Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik

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Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
pro natura magazin

                                     5/ 2018 OKtober

Nach Naturereignissen braucht es
  mehr Mut zur natürlichen Dynamik
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
2                           inhalt

                                                                                                  4
                                                                                                                                        Landschaften werden verändert
                                                                                                                                        Naturereignisse wie Stürme, Überschwemmungen oder
                                                                                                                                        Bergstürze nehmen besonders in den Alpen stark zu.
                                                                                                                                        Das birgt Chancen und Risiken.

                                                                                                                                                                                          18
                                                                                                           Reinhard Laessig/WSL
            Mehr als menschlich
 In seinem neusten Film übernimmt
             der kanadisch-schweizerische
    Filmemacher Peter Mettler radikal

                                                    14
                                    die Optik der Tiere.

                                                                                                                                                                                                     Vera Howard
                                                                                                                                  Der Mythos vom bösen Wolf
                                                                                                                                  Tiere wie Kühe, Bienen und Hunde sind für den
                                                                              Eamon MacMahon

                                                                                                                                  Menschen weitaus gefährlicher, doch gegenüber
                                                                                                                                  dem Wolf besteht oft eine irrationale Angst. Wir
                                                                                                                                  suchen nach den Hintergründen.

                                                 29
                                                                                                                                                              Raphael Weber

                                                                                                                                                                              Jagdfreie Zonen
                                                                                                                                                                              Im Herbst wird zur
                                                                                                                                                                              Jagd geblasen, doch in

                                                                                                                                  24
                                                                                                                                                                              den Eidgenössischen
                                                                                                                                                                              Jagdbanngebieten müssen die
Keystone                                                                                                                                                                      Flinten (weitgehend) ruhen.
                            Für die Tierwürde                                                                                                                                 Sie bilden die Königsklasse der
                            Warum Pro Natura eine
                                                                                                                                                                              Wildruhezonen.
                            Annahme der Hornkuh-
                            Initiative empfiehlt.

pro natura magazin                                                                                                                                             von der Zewo als gemeinnützig anerkannt.
Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz
Impressum: Pro Natura Magazin 5/2018. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235
Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Nicolas Gattlen (nig), Redaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv ­
Layout: Vera Howard, Raphael Weber. Titelbild: Daniel Bürki/www.grimselfoto.ch. Lawine, die im März 2017 bei Guttannen (BE) vom 2800 Meter hohen Gallouwisteck knapp 2000 Meter ins Tal donnerte.
Mitarbeit an dieser Ausgabe: René Amstutz (ra), Andreas Boldt (abo), Claudine Bössinger, Josephine Cueni (jc), Christoph Flory (cf), Lesly Helbling, Paul Imhof, Marcel Liner (ml), Hans Lozza (hl),
Sabine Mari, Susanna Meyer (sm), Lorenz Mohler (Übersetzungen), Franziska Scheuber, Franziska Schmid (fs), Urs Tester (ut), Marcus Ulber (mu), Sara Wehrli (sw), Rolf Zenklusen
Redaktionsschluss Nr. 1/2019: 13.11.2018
Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 150 000 (109 000 deutsch, 41 000 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier.
An­schrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: mailbox@pronatura.ch; www.pronatura.ch; ­PK‑40-331-0
Inserate: CEBECO GmbH, We­berei­str. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, cebeco@bluewin.ch. Inserateschluss 1/2019: 23.11.2018
Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutz­union IUCN und Schweizer Mitglied von           Friends of the Earth International.                             www.pronatura.ch
                                                                                                                                                                                            Pro Natura Magazin 5 / 2018
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                                                                                editorial

4          thema
           4      tarke Zunahme: Naturereignisse nehmen in Anzahl und
                 S                                                              Wir müssen zurückstehen,
                 Intenstität zu, sagt der Naturgefahrenexperte.                 wenn grössere Kräfte am Werk sind
           8      imitierter Nutzen: Naturereignisse können positive Folgen
                 L
                 auf die Natur haben — bis zu einem gewissen Grad.              Hören wir Begriffe wie Lawine, Sturm oder Überschwemmung,
                                                                                sind wir alarmiert. Aus verständlichen Gründen, sind wir doch
14         köpfe                                                                besorgt, dass bei diesen Naturereignissen Menschen zu Schaden
                                                                                kommen. Anlässe zu dieser Sorge gibt es leider immer wieder,
16	in kürze                                                                    wie wir dies beispielsweise vor gut einem Jahr beim verheeren-
                                                                                den Bergsturz von Bondo gesehen haben.
18 	brennpunkt                                                                    Mit dieser Ausgabe wagen wir dennoch, einen anderen
           18 R
               eale Bedrohung? Eine norwegische Studie hat ermittelt,          Blick auf Naturereignisse zu werfen. Denn für die Natur sind
              welche statistische Gefahr von Wölfen ausgeht.                    Vorkommnisse wie Erdrutsche, Stürme, Waldbrände meistens
           20 G
               ehilfe des Teufels? Wölfe galten in Märchen als Sinnbild fürs   eine Chance. Sie bringen Dynamik in die natürlichen Kreis­läufe,
              Böse — das wirkt bis heute.                                       schaffen neue Lebensräume, auf die viele Arten angewiesen
           22 V
               om Tisch? Nach der Ablehnung des Parco Locarnese liegt          sind.
              die Gründung eines zweiten Nationalparks in weiter Ferne.            Naturereignisse hat es schon immer gegeben, doch mit der
                                                                                Zerstörung des Klimas haben sie in der Anzahl und Intensität
24	infogalerie                                                                 zugenommen. Denn Gletscherschwund, Rückgang des Perma­
                                                                                frosts, Extremniederschläge – alles unmittelbare Folgen der
28         news                                                                 Klima­erwärmung – machen unsere Alpen instabiler.
           28 I m Korsett: Der Kanton Schwyz nutzt die Gelegenheit                Pro Natura engagiert sich weiterhin für eine griffige Klima-
               nicht, um einen begradigten Fluss zu renaturieren.               politik. Doch leider ist die Klimaerwärmung schon weit fortge-
           29 D
               as Kuhhorn: Was den Naturschutz mit diesem Organ                schritten und damit auch die Zunahme dieser Naturereignisse.
              unserer Nutztiere verbindet.                                      Deshalb stellt sich auch aus naturschützerischer Sicht die Fra-
           30 D
               er Modell-Rebberg: Weinbau funktioniert auch                    ge, wie wir mit häufigeren Unwettern, kräftigeren Orkanen und
              ohne Giftduschen.                                                 grös­seren Erdrutschen umgehen.
                                                                                   Der Zivilisation muss dabei weiterhin der grösstmögliche
34         beobachtet                                                           Schutz entgegengebracht werden. Doch mit Beispielen zeigen
                                                                                wir in diesem Magazin, dass die Natur profitiert, wenn nicht
36         service                                                              nach jedem Sturm das Fallholz weggeräumt wird, wenn nach
                                                                                ­einer Überschwemmung die erodierten Ufer nicht wieder ver-
39         pro natura aktiv                                                     baut werden, wenn nach einer Lawine der Wald wieder von
                                                                                ­alleine zuwächst.
46 	shop                                                                          In unseren stark vom Menschen geprägten und genutzten
                                                                                Landschaften sorgen oft nur noch Extremereignisse für d
                                                                                                                                      ­ iese
48 	die letzte                                                                 überlebenswichtige Dynamik. Deshalb darf der sonst omni­
                                                                                präsente Mensch auch gerne mal zurücktreten, wenn etwas
                                                                                ­geschieht, das seine eigenen Gestaltungsfähigkeiten übertrifft.

                                                                                RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin

Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
«Die Natur setzt neue
Akzente, die wir nur noch
akzeptieren können»

Extreme Naturereignisse seien stark am Zunehmen,
sagt Nils Hählen, Präsident des Vereins Fachleute
Naturgefahren Schweiz. Besonders in den Alpen bestehe
eine grosse Dynamik, gegen die der Mensch mitunter
nichts mehr ausrichten könne.

     Pro Natura Magazin: Bergstürze, Lawinen oder Über-                Noch viel deutlicher als die grossen Ereignisse hat sich in den
     schwemmungen hat es schon immer gegeben. Kann man                 letzten Jahrzehnten die Schadenssumme erhöht, aber das ist
     dennoch sagen, dass die Gefährdung durch natürliche               auch eine Folge der Entwicklung von Siedlung und Infrastruk­
     Extrem­ereignisse insgesamt zugenommen hat?                       tur. Dasselbe Ereignis verursacht heute am gleichen Ort einen
     Nils Hählen: Eine Veränderung stellen wir zweifellos fest, wir    viel grösseren Schaden als noch vor einigen Jahrzehnten.
     befinden uns in einer deutlichen Zunahme extremer Naturereig­
     nisse, das belegen auch viele Studien. Langzeitstudien zeigen     Haben heutige Naturereignisse auch andere Eigenschaften
     aber auch, dass es schon immer zyklische Zunahmen von gros­       oder unterscheidet sich nur die statistische Zunahme ge-
     sen Ereignissen gegeben hat, etwa von Hochwassern. Jetzt stellt   genüber früheren Ereignissen?
     sich die Frage, ob wir uns in einem solchen Zyklus befinden,      Das ist schwierig zu beurteilen, weil unsere Messdaten oft «nur»
     oder ob wir schon die Folgen der Klimaveränderung sehen.          100 Jahre zurückreichen. Aber selbst innerhalb dieser Zeit­
     Wahrscheinlich ist es beides zusammen, doch wissenschaftlich      spanne lassen sich Unterschiede feststellen. Bei der Kander etwa
     wird sich diese Frage erst rückblickend beantworten lassen.       hatten wir in den letzten zwölf Jahren vier derart heftige Hoch­

                                                                                                                     Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
thema                     5

                                                                                             Raphael Weber
                                                                                                             Über Nacht entstand ein neuer See
                                                                                                             Damit hatte niemand gerechnet: Nach schweren Hagel­
                                                                                                             wettern an einem Sommerabend im Juli 1972 schwollen die
                                                                                                             Bäche im Kiental rapid an und rissen gigantische Geröll­
                                                                                                             massen mit. Auf der fast ebenen Tschingelalp, am Fuss der
                                                                                                             imposanten Griesschlucht, kam viel Geschiebe zum Still­
                                                                                                             stand; über Nacht wurde dort ein sechs Meter hoher Damm
                                                                                                             aufgeschichtet. Dahinter stauten sich die Wassermassen,
                                                                                                             und so entstand der Tschingelsee.
                                                                                                             Rund 800 Meter lang und 300 Meter breit war die neue Tou­
                                                                                                             ristenattraktion im Berner Oberland. Doch der See hatte
                                                                                                             auch die Zufahrtsstrasse zur Griesalp verschluckt, und
                                                                                                             so musste der Personen- und Warenverkehr vorerst mit
                                                                                                             Booten aufrechterhalten werden. Die Landbesitzerin, das
                                                                                                             Burger­spital Bern, verzichtete darauf, den früheren Zustand
                                                                                                             wieder­herzustellen, was ohne­hin äusserst aufwendig und
                                                                                                             kostspielig geworden wäre. Eine neue Strasse wurde um den
                                                                                                             See herum geführt. Dieser wurde später zu einem kantona­
                                                                                                             len Naturschutzgebiet und befindet sich heute auch im In­
                                                                                                             ventar der Auen von nationaler Bedeutung.
                                                                                                             Von einem richtigen See kann nun aber nicht mehr die
                                                                                                             Rede sein. Weil der natürlichen Dynamik freien Lauf ge­
                                                                                                             lassen wurde, luden die Bäche im Tschingelsee weiterhin
                                                                                                             viel Geschiebe ab, und deshalb ist die Fläche mehr und
                                                                                                             mehr verlandet. Dadurch präsentiert sich dem Besucher
                                                                                                             heute eine faszinierende Schwemmebene in spektakulärer
                                                                                                             Gebirgslandschaft. Es besteht aber jederzeit die Möglich­
                                                                                                             keit, dass die Landschaft erneut umgestaltet wird. Denn
                                                                                                             durch den schnellen Rückgang des Gamchigletschers liegt
                                                                                                             im Hochgebirge viel Geschiebe, das der Gornernbach bei
                                                                                                             heftigen Unwettern ins Tal mitreissen kann. raw

                          Seit 2010 präsidiert Nils Hählen (42) den        Wir sehen auch, dass die Gletscherbäche viel mehr Geschiebe
                          Verein Fachleute Naturgefahren Schweiz (FAN).
                                                                           als früher mitführen; dieses bringen sie von den immer grösse­
                          Der Forstingenieur leitet seit 2014 die Abtei-
                          lung Naturgefahren im Amt für Wald des Kan-      ren Gletschervorfeldern mit.
                          tons Bern. Zuvor arbeitete er acht Jahre lang
                          als Wasserbauingenieur im kantonalen Tief-
                          bauamt. Er wohnt mit seiner Familie in Spiez.    Unsere Landschaft ist also in grosser Bewegung?
                                                                           Während meines Studiums und des Beginns meiner beruflichen
                          www.fan-info.ch
                                                                           Laufbahn habe ich die Landschaft immer als etwas Statisches
                                                                           verstanden. Mittlerweile stelle ich in den Alpen aber eine enor­
wasser, wie wir sie zuvor in 100 Jahren nie gehabt hatten. So et­          me Dynamik in der Landschaft fest, da gibts starke Veränderun­
was fällt auf.                                                             gen. Innerhalb weniger Jahre können Landschaften ein völlig
                                                                           anderes Erscheinungsbild erhalten. Das benötigt ein Umdenken;
Ist die Schweiz als Alpenstaat besonders von diesen Verän-                 durch die natürlichen Prozesse ist ein grosser Wandel im Gang.
derungen betroffen, weil die Gletscher schmelzen und der
Permafrost zurückgeht?                                                     Nehmen das viele Menschen wahr?
Ja sicherlich. Die Temperaturerhöhung in den Alpen ist gegen­              Den Rückgang der Gletscher kann niemand anzweifeln, das ist
über dem globalen Mittel doppelt so hoch. Und der Gletscher­               zu offensichtlich. Wenn wir aber zum Beispiel talabwärts eine
rückgang ist eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung. Anders            starke Zunahme des Geschiebes vorhersagen, zweifeln das vie­
ist es beim Permafrost, den man nicht von blossem Auge sieht               le Leute an – bis es dann tatsächlich so weit ist.
und zu dem wir keine langfristigen Vergleichswerte haben. Aber
in Gebieten, in denen wir von einem Rückgang des Permafrosts               Bringt das Fachleute wie Sie in ein Dilemma? Einerseits kön-
ausgehen, ist eine Häufung von Sturzprozessen festzustellen.               nen Sie als Schwarzmaler kritisiert werden, andererseits

Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
Alle zehn Jahre wieder
                                                                                            In wiederkehrenden Abständen kann in höher gelege­
                                                                                            nen Alpentälern ein faszinierendes Schauspiel beobach­
                                                                                            tet werden: Grossflächig verfärben sich Lärchenwälder
                                                                                            mitten im Sommer rotbraun. Dieses Phänomen verur­
                                                                                            sacht der Graue Lärchenwickler (Zeiraphera griseana),
                                                                                            eine Nachtfalterart. Seine hungrigen Raupen fressen
                                                                                            die Spitzen der Lärchennadeln und bewirken so, dass
                                                                                            die gesamte Nadel verdorrt. In Jahren der Massenver­
                                                                                            mehrung befinden sich über 20 000 hungrige Raupen
                                                                                            auf einer Lärche. Die Folgen des Befalls sind dann von
                                                                                            Weitem sichtbar.
                                                                                            In den 1940er-Jahren drängte im Engadin die Touris­
                                                                                            musbranche auf den Einsatz des neuen vermeintlichen
                                                                                            Wundermittels DDT zur Behandlung der unschön aus­
                                                                                            sehenden Wälder. Zum Glück wurde dieses aber nur ver­
                                                                                            suchsweise in der Region Goms eingesetzt. Denn wis­
                                                                                            senschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die
                                                                                            Population des Nachtfalters von selbst wieder abrupt
                                                                                            in sich zusammenbricht; im Verhältnis von 30 000 zu 1.
                                                                                            Ein Grund dafür sind natürliche Feinde, vor allem para­
                                                                                            sitierende Wespen und Fliegen, daneben auch Vögel und
                                                                                            Gebirgs­a meisen.
                                                                                            Doch auch die Lärche selbst weiss sich zu helfen: Noch
                                                                                            im selben Jahr treibt sie erneut aus. Zu diesem Zeit­
                                                                                            punkt befinden sich die Raupen des Lärchenwicklers be­
                                                                                            reits zum Verpuppen im Boden. Im Folgejahr produziert
                                                                                            die Lärche kürzere und für die Raupen wenig bekömm­
                                                                                            liche Nadeln. So löst sie eine tiefere Nachkommen­
                                                                                            produktion des Lärchenwicklers aus. Nur sehr wenige
                                                                                            Lärchen sterben an den Folgen des Befalls durch den
                                                                                            Lärchenwickler. Anders sieht es bei den Arven und Fich­
                                                                                            ten aus, die auf dem Höhepunkt auch befallen werden.
                                                                                            Deshalb entstehen aus den reinen Lärchenwäldern kaum
                                                                                            oder nur sehr langsam Nadelmischwälder.
                                                                                            Wie stark der Nachtfalter die Wälder auch in Zukunft mit­
                                                                                            gestaltet, ist ungewiss. In der Vergangenheit wurde eine
                                                                                            Massenvermehrung durchschnittlich alle acht bis zehn
                                                                                            Jahre registriert, heuer ist dieses Phänomen im Wallis
                                                                                            und Oberengadin aber zum ersten Mal seit 30 Jahren
                                                                                            beobachtet worden. Als eine Ursache für diese Verände­
                                                                                            rung vermuten Wissenschaftler der Eidgenössischen For­
                                                                                            schungsanstalt WSL die ansteigenden Temperaturen. jc
                                                                                            www.wsl.ch/laerchenwickler
Beat Wermelinger/WSL

                   können nach einem Schadenereignis schnell Stimmen laut            flexibel erweitert werden können und sich bei Überlastung gut­
                   werden, wonach Sie nicht deutlich genug gewarnt haben.            mütig verhalten.
                  Wir versuchen weder übervorsichtig zu sein noch etwas schön­
                   zureden. Grundsätzlich gilt, dass wir einzelne Ereignisse nur     Treffen Sie bei Ihrer Arbeit auf ein Bewusstsein, dass wir Men-
                   schwierig vorhersagen können. Wir stellen langfristige Trends     schen zu den Verursachern dieser Veränderungen gehören?
                   fest, wir können aber unmöglich konkret sagen, wie viel mehr      In der Projektarbeit ist das kaum ein Thema; da werden nur die
                   Geschiebe ein Murgang in 50 oder 100 Jahren bringt. Deshalb       konkreten Schutzmassnahmen diskutiert. Bei einem Bier nach
                   können wir nicht einfach vorsorglich alle Schutzbauten um die     der Projektsitzung hört man solche Überlegungen schon eher –
                   Hälfte vergrössern lassen. Wir versuchen anhand vergangener       aber ebenso Skeptiker, die keinen Einfluss des Menschen auf
                   und möglicher Ereignisse Vorkehrungen zu treffen, die möglichst   den Klimawandel vermuten.

                                                                                                                                  Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
thema                       7

                                                                                                                         R. Gruaz
Natürliche Dynamik hat für die Natur auch positive Folgen.
Ist es schwierig, die Grenze zu ziehen zwischen dem Zulas-
sen und dem Verhindern dieser Dynamik?
Im Katastrophenschutz gibt es viele Kriterien zu beachten, die
beiden genannten gehören dazu und können durchaus im Ge­
gensatz zueinander stehen. Beim Hochwasserschutz zum Bei­
spiel gibt es vereinfacht gesagt zwei Ansätze: Einerseits können
durch den Bau hoher Ufermauern möglichst grosse Wasser­
mengen durchgeleitet werden, damit die bisherige Landnutzung
möglichst wenig beeinträchtigt wird. Andererseits können gros­
se Uferzonen geschaffen und dem natürlichen Prozess möglichst
viel Raum gegeben werden; dadurch entsteht bei den Schutz­
massnahmen nur wenig Aufwand, hingegen sorgen dann
Nutzungs­verzichte oder Einschränkungen für Widerstand. Oft
funktioniert das zweite Szenario nur bei vollendeten Tatsachen,
also wenn der Schaden bereits entstanden ist und sich die
Wieder­herstellung des Landes gar nicht mehr rechnet. In Gad­
men etwa, beim Zusammenfluss zwischen Wendenwasser und
Steinwasser, wurde 2005 eine grosse Fläche mit Schlamm und
Geröll geflutet. Dort war es schlicht zu aufwendig, den früheren
Zustand wiederherzustellen. Die Natur hatte neue Akzente ge­
setzt, die wir nur noch akzeptieren konnten.

Zeigt das, dass sich der Mensch zwischendurch den Kräften
der Natur unterordnen muss, anstatt immer alles zu orches-
trieren versuchen?
                                                                    150 000 Kubikmeter Moor
                                                                    auf der Rutschbahn
Wir Menschen versuchen immer alles zu managen. Aber ich
                                                                    Das Hochmoor von La Vraconnaz ist ein Feuchtgebiet von
habe mittlerweile einige Ereignisse erlebt, bei denen wir nur
                                                                    nationaler Bedeutung und grösstenteils ein Pro Natura
noch feststellen konnten, dass die Natur stärker ist. Da muss die   Schutzgebiet. Es liegt rund zwei Kilometer von Sainte-Croix
Einsicht kommen, dass man jetzt nur noch zurückstehen und           entfernt auf einem undurchlässigen Mergelsubstrat einer
nichts mehr bewirken kann.                                          feuchten Mulde, umgeben von bewaldeten Berg­         rücken.
                                                                    Wasser kann hier nur über eine der wenigen Dolinen in den
                                                                    Randbereichen des Moors abfliessen. Damit ist das Moor
Wo war das der Fall?                                                ein Paradies für das Torfmoos, den Wiesenpieper und den
Beispielsweise bei den grossen Murgängen in Guttannen. Dort         vom Aussterben bedrohten Hochmoorgelbling.
ist innerhalb von zwei Jahren eine ganz andere Landschaft ent­      Vor rund 30 Jahren, in der Nacht auf den 26. September
standen, und ein beinahe 300-jähriges Haus musste aufgegeben        1987, ergossen sich nach wochenlanger Trockenheit sint­
                                                                    flutartige Regenfälle über die Region — über 180 Millime­
werden. Niemand hat da noch davon gesprochen, den alten Zu­
                                                                    ter in einer einzigen Nacht. Das Moor konnte irgendwann
stand wiederherzustellen. Das wäre weder technisch noch öko­        die Niederschläge nicht mehr aufnehmen. Das Wasser be­
nomisch machbar gewesen, weil die neue Situation so völlig an­      gann sich zwischen der Mergelschicht und dem Moor auf­
ders gewesen ist.                                                   zustauen und hob dieses an.
                                                                    Trotz eines geringen Gefälles von nur vier Prozent ka­
                                                                    men rund 150 000 Kubikmeter Moor ins Rutschen und ver­
Stellt bei Ihnen, als Experte für Risikobeurteilungen, die
                                                                    schoben sich mit Getöse 300 Meter hangabwärts. Auf rund
Natur primär ein Gefährdungspotenzial dar oder empfinden            15  Hektaren wurden Bäume entwurzelt und Mergelschich­
Sie in Ihrer Arbeit auch eine Ehrfurcht vor den Kräften der         ten freigelegt, weitläufige Spalten im Moor aufgerissen und
Natur?                                                              Vegetationsinseln zwischen nacktem Boden oder neu ent­
Wenn man schon grosse Ereignisse hautnah erlebt und nicht nur       standenen Weihern geschaffen.
                                                                    Heute hat das Moor wieder seine Ruhe gefunden, die ver­
am Computer durchmodelliert hat, empfindet man sicherlich
                                                                    änderte Landschaft entwickelt sich ganz natürlich. Die
beide Aspekte. Und das ist auch gut so.                             Bäume haben wieder Wurzeln geschlagen, das Torfmoos
                                                                    hat die feuchten Zonen wiederbesiedelt, die nackten Ober­
RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin                      flächen sind mittlerweile wieder zugewachsen. ra

Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
8         thema

    Kontrolle abgeben,
    beobachten und staunen

    Als Konsequenz des Klimawandels nehmen Naturereignisse zu.
    Bis zu einem gewissen Grad können diese für die Natur positive
    Folgen haben — an einem griffigen Klimaschutz muss aber
    festgehalten werden.

          Kürzlich auf einer Wanderung im Aletschgebiet offenbart der        ten. Grössere Trockenheit, wie wir sie diesen Sommer erlebt ha­
          Blick auf den Gletscher auch einen Hang, der ins Rutschen gera­    ben, erhöht beispielsweise die Waldbrandgefahr. Starknieder­
          ten ist. Wie ein Fächer öffnen sich die senkrechten Steinschich­   schläge, wie sie in der Schweiz seit der Jahrtausendwende
          ten, und die Arven strecken ihre Kronen in alle Himmelsrichtun­    überdurchschnittlich oft und heftig registriert worden sind, kön­
          gen. Etwas später erfahre ich, dass der Wald in einem Natur­       nen Überschwemmungen oder Erdrutsche auslösen. Der Glet­
          waldreservat im Misox brennt. Und auch so spät im Jahr lese ich    scherschwund und der Rückgang des Permafrosts, beides offen­
           immer wieder Nachrichten über das Ausmass des Windwurfs           sichtliche Folgen der Erwärmung unseres Klimas, setzen ganze
           durch die Stürme Burglind und Frederike im vergangenen            Gebirgsmassen in Bewegung.
          Winter.                                                               Es ist der Mensch, der das Klima zerstört. Pro Natura be­
              Solche und weitere Naturereignisse sind bei uns immer wie­     kämpft diesen Prozess entschieden und engagiert sich national
           der aufgetreten. Sie gehören zum natürlichen Kreislauf und ge­    und international für eine wirksame Klimapolitik, die den viel
           stalten die Natur. Doch der Klimawandel kann solche Natur­        zu hohen CO2-Ausstoss markant senken muss. Doch der Wandel
          ereignisse verstärken und dazu führen, dass sie häufiger eintre­   des Klimas ist längst im Gang, die zunehmenden Naturereignis­

                                                                                                                           Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
thema                    9

                                                                                   Ulrich Wasem/WSL
                                                                                                      Glücksstunde für die Biodiversität
                                                                                                      Am 13. August 2003 brannten oberhalb von Leuk (VS) über
                                                                                                      3 Quadratkilometer Wald nieder. Die Ursache war nicht
                                                                                                      natür­licher Art — es handelte sich um Brandstiftung —, doch
                                                                                                      natürlich war die Dynamik, die nach diesem Ereignis ein­
                                                                                                      setzte. Denn aus Kostengründen wurde entschieden, auf
                                                                                                      eine Wiederaufforstung grösstenteils zu verzichten und so­
                                                                                                      mit der natürlichen Entwicklung freien Lauf zu lassen.
                                                                                                      Diese liess nicht lange auf sich warten: Nach drei Jahren
                                                                                                      waren drei Viertel der verkohlten Oberfläche wieder grün.
                                                                                                      Forschende der WSL fanden auf der Fläche innert zehn
                                                                                                      Jahren 560 Pflanzenarten und fast 2000 (!) Arten von In­
                                                                                                      sekten, Spinnen und Asseln, darunter Käferarten, die sonst
                                                                                                      in der Schweiz noch kaum je gesichtet worden sind. Viele
                                                                                                      bedrohte oder seltene Vogelarten wie Wendehals, Garten­
                                                                                                      rotschwanz oder Steinrötel besiedelten das verbrannte Ge­
                                                                                                      biet in hoher Zahl. Die offene Fläche und die durch das
                                                                                                      Feuer freigesetzten Nährstoffe boten ideale Voraussetzun­
                                                                                                      gen für eine üppige Naturentfaltung.
                                                                                                      Der aussergewöhnliche Zustand ist jedoch nicht von Dauer,
                                                                                                      denn der Wald erobert sich das Terrain zurück: Bereits im
                                                                                                      zweiten Jahr keimten viele Laubbäume, deren Samen vom
                                                                                                      Wind herangetragen wurden. Die meisten der verkohlten
                                                                                                      Flaumeichen schafften es sogar, wieder auszuschlagen.
                                                                                                      In den tieferen Lagen der Brandfläche wächst anstelle
                                                                                                      des bisherigen Nadelwaldes ein Laubwald — eine klima­
                                                                                                      bedingte Entwicklung, die andernorts im Wallis ebenfalls
                                                                                                      abläuft, wenngleich wesentlich langsamer. Die natürliche
                                                                                                      Dynamik nach dem Waldbrand bot also nicht nur eine sel­
                                                                                                      tene «Happy Hour» für die Biodiversität, sondern hinter­
                                                                                                      lässt langfristig einen Wald, der dem künftigen Klima bes­
                                                                                                      ser angepasst sein wird. mu

se sind Zeugen dieser Entwicklung, und deshalb stellt sich für    vorhanden ist, wird im Naturschutz mitunter versucht, diese feh­
den Naturschutz die Frage, wie mit den Folgen dieser Ereignisse   lende Dynamik künstlich nachzuahmen: So führt etwa das
umzugehen ist.                                                    ­Ringeln von Bäumen zu einem grösseren Totholzangebot, das
                                                                  Lebensraum für unzählige holzbewohnende Käfer bietet. Oder
«Störungen» schaffen Lebensräume                                  das punktuelle Abtragen von Humus schafft offene Rohböden,
Natürliche Dynamik wird häufig ausschliesslich als Zerstörung     die von spezialisierten Arten wieder besiedelt werden.
wahrgenommen und als Schaden bezeichnet. Doch: Diese «Stö­           Flächen mit natürlicher Entwicklung dienen auch als Gen­
rungen» schaffen auch neue Lebensräume und Strukturen, wie        reservoir sowie als Rückzugsort und Ausbreitungsquelle spezia­
sie in der Schweiz selten sind; beispielsweise Ruderalflächen     lisierter Arten. Ebenso leisten sie einen Beitrag zur Wissenschaft,
und Pionierwälder. Gewisse Arten sind für ihr Überleben sogar     indem wir die natürliche Entwicklung beobachten und daraus
auf diese Dynamik angewiesen.                                     Lehren ziehen, zum Beispiel für eine effiziente und nachhaltige
     Weil in unseren vom Menschen gestalteten und genutzten       Waldbewirtschaftung. Und sie ermöglichen es uns, die Bezie­
Landschaften die natürliche Dynamik nur noch sehr begrenzt        hung des Menschen zur Natur zu stärken und eine direkte Natur­

Pro Natura Magazin 5 / 2018
Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
10            thema

Katalysatoren für die Biodiversität
Der Schweizerische Nationalpark (SNP) wurde anfangs
des 20. Jahrhunderts von der heutigen Pro Natura und
der Akademie für Naturwissenschaften geschaffen, um ein
Stück «ursprünglicher Alpennatur» sich selbst zu über­
lassen und die natürliche Entwicklung wissenschaftlich zu
doku­mentieren. Das Konzept des Totalschutzes war damals
revolutionär, und der SNP ist auch heute noch alpenweit
das grösste Totalreservat.
Prozessschutz gehört neben dem Schutz von Pflanzen, Tie­
ren und Lebensräumen zu den zentralen Zielen des SNP. Zu
diesen Prozessen gehören auch Lawinen. Für viele Men­
schen ist es schwer nachvollziehbar, was das Erstrebens­
werte an einem Lawinenniedergang sein soll und weshalb
der SNP keine Massnahmen gegen «Lawinen­schäden» er­
greift.
Der SNP muss sich deshalb der Herausforderung stellen,
den Sinn von Prozessschutz zu erklären. Dank der For­
schung weiss man, dass Lawinen nicht nur Zerstörung
bringen, sondern einen dynamischen Faktor im natürlichen
Kreislauf darstellen. Sie schlagen Schneisen in die Berg­
wälder, schaffen dadurch neuen Lebensraum für lichtbe­
dürftige Pflanzen- und Tierarten und wirken als Katalysato­
ren der Biodiversität. So kann, wie im Bild ersichtlich, eine
arten­reiche Kraut- und Strauchschicht entstehen, die auch
vielen Insekten Nahrung und Lebensraum bietet. Deshalb
erstaunt es nicht, dass gemäss einer Studie des Schnee-
und Lawinenforschungs­instituts SLF in Lawinenschneisen
dreimal mehr Arten leben als im angrenzenden Wald. hl

              erfahrung zu machen. So etwa auch im grössten Naturraum der      keimlinge wieder besiedelt. Mit der Zeit sind nach den rasch
              Schweiz, in dem diese natürliche Dynamik zugelassen wird:        wachsenden Pionierpflanzen aber auch die vorher häufigen Ei­
               dem Schweizerischen Nationalpark.                               chen und Föhren wieder zurückgekommen. Die Natur zeigte in
                                                                               diesen Fällen eine unerwartete Regenerationskraft.
              Unerwartete Regenerationskraft                                       Das Zulassen von natürlicher Dynamik darf selbstverständ­
              Erfahrungen aus vergangenen grossen Naturereignissen haben       lich aber nicht zu einer menschlichen Gefährdung führen. Ent­
              gezeigt, dass diese einige Überraschungen bereithalten können.   scheidend ist es auch, solche Flächen als einen weiteren Beitrag
              Nach den grossflächigen Windwürfen durch den Sturm Lothar        für mehr natürliche Vielfalt zu betrachten. Es ist kein Entweder-
               im Winter 1999 wurde beobachtet, dass auf fast allen offenen    oder zum traditionellen Kulturlandschaftsschutz. Beide Ansätze
              Flächen wieder junger Wald aufwächst. Beim Waldbrand in Leuk     – sowohl gezielte Naturschutzmassnahmen als auch das Zulas­
              von 2003 verbrannten auf einem grossen Teil der Fläche sowohl    sen von natürlicher Dynamik – sind in unseren, vom Menschen
               die Bodenvegetation als auch die Baumkronen. Bereits nach we­   geprägten Landschaften wichtig für eine vielfältige Natur. Auch
              nigen Jahren war die Fläche durch Krautpflanzen und Baum­        Pro Natura führt in der Mehrzahl ihrer knapp 700 Naturschutz­

                                                                                                                             Pro Natura Magazin 5 / 2018
Raphael Weber (2x)

                                                                     Tödliche Gefahr schafft
                                                                     neue Urlandschaften
                                                                     Sucht man online nach «Derborence», sind die Mehrheit der
                                                                     Treffer Ausflugstipps. Die Beschreibungen sind überschüttet
                                                                     mit Superlativen, vor allem zur Schönheit der wilden Land­
                                                                     schaft. Hätte man im 18. Jahrhundert die Bewohner der be­
                                                                     nachbarten Dörfer gefragt, wäre die Reaktion eine andere
                                                                     gewesen. Denn die Menschen hatten Angst vor den Naturge­
                                                                     walten im Walliser Hochtal. In den Jahren 1714 und 1749 er­
                                                                     eigneten sich dort zwei verheerende Bergstürze. Diese über­
                                                                     schütteten einen grossen Teil der früheren Alpenweiden und
                                                                     Alpgebäude mit bis zu 100 Meter hohem Geröll und stauten
                                                                     einen See auf: den Lac Derborence. Das Berg­massiv, aus dem
gebiete notwendige Pflegemassnahmen durch. In mehreren, vor­
                                                                     sich die Felsmassen lösten, wurde von den Einheimischen des­
wiegend grossräumigen Schutzgebieten kann sich die Natur aber        halb in «Les Diablerets», die Teufelshörner, umbenannt.
frei entwickeln.                                                     Einzelne Felsbrocken donnerten auch nach den grossen
                                                                     Bergstürzen regelmässig ins Tal, deshalb mieden Einhei­
Unerwünschte Folgen sind möglich                                     mische fortan diese gefährliche Gegend. Somit entwickelte
                                                                     sich an den Hangflanken während 300 Jahren einer von nur
Das Zulassen der natürlichen Entwicklung auf bestimmten Flä­
                                                                     drei Urwäldern in der Schweiz. Das häufige Totholz der ab­
chen – ob gross- oder kleinräumig, langfristig oder temporär, in     gestorbenen und teils umgestürzten Baumriesen bietet ei­
abgelegenen oder gut erschlossenen Gebieten – kann auch uner­        nen Lebensraum, der in der Schweiz sehr selten geworden
wünschte Folgen haben. Neobiota können sich ansiedeln und            ist. Mittlerweile erschliesst eine abenteuerliche Zufahrts­
von dort weiter ausbreiten, oder es entstehen ungewollte Schä­       strasse das Tal, und im Sommer finden zahlreiche Besu­
                                                                     cher auf einem kleinen Pfad im Wald und am See Erholung.
den an Infrastruktur. In der kleinräumigen und sehr gut erschlos­
                                                                     Im Winter aber ist die Strasse geschlossen und das Tal im­
senen Schweiz kann es auch rasch zu Konkurrenz mit anderen           mer noch so wild, wie es während mehreren Hundert Jah­
Ansprüchen an diese Flächen kommen.                                  ren war. jc/sm

Pro Natura Magazin 5 / 2018
12            thema

Der Bach holt sich sein Bett zurück
68 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schossen am Abend
des 12. Mai 1999 durch die Bünz, im Jahresdurchschnitt
sind es 1,1 Kubikmeter. Diese enormen Wassermengen ver­
änderten innerhalb weniger Stunden einen Talabschnitt
dieses Bachs, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
auf weiten Strecken in ein enges Korsett gedrängt wurde.
Bei Möriken, einem Bereich mit etwas mehr Gefälle, began­
nen die Ufer zu erodieren, zeitgleich wurden durch einen
Rückstau die umliegenden Ackerböden geflutet, dadurch
wurde dort das Land abgeschwemmt. Es entstanden neue
Seitenarme, bald mass das ursprünglich acht Meter breite
Bachbett 40 bis 50 Meter Breite.
Rund vier Hektaren Kulturland und 12 000 Kubikmeter
Material wurden in einer Nacht umgelagert oder wegge­
schwemmt. Zu viel, dass die früheren Verhältnisse hätten
wiederhergestellt werden können. Deshalb entschieden
verschiedene kantonale Fachstellen, eine Auenlandschaft
entstehen zu lassen. Durch Tausch oder Kauf konnten
20  Hektaren in den Besitz des Kantons und 27 Hektaren in
den Besitz der Standortgemeinden überführt werden. Wei­
tere Hochwasser 2007 und 2015 haben die Aue wieder neu
modelliert. cf

                                                              Beat Hauenstein/naturschutzdrohne.ch

                  Und: Natürliche Extremereignisse dürfen auch nicht Über­                           Auf nationaler Ebene sind die Naturschutzverbände jetzt ge­
              hand nehmen und zu häufig auftreten. Denn Extremereignisse                     fordert, sich mit den Folgen von Naturereignissen auseinanderzu­
              haben nur bis zu einem gewissen Grad eine positive Wirkung                     setzen. Natürliche Dynamik ist als Konzept im Naturschutz
              auf die Natur.                                                                 schwieriger zu akzeptieren und auch zu erklären, weil es ergebnis­
                                                                                             offen ist und die Entwicklung nicht direkt gesteuert werden kann.
              Positiv nur bis zu einem gewissen Grad                                         Es fällt uns scheinbar schwer, das Steuer loszulassen. Ob das so
              Treten diese zu häufig auf, kann sich die Natur nicht mehr rege­               ist, weil es uns nutzlos fühlen lässt und uns die fehlende Kontrol­
              nerieren. An vielen Orten der Welt lassen sich die tragischen                  le vielleicht sogar Angst macht? Mit Geduld und Offenheit können
              Konsequenzen dieser Entwicklung bereits feststellen. Dürren,                   wir uns darauf einlassen, eine unbekannte Entwicklung abzuwar­
              Stürme oder Überschwemmungen haben schon ganze Landstri­                       ten. Uns überraschen lassen. Und vielleicht lässt uns das, was wir
              che unbewohnbar gemacht und zu grossen Flüchtlingsströmen                      dann beobachten können, still werden und staunen.
              geführt. An einer griffigen Klimapolitik ist deshalb unbedingt                 LESLY HELBLING ist bei Pro Natura Projektleiterin
              festzuhalten.                                                                  für Schutzgebiete und Waldreservate.

                                                                                                                                                 Pro Natura Magazin 5 / 2018
zur sache

                                                                                             Mehr zulassen als lenken
                                                                                             Ich wohne mit meiner Familie direkt am Fluss, an der Limmat­
                                                                                             mündung neben der Aare. Dort im Aargau, wo Aare, Reuss und
                                                                                             Limmat spektakulär zusammentreffen und der Landschaft den
                                                                                             Namen Wasserschloss gegeben haben. Knapp 50 Prozent der
                                                                                             Oberfläche der Schweiz entwässert sich über dieses Flusssystem.
                                                                                             Mein Leben wird direkt vom Wasserstand mitbestimmt, und das
                                                                                             Beobachten der Pegelstände gehört zu meinem Alltag. Einmal pro
                                                                                             Jahr müssen wir durchschnittlich mit mehr oder weniger Wasser
                                                                                             vor der Haustüre rechnen. Wir leben im Quartier einer ehemali­
                                                                      Reinhard Laessig/WSL

                                                                                             gen denkmalgeschützten Spinnerei, die vor 150 Jahren im Über­
                                                                                             schwemmungsbereich eines Flusses erbaut wurde.
                                                                                                Unsere Vor-Vorfahren haben die Dynamik der Flüsse respek­
                                                                                             tiert. Siedlungen, Felder und Äcker wurden mit Abstand und er­
                                                                                             höht zum Fliessgewässer angelegt. Doch um mehr Landwirt­
                                                                                             schaftsflächen für die wachsende Bevölkerung zu beschaffen,
     Nach dem Sturm
     wächst der Urwald heran                                                                 wurden später Dämme gebaut und Flussläufe begradigt. Plötz­
     Die starken Windböen von Burglind Anfang Jahr haben in                                  lich sind dann noch Gebäude, Strassen und Deponien in den
     Erinnerung gerufen, welche Kraft Stürme an den Tag legen                                ehemaligen Auen erstellt worden. Die verheerenden Folgen ken­
     können. Danach liegen und stehen Bäume verdreht, abge­                                  nen wir.
     brochen oder entwurzelt auf den Windwurfflächen im Wald.                                   Dynamik ist wichtig für die Vielfalt der Lebensräume und
     Vor zwanzig Jahren durchquerte der Orkan Lothar die
                                                                                             Lebewesen. Natürliche Flusslandschaften modellieren sich sel­
     Schweiz und schlug zahlreiche Schneisen in die Wälder der
     Schweiz, so auch im Rorwald im Kanton Obwalden.                                         ber, Hangrutsche oder Felsabbrüche schaffen neue Lebens­
     Die Korporation «Teilsame Lungern-Obsee» machte aus der                                 räume, alte Baumbestände in Urwäldern brechen zusammen
     Not eine Tugend: Sie sparte sich die aufwendigen und teu­                               und so entstehen offene Flächen, Orkane fällen Wald, Wald­
     ren Aufräumarbeiten und schied im Jahr 2000 gemeinsam                                   brand schafft offene Flächen. Für die Natur ist Dynamik eine
     mit dem Kanton und Pro Natura ein Waldreservat zuguns­
                                                                                             Chance; Pflanzen, Tiere und Ökosysteme stellen sich darauf ein.
     ten der Natur aus. Im Kern des Reservats entwickelt sich der
     Wald seither ohne jeglichen menschlichen Eingriff.                                      Für unsere Gesellschaft hingegen wirkt sie sich meist als Natur­
     Für das scheue Auerhuhn, das hier für die Schweiz unge­                                 katastrophe mit Schadensbilanz aus. Schaut man genauer hin,
     wöhnlich hohe Dichten aufweist, ist dieser Nutzungsver­                                 müssen wir allerdings oft feststellen, dass wir uns zu weit vor­
     zicht ein Segen. Ausserdem profitieren vom Totholz, das                                 gedrängt haben.
     durch den Sturm entstanden ist, zahlreiche Insekten und
                                                                                                Die Abfolge von Eiszeiten und wärmeren Epochen ist eben­
     Pilze. Wissenschaftliche Untersuchungen der eidgenössi­
     schen Forschungsanstalt WSL zeigen schon jetzt, dass sich                               falls ein dynamischer Prozess. Ein Entstehen und Vergehen in
     die nächste Baumgeneration auch ohne forstliche Nachhilfe                               einem für unsere Vorstellung nicht nachvollzieh­baren Zeit­
     gut entwickelt und artenreich ist.                                                      bogen. Pflanzen, Tiere und die ganzen Ökosysteme können sich
     Ein natürlicher Prozess nach Sturmereignissen in Fichten­                               über riesige Zeiträume anpassen. Greifen wir Menschen aber
     wäldern ist auch das Auftreten des Buchdruckers, der be­
                                                                                             ins System ein, wie aktuell auch mit der Klima­erwärmung,
     kanntesten Borkenkäferart. Während im Waldreservat das
     Absterben von Bäumen ein Teil der natürlichen Dynamik ist,                              dann läuft es so schnell ab, dass weder Natur noch Mensch sich
     war ein flächiger Befall der Schutzwälder entlang der benach­                           darauf einstellen können.
     barten Giswiler Laui aus Sicherheitsgründen hingegen nicht                                 Wir müssen der Natur wieder mehr Platz geben. Ich selber
     erwünscht. Deshalb wurde zwischen Schutzwald und Wald­                                  führe für Pro Natura Projekte zur Renaturierung von Fliess­
     reservat ein Pufferstreifen eingerichtet, befallene Bäume wur­
                                                                                             gewässern aus. Und auch im Naturschutz ist das Spannungsfeld
     den dort entfernt. Dies zeigte Wirkung: Die Borken­käfer dran­
     gen kaum in den Schutzwald vor, und im Waldreservat gingen                              zwischen dem Erhalten und Pflegen einerseits sowie dem Zulas­
     die Bestände von alleine wieder zurück.                                                 sen und Entwickeln der Dynamik andererseits oft spürbar.
     Dank des Waldreservats wird sich der Rorwald zu einem                                   Nach zahlreichen Projekten und viel Erfahrung im Unterhalt
     «Urwald» entwickeln können: Die durch Lothar entstan­
                                                                                             von Naturschutzgebieten bin ich unterdessen zur Überzeugung
     denen Lichtungen werden sich langsam schliessen, durch
                                                                                             gelangt, dass wir in diesem Bereich auch mehr zulassen sollten,
     das Umfallen von alten grossen Bäumen entstehen wieder
     neue kleinere Lichtungen. Und der Prozess beginnt von                                   als vermeintlich zu lenken.
     vorne. jc/sm                                                                            CHRISTOPH FLORY ist Mitglied des Zentralvorstandes von Pro Natura.

Pro Natura Magazin 5 / 2018
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