Pro natura magazin - Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
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pro natura magazin 5/ 2018 OKtober Nach Naturereignissen braucht es mehr Mut zur natürlichen Dynamik
2 inhalt 4 Landschaften werden verändert Naturereignisse wie Stürme, Überschwemmungen oder Bergstürze nehmen besonders in den Alpen stark zu. Das birgt Chancen und Risiken. 18 Reinhard Laessig/WSL Mehr als menschlich In seinem neusten Film übernimmt der kanadisch-schweizerische Filmemacher Peter Mettler radikal 14 die Optik der Tiere. Vera Howard Der Mythos vom bösen Wolf Tiere wie Kühe, Bienen und Hunde sind für den Eamon MacMahon Menschen weitaus gefährlicher, doch gegenüber dem Wolf besteht oft eine irrationale Angst. Wir suchen nach den Hintergründen. 29 Raphael Weber Jagdfreie Zonen Im Herbst wird zur Jagd geblasen, doch in 24 den Eidgenössischen Jagdbanngebieten müssen die Keystone Flinten (weitgehend) ruhen. Für die Tierwürde Sie bilden die Königsklasse der Warum Pro Natura eine Wildruhezonen. Annahme der Hornkuh- Initiative empfiehlt. pro natura magazin von der Zewo als gemeinnützig anerkannt. Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz Impressum: Pro Natura Magazin 5/2018. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235 Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Nicolas Gattlen (nig), Redaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv Layout: Vera Howard, Raphael Weber. Titelbild: Daniel Bürki/www.grimselfoto.ch. Lawine, die im März 2017 bei Guttannen (BE) vom 2800 Meter hohen Gallouwisteck knapp 2000 Meter ins Tal donnerte. Mitarbeit an dieser Ausgabe: René Amstutz (ra), Andreas Boldt (abo), Claudine Bössinger, Josephine Cueni (jc), Christoph Flory (cf), Lesly Helbling, Paul Imhof, Marcel Liner (ml), Hans Lozza (hl), Sabine Mari, Susanna Meyer (sm), Lorenz Mohler (Übersetzungen), Franziska Scheuber, Franziska Schmid (fs), Urs Tester (ut), Marcus Ulber (mu), Sara Wehrli (sw), Rolf Zenklusen Redaktionsschluss Nr. 1/2019: 13.11.2018 Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 150 000 (109 000 deutsch, 41 000 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier. Anschrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: mailbox@pronatura.ch; www.pronatura.ch; PK‑40-331-0 Inserate: CEBECO GmbH, Webereistr. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, cebeco@bluewin.ch. Inserateschluss 1/2019: 23.11.2018 Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutzunion IUCN und Schweizer Mitglied von Friends of the Earth International. www.pronatura.ch Pro Natura Magazin 5 / 2018
3 editorial 4 thema 4 tarke Zunahme: Naturereignisse nehmen in Anzahl und S Wir müssen zurückstehen, Intenstität zu, sagt der Naturgefahrenexperte. wenn grössere Kräfte am Werk sind 8 imitierter Nutzen: Naturereignisse können positive Folgen L auf die Natur haben — bis zu einem gewissen Grad. Hören wir Begriffe wie Lawine, Sturm oder Überschwemmung, sind wir alarmiert. Aus verständlichen Gründen, sind wir doch 14 köpfe besorgt, dass bei diesen Naturereignissen Menschen zu Schaden kommen. Anlässe zu dieser Sorge gibt es leider immer wieder, 16 in kürze wie wir dies beispielsweise vor gut einem Jahr beim verheeren- den Bergsturz von Bondo gesehen haben. 18 brennpunkt Mit dieser Ausgabe wagen wir dennoch, einen anderen 18 R eale Bedrohung? Eine norwegische Studie hat ermittelt, Blick auf Naturereignisse zu werfen. Denn für die Natur sind welche statistische Gefahr von Wölfen ausgeht. Vorkommnisse wie Erdrutsche, Stürme, Waldbrände meistens 20 G ehilfe des Teufels? Wölfe galten in Märchen als Sinnbild fürs eine Chance. Sie bringen Dynamik in die natürlichen Kreisläufe, Böse — das wirkt bis heute. schaffen neue Lebensräume, auf die viele Arten angewiesen 22 V om Tisch? Nach der Ablehnung des Parco Locarnese liegt sind. die Gründung eines zweiten Nationalparks in weiter Ferne. Naturereignisse hat es schon immer gegeben, doch mit der Zerstörung des Klimas haben sie in der Anzahl und Intensität 24 infogalerie zugenommen. Denn Gletscherschwund, Rückgang des Perma frosts, Extremniederschläge – alles unmittelbare Folgen der 28 news Klimaerwärmung – machen unsere Alpen instabiler. 28 I m Korsett: Der Kanton Schwyz nutzt die Gelegenheit Pro Natura engagiert sich weiterhin für eine griffige Klima- nicht, um einen begradigten Fluss zu renaturieren. politik. Doch leider ist die Klimaerwärmung schon weit fortge- 29 D as Kuhhorn: Was den Naturschutz mit diesem Organ schritten und damit auch die Zunahme dieser Naturereignisse. unserer Nutztiere verbindet. Deshalb stellt sich auch aus naturschützerischer Sicht die Fra- 30 D er Modell-Rebberg: Weinbau funktioniert auch ge, wie wir mit häufigeren Unwettern, kräftigeren Orkanen und ohne Giftduschen. grösseren Erdrutschen umgehen. Der Zivilisation muss dabei weiterhin der grösstmögliche 34 beobachtet Schutz entgegengebracht werden. Doch mit Beispielen zeigen wir in diesem Magazin, dass die Natur profitiert, wenn nicht 36 service nach jedem Sturm das Fallholz weggeräumt wird, wenn nach einer Überschwemmung die erodierten Ufer nicht wieder ver- 39 pro natura aktiv baut werden, wenn nach einer Lawine der Wald wieder von alleine zuwächst. 46 shop In unseren stark vom Menschen geprägten und genutzten Landschaften sorgen oft nur noch Extremereignisse für d iese 48 die letzte überlebenswichtige Dynamik. Deshalb darf der sonst omni präsente Mensch auch gerne mal zurücktreten, wenn etwas geschieht, das seine eigenen Gestaltungsfähigkeiten übertrifft. RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin Pro Natura Magazin 5 / 2018
«Die Natur setzt neue Akzente, die wir nur noch akzeptieren können» Extreme Naturereignisse seien stark am Zunehmen, sagt Nils Hählen, Präsident des Vereins Fachleute Naturgefahren Schweiz. Besonders in den Alpen bestehe eine grosse Dynamik, gegen die der Mensch mitunter nichts mehr ausrichten könne. Pro Natura Magazin: Bergstürze, Lawinen oder Über- Noch viel deutlicher als die grossen Ereignisse hat sich in den schwemmungen hat es schon immer gegeben. Kann man letzten Jahrzehnten die Schadenssumme erhöht, aber das ist dennoch sagen, dass die Gefährdung durch natürliche auch eine Folge der Entwicklung von Siedlung und Infrastruk Extremereignisse insgesamt zugenommen hat? tur. Dasselbe Ereignis verursacht heute am gleichen Ort einen Nils Hählen: Eine Veränderung stellen wir zweifellos fest, wir viel grösseren Schaden als noch vor einigen Jahrzehnten. befinden uns in einer deutlichen Zunahme extremer Naturereig nisse, das belegen auch viele Studien. Langzeitstudien zeigen Haben heutige Naturereignisse auch andere Eigenschaften aber auch, dass es schon immer zyklische Zunahmen von gros oder unterscheidet sich nur die statistische Zunahme ge- sen Ereignissen gegeben hat, etwa von Hochwassern. Jetzt stellt genüber früheren Ereignissen? sich die Frage, ob wir uns in einem solchen Zyklus befinden, Das ist schwierig zu beurteilen, weil unsere Messdaten oft «nur» oder ob wir schon die Folgen der Klimaveränderung sehen. 100 Jahre zurückreichen. Aber selbst innerhalb dieser Zeit Wahrscheinlich ist es beides zusammen, doch wissenschaftlich spanne lassen sich Unterschiede feststellen. Bei der Kander etwa wird sich diese Frage erst rückblickend beantworten lassen. hatten wir in den letzten zwölf Jahren vier derart heftige Hoch Pro Natura Magazin 5 / 2018
thema 5 Raphael Weber Über Nacht entstand ein neuer See Damit hatte niemand gerechnet: Nach schweren Hagel wettern an einem Sommerabend im Juli 1972 schwollen die Bäche im Kiental rapid an und rissen gigantische Geröll massen mit. Auf der fast ebenen Tschingelalp, am Fuss der imposanten Griesschlucht, kam viel Geschiebe zum Still stand; über Nacht wurde dort ein sechs Meter hoher Damm aufgeschichtet. Dahinter stauten sich die Wassermassen, und so entstand der Tschingelsee. Rund 800 Meter lang und 300 Meter breit war die neue Tou ristenattraktion im Berner Oberland. Doch der See hatte auch die Zufahrtsstrasse zur Griesalp verschluckt, und so musste der Personen- und Warenverkehr vorerst mit Booten aufrechterhalten werden. Die Landbesitzerin, das Burgerspital Bern, verzichtete darauf, den früheren Zustand wiederherzustellen, was ohnehin äusserst aufwendig und kostspielig geworden wäre. Eine neue Strasse wurde um den See herum geführt. Dieser wurde später zu einem kantona len Naturschutzgebiet und befindet sich heute auch im In ventar der Auen von nationaler Bedeutung. Von einem richtigen See kann nun aber nicht mehr die Rede sein. Weil der natürlichen Dynamik freien Lauf ge lassen wurde, luden die Bäche im Tschingelsee weiterhin viel Geschiebe ab, und deshalb ist die Fläche mehr und mehr verlandet. Dadurch präsentiert sich dem Besucher heute eine faszinierende Schwemmebene in spektakulärer Gebirgslandschaft. Es besteht aber jederzeit die Möglich keit, dass die Landschaft erneut umgestaltet wird. Denn durch den schnellen Rückgang des Gamchigletschers liegt im Hochgebirge viel Geschiebe, das der Gornernbach bei heftigen Unwettern ins Tal mitreissen kann. raw Seit 2010 präsidiert Nils Hählen (42) den Wir sehen auch, dass die Gletscherbäche viel mehr Geschiebe Verein Fachleute Naturgefahren Schweiz (FAN). als früher mitführen; dieses bringen sie von den immer grösse Der Forstingenieur leitet seit 2014 die Abtei- lung Naturgefahren im Amt für Wald des Kan- ren Gletschervorfeldern mit. tons Bern. Zuvor arbeitete er acht Jahre lang als Wasserbauingenieur im kantonalen Tief- bauamt. Er wohnt mit seiner Familie in Spiez. Unsere Landschaft ist also in grosser Bewegung? Während meines Studiums und des Beginns meiner beruflichen www.fan-info.ch Laufbahn habe ich die Landschaft immer als etwas Statisches verstanden. Mittlerweile stelle ich in den Alpen aber eine enor wasser, wie wir sie zuvor in 100 Jahren nie gehabt hatten. So et me Dynamik in der Landschaft fest, da gibts starke Veränderun was fällt auf. gen. Innerhalb weniger Jahre können Landschaften ein völlig anderes Erscheinungsbild erhalten. Das benötigt ein Umdenken; Ist die Schweiz als Alpenstaat besonders von diesen Verän- durch die natürlichen Prozesse ist ein grosser Wandel im Gang. derungen betroffen, weil die Gletscher schmelzen und der Permafrost zurückgeht? Nehmen das viele Menschen wahr? Ja sicherlich. Die Temperaturerhöhung in den Alpen ist gegen Den Rückgang der Gletscher kann niemand anzweifeln, das ist über dem globalen Mittel doppelt so hoch. Und der Gletscher zu offensichtlich. Wenn wir aber zum Beispiel talabwärts eine rückgang ist eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung. Anders starke Zunahme des Geschiebes vorhersagen, zweifeln das vie ist es beim Permafrost, den man nicht von blossem Auge sieht le Leute an – bis es dann tatsächlich so weit ist. und zu dem wir keine langfristigen Vergleichswerte haben. Aber in Gebieten, in denen wir von einem Rückgang des Permafrosts Bringt das Fachleute wie Sie in ein Dilemma? Einerseits kön- ausgehen, ist eine Häufung von Sturzprozessen festzustellen. nen Sie als Schwarzmaler kritisiert werden, andererseits Pro Natura Magazin 5 / 2018
Alle zehn Jahre wieder In wiederkehrenden Abständen kann in höher gelege nen Alpentälern ein faszinierendes Schauspiel beobach tet werden: Grossflächig verfärben sich Lärchenwälder mitten im Sommer rotbraun. Dieses Phänomen verur sacht der Graue Lärchenwickler (Zeiraphera griseana), eine Nachtfalterart. Seine hungrigen Raupen fressen die Spitzen der Lärchennadeln und bewirken so, dass die gesamte Nadel verdorrt. In Jahren der Massenver mehrung befinden sich über 20 000 hungrige Raupen auf einer Lärche. Die Folgen des Befalls sind dann von Weitem sichtbar. In den 1940er-Jahren drängte im Engadin die Touris musbranche auf den Einsatz des neuen vermeintlichen Wundermittels DDT zur Behandlung der unschön aus sehenden Wälder. Zum Glück wurde dieses aber nur ver suchsweise in der Region Goms eingesetzt. Denn wis senschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Population des Nachtfalters von selbst wieder abrupt in sich zusammenbricht; im Verhältnis von 30 000 zu 1. Ein Grund dafür sind natürliche Feinde, vor allem para sitierende Wespen und Fliegen, daneben auch Vögel und Gebirgsa meisen. Doch auch die Lärche selbst weiss sich zu helfen: Noch im selben Jahr treibt sie erneut aus. Zu diesem Zeit punkt befinden sich die Raupen des Lärchenwicklers be reits zum Verpuppen im Boden. Im Folgejahr produziert die Lärche kürzere und für die Raupen wenig bekömm liche Nadeln. So löst sie eine tiefere Nachkommen produktion des Lärchenwicklers aus. Nur sehr wenige Lärchen sterben an den Folgen des Befalls durch den Lärchenwickler. Anders sieht es bei den Arven und Fich ten aus, die auf dem Höhepunkt auch befallen werden. Deshalb entstehen aus den reinen Lärchenwäldern kaum oder nur sehr langsam Nadelmischwälder. Wie stark der Nachtfalter die Wälder auch in Zukunft mit gestaltet, ist ungewiss. In der Vergangenheit wurde eine Massenvermehrung durchschnittlich alle acht bis zehn Jahre registriert, heuer ist dieses Phänomen im Wallis und Oberengadin aber zum ersten Mal seit 30 Jahren beobachtet worden. Als eine Ursache für diese Verände rung vermuten Wissenschaftler der Eidgenössischen For schungsanstalt WSL die ansteigenden Temperaturen. jc www.wsl.ch/laerchenwickler Beat Wermelinger/WSL können nach einem Schadenereignis schnell Stimmen laut flexibel erweitert werden können und sich bei Überlastung gut werden, wonach Sie nicht deutlich genug gewarnt haben. mütig verhalten. Wir versuchen weder übervorsichtig zu sein noch etwas schön zureden. Grundsätzlich gilt, dass wir einzelne Ereignisse nur Treffen Sie bei Ihrer Arbeit auf ein Bewusstsein, dass wir Men- schwierig vorhersagen können. Wir stellen langfristige Trends schen zu den Verursachern dieser Veränderungen gehören? fest, wir können aber unmöglich konkret sagen, wie viel mehr In der Projektarbeit ist das kaum ein Thema; da werden nur die Geschiebe ein Murgang in 50 oder 100 Jahren bringt. Deshalb konkreten Schutzmassnahmen diskutiert. Bei einem Bier nach können wir nicht einfach vorsorglich alle Schutzbauten um die der Projektsitzung hört man solche Überlegungen schon eher – Hälfte vergrössern lassen. Wir versuchen anhand vergangener aber ebenso Skeptiker, die keinen Einfluss des Menschen auf und möglicher Ereignisse Vorkehrungen zu treffen, die möglichst den Klimawandel vermuten. Pro Natura Magazin 5 / 2018
thema 7 R. Gruaz Natürliche Dynamik hat für die Natur auch positive Folgen. Ist es schwierig, die Grenze zu ziehen zwischen dem Zulas- sen und dem Verhindern dieser Dynamik? Im Katastrophenschutz gibt es viele Kriterien zu beachten, die beiden genannten gehören dazu und können durchaus im Ge gensatz zueinander stehen. Beim Hochwasserschutz zum Bei spiel gibt es vereinfacht gesagt zwei Ansätze: Einerseits können durch den Bau hoher Ufermauern möglichst grosse Wasser mengen durchgeleitet werden, damit die bisherige Landnutzung möglichst wenig beeinträchtigt wird. Andererseits können gros se Uferzonen geschaffen und dem natürlichen Prozess möglichst viel Raum gegeben werden; dadurch entsteht bei den Schutz massnahmen nur wenig Aufwand, hingegen sorgen dann Nutzungsverzichte oder Einschränkungen für Widerstand. Oft funktioniert das zweite Szenario nur bei vollendeten Tatsachen, also wenn der Schaden bereits entstanden ist und sich die Wiederherstellung des Landes gar nicht mehr rechnet. In Gad men etwa, beim Zusammenfluss zwischen Wendenwasser und Steinwasser, wurde 2005 eine grosse Fläche mit Schlamm und Geröll geflutet. Dort war es schlicht zu aufwendig, den früheren Zustand wiederherzustellen. Die Natur hatte neue Akzente ge setzt, die wir nur noch akzeptieren konnten. Zeigt das, dass sich der Mensch zwischendurch den Kräften der Natur unterordnen muss, anstatt immer alles zu orches- trieren versuchen? 150 000 Kubikmeter Moor auf der Rutschbahn Wir Menschen versuchen immer alles zu managen. Aber ich Das Hochmoor von La Vraconnaz ist ein Feuchtgebiet von habe mittlerweile einige Ereignisse erlebt, bei denen wir nur nationaler Bedeutung und grösstenteils ein Pro Natura noch feststellen konnten, dass die Natur stärker ist. Da muss die Schutzgebiet. Es liegt rund zwei Kilometer von Sainte-Croix Einsicht kommen, dass man jetzt nur noch zurückstehen und entfernt auf einem undurchlässigen Mergelsubstrat einer nichts mehr bewirken kann. feuchten Mulde, umgeben von bewaldeten Berg rücken. Wasser kann hier nur über eine der wenigen Dolinen in den Randbereichen des Moors abfliessen. Damit ist das Moor Wo war das der Fall? ein Paradies für das Torfmoos, den Wiesenpieper und den Beispielsweise bei den grossen Murgängen in Guttannen. Dort vom Aussterben bedrohten Hochmoorgelbling. ist innerhalb von zwei Jahren eine ganz andere Landschaft ent Vor rund 30 Jahren, in der Nacht auf den 26. September standen, und ein beinahe 300-jähriges Haus musste aufgegeben 1987, ergossen sich nach wochenlanger Trockenheit sint flutartige Regenfälle über die Region — über 180 Millime werden. Niemand hat da noch davon gesprochen, den alten Zu ter in einer einzigen Nacht. Das Moor konnte irgendwann stand wiederherzustellen. Das wäre weder technisch noch öko die Niederschläge nicht mehr aufnehmen. Das Wasser be nomisch machbar gewesen, weil die neue Situation so völlig an gann sich zwischen der Mergelschicht und dem Moor auf ders gewesen ist. zustauen und hob dieses an. Trotz eines geringen Gefälles von nur vier Prozent ka men rund 150 000 Kubikmeter Moor ins Rutschen und ver Stellt bei Ihnen, als Experte für Risikobeurteilungen, die schoben sich mit Getöse 300 Meter hangabwärts. Auf rund Natur primär ein Gefährdungspotenzial dar oder empfinden 15 Hektaren wurden Bäume entwurzelt und Mergelschich Sie in Ihrer Arbeit auch eine Ehrfurcht vor den Kräften der ten freigelegt, weitläufige Spalten im Moor aufgerissen und Natur? Vegetationsinseln zwischen nacktem Boden oder neu ent Wenn man schon grosse Ereignisse hautnah erlebt und nicht nur standenen Weihern geschaffen. Heute hat das Moor wieder seine Ruhe gefunden, die ver am Computer durchmodelliert hat, empfindet man sicherlich änderte Landschaft entwickelt sich ganz natürlich. Die beide Aspekte. Und das ist auch gut so. Bäume haben wieder Wurzeln geschlagen, das Torfmoos hat die feuchten Zonen wiederbesiedelt, die nackten Ober RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin flächen sind mittlerweile wieder zugewachsen. ra Pro Natura Magazin 5 / 2018
8 thema Kontrolle abgeben, beobachten und staunen Als Konsequenz des Klimawandels nehmen Naturereignisse zu. Bis zu einem gewissen Grad können diese für die Natur positive Folgen haben — an einem griffigen Klimaschutz muss aber festgehalten werden. Kürzlich auf einer Wanderung im Aletschgebiet offenbart der ten. Grössere Trockenheit, wie wir sie diesen Sommer erlebt ha Blick auf den Gletscher auch einen Hang, der ins Rutschen gera ben, erhöht beispielsweise die Waldbrandgefahr. Starknieder ten ist. Wie ein Fächer öffnen sich die senkrechten Steinschich schläge, wie sie in der Schweiz seit der Jahrtausendwende ten, und die Arven strecken ihre Kronen in alle Himmelsrichtun überdurchschnittlich oft und heftig registriert worden sind, kön gen. Etwas später erfahre ich, dass der Wald in einem Natur nen Überschwemmungen oder Erdrutsche auslösen. Der Glet waldreservat im Misox brennt. Und auch so spät im Jahr lese ich scherschwund und der Rückgang des Permafrosts, beides offen immer wieder Nachrichten über das Ausmass des Windwurfs sichtliche Folgen der Erwärmung unseres Klimas, setzen ganze durch die Stürme Burglind und Frederike im vergangenen Gebirgsmassen in Bewegung. Winter. Es ist der Mensch, der das Klima zerstört. Pro Natura be Solche und weitere Naturereignisse sind bei uns immer wie kämpft diesen Prozess entschieden und engagiert sich national der aufgetreten. Sie gehören zum natürlichen Kreislauf und ge und international für eine wirksame Klimapolitik, die den viel stalten die Natur. Doch der Klimawandel kann solche Natur zu hohen CO2-Ausstoss markant senken muss. Doch der Wandel ereignisse verstärken und dazu führen, dass sie häufiger eintre des Klimas ist längst im Gang, die zunehmenden Naturereignis Pro Natura Magazin 5 / 2018
thema 9 Ulrich Wasem/WSL Glücksstunde für die Biodiversität Am 13. August 2003 brannten oberhalb von Leuk (VS) über 3 Quadratkilometer Wald nieder. Die Ursache war nicht natürlicher Art — es handelte sich um Brandstiftung —, doch natürlich war die Dynamik, die nach diesem Ereignis ein setzte. Denn aus Kostengründen wurde entschieden, auf eine Wiederaufforstung grösstenteils zu verzichten und so mit der natürlichen Entwicklung freien Lauf zu lassen. Diese liess nicht lange auf sich warten: Nach drei Jahren waren drei Viertel der verkohlten Oberfläche wieder grün. Forschende der WSL fanden auf der Fläche innert zehn Jahren 560 Pflanzenarten und fast 2000 (!) Arten von In sekten, Spinnen und Asseln, darunter Käferarten, die sonst in der Schweiz noch kaum je gesichtet worden sind. Viele bedrohte oder seltene Vogelarten wie Wendehals, Garten rotschwanz oder Steinrötel besiedelten das verbrannte Ge biet in hoher Zahl. Die offene Fläche und die durch das Feuer freigesetzten Nährstoffe boten ideale Voraussetzun gen für eine üppige Naturentfaltung. Der aussergewöhnliche Zustand ist jedoch nicht von Dauer, denn der Wald erobert sich das Terrain zurück: Bereits im zweiten Jahr keimten viele Laubbäume, deren Samen vom Wind herangetragen wurden. Die meisten der verkohlten Flaumeichen schafften es sogar, wieder auszuschlagen. In den tieferen Lagen der Brandfläche wächst anstelle des bisherigen Nadelwaldes ein Laubwald — eine klima bedingte Entwicklung, die andernorts im Wallis ebenfalls abläuft, wenngleich wesentlich langsamer. Die natürliche Dynamik nach dem Waldbrand bot also nicht nur eine sel tene «Happy Hour» für die Biodiversität, sondern hinter lässt langfristig einen Wald, der dem künftigen Klima bes ser angepasst sein wird. mu se sind Zeugen dieser Entwicklung, und deshalb stellt sich für vorhanden ist, wird im Naturschutz mitunter versucht, diese feh den Naturschutz die Frage, wie mit den Folgen dieser Ereignisse lende Dynamik künstlich nachzuahmen: So führt etwa das umzugehen ist. Ringeln von Bäumen zu einem grösseren Totholzangebot, das Lebensraum für unzählige holzbewohnende Käfer bietet. Oder «Störungen» schaffen Lebensräume das punktuelle Abtragen von Humus schafft offene Rohböden, Natürliche Dynamik wird häufig ausschliesslich als Zerstörung die von spezialisierten Arten wieder besiedelt werden. wahrgenommen und als Schaden bezeichnet. Doch: Diese «Stö Flächen mit natürlicher Entwicklung dienen auch als Gen rungen» schaffen auch neue Lebensräume und Strukturen, wie reservoir sowie als Rückzugsort und Ausbreitungsquelle spezia sie in der Schweiz selten sind; beispielsweise Ruderalflächen lisierter Arten. Ebenso leisten sie einen Beitrag zur Wissenschaft, und Pionierwälder. Gewisse Arten sind für ihr Überleben sogar indem wir die natürliche Entwicklung beobachten und daraus auf diese Dynamik angewiesen. Lehren ziehen, zum Beispiel für eine effiziente und nachhaltige Weil in unseren vom Menschen gestalteten und genutzten Waldbewirtschaftung. Und sie ermöglichen es uns, die Bezie Landschaften die natürliche Dynamik nur noch sehr begrenzt hung des Menschen zur Natur zu stärken und eine direkte Natur Pro Natura Magazin 5 / 2018
10 thema Katalysatoren für die Biodiversität Der Schweizerische Nationalpark (SNP) wurde anfangs des 20. Jahrhunderts von der heutigen Pro Natura und der Akademie für Naturwissenschaften geschaffen, um ein Stück «ursprünglicher Alpennatur» sich selbst zu über lassen und die natürliche Entwicklung wissenschaftlich zu dokumentieren. Das Konzept des Totalschutzes war damals revolutionär, und der SNP ist auch heute noch alpenweit das grösste Totalreservat. Prozessschutz gehört neben dem Schutz von Pflanzen, Tie ren und Lebensräumen zu den zentralen Zielen des SNP. Zu diesen Prozessen gehören auch Lawinen. Für viele Men schen ist es schwer nachvollziehbar, was das Erstrebens werte an einem Lawinenniedergang sein soll und weshalb der SNP keine Massnahmen gegen «Lawinenschäden» er greift. Der SNP muss sich deshalb der Herausforderung stellen, den Sinn von Prozessschutz zu erklären. Dank der For schung weiss man, dass Lawinen nicht nur Zerstörung bringen, sondern einen dynamischen Faktor im natürlichen Kreislauf darstellen. Sie schlagen Schneisen in die Berg wälder, schaffen dadurch neuen Lebensraum für lichtbe dürftige Pflanzen- und Tierarten und wirken als Katalysato ren der Biodiversität. So kann, wie im Bild ersichtlich, eine artenreiche Kraut- und Strauchschicht entstehen, die auch vielen Insekten Nahrung und Lebensraum bietet. Deshalb erstaunt es nicht, dass gemäss einer Studie des Schnee- und Lawinenforschungsinstituts SLF in Lawinenschneisen dreimal mehr Arten leben als im angrenzenden Wald. hl erfahrung zu machen. So etwa auch im grössten Naturraum der keimlinge wieder besiedelt. Mit der Zeit sind nach den rasch Schweiz, in dem diese natürliche Dynamik zugelassen wird: wachsenden Pionierpflanzen aber auch die vorher häufigen Ei dem Schweizerischen Nationalpark. chen und Föhren wieder zurückgekommen. Die Natur zeigte in diesen Fällen eine unerwartete Regenerationskraft. Unerwartete Regenerationskraft Das Zulassen von natürlicher Dynamik darf selbstverständ Erfahrungen aus vergangenen grossen Naturereignissen haben lich aber nicht zu einer menschlichen Gefährdung führen. Ent gezeigt, dass diese einige Überraschungen bereithalten können. scheidend ist es auch, solche Flächen als einen weiteren Beitrag Nach den grossflächigen Windwürfen durch den Sturm Lothar für mehr natürliche Vielfalt zu betrachten. Es ist kein Entweder- im Winter 1999 wurde beobachtet, dass auf fast allen offenen oder zum traditionellen Kulturlandschaftsschutz. Beide Ansätze Flächen wieder junger Wald aufwächst. Beim Waldbrand in Leuk – sowohl gezielte Naturschutzmassnahmen als auch das Zulas von 2003 verbrannten auf einem grossen Teil der Fläche sowohl sen von natürlicher Dynamik – sind in unseren, vom Menschen die Bodenvegetation als auch die Baumkronen. Bereits nach we geprägten Landschaften wichtig für eine vielfältige Natur. Auch nigen Jahren war die Fläche durch Krautpflanzen und Baum Pro Natura führt in der Mehrzahl ihrer knapp 700 Naturschutz Pro Natura Magazin 5 / 2018
Raphael Weber (2x) Tödliche Gefahr schafft neue Urlandschaften Sucht man online nach «Derborence», sind die Mehrheit der Treffer Ausflugstipps. Die Beschreibungen sind überschüttet mit Superlativen, vor allem zur Schönheit der wilden Land schaft. Hätte man im 18. Jahrhundert die Bewohner der be nachbarten Dörfer gefragt, wäre die Reaktion eine andere gewesen. Denn die Menschen hatten Angst vor den Naturge walten im Walliser Hochtal. In den Jahren 1714 und 1749 er eigneten sich dort zwei verheerende Bergstürze. Diese über schütteten einen grossen Teil der früheren Alpenweiden und Alpgebäude mit bis zu 100 Meter hohem Geröll und stauten einen See auf: den Lac Derborence. Das Bergmassiv, aus dem gebiete notwendige Pflegemassnahmen durch. In mehreren, vor sich die Felsmassen lösten, wurde von den Einheimischen des wiegend grossräumigen Schutzgebieten kann sich die Natur aber halb in «Les Diablerets», die Teufelshörner, umbenannt. frei entwickeln. Einzelne Felsbrocken donnerten auch nach den grossen Bergstürzen regelmässig ins Tal, deshalb mieden Einhei Unerwünschte Folgen sind möglich mische fortan diese gefährliche Gegend. Somit entwickelte sich an den Hangflanken während 300 Jahren einer von nur Das Zulassen der natürlichen Entwicklung auf bestimmten Flä drei Urwäldern in der Schweiz. Das häufige Totholz der ab chen – ob gross- oder kleinräumig, langfristig oder temporär, in gestorbenen und teils umgestürzten Baumriesen bietet ei abgelegenen oder gut erschlossenen Gebieten – kann auch uner nen Lebensraum, der in der Schweiz sehr selten geworden wünschte Folgen haben. Neobiota können sich ansiedeln und ist. Mittlerweile erschliesst eine abenteuerliche Zufahrts von dort weiter ausbreiten, oder es entstehen ungewollte Schä strasse das Tal, und im Sommer finden zahlreiche Besu cher auf einem kleinen Pfad im Wald und am See Erholung. den an Infrastruktur. In der kleinräumigen und sehr gut erschlos Im Winter aber ist die Strasse geschlossen und das Tal im senen Schweiz kann es auch rasch zu Konkurrenz mit anderen mer noch so wild, wie es während mehreren Hundert Jah Ansprüchen an diese Flächen kommen. ren war. jc/sm Pro Natura Magazin 5 / 2018
12 thema Der Bach holt sich sein Bett zurück 68 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schossen am Abend des 12. Mai 1999 durch die Bünz, im Jahresdurchschnitt sind es 1,1 Kubikmeter. Diese enormen Wassermengen ver änderten innerhalb weniger Stunden einen Talabschnitt dieses Bachs, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf weiten Strecken in ein enges Korsett gedrängt wurde. Bei Möriken, einem Bereich mit etwas mehr Gefälle, began nen die Ufer zu erodieren, zeitgleich wurden durch einen Rückstau die umliegenden Ackerböden geflutet, dadurch wurde dort das Land abgeschwemmt. Es entstanden neue Seitenarme, bald mass das ursprünglich acht Meter breite Bachbett 40 bis 50 Meter Breite. Rund vier Hektaren Kulturland und 12 000 Kubikmeter Material wurden in einer Nacht umgelagert oder wegge schwemmt. Zu viel, dass die früheren Verhältnisse hätten wiederhergestellt werden können. Deshalb entschieden verschiedene kantonale Fachstellen, eine Auenlandschaft entstehen zu lassen. Durch Tausch oder Kauf konnten 20 Hektaren in den Besitz des Kantons und 27 Hektaren in den Besitz der Standortgemeinden überführt werden. Wei tere Hochwasser 2007 und 2015 haben die Aue wieder neu modelliert. cf Beat Hauenstein/naturschutzdrohne.ch Und: Natürliche Extremereignisse dürfen auch nicht Über Auf nationaler Ebene sind die Naturschutzverbände jetzt ge hand nehmen und zu häufig auftreten. Denn Extremereignisse fordert, sich mit den Folgen von Naturereignissen auseinanderzu haben nur bis zu einem gewissen Grad eine positive Wirkung setzen. Natürliche Dynamik ist als Konzept im Naturschutz auf die Natur. schwieriger zu akzeptieren und auch zu erklären, weil es ergebnis offen ist und die Entwicklung nicht direkt gesteuert werden kann. Positiv nur bis zu einem gewissen Grad Es fällt uns scheinbar schwer, das Steuer loszulassen. Ob das so Treten diese zu häufig auf, kann sich die Natur nicht mehr rege ist, weil es uns nutzlos fühlen lässt und uns die fehlende Kontrol nerieren. An vielen Orten der Welt lassen sich die tragischen le vielleicht sogar Angst macht? Mit Geduld und Offenheit können Konsequenzen dieser Entwicklung bereits feststellen. Dürren, wir uns darauf einlassen, eine unbekannte Entwicklung abzuwar Stürme oder Überschwemmungen haben schon ganze Landstri ten. Uns überraschen lassen. Und vielleicht lässt uns das, was wir che unbewohnbar gemacht und zu grossen Flüchtlingsströmen dann beobachten können, still werden und staunen. geführt. An einer griffigen Klimapolitik ist deshalb unbedingt LESLY HELBLING ist bei Pro Natura Projektleiterin festzuhalten. für Schutzgebiete und Waldreservate. Pro Natura Magazin 5 / 2018
zur sache Mehr zulassen als lenken Ich wohne mit meiner Familie direkt am Fluss, an der Limmat mündung neben der Aare. Dort im Aargau, wo Aare, Reuss und Limmat spektakulär zusammentreffen und der Landschaft den Namen Wasserschloss gegeben haben. Knapp 50 Prozent der Oberfläche der Schweiz entwässert sich über dieses Flusssystem. Mein Leben wird direkt vom Wasserstand mitbestimmt, und das Beobachten der Pegelstände gehört zu meinem Alltag. Einmal pro Jahr müssen wir durchschnittlich mit mehr oder weniger Wasser vor der Haustüre rechnen. Wir leben im Quartier einer ehemali Reinhard Laessig/WSL gen denkmalgeschützten Spinnerei, die vor 150 Jahren im Über schwemmungsbereich eines Flusses erbaut wurde. Unsere Vor-Vorfahren haben die Dynamik der Flüsse respek tiert. Siedlungen, Felder und Äcker wurden mit Abstand und er höht zum Fliessgewässer angelegt. Doch um mehr Landwirt schaftsflächen für die wachsende Bevölkerung zu beschaffen, Nach dem Sturm wächst der Urwald heran wurden später Dämme gebaut und Flussläufe begradigt. Plötz Die starken Windböen von Burglind Anfang Jahr haben in lich sind dann noch Gebäude, Strassen und Deponien in den Erinnerung gerufen, welche Kraft Stürme an den Tag legen ehemaligen Auen erstellt worden. Die verheerenden Folgen ken können. Danach liegen und stehen Bäume verdreht, abge nen wir. brochen oder entwurzelt auf den Windwurfflächen im Wald. Dynamik ist wichtig für die Vielfalt der Lebensräume und Vor zwanzig Jahren durchquerte der Orkan Lothar die Lebewesen. Natürliche Flusslandschaften modellieren sich sel Schweiz und schlug zahlreiche Schneisen in die Wälder der Schweiz, so auch im Rorwald im Kanton Obwalden. ber, Hangrutsche oder Felsabbrüche schaffen neue Lebens Die Korporation «Teilsame Lungern-Obsee» machte aus der räume, alte Baumbestände in Urwäldern brechen zusammen Not eine Tugend: Sie sparte sich die aufwendigen und teu und so entstehen offene Flächen, Orkane fällen Wald, Wald ren Aufräumarbeiten und schied im Jahr 2000 gemeinsam brand schafft offene Flächen. Für die Natur ist Dynamik eine mit dem Kanton und Pro Natura ein Waldreservat zuguns Chance; Pflanzen, Tiere und Ökosysteme stellen sich darauf ein. ten der Natur aus. Im Kern des Reservats entwickelt sich der Wald seither ohne jeglichen menschlichen Eingriff. Für unsere Gesellschaft hingegen wirkt sie sich meist als Natur Für das scheue Auerhuhn, das hier für die Schweiz unge katastrophe mit Schadensbilanz aus. Schaut man genauer hin, wöhnlich hohe Dichten aufweist, ist dieser Nutzungsver müssen wir allerdings oft feststellen, dass wir uns zu weit vor zicht ein Segen. Ausserdem profitieren vom Totholz, das gedrängt haben. durch den Sturm entstanden ist, zahlreiche Insekten und Die Abfolge von Eiszeiten und wärmeren Epochen ist eben Pilze. Wissenschaftliche Untersuchungen der eidgenössi schen Forschungsanstalt WSL zeigen schon jetzt, dass sich falls ein dynamischer Prozess. Ein Entstehen und Vergehen in die nächste Baumgeneration auch ohne forstliche Nachhilfe einem für unsere Vorstellung nicht nachvollziehbaren Zeit gut entwickelt und artenreich ist. bogen. Pflanzen, Tiere und die ganzen Ökosysteme können sich Ein natürlicher Prozess nach Sturmereignissen in Fichten über riesige Zeiträume anpassen. Greifen wir Menschen aber wäldern ist auch das Auftreten des Buchdruckers, der be ins System ein, wie aktuell auch mit der Klimaerwärmung, kanntesten Borkenkäferart. Während im Waldreservat das Absterben von Bäumen ein Teil der natürlichen Dynamik ist, dann läuft es so schnell ab, dass weder Natur noch Mensch sich war ein flächiger Befall der Schutzwälder entlang der benach darauf einstellen können. barten Giswiler Laui aus Sicherheitsgründen hingegen nicht Wir müssen der Natur wieder mehr Platz geben. Ich selber erwünscht. Deshalb wurde zwischen Schutzwald und Wald führe für Pro Natura Projekte zur Renaturierung von Fliess reservat ein Pufferstreifen eingerichtet, befallene Bäume wur gewässern aus. Und auch im Naturschutz ist das Spannungsfeld den dort entfernt. Dies zeigte Wirkung: Die Borkenkäfer dran gen kaum in den Schutzwald vor, und im Waldreservat gingen zwischen dem Erhalten und Pflegen einerseits sowie dem Zulas die Bestände von alleine wieder zurück. sen und Entwickeln der Dynamik andererseits oft spürbar. Dank des Waldreservats wird sich der Rorwald zu einem Nach zahlreichen Projekten und viel Erfahrung im Unterhalt «Urwald» entwickeln können: Die durch Lothar entstan von Naturschutzgebieten bin ich unterdessen zur Überzeugung denen Lichtungen werden sich langsam schliessen, durch gelangt, dass wir in diesem Bereich auch mehr zulassen sollten, das Umfallen von alten grossen Bäumen entstehen wieder neue kleinere Lichtungen. Und der Prozess beginnt von als vermeintlich zu lenken. vorne. jc/sm CHRISTOPH FLORY ist Mitglied des Zentralvorstandes von Pro Natura. Pro Natura Magazin 5 / 2018
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