Querschnittlähmung Qualitätsstandard in der gesetzlichen Unfallversicherung - Ausgabe 2020 Empfehlungen der DGUV - DGUV Publikationen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Querschnittlähmung Qualitätsstandard in der gesetzlichen Unfallversicherung Ausgabe 2020 Empfehlungen der DGUV
Impressum Herausgegeben von: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV) Glinkastraße 40 10117 Berlin Telefon: 030 13001-0 (Zentrale) Fax: 030 13001-9876 E-Mail: info@dguv.de Internet: www.dguv.de Layout & Gestaltung: Atelier Hauer + Dörfler GmbH Redaktionsschluss: Juli 2020 Zu beziehen unter www.dguv.de/publikationen Webcode: p021579 Bildnachweis Titel: © Cla78/stock.adobe.com Abb. 1: © Martin Clemm Abb. 2: © Peter Hermes Furian/stock.adobe.com
Querschnittlähmung Qualitätsstandard in der gesetzlichen Unfallversicherung Ausgabe 2020 Empfehlungen der DGUV
Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort........................................................................................................................................... 6 1 Einleitung...................................................................................................................................... 8 2 Prävention .................................................................................................................................... 10 3 Versorgungsstrukturen.......................................................................................................... 12 3.1 Behandlungszentren für Rückenmarkverletzte......................................................... 12 3.2 Reha-Klinik für Querschnittgelähmte............................................................................. 13 3.3 Ambulante Versorgung........................................................................................................... 14 4 Querschnittlähmung – eine Einordnung..................................................................... 15 4.1 Medizinische Beschreibung.................................................................................................. 15 4.2 Querschnittlähmungen bei Kindern und Jugendlichen ....................................... 16 4.3 Medizinische Assessments................................................................................................. 17 5 Präklinische Versorgung und Akutbehandlung....................................................... 18 6 Querschnittspezifische Erstbehandlung: stationäre Behandlung in Behandlungszentren für Rückenmarkverletzte.................................................. 19 6.1 Querschnittspezifische Physio- und Ergotherapie ................................................. 20 6.2 Mobilität und Funktionsanbahnung................................................................................ 25 6.3 Neuro-urologische Behandlung und Darmmanagement..................................... 26 6.4 Psychologische und seelsorgerische Begleitung..................................................... 28 6.5 Querschnitt-assoziierte B egleiterscheinungen........................................................ 30 6.6 Hilfsmittel-Management........................................................................................................ 31 6.7 Entlass- und Überleitungsmanagement des Behandlungs- zentrums für Querschnittverletzte.................................................................................... 32
Inhaltsverzeichnis Seite 7 Behandlung direkter und assoziierter Folgen der Verletzung (Komplikationen) ..................................................................................................................... 34 7.1 Haut- und Weichteilschäden (Dekubitus).................................................................... 34 7.2 Neuro-urologische Probleme / Darmmanagement.................................................. 35 7.3 Spastiken und Kontrakturen................................................................................................ 36 7.4 Schmerzsyndrome ................................................................................................................... 37 7.5 Autonome Dysreflexie............................................................................................................. 38 7.6 Pneumonien und respiratorische Insuffizienz........................................................... 39 7.7 Orthopädische und neuro-orthopädische Folgen der Querschnittlähmung................................................................................................................ 40 7.8 Osteoporose und Frakturen................................................................................................. 40 7.9 Heterotope Ossifikationen .................................................................................................. 41 7.10 Progrediente Rückenmarkveränderungen................................................................... 42 8 Regelmäßige medizinische Kontrolluntersuchung............................................... 44 9 Reha-Management der Unfallversicherung............................................................... 46 9.1 Ziele des Reha-Managements............................................................................................ 46 9.2 Reha-Prozess und Wiedereingliederung ...................................................................... 46 9.3 Lebenslange Nachsorge durch die Unfallversicherungsträger ........................ 49 10 Angebote und Maßnahmen zur Teilhabe..................................................................... 51 10.1 Sport und Bewegungsangebot .......................................................................................... 52 10.2 Peers und Selbsthilfegruppen............................................................................................ 53 10.3 Informationsportale................................................................................................................. 54 11 Literaturverzeichnis................................................................................................................ 55
Vorwort Querschnittgelähmte Menschen mit Als systematische Orientierungs- und allen geeigneten Mitteln zu versorgen Entscheidungshilfe soll dieser Qualitäts- und zu rehabilitieren stand von jeher standard die zukünftige Entwicklung der im besonderen Fokus der gesetzlichen Versorgung und Rehabilitation von Quer- Unfallversicherung. schnittgelähmten voranbringen und einheitliche Kriterien für hohe Behand- Der Qualitätsstandard beschreibt nach lungsqualität beschreiben. Er soll – dem gegenwärtigen Kenntnisstand die unabhängig vom Kostenträger – eine optimalen Bedingungen und Erforder- Diskussion zur Optimierung der Versor- nisse in der Behandlung und Rehabilita- gung anstoßen. Der Qualitätsstandard tion sowie der Nachsorge mit dem Ziel, richtet sich daher an die interessierte möglichst vielen Verletzten ein lebens- Öffentlichkeit und Politik, an Leistungs- wertes und selbstbestimmtes Leben in erbringer und Leistungsträger, an die Familie, Schule, Beruf und Gesellschaft professionelle Hilfe sowie Selbsthilfe- zu ermöglichen. Für die gesetzliche Un- vertretungen. fallversicherung sind eine spezielle und umfassende rehabilitative Ausrichtung sowie eine enge Verzahnung medizini- scher und berufsfördernder Leistungen dabei von besonderer Bedeutung. 6
Vorwort An der Erstellung des Qualitäts klinikum Bergmannsheil Bochum), standards haben mitgewirkt: Dr. Stefan Hobrecker (BG Klinikum PD Dr. Andreas Badke (BG-Klinik Duisburg), Dr. Oswald Marcus Tübingen), (BG Unfallklinik Frankfurt am Main) Caroline Fänger (BG BAU), sowie PD Dr. Bahram Biglari (BG Klinik Christian Frosch (BGW), Ludwigshafen). Gabriele Kreutzer (DGUV), Dr. Doris Maier (BG Unfallklinik Murnau), Ein besonderer Dank Thoralf Ölke (VBG), gilt Herrn Martin Clemm, der als Vertreter Dr. Ute Polak (DGUV), der Selbsthilfe (Fördergemeinschaft Jürgen Rauch (BGHM), der Querschnittgelähmten e.V.) die Veith Schmidt (BG Verkehr). Entwicklung des Qualitätsstandards begleitet hat. Die Ausarbeitung des medizinischen Teils wurde federführend geleitet Die wertvollen Hinweise der Deutsch- von Dr. Doris Maier (BG Unfallklinik sprachigen Medizinischen Gesellschaft Murnau) und PD Dr. Andreas Badke für Paraplegiologie e. V. (DMGP), der (BG-Klinik Tübingen). Manfred-Sauer-Stiftung und des Vor- stands der FGQ e.V. wurden im vorlie- Die Ausarbeitung wurde abgestimmt genden Papier berücksichtigt. mit den weiteren Mitgliedern der Fach- gruppe „Querschnitt“ der BG Kliniken, PD Dr. Roland Thietje (BG Klinikum Hamburg), Dr. Kerstin Rehahn / Dr. Andreas Niedeggen (BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin), Dr. Klaus Röhl (BG Klinikum Bergmanns- trost Halle), PD Dr. Mirko Aach / Dr. Renate Meindl (BG Universitäts 7
1 Einleitung Querschnittlähmung kann jeden treffen – Der Qualitätsstandard Querschnittläh- und verändert schlagartig das ganze mung beschreibt Behandlungs- und Re- Leben. Tiefe Einschnitte in die gesamte habilitationsmaßnahmen, die das Ziel Lebensgestaltung sind damit verbunden verfolgen, für die Betroffenen mit allen sowie schwerwiegende Konsequenzen geeigneten Mitteln eine weitgehende für die Betroffenen, ihre Familien und ihr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gesamtes Umfeld. zu erreichen, damit die Rückkehr in Arbeit, Familie und Gesellschaft ermög- Neben der Förderung der physischen licht wird. Fähigkeiten und passgerechten Versor- gung mit Hilfsmitteln spielt die sub- Grundlage für das Gelingen der Wie- jektive Bereitschaft der Versicherten, dereingliederung ist eine koordinierte konstruktiv mit den Herausforderungen Versorgung vom Unfalltag bis zur Ent einer Querschnittlähmung umzugehen, lassung in die Häuslichkeit durch ein eine entscheidende Rolle in der erfolg- qualifiziertes Querschnittzentrum. reichen Wiedereingliederung. Häufig er- folgt eine entsprechende Entscheidung Die Versorgung Rückenmarkverletzter erst spät im Rehabilitationsprozess. Ziel richtet sich nach den Grundprinzipien der Versorgung sollte folglich auch sein, der umfassenden und vollumfänglichen von Anfang an bewusst und möglichst spezifizierten Behandlung von Men- früh eine positive Entscheidungsfindung schen mit einer Querschnittlähmung der Versicherten zu unterstützen. Die nach Sir Ludwig Guttmann (compre- Abbildung 1 verdeutlicht die komple- hensive care), den Leitlinien und Emp- xe Gemengelage der unterschiedlichen fehlungen der maßgeblichen medizi- Handlungsfelder, Einflussfaktoren und nischen Fachgesellschaften und den Wahrnehmungsebenen, welche diese modernsten wissenschaftlichen Er- subjektive Entscheidungsfindung be- kenntnissen. Dabei kann unterschieden einflussen. Sie veranschaulicht darüber werden zwischen: hinaus die Vielzahl unterschiedlicher • Präklinischer Versorgung und Akut Zugänge, die den Versicherten nach behandlung Möglichkeit frühzeitig verfügbar ge- • Querschnittspezifischer Erstbehandlung macht und nahegebracht werden sollten. • Behandlung von Folgen der Verletzung (Komplikationen). 8
Einleitung Die lebenslange Nachsorge ist gemein- Eigenständigkeit der Persönlichkeit un- same Aufgabe von Rehabilitationsträ- terstützen. Deshalb sind auch die Schaf- gern und Rehabilitationserbringern und fung einer barrierearmen Umgebung muss auf die individuellen Bedarfe der und die Umsetzung des Inklusionsan- Querschnittverletzten abgestimmt sein. spruchs in allen Bereichen des öffent- Das Reha-Management der Unfallver lichen Lebens zu fördern. Ziel sollte es sicherung übernimmt hierbei eine be- sein, die regelhafte Zugänglichkeit und sonders wichtige Aufgabe. Teilhabe für Menschen mit Behinderung bereits bei der Planung des öffentlichen Soziale und berufliche Teilhabe sollen Raums oder von Gebäuden verbindlich in gesamtgesellschaftlicher Verantwor- vorzugeben, um so das gemeinsame tung die Betroffenen auf dem Weg in ein Leben zu erleichtern. selbstverantwortliches Leben und zur Klinik ort en Sp ion Erstb ent v nd eh Gesu heit ä an Pr P dl spek ähigung Pe Bef un en er ers g Sti ung & Initativ le ion K Zie Interaktion a b i l i ta t i o n tive örp Emot o r tu n g a ge m e nt M o t i v io er Insp g ga n G eist Man Re h tw io Abb. 1 at i r a nfo n a n Ve r Zu ha - Komplexität der Einflüsse t n I Re rm A uto n o mie auf die Behandlung querschnitt- a ti on ed u si gelähmter Menschen M on ie n an I n kl §§ (Quelle: Clemm, 2018) ge b ion o te In n o va t 9
2 Prävention Berufsgenossenschaften und Unfall- Ungefähr ein Drittel aller Querschnitt- kassen haben den Auftrag, mit allen lähmungen im Zuständigkeitsbereich geeigneten Mitteln für die Verhütung der gesetzlichen Unfallversicherung von Arbeits-, Schul- und Wegeunfällen, wird durch Straßenverkehrsunfälle beim Berufskrankheiten und arbeitsbeding- Führen eines Fahrzeugs oder Mitfahren ten Gesundheitsgefahren sowie für eine verursacht. Ein weiteres Drittel geht auf wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Im Rah- Abstürze zurück. Diese bilden generell men der „Vision Zero“ hat dabei die Ver- einen Schwerpunkt im Bereich schwerer meidung von tödlichen und schweren und tödlicher Unfälle in der Arbeitswelt. Unfällen sowie von Berufskrankheiten Bei Querschnittlähmungen als Unfallfol- höchste Priorität. Ziel der Präventions ge überwiegt die Anzahl von betroffenen arbeit ist die Gewährleistung von Sicher- Männern deutlich. heit und Gesundheit in gewerblichen und öffentlichen Betrieben, in Einrich- Von hoher Bedeutung ist die Verhinde- tungen des Bildungswesens und für eh- rung von (Ab-)Sturzunfällen, denn schon renamtlich Tätige sowie in der Verkehrs- aus geringen Höhen, wie etwa von einer sicherheit. Leiter, können Abstürze die schlimms- ten Folgen haben. Lebensbedrohlich Aktuelle Präventionsansätze folgen sind in der Regel Abstürze während Bau- dabei einem ganzheitlichen Ansatz, arbeiten aus größeren Höhen, z. B. von der sicherheitstechnische und arbeits Dächern. Bei der Festlegung von Schutz- medizinische Maßnahmen genauso ein- maßnahmen gilt laut Arbeitsschutzge- schließt wie die Integration von Sicher- setz: „Technische und organisatorische heit und Gesundheit über eine Kultur Schutzmaßnahmen haben immer Vor- der Prävention auf allen Entscheidungs- rang vor persönlichen Schutzmaßnah- und Handlungsebenen. Zur Prävention men“. Dies gilt auch bei der Beurteilung gehören auch bedarfsgerechte Elemen- der Gefährdung durch Absturz. So sind te der betrieblichen Gesundheitsförde- Absturzsicherungssysteme und organi- rung, wenn sie zur Vermeidung von Be- satorische Präventionsmaßnahmen, wie rufskrankheiten beziehungsweise zum beispielsweise eine sorgfältige Arbeits- Abbau von arbeitsbedingten Gesund- vorbereitung, gegenüber persönlicher heitsgefahren beitragen. Schutzausrüstung, wie z. B. Haltegurten, vorrangig einzusetzen. 10
Prävention Die Teilnahme am Straßenverkehr be- dingt immer Gefährdungen. Vorsichti- ges und vorausschauendes Fahren – mit welchem Fahrgerät auch immer – ist daher eine wirksame Präventionsmaß- nahme. Auch eine adäquate Schutz-, Sicherheits- und Warnkleidung bzw. -ausrüstung kann das Ausmaß von Ver- letzungen reduzieren oder den Unfall gänzlich zu verhindern. Erfolgverspre- chend ist auch der Einsatz von zielgrup- penbezogenen Präventionskampagnen wie beispielsweise die Kampagne „No Risk – No Fun“, die sich an Jugendliche wendet. 11
3 Versorgungsstrukturen 3.1 Behandlungszentren Dieses Team arbeitet ganzheitlich patien- für Rückenmarkverletzte tenbezogen. Die Prozesse sind mit- und aufeinander abgestimmt. Es wird auf Kennzeichnend für ein Behandlungs- gute Kommunikation geachtet. Die Be- zentrum für Rückenmarkverletzte ist handlungs- bzw. Rehabilitationsziele die Gewährleistung einer ärztlich- werden immer vom gesamten Team unter medizinischen, psychologischen, Einbindung von Betroffenen, Angehöri- therapeutischen und pflegerischen gen und Reha-Management erarbeitet Versorgung aus einer Hand. Hierdurch und fortlaufend an den Gesundheits wird sichergestellt, dass sowohl dia- status angepasst. Validierte Assess- gnostische Verfahren mit apparativer ments werden regelmäßig eingesetzt. Unterstützung sowie operative Interven- tionen als auch rehabilitative Verfahren Eine Verletzung des Rückenmarks oder abgestimmt binnen kurzer Zeit erbracht der Cauda equina ist eine schwerwie- werden können. gende Verletzung; dementsprechend ist die initiale Akutbehandlung in einem Die umfassende Behandlung Quer- Krankenhaus des Schwerstverletzungs- schnittgelähmter erfordert besondere artenverfahrens (SAV) durchzuführen. krankheitsspezifische Ausstattungen, diagnostische und therapeutische Maß- → www.dguv.de/landesverbaende > nahmen sowie Assessments, die ei- Medizinische Rehabilitation > SAV ner räumlichen und organisatorischen Selbstständigkeit bedürfen. Personell Neben der geforderten Einrichtung der ist ein interdisziplinäres, möglichst SAV-Klinik halten Behandlungszentren durch langjährige Erfahrung (anteilige für Rückenmarkverletzungen im Rahmen spezielle Fachweiterbildung, z. B. Fach- der querschnittspezifischen Behand- weiterbildung in der Pflege querschnitt- lung folgende weiteren Strukturen vor: gelähmter Menschen) qualifiziertes, multidisziplinäres und interprofessio- • Intensivbereich oder Anteile an einer nelles Team erforderlich. Beides sichert multidisziplinär organisierten Inten- den Behandlungs- und Rehabilitations- siv-Behandlungsstation, in der auch erfolg. Risikofälle und/oder beatmungs- pflichtige Querschnittgelähmte durch 12
Versorgungsstrukturen das interdisziplinäre Team des Be- 3.2 Reha-Klinik für handlungszentrums für Rückenmark- Querschnittgelähmte verletzte behandlungsmitbestimmend betreut werden können. So soll auch Kennzeichnend für eine Rehabilitations- in der Intensivabteilung die pflegeri- klinik für Querschnittgelähmte ist die sche querschnittspezifische Fachkom- Fokussierung auf die rehabilitationsme- petenz gewährleistet werden. dizinischen Verfahren, die weder eine • Stationärer Bereich mit den Aufgaben aufwändige apparative Diagnostik noch der ärztlichen akutmedizinischen eine operative Intervention benötigen. weiterführenden Behandlung, quer- Die Mitarbeitenden sind zudem in der schnittspezifischen Behandlungs Lage, eintretende Komplikationen wäh- pflege, querschnittspezifischen rend einer Rehabilitationsmaßnahme zu ganzheitlichen Rehabilitation (Phy- erkennen und die rechtzeitige Verlegung siotherapie, Physikalische Therapie, in ein Behandlungszentrum für Rücken- Ergotherapie, Logopädie, Sportthera- markverletzte zu initiieren. Barrierefrei- pie), der Hilfsmittelversorgung, dem heit ist eine zwingende Voraussetzung Training und der Vorbereitung zur be- für eine Reha-Klinik und ein Qualitäts- ruflichen und sozialen Reintegration. merkmal. Im Falle von regelmäßiger Behandlung dauerhaft beatmeter Querschnittge- In Reha-Kliniken für Querschnittgelähm- lähmter, insbesondere der Notwen- te werden Leistungen der lebenslangen digkeit eines „Weanings“, ist ein per- Nachsorge erbracht. Im Einzelfall sind sonell, räumlich und geräte-technisch in Abstimmung mit dem Reha-Manage- entsprechend ausgestatteter Teil ment des Unfallversicherungsträgers bereich erforderlich. weitere Leistungen möglich (z. B. Be- • Ambulanzbereich zur Durchführung der handlung eines Dekubitus oder Check- querschnittspezifischen lebenslangen up-Untersuchungen im Rahmen der Nachsorge und Notfallbehandlung lebenslangen Nachsorge). • Integrierter neuro-urologischer Bereich mit Videourodynamik und sonografi- schen Screeningverfahren. 13
Versorgungsstrukturen 3.3 Ambulante Versorgung Die Behandlungszentren haben eine zentrale Rolle im Versorgungs-Netzwerk. Häufig werden Querschnittgelähmte Zur Vermeidung von Schnittstellen soll- nach einer stationären Behandlung an ten Unfallverletzte mit Querschnittläh- ihrem Wohnort durch eine niedergelas- mung die verschiedenen Behandlungen sene Arztpraxis betreut und erhalten einschließlich der ambulanten Nachsor- dort die regelmäßige Medikamenten-, ge in nur einer Einrichtung durchlaufen, Heil- und Hilfsmittelversorgung. Auch soweit diese die entsprechenden Be- Facharztpraxen im Bereich Neurolo- handlungen durchführen und eine hohe gie sind wichtige Ansprechpartner für Qualität sicherstellen kann. Querschnittgelähmte. Da aber Erkran- kungen, wie z. B. ein grippaler Infekt, Spätestens nach der Entlassung aus der Auswirkungen auf den anfälligeren Ge- Erstbehandlung muss eine heimatnahe sundheitszustand der Betroffenen ha- Versorgung für die Betroffen sicherge- ben können, ist es oft notwendig, eine stellt werden. Ein ggf. unvermeidbarer Unterstützung durch die ärztlichen oder Wechsel zu einem anderen Leistungs therapeutischen Fachkräfte eines Be- erbringer vor der Beendigung der handlungszentrums für Rückenmark Erstversorgung wird durch das Reha- verletzte sicherzustellen und diese Kon- Management des Unfallversicherungs- takte mit den niedergelassenen Praxen trägers begleitet. zu etablieren. Für Versicherte der Unfallversicherung baut das Reha-Management die am- bulanten Versorgungsstrukturen auf und bindet nach Möglichkeit auch die niedergelassene D-Arztpraxis bei der Betreuung ein. Das Konzept der Behandlung von Men- schen mit Querschnittlähmung in der Unfallversicherung basiert auf der Heil- verfahrenssteuerung aus einer Hand. 14
4 Querschnittlähmung – eine Einordnung 4.1 Medizinische Beschreibung Der Begriff Querschnittlähmung be- zeichnet eine Kombination aus motori- schen, sensiblen und vegetativen Stö- rungen, die durch eine Schädigung des Rückenmarks oder der Cauda equina bedingt sind. Bei konstitutionell oder degenerativ bedingter Verengung des Spinalkanals kann es durch eine Quet- schung (Kontusion) des Rückenmarks zu einer krankheitsbedingten Querschnitt- lähmung kommen. In Deutschland erlei- den schätzungsweise 2.000 Menschen pro Jahr eine Querschnittlähmung, wo- bei etwa die Hälfte hiervon traumatisch bedingt ist. Laut DGUV-Statistik erlei- den etwa 60 – 80 Personen im Jahr eine Querschnittlähmung, die durch einen Arbeits- oder Wegeunfall verursacht wird. Für ungefähr 3.300 querschnittge- lähmte Versicherte werden lebenslange Renten entrichtet und eine Betreuung durch die Unfallversicherungsträger wird sichergestellt. Weiterführende Literatur: siehe Kapitel 11 [1, 2] Die Lähmungshöhe wird nach dem Abb. 2 Wirbelsäule mit anatomischer letzten noch vollständig intakten Seg- Segmentbezeichnung ment definiert. Der Symptom-Komplex umfasst neben motorischen Lähmungen 15
Querschnittlähmung – eine Einordnung mehr oder minder ausgeprägte Sensibi- Primärversorgung der Unfallverletzten litätsstörungen. Je nach Lähmungshö- darauf ausgerichtet, Sekundärschäden he treten unterschiedlich ausgeprägte zu vermeiden und möglichst optimale Beeinträchtigungen der Blasen-, Darm- Bedingungen sowohl für eine mögliche und Sexualfunktion auf. Des Weiteren Erholung des verletzten Rückenmarks können Kreislauf- und Temperatur-Re- als auch für die Rehabilitation zu schaf- gulationsstörungen vorliegen. Bei einer fen. Tritt im Verlauf der Behandlung eine Läsionshöhe oberhalb C 4 tritt durch funktionell relevante Erholung auf, kön- die fehlende Nerven-Ansteuerung des nen sich die Ziele der Therapie grund Zwerchfells zusätzlich eine respiratori- legend verändern. sche Insuffizienz auf. Man unterscheidet komplette von in- 4.2 Querschnittlähmungen bei kompletten Lähmungen. Bei den Kindern und Jugendlichen inkompletten Lähmungen sind unter- halb der Schädigung noch sensible oder Traumatische Rückenmarkverletzungen motorische Funktionen vorhanden. bei Kindern und Jugendlichen sind sehr selten. Eine besondere Rolle spielt hier Querschnittlähmungen im Bereich des das SCIWORA-Syndrom (Spinal Cord In- zervikalen Rückenmarks werden als jury Without Radiographic Abnormality). Tetraplegie oder Tetraparese bezeichnet. Bei diesem Erkrankungsbild im Kindes- Bei Lähmungen im Bereich des Brust- alter treten klinische Symptome einer marks oder der Cauda equina spricht Rückenmarkverletzung auf, ohne dass man von Paraplegie oder Paraparese. man dafür ein radiologisches Korrelat findet. Lähmungshöhe und Lähmungsausmaß sind neben ggf. vorhandenen zusätz Die primäre Versorgung der verletzten lichen Erkrankungen oder Traumata die Kinder erfolgt nach den Grundsätzen der verletzungsspezifisch entscheidenden Polytrauma-Versorgung bei Kindern. Die Faktoren für die Ausrichtung der The- Ziele der Erstbehandlung ergeben sich rapie und Rehabilitation. Da nach wie ebenfalls aus dem Lähmungsausmaß vor eine kausale Therapie des Rücken- und der Lähmungshöhe. Kinder mit ei- markschadens nicht möglich ist, ist die ner hohen Halsmarklähmung, die einer 16
Querschnittlähmung – eine Einordnung Dauerbeatmung bedürfen, sollten in bewährt. Dieser erfasst die alltäglichen hierfür speziell geeigneten Zentren be- Funktionen (Nahrungsaufnahme, Hygi- handelt werden. ene, Blasen-, Darmmanagement, Mobi- lität, Selbstständigkeit, Atemfunktion). Eine umfassende Einbeziehung der Für die Steuerung des Heilverfahrens ist Sorgeberechtigten in die Behandlung ist er daher besonders relevant. ebenso essenziell wie die rechtzeitige Planung der schulischen Reintegration, Für einzelne krankheitsspezifische wobei der Unterricht bereits in die Erst- Aspekte der Rückenmarkschädigung behandlung integriert werden sollte. wurden spezielle Scores entwickelt, die Bei der Behandlung von Kindern sind sowohl zur Dokumentation des Erfolgs darüber hinaus heilpädagogische Maß- von Therapieverfahren als auch in der nahmen einschließlich Frühförderung lebenslangen Nachsorge eingesetzt langfristig notwendig. werden können. Beispielswese kann das Gehvermögen mit dem WISCI-Score (Walking Index Spinal Cord Injury) 4.3 Medizinische Assessments erfasst werden und das Ausmaß von Spastiken mit der Ashworth-Skala. Die Dokumentation der Lähmungshöhe und des Lähmungsausmaßes erfolgt Der regelmäßige Einsatz der Assess- mit dem International Spinal Cord Injury ments ist die Basis für eine valide Be- (INSCI)-Assessment mittels einer stan- handlungsplanung. dardisierten klinisch-neurologischen Untersuchung. Im Verlauf der Rehabi- litation ist diese Dokumentation regel mäßig sowie im Zusammenhang mit relevanter neurologischer Erholung und zum Zeitpunkt der Entlassung durchzuführen. Für die Erfassung des Funktionszustan- des hat sich der SCIM III-Test (Spinal Cord Injury Independence Measure) 17
5 Präklinische Versorgung und Akutbehandlung Gemäß dem Leitsatz „Die Rehabilitation schlossenem Behandlungszentrum für beginnt am Unfallort“ ist bereits die Rückenmarkverletzte, aufgenommen präklinische Versorgung traumatisch wird oder nach Stabilisierung der Vital- Querschnittgelähmter für die Progno- funktionen und ggf. notwendiger opera- se von großer Bedeutung. Hier gilt es, tiver Versorgung eine möglichst rasche sowohl Sekundärschädigungen zu ver- Verlegung in ein Behandlungszentrum meiden als auch die Möglichkeit einer für Rückenmarkverletzte erfolgt. Erholung des Rückenmarkschadens zu erhalten. Im Rahmen der präklinischen → www.dguv.de/landesverbaende > Versorgung kommen der Sicherung der Medizinische Rehabilitation > Atemwege und der Sauerstoffversorgung Verletzungsartenverzeichnis sowie der Erhaltung des Blutdrucks die entscheidende Bedeutung zu. Die Entscheidung über eine operative Therapie der Wirbelsäulenverletzung Zur Vermeidung sekundärer Dislokatio- und die Art der operativen Stabilisierung nen ist die Immobilisation der verletzten ist von den individuellen Bedingungen Wirbelsäule bei Schwerverletzten erfor- des Einzelfalls abhängig (z. B. Verlet- derlich. Nach der Sicherung der Atem- zungshöhe, spätere mögliche Funktions wege sollte die Indikation zur Ruhigstel- einschränkungen, jeweilige Operations- lung der Halswirbelsäule in der starren technik). Die S3-Leitlinie Polytrauma / Zervikalstütze mit professioneller Hilfe Schwerverletzten-Behandlung ist zu überprüft werden. Eine stabile Lagerung beachten. Die initiale postoperative Be- unter Einhaltung der physiologischen handlung erfolgt auf der Intensivstation. Achse der Wirbelsäule ist notwendig. → awmf > Leitlinien > Reg.-Nr. 012-019 Besteht der Verdacht auf eine Verletzung (Polytrauma / Schwerverletzten- der Wirbelsäule mit Schädigung des Rü- Behandlung) ckenmarks (Verletzung nach Ziffer 3.1 (S) des Verletzungsartenverzeichnisses) ist dafür Sorge zu tragen, dass die verletzte Person entweder in einer SAV-Klink mit entsprechender wirbelsäulenchirurgi- scher Erfahrung, idealerweise mit ange- 18
6 Querschnittspezifische Erstbehandlung: stationäre Behandlung in Behandlungs- zentren für Rückenmarkverletzte Mit der Aufnahme zur querschnittspezi- sowie Atmung und Kreislauf sind in den fischen Erstbehandlung beginnen auch ersten Monaten ständigen Schwankun- die Planung der Rehabilitation und die gen unterworfen, die jeweils gezielte Zusammenarbeit mit dem Reha-Manage- medizinische Maßnahmen erfordern. ment für die Ausgestaltung der zukünf- Deshalb ist während der gesamten quer- tigen Teilhabe. Der Sozialdienst eines schnittspezifischen Erstbehandlung Behandlungszentrums für Rückenmark- eine direkte Rückgriffmöglichkeit auf verletzte wirkt hierbei unterstützend mit. die Behandlung in einer angepassten Intensivstation im Haus geboten. Im Rahmen der querschnittspezifischen Versorgung steht die Entwöhnung vom Parallel zu der rein medizinischen The- Beatmungsgerät zunächst im Vorder- rapie müssen bereits in der frühen grund (Weaning). Parallel dazu wer- Akutphase gleichzeitig Rehabilitations- den die logopädische Behandlung mit aufgaben erfüllt werden, da diese unver- Sprech- und Schlucktraining und die zichtbare Bestandteile der umfassenden Physiotherapie zur Vermeidung von Kon- Gesamtbehandlung („comprehensive trakturen durchgeführt. Die spezialisier- care“) von Querschnittgelähmten sind. te Ergotherapie zielt insbesondere auf die Verbesserung der Handfunktion oder Die Behandlungsbedürftigkeit in Be- die Vorbereitung der Funktionshand. handlungszentren für Rückenmark- Notwendig ist die aktivierende Pflege verletzte kann sich durch auftretende durch Pflegefachkräfte. Im Rahmen Komplikationen bedeutend verlängern. dieser Therapie sind ggf. bereits erste Ebenso ist die Behandlung von neben Funktionsanbahnungen möglich. der Querschnittlähmung bestehenden Erkrankungen oder Zusatzverletzungen, Durch die Querschnittlähmung und die aber auch altersbedingten Komplikati- entstehenden Begleiterkrankungen be- onen notwendig. Die speziellen Anfor- steht bei den betroffenen Personen eine derungen an die Gesamtbehandlung komplexe Pflegesituation mit sehr Querschnittgelähmter erfordern die Be- individuellen Anforderungen. Die schon handlung in einer spezialisierten Ein- unmittelbar nach Eintritt der Querschnitt richtung, einem Behandlungszentren für lähmung gestörten Funktionen im Hin- Rückenmarkverletzte, das gleichzeitig blick auf Blasen- und Darmentleerung sowohl die umfassende medizinische 19
Querschnittspezifische Erstbehandlung und pflegerische Behandlung als auch • Erhalt / Verbesserung der Beweglich- die Durchführung der rehabilitativen keit von Gelenken, Muskeln, Sehnen Elemente in enger Abstimmung mit dem und Haut Reha-Management gewährleisten kann. • Reduzierung der Spastik • Verbesserung der Muskelkraft der Ziel ist die Entlassung in die Häuslichkeit innervierten Kopf- und Schulter nach der querschnittspezifischen Erst- muskulatur, um die Steuerung eines behandlung und die Initialisierung der E-Stuhls zu ermöglichen beruflichen und sozialen Reintegration. • Mobilitätserweiterung durch Rollstuhl- training. 6.1 Querschnittspezifische Weitere konkrete physiotherapeutische Physio- und Ergotherapie Behandlungsziele für unterschiedliche Verletzungshöhen der Wirbelsäule wer- Physio- und Ergotherapie müssen für den in der Tabelle 1 aufgeführt. alle Verletzten frühzeitig und individuell eingesetzt werden. Die Behandlungs- Die physiotherapeutische und physikali- ziele sind bereits während der ersten sche Behandlung umfasst eine Therapie stationären Behandlung ICF-basiert zu auf neurophysiologischer Basis (im We- formulieren. Sie richten sich nach dem sentlichen als Einzeltherapie), Lymph- Lähmungsausmaß und der Lähmungs- drainage, Massage und Hydrotherapie. höhe und sind in jedem Fall individuell Zudem kommen Spezialanwendungen, anzupassen sowie im Verlauf der Be- wie z. B. Funktionelle Elektrostimulation handlung je nach der Entwicklung der (FES), konventionelle und/oder exoske- (neuronalen) Erholung zu überprüfen. lettalgestützte Gangschulung, Vibrati- onstraining und Stehtraining dazu. Im Als Anhaltspunkte für die Erstellung der Rahmen der Sporttherapie und der an- individuellen physiotherapeutischen gepassten Medizinischen Trainingsthe- Behandlungsplanung können Behand- rapie (MTT) werden sowohl die Rollstuhl- lungsziele formuliert werden, z. B. beherrschung als auch die allgemeine • Verbesserung der Atemfunktion Kraft und Ausdauer trainiert. • Verbesserung der Kreislaufsituation 20
Querschnittspezifische Erstbehandlung In Tabelle 1 werden in der ersten Spalte wichtige physiotherapeutische Be- handlungsziele aufgeführt, die je nach Lähmungshöhe der betroffenen Person anzustreben sind. Tabelle 1 Physiotherapeutische Ziele Neurologisches Lähmungsniveau (Wirbelsäulenabschnitte) C0 – C5 C6 C7 – Th1 – Th8 – L3 – Behandlungsziele C4 C8 Th7 L2 L5 Atemfunktion und Kreislaufsituation X X X X X X verbessern Spastik reduzieren X X X X X X bis Th10 Beweglichkeit von Gelenken, Muskeln, X X X X Sehnen und Haut erhalten und verbessern Innervierte Schulter- und Armmuskula- X X X tur kräftigen/Verbesserung der Gelenk beweglichkeit Muskelkraft der innervierten Kopf- und X X X Schultermuskulatur kräftigen, um die Steuerung eines E-Stuhls zu ermöglichen Mobilität durch an Läsionshöhen adaptier- X X X X X X X tes Rollstuhltraining fördern Im Aktivrollstuhl trainieren 0 X X X X E-Rollstuhl erproben X X X 0 0 0 Autotransfer, ggf. inklusive Rollstuhl 0 X X X X verladung üben 21
Querschnittspezifische Erstbehandlung Neurologisches Lähmungsniveau (Wirbelsäulenabschnitte) C0 – C5 C6 C7 – Th1 – Th8 – L3 – Behandlungsziele C4 C8 Th7 L2 L5 Angehörige in Transfers anleiten X X X X Gleichgewichtssituation verbessern 0 X X X X Stützaktivität verbessern 0 X X X Gleichgewicht im Stand schulen X Drehen und Aufsetzen auf der X X X Behandlungsbank und im Bett Selbstständige Lagerung in Bauchlage, 0 X X X X auch nachts Selbstständiger Transfer auf 0 X X X X Bank / Bett / Auto unter Mitnahme der Bei- ne und der Fähigkeit, auch unterschied- liche Höhenunterschiede (z. B. Toilette, Badewanne) zu überwinden Selbstständiges Anziehen im Bett und im 0 X X X X Rollstuhl Selbstständiges Aufstehen und Hinsetzen X Legende: x = regelhaftes Behandlungsziel 0 = Behandlungsziel nach individueller Möglichkeit im Einzelfall Zu der umfassenden Therapie Rücken bereich fördert. Eine der Kernkompe- markverletzter gehört eine spezialisierte tenzen der Ergotherapie Rückenmark- Ergotherapie, die sich an den Ressour- verletzter ist das intensive Training der cen der Betroffenen orientiert und deren Handfunktion (Funktionshand, rest Fähigkeiten und Stärken im Betätigungs innervierte Hand) bei Tetraplegikern. 22
Querschnittspezifische Erstbehandlung Eine weitere Domäne stellen das Selbst- Auch in der Ergotherapie richten sich ständigkeitstraining im häuslichen die jeweiligen Ziele und daraus abgelei- Umfeld und die Hilfsmittelversorgung teten Maßnahmen neben den individu- einschließlich der Herstellung von ellen Besonderheiten der Patientinnen Schienen und Adaptionen für Hand und und Patienten nach der Lähmungshöhe obere Extremität auf Basis der ICF dar. und dem Lähmungsausmaß und streben Im Mittelpunkt steht die Identifizierung eine größtmögliche Selbstständigkeit von Umsetzungsproblemen im Alltag an. In Tabelle 2 werden Behandlungs mit den Patientinnen und Patienten z. B. ziele in Bezug zur Lähmungshöhe im beim Kommunizieren, Ankleiden oder Rückenmark dargestellt. beim Transfer. Die klientenzentrierten Therapieziele leiten sich aus den All- tagsanforderungen ab und wirken auf die größtmögliche Selbstständigkeit der Verletzten hin. Tabelle 2 Ergotherapeutische Ziele Neurologisches Lähmungsniveau (Wirbelsäulenabschnitte) C0 – C5 (mit Unterstüt C6 C7 – Unter zung /Fixierung des halb von C4 C8 Behandlungsziele Handgelenkes) Th1 Computer/Laptop mit Sondersteuerung X sowie Handy bedienen Computer/Laptop mit Trackball und Tipp X hilfe bedienen Umfeldkontrollgerät steuern X E-Stuhlsteuerung bedienen X X X Mundstab benutzen X Computer / Laptop bedienen X X 23
Querschnittspezifische Erstbehandlung Neurologisches Lähmungsniveau (Wirbelsäulenabschnitte) C0 – C5 (mit Unterstüt C6 C7 – Unter zung /Fixierung des halb von C4 C8 Behandlungsziele Handgelenkes) Th1 Schreiben mit der Hand X X X Telefon und Handy bedienen X X X Angepasste aktive Mobilität inkl. PKW-Be- X X X X dienung, ggf. mit Sondersteuerung Nahrungsaufnahme nach Vorbereitung und X mit entsprechend angefertigten Adaptationen Nahrungszubereitung und -aufnahme, ggf. X mit entsprechend angefertigten Adaptationen Nahrung zubereiten und aufnehmen X Teilaktivitäten bei Körperhygiene und X An- / Auskleiden im Bereich von Kopf und Oberkörper übernehmen Tägliche Hygiene im Bereich von Kopf und X Oberkörper, An-/Auskleiden von Ober- und ggf. Unterkörper Tägliche Hygiene, An- und Auskleiden X Selbstständiges Blasen- und Darmmanage- X X ment mit Hilfsmitteln Teilweise selbstständige Versorgung des X Haushaltes Weitestgehend selbstständige Versorgung X des Haushaltes Komplette Selbstständigkeit im Bereich der X Selbstversorgung im adaptierten Umfeld 24
Querschnittspezifische Erstbehandlung Insgesamt vermischen sich die Grenzen 6.2 Mobilität und Funktions der ergo- und physiotherapeutischen anbahnung Therapieziele, je nach Organisations- struktur innerhalb des Angebotes der Der Verlust der Gehfähigkeit bedeutet „Querschnitttherapie“ eines Zentrums. für Menschen mit Querschnittlähmung eine erhebliche Beeinträchtigung. Dem- Als rehabilitative Assessments die- entsprechend ist die Wiederherstellung nen neben allgemeinen Untersuchun- einer bestmöglichen Mobilität das vor- gen (Muskelfunktionstest, Gelenk- und rangige Ziel. Dabei stellen Rollstühle das Handkraftmessung) und speziell ergo- primäre Fortbewegungsmittel für viele therapeutischen Tests querschnittspe- Querschnittgelähmte dar. Aus diesem zifische Tests / Scores, wie der G RASSP Grund kommen der Rollstuhlversorgung (Graded Redefined Assessment of und dem Rollstuhltraining innerhalb der Strength, Sensibility and Prehension). Rehabilitation Rückenmarkverletzter ein Die regelmäßige Dokumentation von hoher Stellenwert zu. Die Versorgung Veränderungen ist notwendig, um eine ist abhängig von der Läsionshöhe, den angemessene Behandlung und Therapie funktionellen Möglichkeiten der Patien- sicherzustellen. Konkrete Behandlungs- tinnen und Patienten sowie den perso- vorschläge und die Therapie in Abhän- nen- und umweltbezogenen Faktoren gigkeit von der Lähmungshöhe werden und muss technisch individuell optimal beispielsweise in den Veröffentlichun- angepasst sein. Damit kann der Aktions- gen des Arbeitskreises Ergotherapie der rahmen der Betroffenen insbesondere Deutschsprachigen Medizinischen vor dem Hintergrund einer angestrebten Gesellschaft für Paraplegie (DMGP) beruflichen Wiedereingliederung maxi- beschrieben. mal ausgeschöpft werden. → www.dmgp > Arbeitskreise > Bei inkompletten Lähmungen kann die Ergotherapie Rehabilitation der Gehfähigkeit das vorrangige oder zusätzliche Ziel sein. Bei höhergradigen inkompletten Läsio- nen (AIS C und D) ist eine teilweise oder vollständige Erholung der Lokomotions funktion durch Stimulation der neuro 25
Querschnittspezifische Erstbehandlung nalen Mechanismen funktioneller Nutzungsmöglichkeiten im häuslichen Bewegung und der Stimulation der Umfeld bzw. die zukünftigen beruflichen Neuroplastizität möglich. Dazu gehört Rahmenbedingungen durch das Reha- das roboter- und/oder laufbandunter- Management abgeklärt werden. stützte Gehtraining in das therapeu- tische Portfolio eines Behandlungs zentrums für Rückenmarkverletzte. 6.3 Neuro-urologische Behandlung und In der Behandlung kompletter Lähmun- Darmmanagement gen wird das automatisierte Lokomoti- onstraining nicht empfohlen. Hier greift Die Blase kann nach Eintritt einer man auf ein mithilfe von Orthesen und Querschnittlähmung nicht willkürlich über Trickbewegungen erzeugtes Gehen entleert, ihre Füllung oft nicht wahr- zurück. Eine spezialisierte Gangschu- genommen werden. Das Ziel der neuro- lung sowie die enge Zusammenarbeit urologischen Versorgung in der ersten von Orthopädietechnik, Physiotherapie Phase der Querschnittlähmung (spinaler und ärztlicher Betreuung sind erfor- Schock) ist die Vermeidung von Früh- derlich. Spezielle Orthesen stellen die komplikationen infolge dieser Harnent- Exoskelette dar, die zum technisch un- leerungsstörung. terstützten Gehen und Stehen in den Kliniken eingesetzt werden können. Die transurethrale Dauerkatheter ableitung ist häufig zum intensivmedi- Neben der Rollstuhlversorgung ist be- zinischen Monitoring erforderlich. Da reits in der Erstbehandlung die Verord- sie unausweichlich zu einer raschen nung von zusätzlichen Hilfsmitteln zur Infektion und zu weiteren Folgeschäden erweiterten Mobilität abzuklären, wo- führt, ist sie allenfalls zeitlich begrenzt bei hierzu in einigen Bereichen bereits akzeptabel. Lediglich in speziellen Aus- ausgearbeitete Indikationsrichtlinien nahmefällen kann eine transurethrale der DGUV vorliegen (z. B. Kfz-Hilfe). Dauerkatheterableitung langfristig ange- Handbikes und andere Rollstuhlzughil- zeigt sein. Der intermittierende Kathete- fen können bereits während der Erst- rismus in aseptischer Technik stellt bei behandlung erprobt und ggf. verordnet der Blasenentleerung bei Querschnitt- werden. Dazu müssen frühzeitig die gelähmten den aktuellen Behandlungs- 26
Querschnittspezifische Erstbehandlung standard dar. Je nach Lähmungshöhe Abhängig vom Ausmaß und von der entwickeln sich später unterschiedliche Höhe der spinalen Läsion können die Restfunktionstypen, die eines individu- Funktionen Erektion, Ejakulation, Emis- ell gestalteten Entleerungsregimes be- sion, Orgasmus, sensorische genitale dürfen. Die spezifische neuro-urologi- Empfindung, Fertilität und Libido gestört sche Diagnostik und Therapie orientiert sein. Da eine kausale Therapie der neu- sich an der S2K-Leitlinie „Neuro-urologi- rogenen erektilen Dysfunktion des quer- sche Versorgung querschnittgelähmter schnittgelähmten Mannes derzeit nicht Patienten“ der Deutschsprachigen Me- möglich ist, kommen verschiedene me- dizinischen Gesellschaft für Paraplegie dikamentöse, mechanische und/oder (DMGP). operative Therapiemöglichkeiten mit streng individueller Indikation zum Ein- → www.awmf.org > Leitlinien > satz. Die Behandlung der Sexualfunkti- Reg-Nr. 179-001 (Querschnitt onsstörung der querschnittgelähmten gelähmte Patienten, neuro- Frau fokussiert im Wesentlichen auf Stö- urologische Versorgung) rungen der Empfindungsfähigkeit, der Lubrikation und der Orgasmusfähigkeit. Die Diagnostik sollte so früh wie mög- Menstruationsstörungen und Fertilitäts- lich nach Ende der spinalen Schock störungen sind meist vorübergehender phase durchgeführt werden. Alle Thera- Natur und bedürfen selten einer spezi- pieoptionen haben das langfristige Ziel, fischen Behandlung. Eine Möglichkeit die Nierenfunktion zu erhalten, eine zur andrologischen Beratung für Quer- ausreichende Speicherkapazität der schnittgelähmte sollte gegeben sein. Harnblase zu erreichen und durch die Kontinenz die Lebensqualität zu verbes- Neurogene Darmmotilitätsstörungen sern. Die DMGP hat auch eine Leitlinie mit v. a. in der Schockphase teilweise zu neurogenen Darmfunktionsstörungen paralytischen Zuständen sind nahe- bei Querschnittlähmung erstellt. zu immer problematisch und bedürfen differenzierter Behandlung. Bereits in → www.awmf.org > Leitlinien > der frühen Phase nach der Verletzung Reg.-Nr. 179-004 (Neurogene ist deshalb für eine ausreichende und Darmfunktionsstörung bei regelmäßige Darmentleerung zu sorgen. Querschnittlähmung) Im weiteren Verlauf der Behandlung ist 27
Querschnittspezifische Erstbehandlung es das Ziel, eine für Querschnittgelähmte 6.4 Psychologische und sichere und geplante, regelmäßige und seelsorgerische Begleitung vollständige Darmentleerung in einem akzeptablen zeitlichen Rahmen zu etab- Die Querschnittlähmung führt neben lieren. Dabei spielen neben den medizi- den somatischen Folgen zu einer schwe- nischen Voraussetzungen vor allem die ren psychischen Belastung der betrof- individuellen Möglichkeiten der Betroffe- fenen Menschen und ihres gesamten nen, aber auch das soziale Umfeld eine Umfeldes. Ausmaß und Dauer sind ab- große Rolle. Für die Therapie erforderlich hängig von den bisherigen sozialen ist ein sehr erfahrenes und hoch spezi- Lebensverhältnissen und den individu- alisiertes Team. Therapeutisch kommen ellen Möglichkeiten, die unfallbeding- medikamentöse, mechanische und ggf. ten Einschränkungen zu verarbeiten auch operative Maßnahmen zum Einsatz. und anzunehmen. Deshalb sollte das Weiterhin ist eine diätetische Beratung Behandlungszentrum insbesondere Kri- durch qualifiziertes Personal erforder- seninterventionen und Maßnahmen zur lich. Das oberste Ziel ist immer die selbst- Förderung der Krankheits- und Behinde- ständige Entleerung durch die betroffe- rungsverarbeitung anbieten. ne Person selbst, was abhängig von der Lähmungshöhe nicht immer möglich ist. Innerhalb des Behandlungsteams bildet In jedem Fall ist ein strukturiertes Schu- das psychologische Fachpersonal einen lungsprogramm, ggf. auch für die Angehö- festen Bestandteil. Aufgrund der Kennt- rigen bzw. Pflegepersonen unabdingbar. nis der jeweiligen Lebenssituation der Häufig erfordert auch das Darmmanage- betroffenen Patientinnen und Patienten ment eine individuell angepasste Hilfsmit- kann es mögliche Erklärungsmodelle für telversorgung. In das Darmmanagement bestimmte Verhaltensweisen innerhalb muss die erfahrene, querschnitt-spezifi- der Behandlungen bieten, woraus sich sche Behandlungspflege eingebunden Behandlungsstrategien für alle thera- sein. Eine kontinuierliche ärztliche Über- peutischen Bereiche ergeben. Langfris- wachung ist geboten, da in der Phase tig verbessert sich dadurch die Kompe- der Erstbehandlung durch das Auftreten tenz des gesamten Behandlungsteams von Magenlähmung (Magenatonie) oder in der psychosozialen Versorgung. Darmverschluss (Subileus) erhebliche Komplikationen entstehen können. 28
Querschnittspezifische Erstbehandlung In den regelmäßigen Informationsaus- emotionale und geistige Reaktion zu tausch mit dem gesamten Behand- stärken. Hierzu können Peer-Betreuung, lungsteam und in die interdisziplinären interdisziplinäre persönliche Anspra- Konferenzen wird zudem der psycholo- che, Versorgung mit einschlägigen Infor- gische Dienst eingebunden. Die psychi- mationsangeboten in unterschiedlichen sche Stabilisierung der Betroffenen ist leicht zu konsumierenden Medien bei- unabdingbare Voraussetzung für eine tragen. Es ist wichtig, dass alle an der erfolgreiche Behandlung. Die Vorstel- Versorgung Beteiligten ein Bewusstsein lung bei psychologischem bzw. psychia- dafür entwickeln, dass die Wechselwir- trischem Fachpersonal ist in jedem Be- kung zwischen Psyche und Physis einen handlungsfall zu ermöglichen. großen Einfluss auf das Befinden der Querschnittgelähmten hat. Ziel aller Beteiligten sollte es sein, die Patientin bzw. den Patienten von An- Seelsorgerische Begleitung fang an mit der Notwendigkeit und den Seelsorge wendet sich dem einzelnen Möglichkeiten umfassender Selbstver- Menschen zu, unabhängig von dessen antwortung vertraut zu machen. Sie Religionszugehörigkeit oder Weltan- sollten daher neben der physischen schauung. Sie ist eingebunden in das Stabilisierung frühzeitig auch eine multiprofessionelle Team der Klinik. Sie mentale Begleitung erfahren, die ih- ist ein offenes Angebot für alle Patien- nen unter Berücksichtigung der unter tinnen und Patienten, deren Angehörige schiedlichen Persönlichkeitsprofile sowie die Mitarbeitenden des Behand- sowohl geistig als auch emotional lungszentrums. Seelsorgliche und spiri- den Zugang zur Neuorientierung und tuelle Begleitung sind fester Bestandteil Perspektivbildung eröffnet. des ganzheitlichen Ansatzes von Kran- kenhausseelsorge. Die Sorge um die Bereits während der Erstbehandlung Seele und den Körper ist eine zentrale im Behandlungszentrum sollte eine Aufgabe, die zur seelischen Genesung Vielzahl von Angeboten vorgehalten der Patienten und Patientinnen beiträgt. werden, um eine konstruktive Ausein- Je nach Möglichkeit der jeweiligen Ein- andersetzung der Verletzten mit dem richtung sollten auch die seelsorgeri- Geschehenen zu fördern und ihre Ei- sche Betreuung und spirituelle Angebo- genverantwortung für die körperliche, te (Einweisung in zugehörige Techniken) 29
Querschnittspezifische Erstbehandlung auf Wunsch des querschnittgelähmten erfordern, sind daher für den Erfolg der Menschen angeboten werden. Behandlung unabdingbar. Die Einbeziehung der Angehörigen in Nach Abklingen des spinalen Schocks die Therapieplanung ist grundsätzlich setzt beim querschnittgelähmten Men- erforderlich. Ohne eine vertrauensvolle schen eine spinale Spastik ein, die häu- Zusammenarbeit der Fachkräfte aus dem fig so ausgeprägt ist, dass weitere Kom- Behandlungszentrum, den Querschnitt- plikationen drohen. Die Behandlung der gelähmten, ihren Angehörigen und Be- Spastik erfolgt multimodal, wobei hier zugspersonen ist eine erfolgreiche Be- physiotherapeutische und physikalische handlung schwierig. Es ist wichtig, dass Maßnahmen, Verfahren der therapeuti- im Behandlungszentrum verlässliche An- schen Pflege und schließlich die medi- sprechpartner zur Verfügung stehen und kamentöse Behandlung zur Anwendung diese insbesondere in Krisensituationen kommen. Da die spinale Spastik von ei- Unterstützung bieten können. ner Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird und daher in ihrem Ausmaß erheblichen Schwankungen unterworfen sein kann, 6.5 Querschnitt-assoziierte sind die angewandten Therapieverfahren Begleiterscheinungen kontinuierlich zu überprüfen. In Einzelfäl- len kann schon in der ersten Phase der Sowohl der Verlust der Sensibilität als Behandlung die Implantation einer Medi- auch die lähmungsbedingt beeinträch- kamentenpumpe erforderlich werden. tigte Gefäßregulierung führen bei quer- schnittgelähmten Menschen zu einer In den ersten Monaten besteht eine hohe besonderen Gefährdung für das Auftre- Thrombo-Emboliegefahr, sodass eine um- ten von Weichteilschäden, insbesonde- fassende multimodale Prophylaxe zwin- re von Druckgeschwüren. Die Anwen- gend ist. In der Regel ist daher eine Ultra- dung spezieller Lagerungstechniken, schalluntersuchung der Durchgängigkeit Hilfsmittel und Therapieverfahren, die der Becken-und Beinvenen sinnvoll. weit über das übliche Maß der Dekubi- tusprophylaxe hinausgehen und in al- Nahezu alle Menschen mit Querschnitt- len Berufsgruppen besondere Erfahrung lähmung leiden unter unterschiedlich ausgeprägten Schmerzen und Miss 30
Sie können auch lesen