2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
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2|2020 Magazin der Stiftung Liebenau Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll 10 Special Olympics: Sportler räumen Medaillen ab 20 Erstmalig: neues Haus der Pflege in Franken 23
Inhalt 3 Editorial 5 Infos online 27 Impressum 150 Jahre Stiftung Liebenau: In solch einer langen Zeit gibt es viel zu erzählen. Machen Sie mit und Themendossier: 28 Spot an: Franziska Eggert schicken Sie ihre Geschichte. Informieren Sie sich umfassend in unseren Themendossiers „Arbeiten“, Stiftung Liebenau „Sozial digital“, „Den Menschen zuge- 4 Impuls: Unberührte Nähe wandt“, „Medizin und Gesundheit“, 5 150 Geschichten: Machen Sie mit! „Gute Arbeit“, „Besondere Familien“ und 7 Leben in Zeiten von Corona „Wohnen“ unter 8 kurz und knapp www.stiftung-liebenau.de/ themendossiers 8 Nicht ohne Rituale – aber anders Schwerpunkt: „Anstifter“ als e-book: www.stiftung-liebenau.de/anstifter Bundesteilhabegesetz – innovativ, revolutionär, anspruchsvoll 10 Die Chancen und Herausforderungen Newsletter „Liebenau inklusiv“ 12 ICF – eine gemeinsame Sprache 10 Bestellen Sie den Newsletter „Liebenau inklusiv“ unter 13 Axel Weigele will Selbstständigkeit Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vollzieht einen www.stiftung-liebenau.de/inklusion 14 Riesenaufwand für alle Perspektivwechsel: Der einzelne Mensch mit sei- nem Wunsch- und Wahlrecht steht im Mittelpunkt. 15 Begleitung zur Teilhabe 16 Angehörige brauchen Vorbereitung 17 Österreich lebt Gleichstellung 18 Das Bundes-Teilhabe-Gesetz Aus der Praxis 20 Bei Special Olympics gewinnen viele 21 Nähwerk näht, um andere zu schützen 22 Herausforderndes Verhalten verstehen 23 Großes Interesse an Haus der Pflege 23 Lebensräume für Ottobeuren Gefällt mir! 24 Fußballer qualifizieren sich 21 Auf Facebook und Instagram versorgen 25 So schützt man sich vor Gewalt Engagement und Ideen sind in Zeiten von Corona wir Sie mit Neuigkeiten, Veranstaltungs- 25 Gewaltprävention in der Praxis besonders gefragt: Die Nähwerkstatt näht Mund- tipps und Wissenswertem aus der Stif- schutz für Kunden und Kollegen. tung Liebenau. Einfach reinklicken, liken 26 Neue Leitung für Heim und teilen. Sie finden uns auf beiden 26 Die Krise führt zusammen Kanälen über den Suchbegriff „Stiftung 27 Wir sagen Danke! Liebenau“. Text in Leichter Sprache Mit dem Anstifter informieren wir regel- mäßig über Ereignisse, Themen und Pro- jekte in der Stiftung Liebenau. Dazu ver- wenden wir personenbezogene Daten. Sie werden mit der nötigen Sorgfalt und unter Beachtung des gesetzlichen Daten- schutzes verarbeitet. Für Informationen 26 über die gespeicherten Daten, zur Ergän- Das Sozialtherapeutische Heim hat eine neue Lei- zung, Korrektur oder Löschung wenden tung: Sabine Schampel ist zusammen mit dem bis- Sie sich bitte an die Redaktion. Weitere herigen Leiter Alfons Ummenhofer verantwortlich. Informationen über unsere Datenschutz- maßnahmen finden Sie hier: www.stiftung-liebenau.de/datenschutz. 2 anstifter 2 | 2020
Editorial Wie ist Ihre Meinung? Die Vorstände der Stiftung Liebenau freuen sich auf Ihre Rückmeldung: vorstand@ stiftung-liebenau.de Liebe Leserin, lieber Leser, dass das Jahr 2020 ein historisches Jahr für die Weltkrieg, als die Nationalsozialisten die Hälfte Stiftung Liebenau werden würde, wussten wir unserer Bewohner ermordeten. schon lange. Anlässlich ihres 150-jährigen Beste- Wir wissen vergleichsweise wenig darüber, wie hens stand uns ein Festjahr bevor, auf das wir uns es den damaligen Akteuren in der Stiftung Liebe- vorbereitet hatten. Feiern werden wir nun nicht, nau in diesen Krisen ging. Kaum Persönliches ist zumindest nicht in der geplanten Form. Dass uns überliefert. Was wir aber wissen, ist, dass sie so durch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus gehandelt haben, wie es die Situation erfordert eine Krise historischen Ausmaßes treffen würde, hat. Sie haben das getan, was in dem Moment kam unverhofft. getan werden musste und was sie tun konnten. Sie haben Menschen gepflegt, geschützt, mit Die Stiftung Liebenau hat in ihrer 150-jährigen Essen versorgt, Pläne erstellt, und vieles mehr. Geschichte schon mehrere große Krisen erlebt. Genau das tun wir jetzt auch: Gemäß unserem Oder besser gesagt: Die Menschen, die in der Leitwort „In unserer Mitte – Der Mensch“ sind Obhut der Stiftung Liebenau waren, und die, die wir dem einzelnen Menschen verpflichtet. Denn bei ihr arbeiteten, waren ihre Zeugen. Da war der gerade in dieser Zeit kommt es auf jeden einzel- erste Weltkrieg, deren Auswirkungen die Men- nen an. Auf sein Tun und Lassen. Das führt uns die schen vor allem durch Lebensmittelknappheit Ausbreitung des Virus deutlich vor Augen. spürten. Auch an der damals kaum behandelba- ren Tuberkulose erkrankten in Liebenau viele Und eines ist auch klar: Wenn diese Pande- Menschen. Sie wurden, wie heute, isoliert. Vor mie beendet ist, werden wir nicht mehr diesel- ziemlich genau 100 Jahren grassierte die Spani- ben sein wie vorher. Wie wir sein werden und sche Grippe, der weltweit 20 – und nach neueren vor welchen Aufgaben wir stehen werden, wis- Forschungen sogar 50 – Millionen Menschen erla- sen wir heute noch nicht. Fest steht aber eines: gen. Den finanziellen Beinah-Kollaps erlebte die Unsere Wahrnehmung füreinander und unser Stiftung Liebenau 1923, am Höhepunkt der Infla- Verantwortungsgefühl werden durch diese Krise tion. Die schwerste Zeit kam mit dem Zweiten gestärkt. Darauf können wir aufbauen. Das meint Ihr Vorstand Prälat Michael H. F. Brock Dr. Berthold Broll Dr. Markus Nachbaur anstifter 2 | 2020 3
Stiftung Liebenau Unberührte Nähe von Prälat Michael H. F. Brock Heute ist der 3. April 2020. Das stimmt doch gar nicht, wer- wir anders sein werden. Jedenfalls träume ich davon. Ich träu- den Sie denken. Heute, da Sie diese Zeilen lesen, ist es Mai. me, dass das Händeschütteln ein Zeichen des Vertrauens sein Aber heute – wie gesagt – ist es Anfang April, und ich bin gebe- darf, eine Umarmung Geborgenheit schenkt und Zuneigung ten worden, diesen Impuls zu schreiben. Ich habe aber keine ausdrückt, die von Herzen kommt. Ich träume davon, dass Zeit Ahnung, welche Worte im Mai wichtig und richtig wären. Gel- nicht mehr verschwendet wird, sondern geteilt, genossen und ten die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona noch? Ist mit Sinn erfüllt. Ich träume davon, dass wir unser Leben nach ausreichend Schutzausrüstung vorhanden? Sind die Zahlen wie vor als zerbrechlich ansehen werden, aber uns nicht mehr der Infektionen bereits gesunken? Wie viele Menschen wer- fürchten müssen. Ich träume davon, dass Achtsamkeit zur den gestorben sein? Funktioniert unser Gesundheitssysthem Gewohnheit geworden ist, nicht voreinander, sondern fürein- noch? Wie steht es in der Pflege und Betreuung? Wie geht es ander. Ich träume davon, dass wir ein Gespür für Einsamkeit den Menschen, die wir betreuen und wie geht es unseren Mit- entwickelt haben, das uns näher zusammenbringt, uns Ein- arbeiterinnen und Mitarbeitern? samkeit zu ersparen. Denn Einsamkeit braucht kein Mensch. Heute, Anfang April, habe ich nur Fragen und keine Ant- Vielleicht haben wir Stille wieder schätzen gelernt und Ruhe. worten. Ich sehe aus meinem Fenster hinunter in den Garten, Ich wünsche mir wieder Briefe im Briefkasten, die lange unter- auf den Platz vor dem Liebenauer Schloss, Richtung Kantine wegs waren, und dass die Zeit, die wir einander schenken, als und Kirche. Es ist niemand unterwegs. Die Veranstaltungen Geschenk empfunden wird. Ich träume davon, dass die Toten im Schloss sind abgesagt, die Kantine geschlossen, keine Got- nicht vergessen werden und die Gesunden das Geschenk des tesdienste, Ausgangsbeschränkung. Mehr als zwei Menschen Lebens nicht zu selbstverständlich nehmen. sollen nicht zusammen sein an öffentlichen Orten. Die Sonne Und ich wünsche mir, dass wir im Jahr 2021 wieder feiern scheint, es geht ein eiskalter Wind. können, das Leben, uns selbst und mit anderen, ein Fest dank- Und Mitte Mai? Ich weiß es nicht. Angst, Zuversicht, Nähe, baren Lebens, ein ehrliches Fest, weil wir endlich wieder wis- Distanz, Hamster, Einsamkeit, Freude, Feiern, oder Quarantä- sen, auf was es ankommt. Achtsamkeit, die treu bleiben wird, ne? Ich weiß es nicht. Aber ich ahne, was in ein, zwei Jahren und Begegnungen, die glücklich machen. Sorgen, die ernst sein wird. Zumindest habe ich einen Traum davon, auch eine genommen werden, und Nähe, die nie mehr unberührt sein Hoffnung. Im Mai 2021 wird die Welt eine andere sein, weil wird. Ich wünsche mir das Leben zurück, ein geborgenes. 4 anstifter 2 | 2020
Stiftung Liebenau Jubiläumsfeiern: damals und heute Erstens kommt es anders und zwei- worden, Fremde wurden einquartiert, Haben Sie auch eine Geschichte aus tens als man denkt, soll Wilhelm Busch Gebäude und Anlagen beschädigt. Das der Stiftung Liebenau zu erzählen? einmal gesagt haben. Das 150-jährige Jubiläum wurde daher nur im kleinen Wir freuen uns über Erinnerungen – Jubiläum der Stiftung Liebenau wird Rahmen gefeiert. Am 18. Oktober 1945 heitere und ernste, besinnliche und auf jeden Fall anders als gedacht. Zum gab es einen Festgottesdienst, der kritische. 150 Geschichten aus der Schutz vor dem Coronavirus wurden anschließende Festakt fand im Freien Geschichte wollen wir veröffentlichen. alle Jubiläumsveranstaltungen im bei der Kirche statt. Mehr als 40 sind schon zusammen- ersten Halbjahr 2020 abgesagt. Des- In der Festschrift von 1945 heißt es: gekommen, nachzulesen im Internet halb wurde das Jubiläum kurzerhand „Fast alle wichtigen Tage unseres Hau- unter ins Internet verlegt. Auf der Website ses fielen in dunkle Zeiten unseres Vol- 150jahre.stiftung-liebenau.com 150jahre.stiftung-liebenau.de gibt es kes. Eröffnet wurde die Anstalt in den allerlei Wissenswertes und Unterhalt- Schrecken des deutsch-französischen sames aus 150 Jahren Stiftung Liebe- Krieges 1870; das 50-jährige Jubiläum Schenken Sie uns Ihre Geschichte! nau – garantiert ansteckungsfrei. feierten wir im schweren Nachkriegs- Sie erreichen uns per Post an Zum Beispiel wird davon erzählt, jahr 1920 mit all seiner Not, und die Stiftung Liebenau – 150 Geschichten wie früher Jubiläum gefeiert wurde. gleiche Not lastet heute nach dem Ver- Siggenweilerstraße 11 Das 75-jährige Bestehen fiel ins Jahr lust des weit schrecklicheren 2. Welt- 88074 Meckenbeuren 1945. Zu dieser Zeit musste die damali- krieges auf uns. Soll das nicht ein Sinn- per E-Mail an ge Heil- und Pflegeanstalt viel Schreck- bild sein, dass Liebenau eine Aufgabe 150jahre@stiftung-liebenau.de liches verarbeiten. Im Nationalsozialis- zu erfüllen hat als Au der Liebe in einer oder am Telefon mus waren viele Liebenauer ermordet Welt des Hasses?“ unter +49 751 364 49 94. anstifter 2 | 2020 5
Stiftung Liebenau In Zeiten von Corona Die Corona-Pandemie stellt unser Leben auf den Kopf. Vor allem der Verzicht auf die die gewohnten sozialen Kontakte trifft viele hart. Wie Menschen mit und ohne Behinderungen im Alltag mit der Situation umgehen, welche neuen Ideen sie entwickeln und was sie sich wünschen, lesen Sie hier. Ältere Menschen bleiben cool Angst ist okay, aber Gelassenheit macht´s gerade leichter. Susanne Baur, Gemeinwesenarbeiterin in den Lebens- räumen für Jung und Alt in Bad Wur- zach, schildert die Stimmung unter den 63 Bewohnerinnen und Bewohnern. Sie hat allen Grund, auf die tolle Nachbar- schaft stolz zu sein. Solidarität gewünscht Auf Abstand kann Eric Albrecht in sei- mit Ruhe, Gelassenheit und Humor. Für ner Arbeit nicht gehen. Er ist Wohngrup- die Zeit nach Corona hat er schon einen penleiter im Fachzentrum in Hegenberg. Wunsch: „Wir – in den sozialen Berufen Wegen der geschlossenen Schulen und – sind auf einmal diejenigen, die unsere Werkstätten spielt sich das Leben der Gesellschaft am Laufen halten. Hoffent- zwölf Betreuten gerade so oft wie mög- lich bleibt von all dem Respekt und der lich im gemeinsamen Garten ab. Dem Solidarität etwas übrig, wenn die Krise drohenden Lagerkoller auf der Wohn- vorbei ist und wir wieder zur Tagesord- gruppe begegnen er und sein Team aber nung übergehen.“ Bilder und Briefe - ganz persönlich Viele Seniorinnen und Senioren müs- sen auf den Besuch ihrer Liebsten ver- zichten. Vergessen sind sie aber nicht! In vielen Häusern der Pflege gehen seit einiger Zeit sehr liebevolle Briefe und selbstgemalte Bilder von Kindern und Nachbarn ein. 6 anstifter 2 | 2020
Uns geht es soweit gut. Wir gehen nicht einkaufen, das macht unsere Betreuerin vom Ambulant Betreuten Wohnen. Wenn es schön ist, gehen wir spazieren – drei bis vier Kilometer. Bewegung ist wichtig, sie stärkt die Körperabwehr. Natürlich halten wir uns an die Vorga- ben: zwei Meter Abstand, keine Hand geben usw. Natür- Kaffeekränzchen mal anders lich viel Obst und Gemüse mit Vitamin C essen. Wir wünschen allen, dass sie gesund bleiben Ein Mittwoch ohne das gemeinsame Kaffeetrinken? Das und für die Familien dasselbe. kommt für die Bewohner der Lebensräume für Jung und Alt in Torsten und Maria Calamiello, Kressbronn nicht in Frage. Und da Pandemie eben auch erfin- begleitet von den Ambulanten derisch macht, findet die gemütliche Runde jetzt halt über Diensten mehrere Etagen statt. Manchmal gehe ich spazieren. Was ganz wichtig ist, ist Abstand zu halten. Ich bin froh, wenn wir wieder alles machen können, wenn der normale Ablauf wieder geht, wenn man raus kann, wenn man am Bodensee wieder spazieren gehen kann, wenn man Freunde tref- fen kann. Am meisten vermisse ich meine Arbeit und meine Kol- legen. Ich wünsche mir, dass die Hamsterkäufe aufhören und dass es für alle wieder gut weitergeht. Jens Haug (34), Beschäftigter WfbM- Außengruppe Gala-Bau Laden und Lieferservice sichern die Versorgung …ich vertreibe mir die Zeit mit Lesen, Spazieren- gehen, Malen nach Zahlen. Ich vermisse am meisten Das Team vom meine Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen. Es ist Liebenauer Land- wichtig, sich selber einen Ruck zu geben und sich zu leben ist auch in motivieren. Mit meiner Mitbewohnerin gehe ich oft Zeiten der Coro- spazieren. Manchmal machen wir ein Spiel zusammen. na-Pandemie für Mit meiner Betreuerin unterhalte ich mich draußen: Ich die Kundschaft sitze auf der Bank vor dem Haus, sie steht ein Stück weit da. Hier ist alles weg von mir. Ich freue mich am meisten darauf, wenn für den täglichen ich wieder zur Arbeit gehen kann. Ich wünsche allen, Bedarf zu finden dass sie gesund bleiben und trotz – von saisonalem harter Einschnitte den Kopf nicht Gemüse direkt aus den Liebenauer Gewächshäusern über hängen lassen. Ein Tipp: Manch- Fleisch und Wurstwaren, Getränken aus eigener Herstellung mal hilft es, zu telefonieren oder bis hin zum Toilettenpapier. einen Brief zu schreiben. Für alle, die nicht direkt vorbeikommen können, gibt es Irmgard Weiland (63), begleitet zusätzlich einen Lieferservice. Bestellungen per Telefon Mon- von den Ambulanten Diensten, tag und Mittwoch von 9 bis 11 Uhr oder jederzeit per Mail wer- WfbM-Beschäftigte den am Folgetag nach Hause geliefert. Ab einem Bestellwert von 60 Euro sogar versandkostenfrei. anstifter 2 | 2020 7
Stiftung Liebenau Tarifverhandlungen 575 000 Pflegekräfte wegen Corona-Pandemie angesprochen ausgesetzt Angesichts der Entwicklungen rund um die Verbreitung des Coronavirus/COVID-19 finden die bisher geplanten Ver- handlungsrunden in der Tarifauseinandersetzung zwischen Liebenau Leben im Alter und der Gewerkschaft ver.di nicht statt. Diese Entscheidung haben beide Verhandlungspartner, Geschäftsführung Liebenau Leben im Alter und Gewerkschaft ver.di, getroffen. Pflegekräfte werden in der Corona-Krise mehr denn je Angesichts der Entwicklungen halten es beide Seiten für gebraucht, viele Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen und unverantwortlich, den Beteiligten die zahlreichen Reisen und Krankenhäusern arbeiten am Rande der Erschöpfung. Die Ver- Besprechungen zuzumuten, die mit einer Verhandlung ver- sorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Patientin- bunden wären. Der Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitar- nen und Patienten ist gefährdet. beiter hat in dieser Situation absoluten Vorrang, ebenso wie Um die Alten-, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen zu die Verantwortung für die Bewohnerinnen und Bewohner der unterstützen, wurde die Aktion „Pflegesterne“ ins Leben geru- Häuser der Pflege. fen, eine breite gesellschaftliche Bewegung, die ehemalige Die Verhandlungsführer der Liebenau Leben im Alter wol- Pflegekräfte anspricht und kurzfristig und unbürokratisch mit len damit keinesfalls Tarifvertragsverhandlungen hinauszö- suchenden Einrichtungen zusammenbringt. Initiatoren sind gern. Sie wissen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viele der Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft (Vedi- Erwartungen an einen zeitnahen Abschluss eines Tarifver- so), das soziale Start-up mitunsleben und die Unternehmens- trages haben. Deshalb hat das Unternehmen vorab freiwillig und Personalberatung contec. einen Einmalbetrag an alle Mitarbeitenden bezahlt. Dieser Expertenschätzungen gehen davon aus, dass rund 575 000 Einmalbetrag soll dann in das Gesamtvolumen einfließen, das Pflegekräfte nicht mehr in ihrem angestammten Beruf tätig abschließend verhandelt wird. Mit diesem Schritt leistet die sind. Ihre fachliche Hilfe und Unterstützung werden aber in Liebenau Leben im Alter einen Beitrag zu einem fairen Ver- der aktuellen Krise noch dringender benötigt. Die Aktion „Pfle- handlungsergebnis, das den Erwartungen der Arbeitnehmer gesterne“ spricht diese Fachkräfte mit einer großen Kampag- entgegenkommt, aber natürlich auch für das Unternehmen ne an und gibt Einrichtungen die Möglichkeit, ihren Bedarf leistbar, marktgerecht und zukunftsfähig ist. schnell und unkompliziert auf der Plattform anzugeben. Die Die verhandlungsfreie Zeit nutzen beide Seiten, um verein- Registrierung und die unbürokratische Vermittlung auf der barte Berechnungen fertigzustellen und auszutauschen. Plattform sind möglich unter www.pflegesterne.de. Termine Keine Veranstaltungen bis Juli Aufgrund der Corona-Pandemie finden bis zu den Sommerferien keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Die Corona-Pandemie macht es unmöglich, die Gesundheit der zu erwartenden Gäste zu schützen. Dies betrifft auch das Festwochenende vom 10. bis 12. Juli 2020. Über neue Termine halten wir Sie Wie es weitergeht im Jubiläumsprogramm, ist momentan noch ungewiss. weiterhin auf dem Laufenden unter: Mitarbeitende können sich aber jetzt schon freuen: Die fürs Jubiläumsjahr www.stiftung-liebenau.de/ geplante Liebenauer Musiknacht wird auf 2021 verschoben. aktuelles/termine 8 anstifter 2 | 2020
Stiftung Liebenau Ohne geht es nicht – aber es geht anders Rituale in Zeiten von Corona Rituale und Gewohnheiten geben dem schen gebunden sind? Menschen sind jetzt nichts geändert. Er sei halt doch ein Leben Struktur, den Menschen Halt und zwar „Gewohnheitstiere“, aber sie sind Gewohnheitstier… Und ein Mitarbeiter doch auch flexibel und suchen sich neue hat seine Gitarre wiederentdeckt. Er Sicherheit. Was aber, wenn Rituale Wege für ihre Rituale – oder sie finden verschwindet damit nun regelmäßig auf plötzlich fehlen? Wenn sie unterbunden gar neue. eine einsame Wiese. Da könne er unge- werden oder gar verboten sind, wie Eine Mitarbeiterin ersetzt ihr Fit- stört üben und würde seine Familie, in gerade jetzt, um Infektionen mit dem nessstudio durch ein online-Angebot, der alle gerade zuhause seien, nicht neuen Virus Covid-19 einzudämmen? um ihre tägliche Bewegungseinheit zu stören. Eine Schülerin radelt jeden Mor- erhalten. Immer morgens, da sei sie gen zu ihrer geschlossenen Schule, weil am besten drauf und noch motiviert. sie fit bleiben möchte, sagt sie…. Eine Etwa die Begrüßung per Handschlag Eine andere geht jetzt täglich für andere Mitarbeiterin hat sich mit der Hündin oder eine Umarmung unter Freunden. Menschen einkaufen: Sie sammelt die ihres Nachbarn angefreundet, und nun Oder auch die Rituale der Kirche: Alles Wünsche und macht dann einen Plan, machen sie ihren Spaziergang gemein- sinnlich Erlebbare fehlt dort jetzt gänz- was sie wo kauft und wann, sozusagen sam: sechs Beine über Obstwiesen und lich. Zwar gibt es vielerorts digitale Got- ein Mini-Projektmanagement. Das läge Wege, das Frühlingssummen der Bienen tesdienste oder Andachten, aber kein ihr. Eine weitere Mitarbeiterin entdeckt begleitet sie. Betreten eines sakralen Raumes, kein jetzt die Stille für sich, meditiert, immer Was davon bleiben wird, wenn die Weihwasser, kein Weihrauchduft, keine zur gleichen Uhrzeit. Mal zähle sie ihre Pandemie abgeebbt sein wird, weiß kei- Eucharistie……Und wer in diesen Tagen Atemzüge, immer bis zehn, mal brau- ner von ihnen. Sie stellen lediglich fest, heiratet oder trauert, muss dies im sehr che sie aber auch eine Stimme, die sie dass ihnen ihr neues Ritual, ihre neue kleinen Kreis tun und auf einen „Sicher- anleite. Ein Mitarbeiter, der in einer Gewohnheit guttut. heitsabstand“ achten. Fernbeziehung lebt, sieht seine Frau Und was guttut, geben Menschen Was bleibt jetzt, wenn viele persön- jeden Morgen beim Frühstück – auf dem bekanntlich nicht mehr so gern her. liche Gewohnheiten an andere Men- Bildschirm. Daran habe auch Corona (sdg) anstifter 2 | 2020 9
Schwerpunkt BTHG: ein revolutionäres Gesetz Chancen und Herausforderungen Schon der offizielle Titel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung“, macht deutlich, was das Ziel ist: die Lebenssituationen und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu verbessern und zu stärken. Dieses umfassende Gesetzespaket setzt sich in allen Lebensbereichen für mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen ein und stellt den Menschen mit seinen Bedarfen und Wünschen in den Mittelpunkt. Das BTHG ist seit Beginn des Jahres 2017 in Kraft. Die damit verbundenen neuen Regelungen werden bis 2023 stufenweise umgesetzt. Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2009 gab schaftlichen Verständnis einer inklusiven Gesellschaft orien- wichtige Impulse für das BTHG. Dort wird bereits eine gleich- tiert. Das Gesundheitsproblem oder die Behinderung werden berechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit nicht mehr als Eigenschaft der Person angesehen. Es berück- Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaft- sichtigt auch: Wo liegen Probleme in der Umwelt des Men- lichen und kulturellen Leben gefordert. Mit dem BTHG soll schen, die ihn daran hindern an der Gesellschaft teilzuhaben? man diesem Ziel näherkommen. Diesem Gesetz liegt zudem „Das ist ein modernes, innovatives, fachlich-attraktives und ein neuer Behinderungsbegriff zu Grunde, der sich am gesell- revolutionäres Gesetz“, so Jörg Munk, Geschäftsführer der Lie- 10 anstifter 2 | 2020
Schwerpunkt benau Teilhabe, „es birgt großartige Chancen, aber auch viele Menschen mit Behinderungen, denn sie werden die Unterstüt- Herausforderungen in sich“. Mit der Umsetzung des BTHG zungsleistungen erhalten, die mehr der eigenen persönlichen einher geht ein grundlegender Paradigmenwechsel, weg von Lebenslage und Bedarfssituation entsprechen.“ Allerdings einem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe hin zu einem moder- müssen die Betroffenen mit der Komplexität des Gesetzes aktiv nen Leistungsrecht und mehr persönlicher Selbstbestimmung. umgehen können. Sie tragen damit auch deutlich mehr Eigen- Das BTHG soll Menschen mit Behinderungen durch individuel- verantwortung für die Leistungen, die erbracht werden sollen. le Unterstützung die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und ein eigenständiges Leben ermöglichen. Im Mittelpunkt Der Bedarf wird festgestellt steht die so genannte Personenzentrierung. Die Frage für den Mit Hilfe eines Gesamtplanverfahrens sollen die notwen- einzelnen Menschen mit Behinderung lautet künftig: Wo und digen unterstützenden Leistungen ermittelt werden. Am wie will ich wohnen? Wie will ich leben? Wo will ich arbeiten? Gesamtplanverfahren ist der Mensch mit Behinderungen Wie will ich meine Freizeit verbringen? Dafür sind eine Reihe durchgehend zu beteiligen, seine Wünsche sind zu dokumen- von Veränderungen bei Abläufen und Prozessen auch inner- tieren und der individuelle Bedarf muss ermittelt werden. Das halb der Verwaltung nötig (s. Seite 14). Verfahren soll transparent, trägerübergreifend, interdiszipli- när, konsensorientiert, individuell, lebensweltbezogen, sozi- Die Leistungen alraumorientiert und zielorientiert sein. Fachleistungen der Eingliederungshilfe (Leistungen zur sozi- Eine echte Herausforderung für die 44 Stadt- und Landkreise alen Teilhabe, zur Teilhabe an Bildung, am Arbeitsleben, zur in Baden-Württemberg, die die Leistungen dann entsprechend medizinischen Rehabilitation, Unterstützungsleistungen zur festlegen und verantworten müssen. Die individuelle Hilfebe- Bewältigung des Alltags wie therapeutische Maßnahmen oder darfsermittlung orientiert sich nun an der ICF-Klassifikation persönliche Assistenz) werden zukünftig klar von den existenz- (International Classification of Functioning, Disability and sichernden Leistungen zum Lebensunterhalt (wie Wohnen, Health = Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Ernährung, Kleidung) getrennt und finanziert. Das ist ein ein- Behinderung und Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisati- schneidender Systemwechsel: Künftig entscheidet der Mensch on und den darin aufgeführten neun Lebensbereichen. Die ICF mit Behinderungen selbst, welche Unterstützungsleistung er ist dabei nicht primär defizit- sondern ressourcenorientiert. Es geht nicht nur um die Folge von Gesundheitsproblemen, son- dern immer um die Wechselwirkung der Teilhabeeinschrän- Der Mensch mit Behinderungen entscheidet selbst, kung mit der Umwelt. Das Modell bezieht Informationen aus welche Unterstützung er braucht. den Bereichen Körper (Biologie), Psyche und soziale Umwelt mit ein. Darum spricht man vom Bio-Psycho-Sozialen Modell der ICF. Um die ICF und ihre mehr als 1400 Items „handhab- bar“ zu machen, entwickeln geschulte ICF-Multiplikatoren in der Stiftung Liebenau eine Standardliste mit den relevanten braucht oder bekommen möchte. Die zu erbringenden Teil- Items (s. auch S. 12). habe- beziehungsweise Fachleistungen (Assistenzleistungen) orientieren sich an dem individuellen Bedarf der jeweiligen Die Begleitung des Einzelnen Person unabhängig von ihrer Wohnform. Daher soll es leis- Jeder Mensch mit Behinderungen wird in der Stiftung Liebe- tungsrechtlich keine Unterscheidung mehr zwischen stationär nau künftig eine Teilhabebegleitung haben, die ihn in den ver- und ambulant geben. In Zukunft muss sich also nicht mehr der schiedenen Lebensbereiche wie Wohnen, Bildung und Arbeit Mensch mit Behinderung einem „All-Inclusive“-Paket anpas- begleitet. Die Leistungserbringung wird optimiert und die vom sen, das dem Menschen mit Behinderungen oftmals im sta- BTHG geforderte Personenzentrierung umgesetzt (s. Seite 15). tionären Bereich geboten wird. Durch das BTHG müssen der Dies wird in Zukunft den Prozess „weg vom institutionell Leistungs- und Kostenträger sowie die jeweilige Einrichtung geprägten Fürsorger hin zum Erbringer von Dienst- und Unter- auf den individuellen Bedarf der einzelnen Person eingehen. stützungsleistungen beschleunigen“, so Munk. Allerdings blei- Dieser Systemwechsel stellt alle Beteiligten vor große Her- be der Gedanke der Fürsorge in der unmittelbaren Arbeit von ausforderungen, vor allem zu Fragen des Fallmanagements, Menschen für Menschen mit Behinderungen weiterhin selbst- der Verwaltung und des stationären Bereichs. Im Endeffekt verständlich. Munk ist überzeugt: „Das BTHG wird eine Zeit dient er aber der Transparenz und Personenzentrierung des benötigen, bis es seine Wirkung entfaltet, aber es wird seine Systems. Das sei, so Munk „ein Emanzipationsprozess für Wirkung entfalten!“ (al) anstifter 2 | 2020 11
Schwerpunkt ICF – eine gemeinsame Sprache Wie die Stiftung Liebenau ihre Mitarbeitenden schult Dr. Stefan Thelemann leitet aller Beteiligten bekommen wir mit der Anwendung des BPSM am Berufsbildungswerk ein differenzierteres Verständnis. Dies ist die Grundlage für Adolf Aich das ICF-Kompe- eine gute Planung für unsere Klienten. Mit der ICF haben die tenzzentrum. Mitarbeitenden ein besseres Fundament für unsere Unterstüt- zungsleistungen und -empfehlungen. Das wird sie zukünftig auch entlasten.“ Da die ICF ja nicht die Defizite eines Menschen in den Vor- dergrund stellt, sondern die Umweltfaktoren und ihre Anpas- sungen in den Fokus nimmt, liegen hier viele Gestaltungsmög- lichkeiten für Mitarbeitende und Leistungsträger. So kann für einen gehörlosen Menschen beispielsweise ein Computer das optimale Hilfsmittel sein. Für jemanden, der stark auf Umge- bungsgeräusche reagiert, wäre ein Großraumbüro nicht der richtige Arbeitsplatz. „Es geht darum, dass Barrieren soweit Zu den vielen Auflagen und Neuerungen, die das BTHG mit wie möglich abgebaut werden“, fasst Dr. Thelemann zusam- sich bringt, gehört die Anwendung der sogenannten ICF men. „Und da sind die Mitarbeitenden an der Basis am meisten gefragt, und es braucht Leitungskräfte, die sie dabei unterstüt- als Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und zen und Barrieren abbauen helfen.“ Gesundheit (siehe dazu auch S. 11). Ab diesem Jahr bietet die Die Aufgabe der Schulung bleibt eine dauerhafte. In der Stiftung Liebenau hierzu mehrere Fortbildungen an. Dr. Stefan akademischen Ausbildung, etwa bei Ärzten oder den sozialen Thelemann, Psychotherapeut und Facharzt für Kinder- und Studiengängen, wird die ICF inzwischen berücksichtigt und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des ICF-Kompetenzzentrums verstärkt gelehrt. Der praktische Bezug und die Umsetzung fehlen jedoch. „In der Stiftung Liebenau wird es Jahre dau- Liebenau am Berufsbildungswerk Adolf Aich (BBW), ist ern, bis wirklich alle geschult sind“, so der Fachmann. Für die maßgeblich für die Schulungen verantwortlich. Stiftung Liebenau wird die Schulung wohl eine Daueraufgabe sein. „Auch wenn wir Kurzschulungen anbieten, stehen wir Dr. Thelemann spricht von etwa 5000 bis 6000 Mitarbeiten- vor der Herausforderung, dass das erworbene Wissen gefestigt den, die an der Bedarfsplanung für die Klienten in der berufli- und nachgeschult werden muss.“ (sdg) chen Bildung, der Teilhabe, Pflege und Jugendhilfe mitwirken und deshalb geschult werden müssen. „Wir brauchen einen breiten Konsens in der Anwendung der ICF“, begründet er. Im Die neun Lebensbereiche nach der ICF BBW befasst man sich bereits seit rund 15 Jahren mit der ICF 1. Lernen und Wissensanwendung und insbesondere mit dem Bio-Psycho-Sozialen Modell (BPSM) 2. Allgemeine Anforderungen und Aufgaben als wesentlicher Grundlage. Aufgrund dieser Erfahrungen ist 3. Kommunikation das ICF-Kompetenzzentrum der Stiftung Liebenau auch im 4. Mobilität BBW verankert. 5. Selbstversorgung Neu für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist, dass sie 6. Häusliches Leben ein gemeinsames Verständnis des BPSM entwickeln und eine 7. Interpersonelle Interaktion und Beziehungen gemeinsame Sprache sprechen und denken lernen. Dr. Thele- 8. Bedeutende Lebensbereiche mann: „Bisher war die Basis in der Bedarfsplanung eher sub- 9. Gesellschaft jektiv geprägt, ohne eine entsprechende Leitlinie. Das ist nicht wertend gemeint, aber durch die Summe der Einschätzungen 12 anstifter 2 | 2020
Stiftung Liebenau Selbstständigkeit erwünscht! Axel Weigele ist Experte, wenn es um die praktische Umsetz- möchte. Welche seiner Wünsche leistungsrechtlich schließlich ung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) geht. Er ist einer der erfüllt werden, ist noch unklar, weil es in Baden-Württemberg noch keine abschließende Fachleistungssystematik für Assis- 31 Klienten im Bodenseekreis, die an einem von 29 Modell- tenzleistungen gibt. Das Modellprojekt arbeitet aber daran, projekten im Bundesgebiet mitwirken. Bis Ende 2021 sollen eine Grundlage zu entwickeln. auf diese Weise praktische Erkenntnisse rund um das neue Die Umsetzung des BTHG und somit die Ermöglichung von Gesetz gewonnen werden. Auch der Bodenseekreis beteiligt teilhabendem Leben braucht verschiedene Akteure. Gefragt sich zusammen mit der Stiftung Liebenau. sind Kommunen, Vereine und andere Menschen, Nachbarn, Mitbewohner zum Beispiel. Im Haus wird Wunsch- und Wahl- recht längst so weit wie möglich gelebt: Die Fachkräfte versu- Es ist offensichtlich: Wer in dieser Wohnung wohnt, wohnt chen, Wunsch-Aktivitäten durch Begleitung zu ermöglichen, gern hier. Die helle geräumige Einzimmerwohnung ist gepflegt ob Disco und Single-Party oder Ausflüge und Chorsingen, ist und aufgeräumt, aber auch gemütlich und wohnlich. Alles ist von Teamleiterin Ursula Ehrlinspiel zu erfahren. Fachkräfte vorhanden, Küchenzeile und Bad inklusive. Vor dem großen wie sie werden durch das BTHG immer mehr zu Moderatoren Fenster befindet sich nach Süden hin der Balkon. im Gemeinwesen: Sie sind diejenigen, die Kontakte herstellen, Das Appartement ist das Reich von Axel Weigele. Seit fünf organisieren und pflegen. Jahren lebt der Mann mit Down-Syndrom hier. Seit Anfang Axel Weigele dieses Jahres und mit Inkrafttreten des BTHG ist er selbst auch spielt Trompete Mieter. Die Wohnung befindet sich im Wohnhaus für Men- und Flügelhorn. schen mit Handicaps in Markdorf. Von hier aus macht sich der Zu seinem Wo- 32-Jährige jeden Tag auf zur Arbeit in die Werkstatt für Men- chenverlauf ge- schen mit Behinderungen (WfbM), ebenfalls in Markdorf. hört deshalb Durch das BTHG könnte sich für ihn manches ändern. Das eine Unterrichts- Gesetz setzt auf das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit stunde in der Einschränkungen. die Wünsche des gebürtigen Markdorfers nahegelegenen hören sich überraschend einfach an: „Dass ich meine Wäsche Musikschule in selbstständig waschen darf“ und „Unterstützung im Haushalt“. Markdorf. Bei Manche Pflichten im Haushalt würde er gerne mit Hilfe einer der Organisa- Person gemeinsam erfüllen. „Ich kann nicht einkaufen und tion des Musi- putzen gleichzeitig,“ sagt er. In manchen Zeiten werde ihm kunterrichts alles zusammen zu viel. halfen die Grundlage für die künftigen Leistungen ist das Bedarfsermitt- Fachkräfte, lungsgespräch mit dem neuen Bedarfsermittlungsinstrument hingehen BEI-BW. Dieses wurde auch im Rahmen des Modellprojekts im kann er Bodenseekreis getestet. Bei Axel Weigele liegt das Gespräch selbststän- etwa ein Jahr zurück. Seine Mutter Andrea Weigele als seine dig. Bei gesetzliche Betreuerin begleitete ihn. Mit am Tisch saßen die Auftritten Vertreterin des Landratsamtes als Leistungsträger, die das der Fami- Gespräch durchgeführt hat, sowie eine Fachkraft der Pflege- lienband kasse, bei der Weigele Pflegegrad 1 bescheinigt wurde. Auch „Weige- eine Vertrauensperson vom Haus war dabei. Für alle Beteilig- le Brass Band“ spielt er ten war die Gesprächssituation neu, erinnert sich Andrea Wei- selbstverständlich mit. Und dann fällt ihm noch ein Wunsch gele. Den Gesprächsverlauf hat sie sehr angenehm empfunden. ein: Er würde gerne fest in einer Band mitspielen. Das neue „Es wurde ein breites Spektrum abgefragt, es war richtig gut Leistungsrecht sollte bei dem Wunsch hilfreich sein. Und gemacht.“ Ihr Sohn hatte selbst die Möglichkeit zu schildern, vielleicht ein paar aktive Musiker, die ihn als Bandmitglied was ihm wichtig ist. Fußball etwa, und dass er tanzen lernen aufnehmen. (ao) anstifter 2 | 2020 13
Teilhabe mit Tücken: Das Bundesteilhabegesetz bringt für die betroffenen Menschen und ihre gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Ein Riesenaufwand für alle Beteiligten Mit der zu Jahresbeginn in Kraft getretenen nächsten Stufe Betreute im stationären Wohnen – oder wie es jetzt heißt: in des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) hat sich auch die „besonderen Wohnformen“ – bedeutet das einen grundlegen- den Systemwechsel bei der Finanzierung. Davon betroffen sind Leistungsabrechnung vor allem für jene Menschen mit mehr als 1000 Bewohnerinnen und Bewohner, sagt Anne Birk- Behinderungen geändert, die in Wohnheimen leben. Die hahn, stellvertretende Leiterin des Sozial- und Rechnungswe- Verwaltung der Liebenau Teilhabe hat mit der Umstellung sens und damit zuständig für die administrative BTHG-Umset- alle Hände voll zu tun – und versucht, es den Betroffenen und zung: „Wir machen im Team die gesamte Leistungsabrechnung deren Betreuerinnern und Betreuern so einfach wie möglich für Menschen mit Behinderungen mit den Kostenträgern.“ zu machen. Teil der Leistungen fließt aufs eigene Konto Das Geld für die Fachleistungen fließt weiter direkt an die Markus M. (Name geändert) lebt und arbeitet in Liebenau. Einrichtungen. Die Markus M. zustehenden Beträge für die Er hat eine schwere geistige Behinderung. Ob Kosten für Ver- Existenzsicherung werden nicht mehr mit dem Wohnheimträ- pflegung, Unterkunft, Assistenz bei Versorgung und Haushalts- ger abgerechnet, sondern zunächst ihm selbst ausbezahlt. Das führung oder die Unterstützung bei Freizeitaktivitäten: Bis- heißt: Markus M. braucht nun eigentlich ein eigenes Girokon- lang erhielt die Liebenau Teilhabe für diese Leistungen einen to, auf das die Sozialhilfeträger überweisen und von dem dann bestimmten Geldbetrag vom zuständigen Träger der Eingliede- die Rechnungen für Miete und ähnliches an die Liebenau Teil- rungshilfe. Dieses „Gesamtpaket“ wird nun vom BTHG aufge- habe bezahlt werden müssen. Und so bringen die Neuerun- schnürt. Dabei werden die Fachleistungen der Eingliederungs- gen durch das BTHG den Menschen mit Behinderungen zwar hilfe, zum Beispiel Therapien oder Assistenzleistungen, von „viele neue Rechte, aber auch Pflichten“, so Birkhahn. Mit dem den Leistungen zum Lebensalltag und den Kosten der Unter- entsprechenden zusätzlichen bürokratischen Aufwand für die kunft, also für Essen, Wohnung oder Bekleidung, getrennt. Für gesetzlichen Betreuer, meist Angehörige oder Ehrenamtliche.“ 14 anstifter 2 | 2020
Schwerpunkt Anträge einreichen, Zahlungen anweisen, Verträge neu schlie- existenzsichernden Leistungen, nicht aber die Zubereitung der ßen: „Manche sind verständlicherweise überfordert, weil es Speisen. Dieser Mehrbedarf muss gesondert geregelt werden. eben so komplex ist.“ Und was ist der persönliche Wohnraum und welche Bereiche Beteiligt sind schließlich auch viele Akteure. So liegen die fallen den Fachleistungen zu, etwa für Therapie? Was ist mit Zuständigkeiten für die einzelnen Sozialleistungen mal beim der Küche? Baupläne für alle Häuser mussten herangezogen, Bund, mal auf der kommunalen Ebene. Dann müssen bei- komplizierte Schlüssel berechnet werden. Umzüge werden spielsweise Renten, Wohngeld oder Werkstattlöhne mit ein- kompliziert. gerechnet werden. Um es allen Betroffenen etwas leichter zu Auch sonst hat Anne Birkhahns Abteilung seit Monaten alle machen, bietet die Liebenau Teilhabe – zumindest übergangs- Hände voll zu tun mit der BTHG-Umsetzung: Zahlungen müs- weise – deshalb die optionale Zahlungsabwicklung über Treu- sen angeglichen und überprüft, alle Verträge angepasst, jeder handkonten an. Vorteil für die gesetzlichen Betreuerinnen und individuelle Fall muss durchgearbeitet werden. Doch man Betreuer: Sie behalten die Kontrolle, müssen sich aber nicht gehe die Sache „sehr motiviert“ an, um das Ganze im Interes- um die Details kümmern. Eine Lösung, die gerne in Anspruch se der Menschen mit Behinderungen reibungslos umzusetzen. genommen wird. Die vollzogene formale Trennung der Leistungen sei das eine, doch gerade bei Personen mit schwerer geistiger Behinderung Lebensunterhalt oder Fachleistung? wie Markus M. müsse man aufpassen, dass sie auch inhalt- Doch welche Leistungen gehören nun eigentlich in welchen lich vom BTHG profitieren und nicht unterm Strich schlech- Bereich? Diese scharf zu trennen, ist in der Praxis ganz schön ter dastehen als zuvor. Denn schließlich gehe es bei allem um kompliziert. Zum Beispiel beim Mittagessen für Werkstatt- mehr Teilhabe für jeden Einzelnen. (ck) beschäftigte: Die reinen Lebensmittelkosten gehören zu den Teilhabebegleitung der Liebenau Teilhabe Nach und nach wird es nun in der Liebenau Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sein. Gemeinsam wird mehr Mitarbeiter geben, die als Teilhabebegleiter arbei- dann ein Plan erstellt, wie die im Gespräch gesammelten ten. Doch was genau machen diese Personen? Teilhabe- Anliegen am besten umgesetzt werden können. Der Teil- begleiter beraten die Leistungsberechtigten zu Angeboten habebegleiter ist dann dafür zuständig, die praktische der Einrichtung und unterstützen sie bei ihren Wünschen Umsetzung im Blick zu behalten. Da Leistungen oft Geld und Zielen. kosten, tauscht sich der Teilhabebegleiter über die Leis- Nehmen wir an, Herr M. möchte lernen, sich mit Hilfe tungen mit dem Leistungsträger aus, beispielsweise dem seines neuen Tablets besser mitzuteilen. Die Menschen, Landratsamt. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird es nun die Herrn M. unterstützen, sollten nun wissen, wie sie immer mehr Teilhabe- und Gesamtplanverfahren mit ihm dabei helfen können. Am besten funktioniert das, dem Leistungsträger geben. Damit der Teilhabebegleiter wenn alle dafür relevanten Personen an einem Tisch sit- einen guten Überblick behält, ist es sehr hilfreich, wenn zen. Das können zusätzlich zu Herrn M. und seinem Teil- er bei diesen Gesprächen dabei sein kann. So kann er den habebegleiter noch die Eltern, der gesetzliche Betreuer Leistungsberechtigten, hier Herrn M., am besten in seiner oder Mitarbeiter aus der Wohngruppe oder der Werkstatt Selbstbestimmung unterstützen und vertreten. anstifter 2 | 2020 15
Schwerpunkt Nicht zum Nulltarif! neuen Regeln durchgeführt wurden, hat er Sorge, dass Ange- hörige jetzt lockerlassen. Er rät: „Kaufen Sie sich eine Kladde und notieren Sie sich alles, was Ihnen bezogen auf die betreu- te Person einfällt, wie deren Lebensumstände sind, welche Unterstützung geleistet wird, vielleicht zusätzlich nötig ist, wie die Betreuten ihre Freizeit verbringen wollen, und, und, und.“ Die Angst vieler Eltern, dass es ihrem Kind schlechter gehen wird, ist nicht zu unterschätzen. Das BTHG sei auch an den Start gegangen, die Kostendynamik der Eingliederungshilfe zu brechen. Menschen, die gut für sich sprechen können, erwir- ken ihre Leistungen, ist Abrahamczik sich sicher. Dafür müsse dann an anderer Stelle gespart werden. Es gibt Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen, die sich nicht für sich selbst einsetzen können. Manche Eltern sind 70 oder 80 Jahre alt. Die haben sich einmal schweren Herzens durchgerungen, ihr Kind in eine Einrichtung zu geben, wo sie es gut betreut wissen. Sie hatten dadurch die Sicherheit, dass ihr Kind einen Platz hat, auch wenn sie selbst nicht mehr da sind. Mit dem BTHG fällt ihnen das Thema der Beantragung von Leistungen und der Bedarfsermittlung wieder vor die Füße, und sie haben Mit Gerold Abrahamczik sind Angehörige in Sachen Bundesteilhabe- Angst, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können, gesetz gut beraten. Doch aktuell sind viele Fragen rund um die Coro- so der Angehörigenverteter. „Ich kenne Angehörige, die sich na-Pandemie brennender für sie als das neue Gesetz. überlegen, die gesetzliche Betreuung abzugeben." Das könne aber nicht im Sinne des BTHG sein. Insgesamt braucht Perso- nenzentrierung mehr Geld. „Es gibt sie nicht zum Nulltarif!“ Abrahamczik beobachtet teilweise, dass es im stationären Wie schätzen Angehörige das Bundesteilhabegesetz und Wohnen am Wochenende teilweise Probleme mit der Teilha- seine Umsetzung ein und was ändert sich für sie? Antworten be gibt. Er nennt ein Beispiel: eine Gruppe mit acht Bewoh- nern, mehrere davon im Rollstuhl, einige mit schweren und auf diese Fragen weiß Gerold Abrahamczik, Sprecher des mehrfachen Behinderungen. Die fitteren Bewohnerinnen und Beirats der Angehörigen beim Bundesverband Caritas Bewohner leben heute in Wohnformen mit ambulanter Beglei- Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Der gewählte tung. Das Personal in den Wohngruppen werde aber aus Kos- Beirat vertritt Angehörige von rund 200 000 Menschen mit tenerwägungen vielfach nicht den gestiegenen Anforderungen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. an Begleitung und Betreuung angepasst. Am Wochenende sind womöglich nur zwei Mitarbeiter im Dienst. Wenn außer ihnen keiner da ist, der einen Rollstuhl schieben kann, fällt der Aus- Auch wenn der Systemwechsel noch dauern wird, rät Abra- flug für die ganze Wohngruppe aus. Durch den neuen Ansatz hamczik den Angehörigen, sich weiterhin gut vorzubereiten. der Personenzentrierung und der damit verbundenen persön- Er und sein Gremium hätten Betroffene, Angehörige, Betreuer lichen, individuellen Leistungserbringung erhofft er sich für das gesamte vergangene Jahr auf den Systemwechsel aufmerk- viele Angehörige erhebliche Verbesserungen. sam gemacht und sie gedrängt, sich frühzeitig mit der Bedarfs- Positiv bewertet Abrahamczik, dass andere Anbieter die Lücke ermittlung auseinanderzusetzen. In den Gesprächen würde füllen können, wenn eine Einrichtung persönliche Bedarfe man Fachleuten gegenübersitzen, man sei womöglich aufge- nicht leisten kann. So entsteht für die Menschen mit Behinde- regt und unsicher. Was dann nicht erwähnt wurde, dafür wird rungen Vielfalt und Wahlmöglichkeit in der Leistungserbrin- keine Leistung erbracht. Die gute Vorbereitung hilft. Da zum gung. Und es wird eine gewisse Konkurrenz am Markt entste- 1. Januar jetzt noch keine Bedarfsermittlungen nach den hen. (ao) 16 anstifter 2 | 2020
Schwerpunkt Traditionell gelebte Gleichstellung Das Vorarlberger Chancengesetz setzt Maßstäbe Als Mitglied der Europäischen Union setzt sich Österreich aktiv für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein. Dabei erfüllt Vorarlberg mit seinem Chancengesetz eine Vorreiter- und Vorbildfunktion: Es wurde am 10. Mai 2006 beschlossen, um die traditionell gelebte Selbstbestimmung und Teilhabe auch gesetzlich widerzuspiegeln. Dabei haben sich Menschen mit Behinderungen erstmals aktiv an der Ausarbeitung eines solchen Gesetzes beteiligt und ihm auch seinen Namen gegeben. Dr. Gabriele Nußbaumer, ehemalige Landtagsvizepräsidentin, ehemalige Präsidentin der Lebenshilfe Vorarlberg und seit 2015 Aufsichtsratsmitglied der Stiftung Liebenau, berichtet. Zehn Jahre später sind auf deutscher Seite bei der Erarbei- tung des Bundesteilhabegesetzes und seiner schrittweisen Gleichstellung in Österreich und Deutschland: Aufsichtsratsmitglied Umsetzung ebenfalls Menschen mit Behinderungen beteiligt. Dr. Gabriele Nußbaumer kennt die Unterschiede. Kann oder soll man die beiden Gesetze nun vergleichen? Wie gelingt der Blick über die Grenze? „Die Grundsätze und Ziele, den Lebenswelten normal ist und guttut, weil sie neue Kon- kurz, die Trennung von Arbeit und Wohnen sowie die größt- takte und Erfahrungen bringt. „Menschen mit Behinderungen mögliche Selbstbestimmung, sind dieselben“, sagt Dr. Gabriele sind in Vorarlberg nie aus dem öffentlichen Leben, dem famili- Nußbaumer. Sie kennt aus ihren früheren und aktuellen Funk- ären Alltag verschwunden“, sagt Dr. Gabriele Nußbaumer. tionenen die Entwicklungen in beiden Ländern gut und weiß: „Interessanter ist es, einen Blick auf die historisch gewachse- Weiter auf dem Weg zur Inklusion nen Unterschiede zu werfen.“ Das in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen erarbeitete Vorarlberger Chancengesetz wurde zum Vorbild Wohnhäuser statt Heime für andere österreichische Bundesländer. Doch auch in Vor- Denn: In Vorarlberg gab und gibt es – im Gegensatz zu arlberg arbeiten die Verantwortlichen weiterhin daran, der Deutschland oder anderen österreichischen Bundesländern – UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden. „Trotz keine größeren Einrichtungen für Menschen mit Behinderun- der traditionell gelebten Gleichstellung und der kleineren gen. „Die Lebenshilfe Vorarlberg hätte die Möglichkeit zum Einrichtungen gibt es auch in Vorarlberg noch genug Entwick- Bau von Großeinrichtungen gehabt. Doch der Interessensver- lungspotenzial auf dem Weg zur Inklusion“, weiß Nußbaumer. ein, der sich damals insbesondere aus Eltern zusammensetzte, „In Vorarlberg ebenso wie in ganz Österreich und Deutschland hat dies bewusst verhindert, damit Menschen mit Behinde- müssen Konzepte überarbeitet und Bauten umgewandelt wer- rungen in ihrem sozialen Umfeld sichtbar bleiben“, erklärt Dr. den, damit Menschen mit Behinderungen gleichgestellt am Gabriele Nußbaumer, selbst Angehörige. So wurden in Vorarl- Wohnen, Arbeiten und an der Freizeitgestaltung teilhaben berg nie Heime gebaut, sondern Wohnhäuser für zehn bis 15, können. Als sehr konsequent empfinde ich da die Stiftung maximal 20 Menschen mit Behinderungen. Von Anfang an galt Liebenau. Denn ich spüre deutlich, dass sie für größtmögliche außerdem das Zwei-Milieu-Prinzip: Niemand sollte im glei- Selbstbestimmung sorgt und bei ihren Entscheidungen tat- chen Milieu arbeiten und wohnen, weil eine Distanz zwischen sächlich der Mensch im Mittelpunkt steht.“ (ebe) anstifter 2 | 2020 17
Leichte Sprache Das Bundes-Teilhabe-Gesetz Jeder Mensch hat eigene Wünsche. Jeder Mensch hat eigene Vorstellungen. Auch Menschen mit Behinderungen sagen: So will ich leben. So will ich arbeiten. Das will ich in meiner Freizeit machen. In Deutschland gibt es ein neues Gesetz. Es heißt Bundes-Teilhabe-Gesetz. In kurz sagt man: BTHG. Das Bundes-Teilhabe-Gesetz macht viel möglich. Es sagt zum Beispiel: Jeder darf selbst aus-wählen. Das Gesetz bringt viele Veränderungen Das neue Bundes-Teilhabe-Gesetz sagt: Ab 2020 gibt es 2 Bereiche von den Leistungen. Zum einen Bereich gehören: Miete, Essen und was man jeden Tag braucht. Manche haben zu wenig Geld dafür. Das Geld kommt vom Sozial-Amt. In Alltags-Sprache heißen diese Leistungen. Existenz-sichernde Leistungen. Die anderen Leistungen heißen Fach-Leistungen. Das sind Leistungen speziell für Menschen mit Behinderungen. Zum Beispiel für Therapie. Oder für die Begleitung bei einem Konzert oder einem Ausflug. Das Geld kommt vom Landrats-Amt. 18 anstifter 2 | 2020
Schwerpunkt Der Wunsch nach Unterstützung Axel Weigele wohnt in Markdorf. Er wohnt in einer schönen Ein-Zimmer-Wohnung. Er mag es sehr sauber und gepflegt. Manchmal ist ihm die Arbeit im Haushalt aber zu viel. Er wünscht sich hin und wieder Unterstützung. Er will auch gerne in einer Musik-Gruppe mitspielen. Das Bundes-Teilhabe-Gesetz macht es vielleicht möglich. Axel Weigele macht auch bei einem speziellen Projekt mit. Der Bodenseekreis und die Stiftung Liebenau machen es. Alle finden zusammen heraus, wie das neue BTHG im Alltag sein muss. Das neue Gesetz macht viel Arbeit Gerold Abrahamczik ist Sprecher von den Angehörigen. Er vertritt sehr viele Menschen mit Behinderungen. Er sagt: Angehörige finden das Bundes-Teilhabe-Gesetz gut. Aber manche haben auch Angst. Sie sagen: Menschen mit sehr schweren Behinderungen bekommen vielleicht nicht, was sie brauchen. Fach-Leute in der Verwaltung müssen viel umstellen. Zum Beispiel die Abrechnungen. Alle Mitarbeiter bekommen Schulungen. Sie müssen alle das Gleiche wissen. Zum Beispiel wie man heraus-findet, was jemand genau braucht. Doktor Stefan Thelemann schult die Mitarbeitenden. Er arbeitet beim Berufs-Bildungs-Werk Adolf Aich. Das Berufs-Bildungs-Werk hat Erfahrung mit dem neuen System. anstifter 2 | 2020 19
Stiftung Liebenau Teilhabe und Familie Medaillen für die Champions Eine Woche so aufregend wie erfolgreich: Die zehn Winter- henten legte Sabine Vogel einen Traumlauf im Slalom hin und sportler des Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungs- holte sich sensationell die Silbermedaille. zentrums (SBBZ) Don-Bosco-Schule maßen sich bei den Natio- Ein letzter Höhepunkt folgte kurz vor Ende der Nationa- nalen Winterspielen von Special Olympics Deutschland mit len Spiele. Im 4 x 100-m-Staffel-Schneeschuhlauf startete das anderen Aktiven. Insgesamt gingen Anfang März 900 Wett- Team der Don-Bosco-Schule mit zwei Mannschaften. Unter kämpfer mit geistigen Behinderungen an den Start. dem frenetischen Jubel der Zuschauer trieben sich alle Teil- Nach der Einstimmung konnte nichts mehr schieflaufen: Der nehmer zu Höchstleistungen an. Auf der Zielgeraden lieferte Ankunft und der offiziellen Akkreditierung im Alpen-Congress sich Marco Mayer ein enges Rennen mit der Konkurrenz und folgte abends der erste Höhepunkt. Vor Tausenden von Gästen schaffte es, die Silbermedaille für sein Team zu sichern. wurden die Spiele mit einem bunten Spektakel am Königssee Stolz und Freude über das Geleistete und Erlebte überwo- gebührend eröffnet. Doch schon bevor das Olympische Feuer gen die ganze Woche. Zurück auf dem Hegenberg wollten die entzündet wurde, waren die Hegenberger Feuer und Flamme. jungen Sportlerinnen und Sportler nur noch los und möglichst Gleich am ersten Tag der Finals gelang es ihnen, einen gan- jedem die Medaillenausbeute zeigen. (fh) zen Satz an Medaillen zu gewinnen. Besonders hervor getan haben sich die Zwillinge Max und Moritz Pärschke. Max sicher- te sich beim 100-m-Schneeschuhlauf Gold. Sein Bruder Moritz Silber. Ebenfalls auf das Podest kam Kevin Kurtz, der die Bron- Sponsoren mit im Boot zemedaille gewann. Schwieriger indes hatten es die Athleten Die Teilnahme an derart großen Sportveranstaltungen im alpinen Skilauf. Nach sehr guten Fahrten bei der Klassi- stellt einen finanziellen Kraftakt dar. Anreise, Unter- fizierung wurden Sabine Vogel und Fabian Romer einer star- kunft, Verpflegung, Ausrüstung: All das kann nur durch die Unterstützung von Sponsoren realisiert werden. So ken Konkurrenz zugeteilt. Beide bestätigten im Riesenslalom stellten Sport Reischmann die Skibekleidung, die Firma jedoch ihre gute Form und belegten mit dem vierten und sechs- Voplan Trainingsanzüge und das Autohaus Zwerger ten Platz ausgezeichnete Ränge im großen Teilnehmerfeld. einen Team-Bus zur Verfügung, außerdem leisteten die Am vorletzten Tag der Entscheidungen bewiesen die Schnee- WGV-Versicherungen, das Uli Schuh Büro- und Kom- schuhläufer bei den Langdistanzen über 200 Meter große Aus- munikationszentrum und die Radio 7 Drachenkinder Spenden für die Reise zum Austragungsort. dauer. Sowohl Nico Pätzel als auch Miro Stiewe-Geiger rannten Allen Sponsoren herzlichen Dank! in ihren Läufen als erste durchs Ziel und bekamen hochver- dient die Goldmedaille. Völlig unbeeindruckt von den Kontra- 20 anstifter 2 | 2020
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