuldenbremsen        Während das Buch Die Ökonomie des Alltagslebens die
     und eisernes Sparen könne Generationengerechtigkeit          Ursachen für die Schieflage in einer radikalen Privati-
     hergestellt werden. Hier erfahren wir, das Gegenteil ist     sierung sieht, konstatiert das Policy Paper Für eine solide
     der Fall.                                                    Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen! eine falsche Prio-
                                                                  ritätensetzung im politischen Handeln in Deutschland.
     Zunächst wird – kaum überraschend – ein gigantischer         Hier werden die durch Finanzialisierung verzerrten pri-
     Nachholbedarf nicht nur bei klassischen Infrastruktur-       vatwirtschaftlichen Anreize kritisiert und eine Orientie-
     aufgaben, Verkehr, Telekommunikation, Forschung und          rung am Gemeinwohl gefordert; dort wird der einseitige
     Entwicklung oder Wohnen festgestellt, sondern auch in        Fokus auf den Schuldenabbau mit langfristig negativen
     Bezug auf die Bewältigung von Zukunftsaufgaben wie           Folgen für das Produktionspotenzial angeprangert und
     Dekarbonisierung, Bildung und die Erschließung unge-         eine zukunftsorientierte Einbindung der Investitions-
     nutzter Arbeitskräftepotenziale. Die Politik hat hier den    erfordernisse in die staatliche Finanzplanung verlangt.
     Abbau von Schulden höher bewertet als die Sicherung,         Neue Organisationsformen, etwa durch neue Modelle
     Modernisierung und Zukunftsfähigkeit des Produktions-        von öffentlich-privaten Partnerschaften, halten beide
     potenzials. Die Folge davon ist, dass zukünftige Genera-     für notwendig, auch wenn diese wahrscheinlich sehr
     tionen nicht über hinreichende Voraussetzungen verfü-        verschieden aussehen würden.
     gen werden, um effizient wirtschaften und den erreichten
     Lebensstandard halten zu können. Schlimmer noch, mit         Der entscheidende Unterschied liegt wohl darin, dass das
     jedem Jahr, in dem die Erneuerung des Infrastruktur-         englisch-italienische Autor_innenteam die Versorgung
     kapitals vernachlässigt wird, schrumpft der öffentliche      mit Gütern und Leistungen der Fundamentalökonomie
     Kapitalstock unübersehbar. Dass bei extrem niedrigen         durch rein marktorientierte Agenten für gescheitert hält
     Zinsen Verschuldung kaum negative und im Einzelfall          und eine demokratische Verwaltung unter anderem mit
     sogar positive Auswirkungen auf die Staatsfinanzen hat,      einem starken Engagement von Institutionen der Zivil-
     ist überall bekannt, außer in den Finanzministerien und      gesellschaft für notwendig erachtet. Die Autor_innen
     bei erstaunlich vielen Ökonom_innen (unser Finanz-           vom IMK und IW hingegen weisen dem Markt weiterhin
     minister überrascht uns hier gerade mit einigen späten       die entscheidende Rolle zu, fordern aber eine Umkehr in
     Einsichten).                                                 der staatlichen Investitionspolitik. Was im Policy Paper
                                                                  steht, könnte bei entsprechenden Einsichten der Politik
     Die vom Autor_innenteam vorgelegte empirische Evi-           übermorgen angepackt werden. Die Fundamentalöko-
     denz und die schlüssige Argumentation lassen ein Igno-       nomie anders gestalten ist ein ungleich komplexeres
     rieren des Infrastrukturdebakels aber nun nicht mehr         und radikaleres, aber vielleicht doch lohnenswertes Un-
     zu. Die Botschaft lautet: „Der Staat ist hier in der Ver-    terfangen. Ob die beiden Ansätze sich trotz aller grund-
     antwortung.“                                                 legenden Unterschiede gegenseitig befruchten können,
                                                                  wird sich vielleicht in der anschließenden Podiumsdis-
     Das Policy Paper lässt die Frage „Wie soll das denn ge-      kussion zeigen.
     hen?“ nicht unbeantwortet. Es wird eine konzertierte
     Aktion zur Investitionswende vorgeschlagen. Investiti-
     onen in die Infrastruktur sollen unabhängig von kon-
     junkturellen und fiskalischen Motiven kontinuierlich
     über einen Investitionsfonds finanziert werden können.
     Eine langfristige Bedarfsplanung und die Ausstattung
     der Kommunen mit ausreichend finanziellen Mitteln
     sind weitere Elemente einer „Finanzierung mit ökono-
     mischer Vernunft“. Dies könnte ein Weg aus der Sack-
     gasse sein.

     Die beiden preisgekrönten Werke konstatieren gleicher-
16   maßen einen dringenden Handlungsbedarf im Bereich
Laudatio

Thomas Fricke
Direktor des Forum New Economy, Kolumnist bei Der Spiegel, Mitglied der Jury des Hans-Matthöfer-
Preises für Wirtschaftspublizistik

Vielen Dank an alle Vorredner_innen. Eine Kleinigkeit        man das nicht unbedingt erwarten würde. Ich weiß nicht,
würde ich gern noch ergänzen: Natürlich gab es für uns       ob man das sagen kann, aber es ist historisch sicher das
als Jury – Brigitte Preissl hat das sehr schön dargelegt –   erste Mal gewesen, dass ein arbeitgeber- und ein gewerk-
viele inhaltlich-fachliche Gründe, das Gutachten vom         schaftsnahes Institut so ein gemeinsames, politisch rele-
Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und dem Institut      vantes Papier erstellt haben. Das ist im aktuellen Kon-
für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)              text hoch relevant. Und es entspricht dem Anspruch des
mit dem Sonderpreis zu würdigen. Es ist eine großartige      Hans-Matthöfer-Preises, „Wirtschaft.Weiter.Denken.“ zu
Quelle für viele Daten und Argumente, etwa dahinge-          würdigen, indem es alte dogmatische Grenzen bricht.
hend, dass es sinnvoll ist, einen längerfristigen Investi-
tionsplan zu machen, damit etwa in der Bauwirtschaft         Jetzt ist das natürlich kein Selbstzweck. Es passt aber in die
auch entsprechend dauerhaft neue Kapazitäten aufge-          Zeit, in der viele lange gehegte ökonomische Wahrhei-
baut werden, die in der Vergangenheit oft fehlten.           ten wackeln – und wo vieles neu gedacht werden muss.
                                                             Und wo mancher alte Reflex nicht mehr wirklich hilft.
Eine Hauptmotivation für diese Preisvergabe war für uns      Einfach stoisch auf die viel zitierten Kräfte des Marktes
aber auch, dass wir ganz bewusst würdigen wollten, dass      zu zählen, wie das lange Zeit als hohe Kunst galt, hilft
sich da zwei Forschungsinstitute mit sehr unterschiedli-     eben wenig, wenn der Markt es offenbar nicht schafft,
chem Hintergrund zusammengetan haben, von denen              wichtige langfristige Investitionen zu generieren – oder

Thomas Fricke                                                                                                                 17
private Investor_innen hinreichend dazu zu bewegen, in       Was ich daran so interessant finde, ist die Botschaft, dass
     ein klimaneutrales Wirtschaften zu investieren.              unterschiedliche Zeiten auch unterschiedliche Maßstä-
                                                                  be und Paradigmen haben – und teils auch brauchen –,
     Es ist vor diesem Hintergrund, glaube ich – und ich darf     die auch ideologische Grenzen verschieben. In der Nach-
     das auch bei diesem festlichen Anlass ansprechen –, ein      kriegszeit hat man die Lehren aus den Desastern gezo-
     offenes Geheimnis, dass Michael Hüther für die Arbeit        gen, die der Marktliberalismus im 19. Jahrhundert und
     an diesem Gutachten nicht nur 100-prozentige uneinge-        in seinen Spätfolgen in den 1920er und 1930er Jahren
     schränkte Zustimmung bekommen hat, um es vorsich-            verursacht hat. Da lag eine viel stärker regulierende Po-
     tig auszudrücken. Es gab aus dem Lager der Unterneh-         litik auf der Hand, und das war damals eben auch für
     mensverbände im Gegenteil sogar Protestbriefe.               die CDU ganz offenbar. Und ich glaube, wir leben jetzt
                                                                  in einer Zeit, in der wir wieder einen solchen Wechsel
     Daher möchten wir mit der Verleihung des Preises ganz        erleben und wo offenbar wird, dass viele Rezepte, die in
     ausdrücklich dieses Ausbrechen aus alten Reflexen wür-       den vergangenen 20 bis 30 Jahren dominiert haben und
     digen und herausstellen – und dies auch für beide Sei-       teilweise am Ende auch von Rot-Grün mitgetragen wur-
     ten. Ganz nach dem Motto: Wenn sich die Welt und ihre        den, heute nicht mehr passen.
     Probleme ändern, brauchen wir auch andere Maßnah-
     men und Instrumente. Und wir leben einfach in einer          Genau das spiegelt sich in dem Papier, das wir mit dem
     Zeit, in der sich ganz neue Herausforderungen ergeben        Sonderpreis würdigen wollen: Die veränderten Umstän-
     und neue Fragen stellen, deren Antworten man aus den         de, die neuen Herausforderungen, die wir haben, for-
     herrschenden Deutungsmustern der Ökonomie in den             dern auch neue Antworten über die alten ideologischen
     vergangenen Jahrzehnten nicht mehr unbedingt ablei-          Grenzen hinweg. Unsere Ambition war, genau das zu
     ten kann.                                                    loben. Dass sie sich zusammengesetzt und viel diskutiert
                                                                  und gefeilt haben, um unterschiedliche Positionen auf
     Das gilt, wenn es um den enormen Bedarf an Investiti-        einen Nenner zu bringen. Und dadurch gezeigt haben,
     onen in die öffentliche Infrastruktur geht, ebenso wie       dass es möglich ist, auf dem Wege für diese neuen Zei-
     bei dem Thema Ungleichheit von Einkommen und                 ten auch neue Antworten zu finden. Das hat natürlich
     Vermögen; oder was die Instabilität von Finanzmärkten        Potenzial, in die politische Arbeit der Sozialdemokratie
     betrifft. Auch die Globalisierung ist nicht erst durch die   einzufließen. Aber es ist auch gut, weil es die Debatte da-
     Corona-Krise in einer kritischen Phase. Und: Es gibt heu-    rüber hinaus aufzubrechen verspricht – und schon auf-
     te einen ganz massiven Vertrauensverlust in die Globa-       gebrochen hat. Immerhin ist das Ergebnis gemeinsam
     lisierung und die soziale Marktwirtschaft. All das wird      vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und
     mit dem reflexartigen Ruf nach dem Markt nicht gelöst        vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vorgestellt
     werden können. Es macht vielmehr ein Umdenken über           worden.
     die unmittelbaren politischen Grenzen hinaus nötig.
                                                                  Herzlichen Glückwunsch!
     Dass sich solche Paradigmen je nach historischer Lage
     über das politische Spektrum hinweg verschieben kön-
     nen, zeigt sehr schön das Beispiel der unmittelbaren
     Nachkriegszeit. Wenn man sich vor Augen führt, wie
     die deutsche Wirtschaft in der Nachkriegszeit organisiert
     war, ist das aus heutiger Sicht bemerkenswert: Damals
     gab es einen hochregulierten Bankensektor, hochregu-
     lierte Finanzmärkte, ein dirigistisches Währungssystem.
     Während der Wirtschaftswunderzeit wurde die Vermö-
     gensteuer eingeführt. Es gab einen Spitzensteuersatz von
     weit über 50 Prozent. All das würde man mit den markt-
     liberalen Denkmustern der jüngsten Vergangenheit bes-
     tenfalls am linken Rand der Linkspartei verorten. Nach
     damaligem Maßstab war das aber nicht besonders links.
     Es wurde in Deutschland umgesetzt von Konrad Ade-
     nauer und Ludwig Erhard, in Frankreich von Charles de
18   Gaulle – alles Konservative.
Dankesrede

Julie Froud
Foundational Economy Collective

Vielen Dank!                                             jede_n anführen, die oder der zu unserem Unterfan-
                                                         gen beigetragen hat, sondern beschränken uns auf drei
Ich freue mich sehr, diesen Preis für das Foundational   Danksagungen an unsere verschiedenen Freund_innen
Economy Collective entgegenzunehmen. Einige von          und Unterstützer_innen, ohne die wir heute nicht hier
uns sind heute hier: meine Mitautoren Leonhard Plank,    wären:
Angelo Salento und Karel Williams. Später werde ich
noch etwas mehr zu unserem Kollektiv sagen, aber an      Als Erstes danken wir der Friedrich-Ebert-Stiftung und
dieser Stelle möchte ich zunächst unseres Freundes und   ihrer Jury für diese Ehre. Nicht alle Überraschungen
Mitautors Michael Moran gedenken, der an dieser Aus-     sind gut, aber diese war eine wirklich erfreuliche Über-
zeichnung seine Freude gehabt hätte.                     raschung. Wir hoffen, dass unser Buch zusammen mit
                                                         seiner Auszeichnung durch Sie dazu beitragen wird, un-
Üblicherweise beginnt man eine solche Rede mit Dan-      ser gemeinsames Ziel zu erreichen, nämlich die Infra-
kesbekundungen. Da das Kollektiv aber aus über 20        struktur, auf die unsere Gesellschaft angewiesen ist, in
Mitgliedern besteht, die alle Mütter, Partner_innen,     den Blickpunkt zu rücken. Besonders glücklich sind wir
Kinder und so weiter haben, müssen wir hier politisch    darüber, einen Preis zu gewinnen, mit dem der Versuch
bleiben und uns kurz fassen. Daher können wir nicht      gewürdigt wird, die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf

Julie Froud                                                                                                         19
konstruktive Weise zu beeinflussen. Denn genau das       Gruppe den Hans-Matthöfer-Preis für „neue Antworten
     untermauert die Ziele des Foundational Economy Col-      auf die großen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
     lective.                                                 Herausforderungen“ gewinnen konnte.

     Unser nächster Dank gilt unserem deutschen Verleger,     Als wir im Jahr 2013 ein Arbeitspapier schrieben, das
     dem Suhrkamp-Verlag, und unserem Lektor Heinrich         wir ziemlich hochgestochen als „Manifest für die Fun-
     Geiselberger. Heinrich unterstützte uns unbekannte       damentalökonomie“ bezeichneten, hatten wir eine
     Autor_innen, deren Buch gerade auf Englisch bei Man-     große Idee. Sowohl die politisch Verantwortlichen
     chester University Press erschienen war, und unter-      als auch andere Akteur_innen versuchten und ver-
     nahm dann zusammen mit unserem Kollegen Leonhard         suchen immer, dafür zu sorgen, dass „die Wirtschaft
     große Anstrengungen, damit die Übersetzung auch bis      funktioniert“. Aber es gibt verschiedene Formen von
     ins kleinste Detail richtig wurde.                       Wirtschaft – darunter eine marktfähige Wettbewerbs-
                                                              wirtschaft und eine Fundamentalökonomie, bei der es
     Und nicht zuletzt danken wir Wolfgang Streeck, der das   unter anderem um Rohrleitungen und Kabel für die
     Manuskript las, die Ideen unterstützte und ein wunder-   Wasser- und Stromversorgung, um Verkehrsmittel, das
     bares Vorwort für das Buch schrieb, das ganz erheblich   Wohnungs-, Gesundheits- und Bildungswesen geht.
     dazu beitrug, unsere Ideen der deutschen Leserschaft     Und diese so wesentlichen Güter und Dienstleistun-
     näherzubringen.                                          gen wurden vernachlässigt und abgebaut. Wir wollten
                                                              nicht nur verstehen, warum und wie das passiert ist
     Oft gehen bei Büchern und Filmen der Sinngehalt und      und welche Folgen das hat, sondern auch auf konstruk-
     die Relevanz in der Übersetzung und bei dem Versuch      tive Weise darüber nachdenken, wie diese Infrastruktur
     verloren, ein neues Publikum zu erreichen. Aber dank     des Alltagslebens erneuert werden könnte.
     Heinrich und Wolfgang gewann unser Buch durch die
     Übersetzung noch dazu, weshalb diese Auszeichnung        Seitdem haben wir die Philosophie übernommen, die
     ihnen genauso gebührt wie uns. Vielen Dank also!         VW beim Golf verfolgt: die Wiedererkennbarkeit des
                                                              Produkts bewahren, es aber kontinuierlich mit neu-
                                                              en Modellen weiterentwickeln – aus dem Golf Mk1
     Nun aber einige Erklärungen dazu, wer wir sind und       von 1974 wurde der Golf Mk8 von 2020. In Analogie
     was wir mit unserem Buch erreichen wollen                dazu geht der diesjährige Hans-Matthöfer-Preis an das
                                                              2018er Modell der Fundamentalökonomie, das wie je-
     Normalerweise gehen Preise an Einzelpersonen oder        des neue Modell mit zusätzlichen Funktionen ausge-
     an Institute. Deshalb werde ich zunächst erklären, was   stattet wurde:
     das Foundational Economy Collective ist. Wir sind
     eine internationale, weitgehend informelle und ohne      •   mit einem kurzen historischen Abriss, wie sich die
     finanzielle Unterstützung arbeitende Gruppe von über         Fundamentalökonomie (vom Leitungswasser über
     20 Wissenschaftler_innen aus einem halben Dutzend            Kanalisation bis hin zur universellen Gesundheits-
     europäischer Länder. Jedes Jahr treffen wir uns in ei-       fürsorge) grob gefasst zwischen 1880 und 1950
     nem anderen europäischen Land – vergangenes Jahr             entwickelte – vielleicht halten wir all diese Dinge
     in Brüssel und dieses Jahr im walisischen Cardiff –,         manchmal für selbstverständlich, aber sie haben
     um zusammen mit Fachleuten aus Praxis und Politik            immerhin die Lebenserwartung der Menschen um
     unsere Themen zu debattieren und weiterzuentwi-              20 Jahre erhöht;
     ckeln. In der ersten englischen Ausgabe des Buches
     von 2018 wurden 22 Kollektivmitglieder namentlich        •   mit einem umfangreichen rechnerischen Argu-
     genannt. Inzwischen ist das Kollektiv noch größer            ment darüber, wie Privatisierungen und Outsour-
     geworden.                                                    cing die Fundamentalökonomie durch profitorien-
                                                                  tierte Geschäftsmodelle verschlechterten und wie
     Die Kollektivmitglieder kommen aus den verschiedens-         dabei auch die Kompetenzen und Fähigkeiten des
     ten Disziplinen – aus der Soziologie, der Sozio-Öko-         Staates beeinträchtigt wurden;
     nomie, dem kritischen Controlling, der Politikwissen-
     schaft, der Wirtschaftsgeografie und vielen anderen –,   •   mit einem politischen Argument darüber, inwie-
     und wir alle interessieren uns für die Wirtschaft. Und       weit die sozialen Bürgerrechte einen Anspruch auf
20   vielleicht fragen Sie sich, wie eine so bunt gemischte       fundamentale Dienstleistungen begründen;
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