2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau

 
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2|2020
 Magazin der Stiftung Liebenau

Bundesteilhabegesetz:
innovativ, revolutionär,
anspruchsvoll            10

Special Olympics: Sportler
räumen Medaillen ab              20

Erstmalig: neues Haus
der Pflege in Franken            23
2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Inhalt
    3      Editorial
                                                       5                                                  Infos online
    27     Impressum                                 150 Jahre Stiftung Liebenau: In solch einer langen
                                                     Zeit gibt es viel zu erzählen. Machen Sie mit und    Themendossier:
    28     Spot an: Franziska Eggert
                                                     schicken Sie ihre Geschichte.                        Informieren Sie sich umfassend in
                                                                                                          unseren Themendossiers „Arbeiten“,
    Stiftung Liebenau
                                                                                                          „Sozial digital“, „Den Menschen zuge-
    4      Impuls: Unberührte Nähe                                                                        wandt“, „Medizin und Gesundheit“,
    5      150 Geschichten: Machen Sie mit!                                                               „Gute Arbeit“, „Besondere Familien“ und
    7      Leben in Zeiten von Corona                                                                     „Wohnen“ unter
    8      kurz und knapp                                                                                 www.stiftung-liebenau.de/
                                                                                                          themendossiers
    8      Nicht ohne Rituale – aber anders

    Schwerpunkt:                                                                                          „Anstifter“ als e-book:
                                                                                                          www.stiftung-liebenau.de/anstifter
    Bundesteilhabegesetz – innovativ,
    revolutionär, anspruchsvoll
    10     Die Chancen und Herausforderungen                                                              Newsletter „Liebenau inklusiv“

    12     ICF – eine gemeinsame Sprache
                                                      10                                                  Bestellen Sie den Newsletter
                                                                                                          „Liebenau inklusiv“ unter
    13     Axel Weigele will Selbstständigkeit       Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vollzieht einen
                                                                                                          www.stiftung-liebenau.de/inklusion
    14     Riesenaufwand für alle                    Perspektivwechsel: Der einzelne Mensch mit sei-
                                                     nem Wunsch- und Wahlrecht steht im Mittelpunkt.
    15     Begleitung zur Teilhabe
    16     Angehörige brauchen Vorbereitung
    17     Österreich lebt Gleichstellung
    18     Das Bundes-Teilhabe-Gesetz

    Aus der Praxis
    20     Bei Special Olympics gewinnen viele
    21     Nähwerk näht, um andere zu schützen
    22     Herausforderndes Verhalten verstehen
    23     Großes Interesse an Haus der Pflege
    23     Lebensräume für Ottobeuren                                                                     Gefällt mir!
    24     Fußballer qualifizieren sich
                                                      21
                                                                                                          Auf Facebook und Instagram versorgen
    25     So schützt man sich vor Gewalt            Engagement und Ideen sind in Zeiten von Corona       wir Sie mit Neuigkeiten, Veranstaltungs-
    25     Gewaltprävention in der Praxis            besonders gefragt: Die Nähwerkstatt näht Mund-       tipps und Wissenswertem aus der Stif-
                                                     schutz für Kunden und Kollegen.                      tung Liebenau. Einfach reinklicken, liken
    26     Neue Leitung für Heim
                                                                                                          und teilen. Sie finden uns auf beiden
    26     Die Krise führt zusammen
                                                                                                          Kanälen über den Suchbegriff „Stiftung
    27     Wir sagen Danke!                                                                               Liebenau“.

         Text in Leichter Sprache

         Mit dem Anstifter informieren wir regel-
         mäßig über Ereignisse, Themen und Pro-
         jekte in der Stiftung Liebenau. Dazu ver-
         wenden wir personenbezogene Daten.
         Sie werden mit der nötigen Sorgfalt und
         unter Beachtung des gesetzlichen Daten-
         schutzes verarbeitet. Für Informationen      26
         über die gespeicherten Daten, zur Ergän-
                                                     Das Sozialtherapeutische Heim hat eine neue Lei-
         zung, Korrektur oder Löschung wenden
                                                     tung: Sabine Schampel ist zusammen mit dem bis-
         Sie sich bitte an die Redaktion. Weitere
                                                     herigen Leiter Alfons Ummenhofer verantwortlich.
         Informationen über unsere Datenschutz-
         maßnahmen finden Sie hier:
         www.stiftung-liebenau.de/datenschutz.

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2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Editorial

                                                                                                               Wie ist Ihre
                                                                                                               Meinung?
                                                                                                               Die Vorstände der
                                                                                                               Stiftung Liebenau
                                                                                                               freuen sich auf
                                                                                                               Ihre Rückmeldung:
                                                                                                               vorstand@
                                                                                                               stiftung-liebenau.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

  dass das Jahr 2020 ein historisches Jahr für die        Weltkrieg, als die Nationalsozialisten die Hälfte
Stiftung Liebenau werden würde, wussten wir               unserer Bewohner ermordeten.
schon lange. Anlässlich ihres 150-jährigen Beste-           Wir wissen vergleichsweise wenig darüber, wie
hens stand uns ein Festjahr bevor, auf das wir uns        es den damaligen Akteuren in der Stiftung Liebe-
vorbereitet hatten. Feiern werden wir nun nicht,          nau in diesen Krisen ging. Kaum Persönliches ist
zumindest nicht in der geplanten Form. Dass uns           überliefert. Was wir aber wissen, ist, dass sie so
durch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus           gehandelt haben, wie es die Situation erfordert
eine Krise historischen Ausmaßes treffen würde,           hat. Sie haben das getan, was in dem Moment
kam unverhofft.                                           getan werden musste und was sie tun konnten.
                                                          Sie haben Menschen gepflegt, geschützt, mit
  Die Stiftung Liebenau hat in ihrer 150-jährigen         Essen versorgt, Pläne erstellt, und vieles mehr.
Geschichte schon mehrere große Krisen erlebt.             Genau das tun wir jetzt auch: Gemäß unserem
Oder besser gesagt: Die Menschen, die in der              Leitwort „In unserer Mitte – Der Mensch“ sind
Obhut der Stiftung Liebenau waren, und die, die           wir dem einzelnen Menschen verpflichtet. Denn
bei ihr arbeiteten, waren ihre Zeugen. Da war der         gerade in dieser Zeit kommt es auf jeden einzel-
erste Weltkrieg, deren Auswirkungen die Men-              nen an. Auf sein Tun und Lassen. Das führt uns die
schen vor allem durch Lebensmittelknappheit               Ausbreitung des Virus deutlich vor Augen.
spürten. Auch an der damals kaum behandelba-
ren Tuberkulose erkrankten in Liebenau viele                Und eines ist auch klar: Wenn diese Pande-
Menschen. Sie wurden, wie heute, isoliert. Vor            mie beendet ist, werden wir nicht mehr diesel-
ziemlich genau 100 Jahren grassierte die Spani-           ben sein wie vorher. Wie wir sein werden und
sche Grippe, der weltweit 20 – und nach neueren           vor welchen Aufgaben wir stehen werden, wis-
Forschungen sogar 50 – Millionen Menschen erla-           sen wir heute noch nicht. Fest steht aber eines:
gen. Den finanziellen Beinah-Kollaps erlebte die          Unsere Wahrnehmung füreinander und unser
Stiftung Liebenau 1923, am Höhepunkt der Infla-           Verantwortungsgefühl werden durch diese Krise
tion. Die schwerste Zeit kam mit dem Zweiten              gestärkt. Darauf können wir aufbauen.

Das meint Ihr Vorstand       Prälat Michael H. F. Brock        Dr. Berthold Broll       Dr. Markus Nachbaur

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Stiftung Liebenau

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                                                                                              von Prälat Michael H. F. Brock

      Heute ist der 3. April 2020. Das stimmt doch gar nicht, wer-     wir anders sein werden. Jedenfalls träume ich davon. Ich träu-
    den Sie denken. Heute, da Sie diese Zeilen lesen, ist es Mai.      me, dass das Händeschütteln ein Zeichen des Vertrauens sein
    Aber heute – wie gesagt – ist es Anfang April, und ich bin gebe-   darf, eine Umarmung Geborgenheit schenkt und Zuneigung
    ten worden, diesen Impuls zu schreiben. Ich habe aber keine        ausdrückt, die von Herzen kommt. Ich träume davon, dass Zeit
    Ahnung, welche Worte im Mai wichtig und richtig wären. Gel-        nicht mehr verschwendet wird, sondern geteilt, genossen und
    ten die Ausgangsbeschränkungen wegen Corona noch? Ist              mit Sinn erfüllt. Ich träume davon, dass wir unser Leben nach
    ausreichend Schutzausrüstung vorhanden? Sind die Zahlen            wie vor als zerbrechlich ansehen werden, aber uns nicht mehr
    der Infektionen bereits gesunken? Wie viele Menschen wer-          fürchten müssen. Ich träume davon, dass Achtsamkeit zur
    den gestorben sein? Funktioniert unser Gesundheitssysthem          Gewohnheit geworden ist, nicht voreinander, sondern fürein-
    noch? Wie steht es in der Pflege und Betreuung? Wie geht es        ander. Ich träume davon, dass wir ein Gespür für Einsamkeit
    den Menschen, die wir betreuen und wie geht es unseren Mit-        entwickelt haben, das uns näher zusammenbringt, uns Ein-
    arbeiterinnen und Mitarbeitern?                                    samkeit zu ersparen. Denn Einsamkeit braucht kein Mensch.
      Heute, Anfang April, habe ich nur Fragen und keine Ant-          Vielleicht haben wir Stille wieder schätzen gelernt und Ruhe.
    worten. Ich sehe aus meinem Fenster hinunter in den Garten,        Ich wünsche mir wieder Briefe im Briefkasten, die lange unter-
    auf den Platz vor dem Liebenauer Schloss, Richtung Kantine         wegs waren, und dass die Zeit, die wir einander schenken, als
    und Kirche. Es ist niemand unterwegs. Die Veranstaltungen          Geschenk empfunden wird. Ich träume davon, dass die Toten
    im Schloss sind abgesagt, die Kantine geschlossen, keine Got-      nicht vergessen werden und die Gesunden das Geschenk des
    tesdienste, Ausgangsbeschränkung. Mehr als zwei Menschen           Lebens nicht zu selbstverständlich nehmen.
    sollen nicht zusammen sein an öffentlichen Orten. Die Sonne          Und ich wünsche mir, dass wir im Jahr 2021 wieder feiern
    scheint, es geht ein eiskalter Wind.                               können, das Leben, uns selbst und mit anderen, ein Fest dank-
      Und Mitte Mai? Ich weiß es nicht. Angst, Zuversicht, Nähe,       baren Lebens, ein ehrliches Fest, weil wir endlich wieder wis-
    Distanz, Hamster, Einsamkeit, Freude, Feiern, oder Quarantä-       sen, auf was es ankommt. Achtsamkeit, die treu bleiben wird,
    ne? Ich weiß es nicht. Aber ich ahne, was in ein, zwei Jahren      und Begegnungen, die glücklich machen. Sorgen, die ernst
    sein wird. Zumindest habe ich einen Traum davon, auch eine         genommen werden, und Nähe, die nie mehr unberührt sein
    Hoffnung. Im Mai 2021 wird die Welt eine andere sein, weil         wird. Ich wünsche mir das Leben zurück, ein geborgenes.

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2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Stiftung Liebenau

                                                                 Jubiläumsfeiern:
                                                                damals und heute

     Erstens kommt es anders und zwei-       worden, Fremde wurden einquartiert,           Haben Sie auch eine Geschichte aus
  tens als man denkt, soll Wilhelm Busch     Gebäude und Anlagen beschädigt. Das         der Stiftung Liebenau zu erzählen?
  einmal gesagt haben. Das 150-jährige       Jubiläum wurde daher nur im kleinen         Wir freuen uns über Erinnerungen –
  Jubiläum der Stiftung Liebenau wird        Rahmen gefeiert. Am 18. Oktober 1945        heitere und ernste, besinnliche und
  auf jeden Fall anders als gedacht. Zum     gab es einen Festgottesdienst, der          kritische. 150 Geschichten aus der
  Schutz vor dem Coronavirus wurden          anschließende Festakt fand im Freien        Geschichte wollen wir veröffentlichen.
  alle Jubiläumsveranstaltungen im           bei der Kirche statt.                       Mehr als 40 sind schon zusammen-
  ersten Halbjahr 2020 abgesagt. Des-          In der Festschrift von 1945 heißt es:     gekommen, nachzulesen im Internet
  halb wurde das Jubiläum kurzerhand         „Fast alle wichtigen Tage unseres Hau-      unter
  ins Internet verlegt. Auf der Website      ses fielen in dunkle Zeiten unseres Vol-    150jahre.stiftung-liebenau.com
  150jahre.stiftung-liebenau.de gibt es      kes. Eröffnet wurde die Anstalt in den
  allerlei Wissenswertes und Unterhalt-      Schrecken des deutsch-französischen
  sames aus 150 Jahren Stiftung Liebe-       Krieges 1870; das 50-jährige Jubiläum       Schenken Sie uns Ihre Geschichte!
  nau – garantiert ansteckungsfrei.          feierten wir im schweren Nachkriegs-        Sie erreichen uns per Post an
     Zum Beispiel wird davon erzählt,        jahr 1920 mit all seiner Not, und die       Stiftung Liebenau – 150 Geschichten
  wie früher Jubiläum gefeiert wurde.        gleiche Not lastet heute nach dem Ver-      Siggenweilerstraße 11
  Das 75-jährige Bestehen fiel ins Jahr      lust des weit schrecklicheren 2. Welt-      88074 Meckenbeuren
  1945. Zu dieser Zeit musste die damali-    krieges auf uns. Soll das nicht ein Sinn-   per E-Mail an
  ge Heil- und Pflegeanstalt viel Schreck-   bild sein, dass Liebenau eine Aufgabe       150jahre@stiftung-liebenau.de
  liches verarbeiten. Im Nationalsozialis-   zu erfüllen hat als Au der Liebe in einer   oder am Telefon
  mus waren viele Liebenauer ermordet        Welt des Hasses?“                           unter +49 751 364 49 94.

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2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Stiftung Liebenau

             In Zeiten von Corona
    Die Corona-Pandemie stellt unser Leben auf den Kopf. Vor allem der Verzicht auf die die gewohnten sozialen Kontakte trifft viele
    hart. Wie Menschen mit und ohne Behinderungen im Alltag mit der Situation umgehen, welche neuen Ideen sie entwickeln und
    was sie sich wünschen, lesen Sie hier.

     Ältere Menschen
          bleiben cool
      Angst ist okay, aber Gelassenheit
    macht´s gerade leichter. Susanne Baur,
    Gemeinwesenarbeiterin in den Lebens-
    räumen für Jung und Alt in Bad Wur-
    zach, schildert die Stimmung unter den
    63 Bewohnerinnen und Bewohnern. Sie
    hat allen Grund, auf die tolle Nachbar-
    schaft stolz zu sein.

                                         Solidarität gewünscht
       Auf Abstand kann Eric Albrecht in sei-   mit Ruhe, Gelassenheit und Humor. Für
    ner Arbeit nicht gehen. Er ist Wohngrup-    die Zeit nach Corona hat er schon einen
    penleiter im Fachzentrum in Hegenberg.      Wunsch: „Wir – in den sozialen Berufen
    Wegen der geschlossenen Schulen und         – sind auf einmal diejenigen, die unsere
    Werkstätten spielt sich das Leben der       Gesellschaft am Laufen halten. Hoffent-
    zwölf Betreuten gerade so oft wie mög-      lich bleibt von all dem Respekt und der
    lich im gemeinsamen Garten ab. Dem          Solidarität etwas übrig, wenn die Krise
    drohenden Lagerkoller auf der Wohn-         vorbei ist und wir wieder zur Tagesord-
    gruppe begegnen er und sein Team aber       nung übergehen.“

                                                                                            Bilder und Briefe -
                                                                                               ganz persönlich
                                                                                              Viele Seniorinnen und Senioren müs-
                                                                                            sen auf den Besuch ihrer Liebsten ver-
                                                                                            zichten. Vergessen sind sie aber nicht!
                                                                                            In vielen Häusern der Pflege gehen seit
                                                                                            einiger Zeit sehr liebevolle Briefe und
                                                                                            selbstgemalte Bilder von Kindern und
                                                                                            Nachbarn ein.

6                                                                                                                 anstifter   2 | 2020
2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Uns geht es soweit gut. Wir gehen nicht einkaufen,
                                                                 das macht unsere Betreuerin vom Ambulant Betreuten
                                                                 Wohnen. Wenn es schön ist, gehen wir spazieren – drei
                                                                 bis vier Kilometer. Bewegung ist wichtig, sie stärkt die
                                                                 Körperabwehr. Natürlich halten wir uns an die Vorga-
                                                                 ben: zwei Meter Abstand, keine Hand geben usw. Natür-

 Kaffeekränzchen mal anders                                                            lich viel Obst und Gemüse mit
                                                                                       Vitamin C essen. Wir wünschen
                                                                                       allen, dass sie gesund bleiben
  Ein Mittwoch ohne das gemeinsame Kaffeetrinken? Das
                                                                                       und für die Familien dasselbe.
kommt für die Bewohner der Lebensräume für Jung und Alt in
                                                                                       Torsten und Maria Calamiello,
Kressbronn nicht in Frage. Und da Pandemie eben auch erfin-
                                                                                       begleitet von den Ambulanten
derisch macht, findet die gemütliche Runde jetzt halt über
                                                                                       Diensten
mehrere Etagen statt.

                                                                    Manchmal gehe ich spazieren. Was ganz wichtig ist,
                                                                 ist Abstand zu halten. Ich bin froh, wenn wir wieder
                                                                 alles machen können, wenn der normale Ablauf wieder
                                                                 geht, wenn man raus kann, wenn man am Bodensee
                                                                 wieder spazieren gehen kann, wenn man Freunde tref-
                                                                                      fen kann. Am meisten vermisse
                                                                                      ich meine Arbeit und meine Kol-
                                                                                      legen. Ich wünsche mir, dass die
                                                                                      Hamsterkäufe aufhören und dass
                                                                                      es für alle wieder gut weitergeht.
                                                                                      Jens Haug (34), Beschäftigter WfbM-
                                                                                      Außengruppe Gala-Bau

Laden und Lieferservice
sichern die Versorgung                                              …ich vertreibe mir die Zeit mit Lesen, Spazieren-
                                                                 gehen, Malen nach Zahlen. Ich vermisse am meisten
                                              Das Team vom       meine Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen. Es ist
                                            Liebenauer Land-     wichtig, sich selber einen Ruck zu geben und sich zu
                                            leben ist auch in    motivieren. Mit meiner Mitbewohnerin gehe ich oft
                                            Zeiten der Coro-     spazieren. Manchmal machen wir ein Spiel zusammen.
                                            na-Pandemie für      Mit meiner Betreuerin unterhalte ich mich draußen: Ich
                                            die Kundschaft       sitze auf der Bank vor dem Haus, sie steht ein Stück weit
                                            da. Hier ist alles   weg von mir. Ich freue mich am meisten darauf, wenn
                                            für den täglichen    ich wieder zur Arbeit gehen kann. Ich wünsche allen,
                                            Bedarf zu finden                            dass sie gesund bleiben und trotz
                                            – von saisonalem                            harter Einschnitte den Kopf nicht
Gemüse direkt aus den Liebenauer Gewächshäusern über                                    hängen lassen. Ein Tipp: Manch-
Fleisch und Wurstwaren, Getränken aus eigener Herstellung                               mal hilft es, zu telefonieren oder
bis hin zum Toilettenpapier.                                                            einen Brief zu schreiben.
  Für alle, die nicht direkt vorbeikommen können, gibt es                               Irmgard Weiland (63), begleitet
zusätzlich einen Lieferservice. Bestellungen per Telefon Mon-                           von den Ambulanten Diensten,
tag und Mittwoch von 9 bis 11 Uhr oder jederzeit per Mail wer-                          WfbM-Beschäftigte
den am Folgetag nach Hause geliefert. Ab einem Bestellwert
von 60 Euro sogar versandkostenfrei.

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              Tarifverhandlungen                                                    575 000 Pflegekräfte
          wegen Corona-Pandemie                                                           angesprochen
                       ausgesetzt
      Angesichts der Entwicklungen rund um die Verbreitung
    des Coronavirus/COVID-19 finden die bisher geplanten Ver-
    handlungsrunden in der Tarifauseinandersetzung zwischen
    Liebenau Leben im Alter und der Gewerkschaft ver.di nicht
    statt. Diese Entscheidung haben beide Verhandlungspartner,
    Geschäftsführung Liebenau Leben im Alter und Gewerkschaft
    ver.di, getroffen.                                                Pflegekräfte werden in der Corona-Krise mehr denn je
      Angesichts der Entwicklungen halten es beide Seiten für       gebraucht, viele Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen und
    unverantwortlich, den Beteiligten die zahlreichen Reisen und    Krankenhäusern arbeiten am Rande der Erschöpfung. Die Ver-
    Besprechungen zuzumuten, die mit einer Verhandlung ver-         sorgung von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Patientin-
    bunden wären. Der Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitar-        nen und Patienten ist gefährdet.
    beiter hat in dieser Situation absoluten Vorrang, ebenso wie      Um die Alten-, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen zu
    die Verantwortung für die Bewohnerinnen und Bewohner der        unterstützen, wurde die Aktion „Pflegesterne“ ins Leben geru-
    Häuser der Pflege.                                              fen, eine breite gesellschaftliche Bewegung, die ehemalige
      Die Verhandlungsführer der Liebenau Leben im Alter wol-       Pflegekräfte anspricht und kurzfristig und unbürokratisch mit
    len damit keinesfalls Tarifvertragsverhandlungen hinauszö-      suchenden Einrichtungen zusammenbringt. Initiatoren sind
    gern. Sie wissen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viele   der Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft (Vedi-
    Erwartungen an einen zeitnahen Abschluss eines Tarifver-        so), das soziale Start-up mitunsleben und die Unternehmens-
    trages haben. Deshalb hat das Unternehmen vorab freiwillig      und Personalberatung contec.
    einen Einmalbetrag an alle Mitarbeitenden bezahlt. Dieser         Expertenschätzungen gehen davon aus, dass rund 575 000
    Einmalbetrag soll dann in das Gesamtvolumen einfließen, das     Pflegekräfte nicht mehr in ihrem angestammten Beruf tätig
    abschließend verhandelt wird. Mit diesem Schritt leistet die    sind. Ihre fachliche Hilfe und Unterstützung werden aber in
    Liebenau Leben im Alter einen Beitrag zu einem fairen Ver-      der aktuellen Krise noch dringender benötigt. Die Aktion „Pfle-
    handlungsergebnis, das den Erwartungen der Arbeitnehmer         gesterne“ spricht diese Fachkräfte mit einer großen Kampag-
    entgegenkommt, aber natürlich auch für das Unternehmen          ne an und gibt Einrichtungen die Möglichkeit, ihren Bedarf
    leistbar, marktgerecht und zukunftsfähig ist.                   schnell und unkompliziert auf der Plattform anzugeben. Die
      Die verhandlungsfreie Zeit nutzen beide Seiten, um verein-    Registrierung und die unbürokratische Vermittlung auf der
    barte Berechnungen fertigzustellen und auszutauschen.           Plattform sind möglich unter www.pflegesterne.de.

       Termine

       Keine Veranstaltungen bis Juli
       Aufgrund der Corona-Pandemie finden bis zu den Sommerferien keine
       öffentlichen Veranstaltungen statt. Die Corona-Pandemie macht es
       unmöglich, die Gesundheit der zu erwartenden Gäste zu schützen. Dies
       betrifft auch das Festwochenende vom 10. bis 12. Juli 2020.                        Über neue Termine halten wir Sie
       Wie es weitergeht im Jubiläumsprogramm, ist momentan noch ungewiss.                weiterhin auf dem Laufenden unter:
       Mitarbeitende können sich aber jetzt schon freuen: Die fürs Jubiläumsjahr          www.stiftung-liebenau.de/
       geplante Liebenauer Musiknacht wird auf 2021 verschoben.                           aktuelles/termine

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                                                       Ohne geht es nicht –
                                                        aber es geht anders
                                                                                               Rituale in Zeiten von Corona

Rituale und Gewohnheiten geben dem            schen gebunden sind? Menschen sind            jetzt nichts geändert. Er sei halt doch ein
Leben Struktur, den Menschen Halt und         zwar „Gewohnheitstiere“, aber sie sind        Gewohnheitstier… Und ein Mitarbeiter
                                              doch auch flexibel und suchen sich neue       hat seine Gitarre wiederentdeckt. Er
Sicherheit. Was aber, wenn Rituale
                                              Wege für ihre Rituale – oder sie finden       verschwindet damit nun regelmäßig auf
plötzlich fehlen? Wenn sie unterbunden
                                              gar neue.                                     eine einsame Wiese. Da könne er unge-
werden oder gar verboten sind, wie              Eine Mitarbeiterin ersetzt ihr Fit-         stört üben und würde seine Familie, in
gerade jetzt, um Infektionen mit dem          nessstudio durch ein online-Angebot,          der alle gerade zuhause seien, nicht
neuen Virus Covid-19 einzudämmen?             um ihre tägliche Bewegungseinheit zu          stören. Eine Schülerin radelt jeden Mor-
                                              erhalten. Immer morgens, da sei sie           gen zu ihrer geschlossenen Schule, weil
                                              am besten drauf und noch motiviert.           sie fit bleiben möchte, sagt sie…. Eine
   Etwa die Begrüßung per Handschlag          Eine andere geht jetzt täglich für andere     Mitarbeiterin hat sich mit der Hündin
oder eine Umarmung unter Freunden.            Menschen einkaufen: Sie sammelt die           ihres Nachbarn angefreundet, und nun
Oder auch die Rituale der Kirche: Alles       Wünsche und macht dann einen Plan,            machen sie ihren Spaziergang gemein-
sinnlich Erlebbare fehlt dort jetzt gänz-     was sie wo kauft und wann, sozusagen          sam: sechs Beine über Obstwiesen und
lich. Zwar gibt es vielerorts digitale Got-   ein Mini-Projektmanagement. Das läge          Wege, das Frühlingssummen der Bienen
tesdienste oder Andachten, aber kein          ihr. Eine weitere Mitarbeiterin entdeckt      begleitet sie.
Betreten eines sakralen Raumes, kein          jetzt die Stille für sich, meditiert, immer     Was davon bleiben wird, wenn die
Weihwasser, kein Weihrauchduft, keine         zur gleichen Uhrzeit. Mal zähle sie ihre      Pandemie abgeebbt sein wird, weiß kei-
Eucharistie……Und wer in diesen Tagen          Atemzüge, immer bis zehn, mal brau-           ner von ihnen. Sie stellen lediglich fest,
heiratet oder trauert, muss dies im sehr      che sie aber auch eine Stimme, die sie        dass ihnen ihr neues Ritual, ihre neue
kleinen Kreis tun und auf einen „Sicher-      anleite. Ein Mitarbeiter, der in einer        Gewohnheit guttut.
heitsabstand“ achten.                         Fernbeziehung lebt, sieht seine Frau            Und was guttut, geben Menschen
   Was bleibt jetzt, wenn viele persön-       jeden Morgen beim Frühstück – auf dem         bekanntlich nicht mehr so gern her.
liche Gewohnheiten an andere Men-             Bildschirm. Daran habe auch Corona            (sdg)

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2|2020 - Bundesteilhabegesetz: innovativ, revolutionär, anspruchsvoll - Stiftung Liebenau
Schwerpunkt

                BTHG: ein revolutionäres Gesetz
                                                                                          Chancen und Herausforderungen

                                 Schon der offizielle Titel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und
                     Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung“, macht deutlich, was das Ziel ist: die Lebenssituationen und
                    die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu verbessern und zu stärken. Dieses
                        umfassende Gesetzespaket setzt sich in allen Lebensbereichen für mehr Selbstbestimmung für Menschen mit
                Behinderungen ein und stellt den Menschen mit seinen Bedarfen und Wünschen in den Mittelpunkt. Das BTHG ist seit
                 Beginn des Jahres 2017 in Kraft. Die damit verbundenen neuen Regelungen werden bis 2023 stufenweise umgesetzt.

        Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2009 gab     schaftlichen Verständnis einer inklusiven Gesellschaft orien-
     wichtige Impulse für das BTHG. Dort wird bereits eine gleich-   tiert. Das Gesundheitsproblem oder die Behinderung werden
     berechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit       nicht mehr als Eigenschaft der Person angesehen. Es berück-
     Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaft-   sichtigt auch: Wo liegen Probleme in der Umwelt des Men-
     lichen und kulturellen Leben gefordert. Mit dem BTHG soll       schen, die ihn daran hindern an der Gesellschaft teilzuhaben?
     man diesem Ziel näherkommen. Diesem Gesetz liegt zudem             „Das ist ein modernes, innovatives, fachlich-attraktives und
     ein neuer Behinderungsbegriff zu Grunde, der sich am gesell-    revolutionäres Gesetz“, so Jörg Munk, Geschäftsführer der Lie-

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Schwerpunkt

benau Teilhabe, „es birgt großartige Chancen, aber auch viele    Menschen mit Behinderungen, denn sie werden die Unterstüt-
Herausforderungen in sich“. Mit der Umsetzung des BTHG           zungsleistungen erhalten, die mehr der eigenen persönlichen
einher geht ein grundlegender Paradigmenwechsel, weg von         Lebenslage und Bedarfssituation entsprechen.“ Allerdings
einem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe hin zu einem moder-       müssen die Betroffenen mit der Komplexität des Gesetzes aktiv
nen Leistungsrecht und mehr persönlicher Selbstbestimmung.       umgehen können. Sie tragen damit auch deutlich mehr Eigen-
Das BTHG soll Menschen mit Behinderungen durch individuel-       verantwortung für die Leistungen, die erbracht werden sollen.
le Unterstützung die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
und ein eigenständiges Leben ermöglichen. Im Mittelpunkt         Der Bedarf wird festgestellt
steht die so genannte Personenzentrierung. Die Frage für den        Mit Hilfe eines Gesamtplanverfahrens sollen die notwen-
einzelnen Menschen mit Behinderung lautet künftig: Wo und        digen unterstützenden Leistungen ermittelt werden. Am
wie will ich wohnen? Wie will ich leben? Wo will ich arbeiten?   Gesamtplanverfahren ist der Mensch mit Behinderungen
Wie will ich meine Freizeit verbringen? Dafür sind eine Reihe    durchgehend zu beteiligen, seine Wünsche sind zu dokumen-
von Veränderungen bei Abläufen und Prozessen auch inner-         tieren und der individuelle Bedarf muss ermittelt werden. Das
halb der Verwaltung nötig (s. Seite 14).                         Verfahren soll transparent, trägerübergreifend, interdiszipli-
                                                                 när, konsensorientiert, individuell, lebensweltbezogen, sozi-
Die Leistungen                                                   alraumorientiert und zielorientiert sein.
  Fachleistungen der Eingliederungshilfe (Leistungen zur sozi-      Eine echte Herausforderung für die 44 Stadt- und Landkreise
alen Teilhabe, zur Teilhabe an Bildung, am Arbeitsleben, zur     in Baden-Württemberg, die die Leistungen dann entsprechend
medizinischen Rehabilitation, Unterstützungsleistungen zur       festlegen und verantworten müssen. Die individuelle Hilfebe-
Bewältigung des Alltags wie therapeutische Maßnahmen oder        darfsermittlung orientiert sich nun an der ICF-Klassifikation
persönliche Assistenz) werden zukünftig klar von den existenz-   (International Classification of Functioning, Disability and
sichernden Leistungen zum Lebensunterhalt (wie Wohnen,           Health = Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Ernährung, Kleidung) getrennt und finanziert. Das ist ein ein-   Behinderung und Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisati-
schneidender Systemwechsel: Künftig entscheidet der Mensch       on und den darin aufgeführten neun Lebensbereichen. Die ICF
mit Behinderungen selbst, welche Unterstützungsleistung er       ist dabei nicht primär defizit- sondern ressourcenorientiert. Es
                                                                 geht nicht nur um die Folge von Gesundheitsproblemen, son-
                                                                 dern immer um die Wechselwirkung der Teilhabeeinschrän-
 Der Mensch mit Behinderungen entscheidet selbst,                kung mit der Umwelt. Das Modell bezieht Informationen aus
 welche Unterstützung er braucht.                                den Bereichen Körper (Biologie), Psyche und soziale Umwelt
                                                                 mit ein. Darum spricht man vom Bio-Psycho-Sozialen Modell
                                                                 der ICF. Um die ICF und ihre mehr als 1400 Items „handhab-
                                                                 bar“ zu machen, entwickeln geschulte ICF-Multiplikatoren in
                                                                 der Stiftung Liebenau eine Standardliste mit den relevanten
braucht oder bekommen möchte. Die zu erbringenden Teil-          Items (s. auch S. 12).
habe- beziehungsweise Fachleistungen (Assistenzleistungen)
orientieren sich an dem individuellen Bedarf der jeweiligen      Die Begleitung des Einzelnen
Person unabhängig von ihrer Wohnform. Daher soll es leis-          Jeder Mensch mit Behinderungen wird in der Stiftung Liebe-
tungsrechtlich keine Unterscheidung mehr zwischen stationär      nau künftig eine Teilhabebegleitung haben, die ihn in den ver-
und ambulant geben. In Zukunft muss sich also nicht mehr der     schiedenen Lebensbereiche wie Wohnen, Bildung und Arbeit
Mensch mit Behinderung einem „All-Inclusive“-Paket anpas-        begleitet. Die Leistungserbringung wird optimiert und die vom
sen, das dem Menschen mit Behinderungen oftmals im sta-          BTHG geforderte Personenzentrierung umgesetzt (s. Seite 15).
tionären Bereich geboten wird. Durch das BTHG müssen der           Dies wird in Zukunft den Prozess „weg vom institutionell
Leistungs- und Kostenträger sowie die jeweilige Einrichtung      geprägten Fürsorger hin zum Erbringer von Dienst- und Unter-
auf den individuellen Bedarf der einzelnen Person eingehen.      stützungsleistungen beschleunigen“, so Munk. Allerdings blei-
   Dieser Systemwechsel stellt alle Beteiligten vor große Her-   be der Gedanke der Fürsorge in der unmittelbaren Arbeit von
ausforderungen, vor allem zu Fragen des Fallmanagements,         Menschen für Menschen mit Behinderungen weiterhin selbst-
der Verwaltung und des stationären Bereichs. Im Endeffekt        verständlich. Munk ist überzeugt: „Das BTHG wird eine Zeit
dient er aber der Transparenz und Personenzentrierung des        benötigen, bis es seine Wirkung entfaltet, aber es wird seine
Systems. Das sei, so Munk „ein Emanzipationsprozess für          Wirkung entfalten!“ (al)

anstifter   2 | 2020                                                                                                               11
Schwerpunkt

                  ICF – eine gemeinsame Sprache
                                                                  Wie die Stiftung Liebenau ihre Mitarbeitenden schult

                                           Dr. Stefan Thelemann leitet   aller Beteiligten bekommen wir mit der Anwendung des BPSM
                                           am Berufsbildungswerk         ein differenzierteres Verständnis. Dies ist die Grundlage für
                                           Adolf Aich das ICF-Kompe-     eine gute Planung für unsere Klienten. Mit der ICF haben die
                                           tenzzentrum.                  Mitarbeitenden ein besseres Fundament für unsere Unterstüt-
                                                                         zungsleistungen und -empfehlungen. Das wird sie zukünftig
                                                                         auch entlasten.“
                                                                            Da die ICF ja nicht die Defizite eines Menschen in den Vor-
                                                                         dergrund stellt, sondern die Umweltfaktoren und ihre Anpas-
                                                                         sungen in den Fokus nimmt, liegen hier viele Gestaltungsmög-
                                                                         lichkeiten für Mitarbeitende und Leistungsträger. So kann für
                                                                         einen gehörlosen Menschen beispielsweise ein Computer das
                                                                         optimale Hilfsmittel sein. Für jemanden, der stark auf Umge-
                                                                         bungsgeräusche reagiert, wäre ein Großraumbüro nicht der
                                                                         richtige Arbeitsplatz. „Es geht darum, dass Barrieren soweit
     Zu den vielen Auflagen und Neuerungen, die das BTHG mit             wie möglich abgebaut werden“, fasst Dr. Thelemann zusam-
     sich bringt, gehört die Anwendung der sogenannten ICF               men. „Und da sind die Mitarbeitenden an der Basis am meisten
                                                                         gefragt, und es braucht Leitungskräfte, die sie dabei unterstüt-
     als Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und
                                                                         zen und Barrieren abbauen helfen.“
     Gesundheit (siehe dazu auch S. 11). Ab diesem Jahr bietet die
                                                                            Die Aufgabe der Schulung bleibt eine dauerhafte. In der
     Stiftung Liebenau hierzu mehrere Fortbildungen an. Dr. Stefan       akademischen Ausbildung, etwa bei Ärzten oder den sozialen
     Thelemann, Psychotherapeut und Facharzt für Kinder- und             Studiengängen, wird die ICF inzwischen berücksichtigt und
     Jugendpsychiatrie sowie Leiter des ICF-Kompetenzzentrums            verstärkt gelehrt. Der praktische Bezug und die Umsetzung
                                                                         fehlen jedoch. „In der Stiftung Liebenau wird es Jahre dau-
     Liebenau am Berufsbildungswerk Adolf Aich (BBW), ist
                                                                         ern, bis wirklich alle geschult sind“, so der Fachmann. Für die
     maßgeblich für die Schulungen verantwortlich.
                                                                         Stiftung Liebenau wird die Schulung wohl eine Daueraufgabe
                                                                         sein. „Auch wenn wir Kurzschulungen anbieten, stehen wir
       Dr. Thelemann spricht von etwa 5000 bis 6000 Mitarbeiten-         vor der Herausforderung, dass das erworbene Wissen gefestigt
     den, die an der Bedarfsplanung für die Klienten in der berufli-     und nachgeschult werden muss.“ (sdg)
     chen Bildung, der Teilhabe, Pflege und Jugendhilfe mitwirken
     und deshalb geschult werden müssen. „Wir brauchen einen
     breiten Konsens in der Anwendung der ICF“, begründet er. Im           Die neun Lebensbereiche nach der ICF
     BBW befasst man sich bereits seit rund 15 Jahren mit der ICF              1. Lernen und Wissensanwendung
     und insbesondere mit dem Bio-Psycho-Sozialen Modell (BPSM)                2. Allgemeine Anforderungen und Aufgaben
     als wesentlicher Grundlage. Aufgrund dieser Erfahrungen ist               3. Kommunikation
     das ICF-Kompetenzzentrum der Stiftung Liebenau auch im                    4. Mobilität
     BBW verankert.                                                            5. Selbstversorgung
       Neu für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist, dass sie              6. Häusliches Leben
     ein gemeinsames Verständnis des BPSM entwickeln und eine                  7. Interpersonelle Interaktion und Beziehungen
     gemeinsame Sprache sprechen und denken lernen. Dr. Thele-                 8. Bedeutende Lebensbereiche
     mann: „Bisher war die Basis in der Bedarfsplanung eher sub-               9. Gesellschaft
     jektiv geprägt, ohne eine entsprechende Leitlinie. Das ist nicht
     wertend gemeint, aber durch die Summe der Einschätzungen

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Stiftung Liebenau

                        Selbstständigkeit erwünscht!
Axel Weigele ist Experte, wenn es um die praktische Umsetz-       möchte. Welche seiner Wünsche leistungsrechtlich schließlich
ung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) geht. Er ist einer der      erfüllt werden, ist noch unklar, weil es in Baden-Württemberg
                                                                  noch keine abschließende Fachleistungssystematik für Assis-
31 Klienten im Bodenseekreis, die an einem von 29 Modell-
                                                                  tenzleistungen gibt. Das Modellprojekt arbeitet aber daran,
projekten im Bundesgebiet mitwirken. Bis Ende 2021 sollen
                                                                  eine Grundlage zu entwickeln.
auf diese Weise praktische Erkenntnisse rund um das neue             Die Umsetzung des BTHG und somit die Ermöglichung von
Gesetz gewonnen werden. Auch der Bodenseekreis beteiligt          teilhabendem Leben braucht verschiedene Akteure. Gefragt
sich zusammen mit der Stiftung Liebenau.                          sind Kommunen, Vereine und andere Menschen, Nachbarn,
                                                                  Mitbewohner zum Beispiel. Im Haus wird Wunsch- und Wahl-
                                                                  recht längst so weit wie möglich gelebt: Die Fachkräfte versu-
  Es ist offensichtlich: Wer in dieser Wohnung wohnt, wohnt       chen, Wunsch-Aktivitäten durch Begleitung zu ermöglichen,
gern hier. Die helle geräumige Einzimmerwohnung ist gepflegt      ob Disco und Single-Party oder Ausflüge und Chorsingen, ist
und aufgeräumt, aber auch gemütlich und wohnlich. Alles ist       von Teamleiterin Ursula Ehrlinspiel zu erfahren. Fachkräfte
vorhanden, Küchenzeile und Bad inklusive. Vor dem großen          wie sie werden durch das BTHG immer mehr zu Moderatoren
Fenster befindet sich nach Süden hin der Balkon.                  im Gemeinwesen: Sie sind diejenigen, die Kontakte herstellen,
  Das Appartement ist das Reich von Axel Weigele. Seit fünf       organisieren und pflegen.
Jahren lebt der Mann mit Down-Syndrom hier. Seit Anfang              Axel Weigele
dieses Jahres und mit Inkrafttreten des BTHG ist er selbst auch   spielt Trompete
Mieter. Die Wohnung befindet sich im Wohnhaus für Men-            und Flügelhorn.
schen mit Handicaps in Markdorf. Von hier aus macht sich der      Zu seinem Wo-
32-Jährige jeden Tag auf zur Arbeit in die Werkstatt für Men-     chenverlauf ge-
schen mit Behinderungen (WfbM), ebenfalls in Markdorf.            hört deshalb
  Durch das BTHG könnte sich für ihn manches ändern. Das          eine Unterrichts-
Gesetz setzt auf das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit       stunde in der
Einschränkungen. die Wünsche des gebürtigen Markdorfers           nahegelegenen
hören sich überraschend einfach an: „Dass ich meine Wäsche        Musikschule in
selbstständig waschen darf“ und „Unterstützung im Haushalt“.      Markdorf. Bei
Manche Pflichten im Haushalt würde er gerne mit Hilfe einer       der Organisa-
Person gemeinsam erfüllen. „Ich kann nicht einkaufen und          tion des Musi-
putzen gleichzeitig,“ sagt er. In manchen Zeiten werde ihm        kunterrichts
alles zusammen zu viel.                                           halfen die
  Grundlage für die künftigen Leistungen ist das Bedarfsermitt-   Fachkräfte,
lungsgespräch mit dem neuen Bedarfsermittlungsinstrument          hingehen
BEI-BW. Dieses wurde auch im Rahmen des Modellprojekts im         kann er
Bodenseekreis getestet. Bei Axel Weigele liegt das Gespräch       selbststän-
etwa ein Jahr zurück. Seine Mutter Andrea Weigele als seine       dig. Bei
gesetzliche Betreuerin begleitete ihn. Mit am Tisch saßen die     Auftritten
Vertreterin des Landratsamtes als Leistungsträger, die das        der Fami-
Gespräch durchgeführt hat, sowie eine Fachkraft der Pflege-       lienband
kasse, bei der Weigele Pflegegrad 1 bescheinigt wurde. Auch       „Weige-
eine Vertrauensperson vom Haus war dabei. Für alle Beteilig-      le Brass Band“ spielt er
ten war die Gesprächssituation neu, erinnert sich Andrea Wei-     selbstverständlich mit. Und dann fällt ihm noch ein Wunsch
gele. Den Gesprächsverlauf hat sie sehr angenehm empfunden.       ein: Er würde gerne fest in einer Band mitspielen. Das neue
„Es wurde ein breites Spektrum abgefragt, es war richtig gut      Leistungsrecht sollte bei dem Wunsch hilfreich sein. Und
gemacht.“ Ihr Sohn hatte selbst die Möglichkeit zu schildern,     vielleicht ein paar aktive Musiker, die ihn als Bandmitglied
was ihm wichtig ist. Fußball etwa, und dass er tanzen lernen      aufnehmen. (ao)

anstifter   2 | 2020                                                                                                              13
Teilhabe mit Tücken: Das Bundesteilhabegesetz bringt für die betroffenen Menschen und ihre gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer nicht
     nur Rechte, sondern auch Pflichten.

                                                        Ein Riesenaufwand für
                                                                alle Beteiligten
     Mit der zu Jahresbeginn in Kraft getretenen nächsten Stufe              Betreute im stationären Wohnen – oder wie es jetzt heißt: in
     des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) hat sich auch die                     „besonderen Wohnformen“ – bedeutet das einen grundlegen-
                                                                             den Systemwechsel bei der Finanzierung. Davon betroffen sind
     Leistungsabrechnung vor allem für jene Menschen mit
                                                                             mehr als 1000 Bewohnerinnen und Bewohner, sagt Anne Birk-
     Behinderungen geändert, die in Wohnheimen leben. Die
                                                                             hahn, stellvertretende Leiterin des Sozial- und Rechnungswe-
     Verwaltung der Liebenau Teilhabe hat mit der Umstellung                 sens und damit zuständig für die administrative BTHG-Umset-
     alle Hände voll zu tun – und versucht, es den Betroffenen und           zung: „Wir machen im Team die gesamte Leistungsabrechnung
     deren Betreuerinnern und Betreuern so einfach wie möglich               für Menschen mit Behinderungen mit den Kostenträgern.“

     zu machen.
                                                                             Teil der Leistungen fließt aufs eigene Konto
                                                                               Das Geld für die Fachleistungen fließt weiter direkt an die
       Markus M. (Name geändert) lebt und arbeitet in Liebenau.              Einrichtungen. Die Markus M. zustehenden Beträge für die
     Er hat eine schwere geistige Behinderung. Ob Kosten für Ver-            Existenzsicherung werden nicht mehr mit dem Wohnheimträ-
     pflegung, Unterkunft, Assistenz bei Versorgung und Haushalts-           ger abgerechnet, sondern zunächst ihm selbst ausbezahlt. Das
     führung oder die Unterstützung bei Freizeitaktivitäten: Bis-            heißt: Markus M. braucht nun eigentlich ein eigenes Girokon-
     lang erhielt die Liebenau Teilhabe für diese Leistungen einen           to, auf das die Sozialhilfeträger überweisen und von dem dann
     bestimmten Geldbetrag vom zuständigen Träger der Eingliede-             die Rechnungen für Miete und ähnliches an die Liebenau Teil-
     rungshilfe. Dieses „Gesamtpaket“ wird nun vom BTHG aufge-               habe bezahlt werden müssen. Und so bringen die Neuerun-
     schnürt. Dabei werden die Fachleistungen der Eingliederungs-            gen durch das BTHG den Menschen mit Behinderungen zwar
     hilfe, zum Beispiel Therapien oder Assistenzleistungen, von             „viele neue Rechte, aber auch Pflichten“, so Birkhahn. Mit dem
     den Leistungen zum Lebensalltag und den Kosten der Unter-               entsprechenden zusätzlichen bürokratischen Aufwand für die
     kunft, also für Essen, Wohnung oder Bekleidung, getrennt. Für           gesetzlichen Betreuer, meist Angehörige oder Ehrenamtliche.“

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Schwerpunkt

Anträge einreichen, Zahlungen anweisen, Verträge neu schlie-     existenzsichernden Leistungen, nicht aber die Zubereitung der
ßen: „Manche sind verständlicherweise überfordert, weil es       Speisen. Dieser Mehrbedarf muss gesondert geregelt werden.
eben so komplex ist.“                                            Und was ist der persönliche Wohnraum und welche Bereiche
  Beteiligt sind schließlich auch viele Akteure. So liegen die   fallen den Fachleistungen zu, etwa für Therapie? Was ist mit
Zuständigkeiten für die einzelnen Sozialleistungen mal beim      der Küche? Baupläne für alle Häuser mussten herangezogen,
Bund, mal auf der kommunalen Ebene. Dann müssen bei-             komplizierte Schlüssel berechnet werden. Umzüge werden
spielsweise Renten, Wohngeld oder Werkstattlöhne mit ein-        kompliziert.
gerechnet werden. Um es allen Betroffenen etwas leichter zu         Auch sonst hat Anne Birkhahns Abteilung seit Monaten alle
machen, bietet die Liebenau Teilhabe – zumindest übergangs-      Hände voll zu tun mit der BTHG-Umsetzung: Zahlungen müs-
weise – deshalb die optionale Zahlungsabwicklung über Treu-      sen angeglichen und überprüft, alle Verträge angepasst, jeder
handkonten an. Vorteil für die gesetzlichen Betreuerinnen und    individuelle Fall muss durchgearbeitet werden. Doch man
Betreuer: Sie behalten die Kontrolle, müssen sich aber nicht     gehe die Sache „sehr motiviert“ an, um das Ganze im Interes-
um die Details kümmern. Eine Lösung, die gerne in Anspruch       se der Menschen mit Behinderungen reibungslos umzusetzen.
genommen wird.                                                   Die vollzogene formale Trennung der Leistungen sei das eine,
                                                                 doch gerade bei Personen mit schwerer geistiger Behinderung
Lebensunterhalt oder Fachleistung?                               wie Markus M. müsse man aufpassen, dass sie auch inhalt-
  Doch welche Leistungen gehören nun eigentlich in welchen       lich vom BTHG profitieren und nicht unterm Strich schlech-
Bereich? Diese scharf zu trennen, ist in der Praxis ganz schön   ter dastehen als zuvor. Denn schließlich gehe es bei allem um
kompliziert. Zum Beispiel beim Mittagessen für Werkstatt-        mehr Teilhabe für jeden Einzelnen. (ck)
beschäftigte: Die reinen Lebensmittelkosten gehören zu den

                                Teilhabebegleitung der Liebenau Teilhabe
       Nach und nach wird es nun in der Liebenau Teilhabe        für Menschen mit Behinderungen sein. Gemeinsam wird
     mehr Mitarbeiter geben, die als Teilhabebegleiter arbei-    dann ein Plan erstellt, wie die im Gespräch gesammelten
     ten. Doch was genau machen diese Personen? Teilhabe-        Anliegen am besten umgesetzt werden können. Der Teil-
     begleiter beraten die Leistungsberechtigten zu Angeboten    habebegleiter ist dann dafür zuständig, die praktische
     der Einrichtung und unterstützen sie bei ihren Wünschen     Umsetzung im Blick zu behalten. Da Leistungen oft Geld
     und Zielen.                                                 kosten, tauscht sich der Teilhabebegleiter über die Leis-
       Nehmen wir an, Herr M. möchte lernen, sich mit Hilfe      tungen mit dem Leistungsträger aus, beispielsweise dem
     seines neuen Tablets besser mitzuteilen. Die Menschen,      Landratsamt. Mit dem Bundesteilhabegesetz wird es nun
     die Herrn M. unterstützen, sollten nun wissen, wie sie      immer mehr Teilhabe- und Gesamtplanverfahren mit
     ihm dabei helfen können. Am besten funktioniert das,        dem Leistungsträger geben. Damit der Teilhabebegleiter
     wenn alle dafür relevanten Personen an einem Tisch sit-     einen guten Überblick behält, ist es sehr hilfreich, wenn
     zen. Das können zusätzlich zu Herrn M. und seinem Teil-     er bei diesen Gesprächen dabei sein kann. So kann er den
     habebegleiter noch die Eltern, der gesetzliche Betreuer     Leistungsberechtigten, hier Herrn M., am besten in seiner
     oder Mitarbeiter aus der Wohngruppe oder der Werkstatt      Selbstbestimmung unterstützen und vertreten.

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Schwerpunkt

                                                                     Nicht zum Nulltarif!
                                                                            neuen Regeln durchgeführt wurden, hat er Sorge, dass Ange-
                                                                            hörige jetzt lockerlassen. Er rät: „Kaufen Sie sich eine Kladde
                                                                            und notieren Sie sich alles, was Ihnen bezogen auf die betreu-
                                                                            te Person einfällt, wie deren Lebensumstände sind, welche
                                                                            Unterstützung geleistet wird, vielleicht zusätzlich nötig ist, wie
                                                                            die Betreuten ihre Freizeit verbringen wollen, und, und, und.“
                                                                               Die Angst vieler Eltern, dass es ihrem Kind schlechter gehen
                                                                            wird, ist nicht zu unterschätzen. Das BTHG sei auch an den
                                                                            Start gegangen, die Kostendynamik der Eingliederungshilfe zu
                                                                            brechen. Menschen, die gut für sich sprechen können, erwir-
                                                                            ken ihre Leistungen, ist Abrahamczik sich sicher. Dafür müsse
                                                                            dann an anderer Stelle gespart werden. Es gibt Menschen mit
                                                                            schwerstmehrfachen Behinderungen, die sich nicht für sich
                                                                            selbst einsetzen können. Manche Eltern sind 70 oder 80 Jahre
                                                                            alt. Die haben sich einmal schweren Herzens durchgerungen,
                                                                            ihr Kind in eine Einrichtung zu geben, wo sie es gut betreut
                                                                            wissen. Sie hatten dadurch die Sicherheit, dass ihr Kind einen
                                                                            Platz hat, auch wenn sie selbst nicht mehr da sind. Mit dem
                                                                            BTHG fällt ihnen das Thema der Beantragung von Leistungen
                                                                            und der Bedarfsermittlung wieder vor die Füße, und sie haben
     Mit Gerold Abrahamczik sind Angehörige in Sachen Bundesteilhabe-       Angst, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können,
     gesetz gut beraten. Doch aktuell sind viele Fragen rund um die Coro-   so der Angehörigenverteter. „Ich kenne Angehörige, die sich
     na-Pandemie brennender für sie als das neue Gesetz.                    überlegen, die gesetzliche Betreuung abzugeben." Das könne
                                                                            aber nicht im Sinne des BTHG sein. Insgesamt braucht Perso-
                                                                            nenzentrierung mehr Geld. „Es gibt sie nicht zum Nulltarif!“
                                                                               Abrahamczik beobachtet teilweise, dass es im stationären
     Wie schätzen Angehörige das Bundesteilhabegesetz und                   Wohnen am Wochenende teilweise Probleme mit der Teilha-
     seine Umsetzung ein und was ändert sich für sie? Antworten             be gibt. Er nennt ein Beispiel: eine Gruppe mit acht Bewoh-
                                                                            nern, mehrere davon im Rollstuhl, einige mit schweren und
     auf diese Fragen weiß Gerold Abrahamczik, Sprecher des
                                                                            mehrfachen Behinderungen. Die fitteren Bewohnerinnen und
     Beirats der Angehörigen beim Bundesverband Caritas
                                                                            Bewohner leben heute in Wohnformen mit ambulanter Beglei-
     Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Der gewählte                   tung. Das Personal in den Wohngruppen werde aber aus Kos-
     Beirat vertritt Angehörige von rund 200 000 Menschen mit               tenerwägungen vielfach nicht den gestiegenen Anforderungen
     Behinderungen oder psychischen Erkrankungen.                           an Begleitung und Betreuung angepasst. Am Wochenende sind
                                                                            womöglich nur zwei Mitarbeiter im Dienst. Wenn außer ihnen
                                                                            keiner da ist, der einen Rollstuhl schieben kann, fällt der Aus-
       Auch wenn der Systemwechsel noch dauern wird, rät Abra-              flug für die ganze Wohngruppe aus. Durch den neuen Ansatz
     hamczik den Angehörigen, sich weiterhin gut vorzubereiten.             der Personenzentrierung und der damit verbundenen persön-
     Er und sein Gremium hätten Betroffene, Angehörige, Betreuer            lichen, individuellen Leistungserbringung erhofft er sich für
     das gesamte vergangene Jahr auf den Systemwechsel aufmerk-             viele Angehörige erhebliche Verbesserungen.
     sam gemacht und sie gedrängt, sich frühzeitig mit der Bedarfs-         Positiv bewertet Abrahamczik, dass andere Anbieter die Lücke
     ermittlung auseinanderzusetzen. In den Gesprächen würde                füllen können, wenn eine Einrichtung persönliche Bedarfe
     man Fachleuten gegenübersitzen, man sei womöglich aufge-               nicht leisten kann. So entsteht für die Menschen mit Behinde-
     regt und unsicher. Was dann nicht erwähnt wurde, dafür wird            rungen Vielfalt und Wahlmöglichkeit in der Leistungserbrin-
     keine Leistung erbracht. Die gute Vorbereitung hilft. Da zum           gung. Und es wird eine gewisse Konkurrenz am Markt entste-
     1. Januar jetzt noch keine Bedarfsermittlungen nach den                hen. (ao)

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Schwerpunkt

     Traditionell gelebte Gleichstellung
                                                                  Das Vorarlberger Chancengesetz setzt Maßstäbe

Als Mitglied der Europäischen Union setzt sich Österreich
aktiv für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
ein. Dabei erfüllt Vorarlberg mit seinem Chancengesetz eine
Vorreiter- und Vorbildfunktion: Es wurde am 10. Mai 2006
beschlossen, um die traditionell gelebte Selbstbestimmung
und Teilhabe auch gesetzlich widerzuspiegeln. Dabei haben
sich Menschen mit Behinderungen erstmals aktiv an der
Ausarbeitung eines solchen Gesetzes beteiligt und ihm auch
seinen Namen gegeben. Dr. Gabriele Nußbaumer, ehemalige
Landtagsvizepräsidentin, ehemalige Präsidentin der
Lebenshilfe Vorarlberg und seit 2015 Aufsichtsratsmitglied
der Stiftung Liebenau, berichtet.

   Zehn Jahre später sind auf deutscher Seite bei der Erarbei-
tung des Bundesteilhabegesetzes und seiner schrittweisen          Gleichstellung in Österreich und Deutschland: Aufsichtsratsmitglied
Umsetzung ebenfalls Menschen mit Behinderungen beteiligt.         Dr. Gabriele Nußbaumer kennt die Unterschiede.
Kann oder soll man die beiden Gesetze nun vergleichen? Wie
gelingt der Blick über die Grenze? „Die Grundsätze und Ziele,     den Lebenswelten normal ist und guttut, weil sie neue Kon-
kurz, die Trennung von Arbeit und Wohnen sowie die größt-         takte und Erfahrungen bringt. „Menschen mit Behinderungen
mögliche Selbstbestimmung, sind dieselben“, sagt Dr. Gabriele     sind in Vorarlberg nie aus dem öffentlichen Leben, dem famili-
Nußbaumer. Sie kennt aus ihren früheren und aktuellen Funk-       ären Alltag verschwunden“, sagt Dr. Gabriele Nußbaumer.
tionenen die Entwicklungen in beiden Ländern gut und weiß:
„Interessanter ist es, einen Blick auf die historisch gewachse-   Weiter auf dem Weg zur Inklusion
nen Unterschiede zu werfen.“                                        Das in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen
                                                                  erarbeitete Vorarlberger Chancengesetz wurde zum Vorbild
Wohnhäuser statt Heime                                            für andere österreichische Bundesländer. Doch auch in Vor-
  Denn: In Vorarlberg gab und gibt es – im Gegensatz zu           arlberg arbeiten die Verantwortlichen weiterhin daran, der
Deutschland oder anderen österreichischen Bundesländern –         UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden. „Trotz
keine größeren Einrichtungen für Menschen mit Behinderun-         der traditionell gelebten Gleichstellung und der kleineren
gen. „Die Lebenshilfe Vorarlberg hätte die Möglichkeit zum        Einrichtungen gibt es auch in Vorarlberg noch genug Entwick-
Bau von Großeinrichtungen gehabt. Doch der Interessensver-        lungspotenzial auf dem Weg zur Inklusion“, weiß Nußbaumer.
ein, der sich damals insbesondere aus Eltern zusammensetzte,      „In Vorarlberg ebenso wie in ganz Österreich und Deutschland
hat dies bewusst verhindert, damit Menschen mit Behinde-          müssen Konzepte überarbeitet und Bauten umgewandelt wer-
rungen in ihrem sozialen Umfeld sichtbar bleiben“, erklärt Dr.    den, damit Menschen mit Behinderungen gleichgestellt am
Gabriele Nußbaumer, selbst Angehörige. So wurden in Vorarl-       Wohnen, Arbeiten und an der Freizeitgestaltung teilhaben
berg nie Heime gebaut, sondern Wohnhäuser für zehn bis 15,        können. Als sehr konsequent empfinde ich da die Stiftung
maximal 20 Menschen mit Behinderungen. Von Anfang an galt         Liebenau. Denn ich spüre deutlich, dass sie für größtmögliche
außerdem das Zwei-Milieu-Prinzip: Niemand sollte im glei-         Selbstbestimmung sorgt und bei ihren Entscheidungen tat-
chen Milieu arbeiten und wohnen, weil eine Distanz zwischen       sächlich der Mensch im Mittelpunkt steht.“ (ebe)

anstifter   2 | 2020                                                                                                                   17
Leichte Sprache

     Das Bundes-Teilhabe-Gesetz
     Jeder Mensch hat eigene Wünsche.
     Jeder Mensch hat eigene Vorstellungen.
     Auch Menschen mit Behinderungen sagen:
     So will ich leben.
     So will ich arbeiten.
     Das will ich in meiner Freizeit machen.
     In Deutschland gibt es ein neues Gesetz.
     Es heißt Bundes-Teilhabe-Gesetz.
     In kurz sagt man: BTHG.
     Das Bundes-Teilhabe-Gesetz macht viel möglich.
     Es sagt zum Beispiel: Jeder darf selbst aus-wählen.

     Das Gesetz bringt viele Veränderungen
     Das neue Bundes-Teilhabe-Gesetz sagt:
     Ab 2020 gibt es 2 Bereiche von den Leistungen.
     Zum einen Bereich gehören:
     Miete, Essen und was man jeden Tag braucht.
     Manche haben zu wenig Geld dafür.
     Das Geld kommt vom Sozial-Amt.
     In Alltags-Sprache heißen diese Leistungen.
     Existenz-sichernde Leistungen.

     Die anderen Leistungen heißen Fach-Leistungen.
     Das sind Leistungen speziell für Menschen mit Behinderungen.
     Zum Beispiel für Therapie.
     Oder für die Begleitung bei einem Konzert oder einem Ausflug.
     Das Geld kommt vom Landrats-Amt.

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Schwerpunkt

Der Wunsch nach Unterstützung
Axel Weigele wohnt in Markdorf.
Er wohnt in einer schönen Ein-Zimmer-Wohnung.
Er mag es sehr sauber und gepflegt.
Manchmal ist ihm die Arbeit im Haushalt aber zu viel.
Er wünscht sich hin und wieder Unterstützung.
Er will auch gerne in einer Musik-Gruppe mitspielen.
Das Bundes-Teilhabe-Gesetz macht es vielleicht möglich.
Axel Weigele macht auch bei einem speziellen Projekt mit.
Der Bodenseekreis und die Stiftung Liebenau machen es.
Alle finden zusammen heraus, wie das neue BTHG im Alltag sein muss.

Das neue Gesetz macht viel Arbeit
Gerold Abrahamczik ist Sprecher von den Angehörigen.
Er vertritt sehr viele Menschen mit Behinderungen.
Er sagt: Angehörige finden das Bundes-Teilhabe-Gesetz gut.
Aber manche haben auch Angst.
Sie sagen: Menschen mit sehr schweren Behinderungen
bekommen vielleicht nicht, was sie brauchen.

Fach-Leute in der Verwaltung müssen viel umstellen.
Zum Beispiel die Abrechnungen.
Alle Mitarbeiter bekommen Schulungen.
Sie müssen alle das Gleiche wissen.
Zum Beispiel wie man heraus-findet, was jemand genau braucht.
Doktor Stefan Thelemann schult die Mitarbeitenden.
Er arbeitet beim Berufs-Bildungs-Werk Adolf Aich.
Das Berufs-Bildungs-Werk hat Erfahrung mit dem neuen System.

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Stiftung Liebenau Teilhabe und Familie

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        Eine Woche so aufregend wie erfolgreich: Die zehn Winter-      henten legte Sabine Vogel einen Traumlauf im Slalom hin und
     sportler des Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungs-         holte sich sensationell die Silbermedaille.
     zentrums (SBBZ) Don-Bosco-Schule maßen sich bei den Natio-          Ein letzter Höhepunkt folgte kurz vor Ende der Nationa-
     nalen Winterspielen von Special Olympics Deutschland mit          len Spiele. Im 4 x 100-m-Staffel-Schneeschuhlauf startete das
     anderen Aktiven. Insgesamt gingen Anfang März 900 Wett-           Team der Don-Bosco-Schule mit zwei Mannschaften. Unter
     kämpfer mit geistigen Behinderungen an den Start.                 dem frenetischen Jubel der Zuschauer trieben sich alle Teil-
        Nach der Einstimmung konnte nichts mehr schieflaufen: Der      nehmer zu Höchstleistungen an. Auf der Zielgeraden lieferte
     Ankunft und der offiziellen Akkreditierung im Alpen-Congress      sich Marco Mayer ein enges Rennen mit der Konkurrenz und
     folgte abends der erste Höhepunkt. Vor Tausenden von Gästen       schaffte es, die Silbermedaille für sein Team zu sichern.
     wurden die Spiele mit einem bunten Spektakel am Königssee           Stolz und Freude über das Geleistete und Erlebte überwo-
     gebührend eröffnet. Doch schon bevor das Olympische Feuer         gen die ganze Woche. Zurück auf dem Hegenberg wollten die
     entzündet wurde, waren die Hegenberger Feuer und Flamme.          jungen Sportlerinnen und Sportler nur noch los und möglichst
        Gleich am ersten Tag der Finals gelang es ihnen, einen gan-    jedem die Medaillenausbeute zeigen. (fh)
     zen Satz an Medaillen zu gewinnen. Besonders hervor getan
     haben sich die Zwillinge Max und Moritz Pärschke. Max sicher-
     te sich beim 100-m-Schneeschuhlauf Gold. Sein Bruder Moritz
     Silber. Ebenfalls auf das Podest kam Kevin Kurtz, der die Bron-      Sponsoren mit im Boot
     zemedaille gewann. Schwieriger indes hatten es die Athleten          Die Teilnahme an derart großen Sportveranstaltungen
     im alpinen Skilauf. Nach sehr guten Fahrten bei der Klassi-          stellt einen finanziellen Kraftakt dar. Anreise, Unter-
     fizierung wurden Sabine Vogel und Fabian Romer einer star-           kunft, Verpflegung, Ausrüstung: All das kann nur durch
                                                                          die Unterstützung von Sponsoren realisiert werden. So
     ken Konkurrenz zugeteilt. Beide bestätigten im Riesenslalom
                                                                          stellten Sport Reischmann die Skibekleidung, die Firma
     jedoch ihre gute Form und belegten mit dem vierten und sechs-        Voplan Trainingsanzüge und das Autohaus Zwerger
     ten Platz ausgezeichnete Ränge im großen Teilnehmerfeld.             einen Team-Bus zur Verfügung, außerdem leisteten die
        Am vorletzten Tag der Entscheidungen bewiesen die Schnee-         WGV-Versicherungen, das Uli Schuh Büro- und Kom-
     schuhläufer bei den Langdistanzen über 200 Meter große Aus-          munikationszentrum und die Radio 7 Drachenkinder
                                                                          Spenden für die Reise zum Austragungsort.
     dauer. Sowohl Nico Pätzel als auch Miro Stiewe-Geiger rannten
                                                                          Allen Sponsoren herzlichen Dank!
     in ihren Läufen als erste durchs Ziel und bekamen hochver-
     dient die Goldmedaille. Völlig unbeeindruckt von den Kontra-

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