Russlands "Passportisierung" des Donbas - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und ...
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NR. 58 JUNI 2020 Einleitung Russlands »Passportisierung« des Donbas Die Masseneinbürgerung von Ukrainern ist nicht nur außenpolitisch begründet Fabian Burkhardt Russland hat bisher knapp 200 000 russische Pässe an Ukrainerinnen und Ukrainer aus den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk vergeben. Damit untergräbt es den Minsker Friedensprozess. Die Passportisierung des Donbas ist Teil eines erprobten außenpolitischen Instrumentariums. Mit ihm erschwert Russland gezielt die Beilegung ungelöster Territorialkonflikte im postsowjetischen Raum mittels kontrollierter In- stabilität. Durch diesen demonstrativen Eingriff in die staatliche Souveränität übt Russland Druck auf die ukrainische Zentralregierung in Kyjiw aus. Innenpolitisch ver- folgt Russland das Ziel, durch Zuwanderung dem natürlichen Bevölkerungsschwund im eigenen Land entgegenzuwirken. Wegen des Krieges in der Ostukraine migrierten immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer nach Russland; dies war einer der Gründe für die Neufassung der russischen Migrationsstrategie im Jahr 2018. Die Liberalisie- rung der Gesetzgebung über Staatsangehörigkeit zielt insbesondere auf die Ukraine ab. Indem Russland die Lösung des Konflikts verschleppt, erreicht es zwei Ziele auf einmal: Erstens behält Moskau über den Donbas dauerhaft Einfluss auf die Ukraine, zweitens wird Russland für viele Ukrainerinnen und Ukrainer als Einwanderungsland attraktiver. Gut fünf Jahre nach der Ausrufung der Einbürgerung beschleunigt; vorher dauerte separatistischen »Volksrepubliken« Donezk sie mindestens acht Jahre, jetzt weniger und Luhansk im Frühjahr 2014 entschloss als drei Monate. sich Russland, die militärische, politische, Russland betont, die Pass-Initiative habe wirtschaftliche und diplomatische Unter- humanitäre Gründe. Sie solle Leben und stützung der beiden Sezessionsgebiete im Mobilität jener erleichtern, die keinen ukra- Osten der Ukraine um ein zusätzliches, in inischen Pass haben oder ihn nicht ver- russischer Lesart »humanitäres« Element zu längern können. Gleichzeitig handle es sich erweitern. Seit April 2019 können Einwoh- um eine rein »praktische Maßnahme«, die ner der von Separatisten kontrollierten in keinerlei Widerspruch zum Minsker Teile der ostukrainischen Regionen Donezk Abkommen über die Befriedung der Ost- und Luhansk durch ein vereinfachtes Pro- ukraine stehe. Der damalige ukrainische zedere russische Staatsbürger werden. Außenminister Pawlo Klimkin stuft die Ermöglicht hat dieses Schnellverfahren ein Passportisierung indes als Verletzung der Präsidialerlass Wladimir Putins, der die staatlichen Souveränität und als weitere
Etappe der »Okkupation« seines Landes ein. wahl am 21. April erzielte Herausforderer Der Europäische Rat stellt in seinen Schluss- Selenskyj mit 73 Prozent der Stimmen folgerungen vom 20. Juni 2019 fest, dass einen Erdrutschsieg. die Passportisierung sowohl dem »Geist als Bemerkenswert ist, dass Selenskyj all jene auch den Zielen« des Minsker Abkommens Wahlkreise in der Ostukraine für sich ent- widerspreche. Im Oktober 2019 hat die EU- schied, in denen in der ersten Runde der als Kommission mit einem Leitfaden die Grund- prorussisch geltende Kandidat Jurij Bojko lage geschaffen für eine Nichtanerkennung die Oberhand hatte (siehe Grafik 1). Selenskyj der Pässe durch die Mitgliedstaaten. hatte im Wahlkampf gegenüber den »Volks- Zwei Umstände lassen darauf schließen, republiken« einen versöhnlicheren Ton dass sich Russland dauerhaft Einfluss über angeschlagen als der amtierende Präsident. die beiden separatistischen Gebiete sichern Frieden und Reintegration waren erklärte will, ohne unmittelbar eine Annexion an- Ziele in Selenskyjs Wahlprogramm. Der zustreben: erstens frühere Fälle von Pass- Kreml musste deswegen davon ausgehen, portisierung – verstanden als massenweise, dass der Ex-Fernsehkomiker mehr Legitimi- extraterritoriale Einbürgerung – von tät in der Ostukraine genießen würde als Sezessionsgebieten in Abchasien und Süd- der Hardliner Poroschenko. Zwar wurde in ossetien (Georgien) sowie Transnistrien den Sezessionsgebieten nicht gewählt, (Republik Moldau), zweitens die extraterrito- dennoch war zu erwarten, dass Selenskyjs riale Ausführung durch die Migrationsbehör- Wahlerfolg zumindest teilweise auch auf de des russischen Innenministeriums, die die »Volksrepubliken« ausstrahlen und eine grenzübergreifende Infrastruktur zur Russlands Autorität untergraben könnte. Passportisierung des Donbas aufgebaut hat. Ziel Russlands ist vielmehr, die Beilegung des Konflikts zu torpedieren. Vereinfachte Einbürgerung hat Der Passportisierungs-Erlass erschien im auch demografische Ursachen Paket mit einem zweiten Präsidialerlass, der denjenigen Ukrainerinnen und Ukrainern Am 24. April 2019, also nur drei Tage nach aus dem Donbas eine beschleunigte Einbür- der ukrainischen Stichwahl, veröffentlichte gerung ermöglicht, die in Russland eine Auf- der Kreml den Erlass Nr. 183. Er erlaubt enthaltserlaubnis haben. Russland hat in den jenen Personen die vereinfachte Einbürge- Jahren 2019 und 2020 seine Migrationspoli- rung, die ihren ständigen Wohnsitz in den tik nachjustiert: Das Konfliktgebiet Donbas Gebieten des Donbas haben, die nicht unter dient als Migrationsquelle, um dem eigenen Kontrolle der ukrainischen Zentralregie- Bevölkerungsschwund und Engpässen auf rung stehen (NRKG; siehe Grafik 2, Seite 5). dem Arbeitsmarkt langfristig zu begegnen. Nachgewiesen werden muss der Wohnsitz mit Ausweispapieren, die von den »Volks- republiken« Donezk und Luhansk ausge- Terminierung zu den ukraini- stellt worden sind; Russland erkennt sie seit schen Präsidentschaftswahlen Februar 2017 an. Am 29. April erweiterte Putin in einem zweiten Erlass (Nr. 187) den Die Passportisierung mitten im ukraini- Kreis der zu dem vereinfachten Verfahren schen Präsidentschaftswahlkampf zu lan- berechtigten Personen. Seitdem gilt es auch cieren, war eine bewusste Entscheidung: für jene, die ihren Wohnsitz auf dem heuti- Schon zu Beginn der Amtszeit sollte der gen Gebiet der beiden »Volksrepubliken« neu gewählte ukrainische Präsident unter hatten, bevor sie im April 2014 ausgerufen Druck gesetzt werden. In der ersten Runde wurden, und die im Besitz von Dokumen- der Präsidentschaftswahl am 31. März 2019 ten sind, die ihnen einen Aufenthalt in der lag der Politneuling Wolodymyr Selenskyj Russischen Föderation gestatten. Mitte Juli (30,24 %) deutlich vor dem Amtsinhaber schließlich folgte der Erlass Nr. 343, der die Petro Poroschenko (15,95 %). Bei der Stich- Regelungen zum Herkunftswohnsitz aus SWP-Aktuell 58 Juni 2020 2
Grafik 1 dem Erlass Nr. 187 ausdehnt. Als Herkunfts- sich dauerhaft dort niederzulassen, bisher wohnsitz gelten fortan die gesamten Gebiete aber wegen bürokratischer Hürden keine Donezk und Luhansk, also auch solche Terri- Aussicht auf zügige Einbürgerung hatten. torien, die unter Kontrolle der ukrainischen Hintergrund für die Liberalisierung der Zentralregierung standen oder stehen (RKG). Staatsbürgerschaftspolitik ist Russlands Laut russischer Migrationsbehörde haben demografischer Wandel. Anfang 2020 be- 2019 mehr als 136 000 Einwohner der trug die Bevölkerung Russlands 146,7 Mil- »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk lionen Menschen. Seit 2016 nimmt der sowie weitere 60 000 Personen aus den RKG natürliche Bevölkerungsschwund stetig zu. des Donbas die russische Staatsbürgerschaft Im Jahr 2019 stieg die Differenz zwischen über das neue Schnellverfahren erhalten. Geburten und Sterbefällen auf 316 000. Mitte Juni 2020 verzeichnete Russland Pessimistische Szenarien der Vereinten schon mehr als 180 000 neue Bürger aus Nationen gehen davon aus, dass bis 2050 den »Volksrepubliken«. Obwohl der büro- die Bevölkerung auf zwischen 135,8 und kratische Prozess in beiden Fällen einheit- 124,6 Millionen schrumpfen könnte. lich ist, ist nur der Sachverhalt des ersten Sowohl der Aktionsplan für Demografie- Erlasses, der eine massenweise, extraterrito- politik als auch der 2018 neu aufgelegte riale Einbürgerung ermöglicht, als Pass- Maßnahmenkatalog für Migrationspolitik portisierung zu verstehen. Der zweite Erlass sehen vor, dass der natürliche Bevölkerungs- zielt auf Personen aus dem Donbas ab, die schwund durch Migrationszuwachs und schon einmal nach Russland migriert sind forcierte Einbürgerung ausgeglichen und durch die Formalisierung ihres Auf- werden soll, und zwar mit einem Zielwert enthaltsstatus Interesse bekundet haben, von 300 000 neuen Staatsbürgern pro Jahr. SWP-Aktuell 58 Juni 2020 3
Ukrainerinnen und Ukrainer spielen in Frühere Anwendungen lassen aber keine dieser Strategie eine hervorgehobene Rolle. eindeutigen Schlüsse darüber zu, welches Aus Sicht des russischen Staates stellen sie Ziel Russland im Donbas verfolgt. Anfangs nahezu ideale Migranten dar: Als Ostslawen wurde befürchtet, Russland wolle mit dem gelten sie als leicht zu integrieren, bringen Verteilen der Pässe einen militärischen die nötigen Qualifikationen für den russi- Eingriff vorbereiten, um die eigenen Bürger schen Arbeitsmarkt mit und zeigen eine zu beschützen – ähnlich wie in Südossetien, hohe Bereitschaft zur Emigration, weil in wo Russland die »Responsibility to protect«- ihrem Herkunftsland der Territorialkonflikt Doktrin bemühte. Weder diese Befürchtung anhält und das Einkommensniveau niedrig noch die einer Annexion der »Volksrepub- ist. Nach Kriegsbeginn 2014 erwies es sich liken« haben sich bisher bewahrheitet. Mög- als bürokratisch schwierig, die ukraini- lich sind diese Szenarien trotzdem, wenn schen Geflüchteten und Zwangsmigranten der Minsker Prozess scheitert oder der Kon- vom temporären Asyl in Russland in einen flikt wieder militärisch eskaliert. dauerhaften Aufenthaltsstatus oder gar in Russland verfolgt bei der Passportisie- die Staatsbürgerschaft zu überführen. Auf- rung keine einheitliche Strategie. Vielmehr grund eines regionalen Quotensystems passt der Kreml sein außenpolitisches In- wurden vor allem diejenigen bevorzugt, die strumentarium an die konkreten Umstände auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte Quali- des jeweiligen Sezessionsgebiets an, außer- fikationen vorweisen konnten. Auch das dem an seine eigenen, sich teilweise än- russische Staatsprogramm, das die Übersie- dernden Ziele. In Transnistrien etwa begann delung von Landsleuten fördern soll, stellte die Passportisierung 2002 lange nach der sich für Ukrainer als nur bedingt geeignet heißen Phase des Territorialkonflikts; der- heraus, da es mit vielen Auflagen in Bezug zeit besitzen dort circa 220 000 Einwohner auf Alter, fachliche Qualifikation und (das sind 44 %) einen russischen Pass. Region der Niederlassung verbunden ist. Zwei Gemeinsamkeiten lassen sich Putins Pass-Dekrete entfalteten unmittel- dennoch feststellen: Erstens wird Passporti- bar Wirkung: Die Einbürgerungszahlen sierung in vielen Fällen als völkerrechts- stiegen von 269 362 im Jahr 2018 auf widrig eingestuft. Zu diesem Schluss kam 497 817 im Jahr 2019. Der Anteil der Ukra- die Independent International Fact-Finding iner verdoppelte sich von 30 auf 60 Prozent. Mission on the Conflict in Georgia in ihrem Am 17. April 2020 unterzeichnete Präsident detaillierten Bericht. Die Direktorin des Putin ein weiteres Gesetz, das den Antrag Max-Planck-Instituts für ausländisches öffent- auf Staatsbürgerschaft insbesondere für liches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, Antragsteller aus Belarus, der Republik Mol- Anne Peters, sieht in der Passportisierung dau, Kasachstan und der Ukraine wesent- des Donbas einen Rechtsmissbrauch lich erleichtert. Treiber der russischen durch Russland. Staatsbürgerschaftspolitik sind demnach Zweitens manifestiert sich in der extra- nicht nur geopolitische und nationalis- territorialen Einbürgerungspraxis Russlands tische Motive, sondern auch kurz- und doppeltes Verständnis von staatlicher Sou- mittelfristige Bedürfnisse des Arbeitsmark- veränität. Während es für das internatio- tes sowie langfristige demografische nale Staatensystem und insbesondere Überlegungen. für sich selbst Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität einfordert, verfügen post- sowjetische Staaten für Russland bestenfalls Passportisierung von über begrenzte Souveränität. Mehr als Sezessionsgebieten im Vergleich deutlich wird diese Haltung an der grenz- übergreifenden Infrastruktur zur Passpor- Passportisierung ist ein Mittel russischer tisierung des Donbas (siehe Grafik 2). Eigens Außenpolitik im Umgang mit Territorial- für die Bearbeitung der Schnellanträge konflikten im postsowjetischen Raum. hat das russische Innenministerium Sonder- SWP-Aktuell 58 Juni 2020 4
Grafik 2 migrationsämter im Gebiet Rostow auf- Sezessionskonflikt und Passpor- gebaut. Um sie auszustatten und für tisierung als Gerrymandering: Sonderzahlungen für die Sachbearbeiter Folgen für den Minsker Prozess beantragte das Innenministerium zusätz- liche Gelder im Haushalt 2020–2022. Die Annexion der Krim und der Krieg im Während die Antragstellung in den »Volks- Osten des Landes haben die Wahlgeografie republiken« selbst erfolgt, werden die Pässe der Ukraine tiefgreifend verändert: Betrof- für Personen, die nicht dem Militär oder fen sind 3,75 Millionen oder 12 Prozent den Sicherheitsorganen angehören, aus- der Wählerinnen und Wähler der Präsi- schließlich im Gebiet Rostow ausgehändigt. dentschaftswahlen des Jahres 2010. Durch Die »Volksrepubliken« haben Fernbuslinien den Krieg hat sich somit auch die relative eingerichtet, damit die Menschen die Pässe Bedeutung der Regionen für Wahlen ge- bequemer abholen können. Laut offizieller ändert: Zum einen verloren der Osten und Statistik vergab allein die Region Rostow Süden an Gewicht, das Zentrum und der im Jahr 2019 über 160 000 Pässe. Westen gewannen entsprechend hinzu. SWP-Aktuell 58 Juni 2020 5
Zum anderen fallen regionale Unterschiede Abkommens, für die Ukraine sind Sicher- weniger ins Gewicht, da ein großer Teil heitsgarantien zentral. der Wähler, die für prorussische, kommu- Wahlen als wichtige Bestandteile von nistische oder stark regional verwurzelte Friedensabkommen erhöhen generell die Kandidaten oder Parteien votierten, derzeit Wahrscheinlichkeit, dass Hostilitäten nach nicht mehr stimmfähig ist. Beendigung des Konflikts nicht wieder auf- Diese vom Konflikt beförderte Verschie- flammen. Verfrühte Wahlen in Sezessions- bung der Wahlgeografie hat zwischenzeit- gebieten bergen indes auch Gefahren: Ehe- lich dazu geführt, dass die Ukraine deutlich malige Rebellenparteien verschaffen sich homogener ist als zuvor, etwa wenn es dar- oft einen massiven Vorteil, Wahlen können um geht, sie als Heimatland anzusehen oder als Katalysatoren für destruktiven Wett- eine Zollunion mit Russland abzulehnen. bewerb und Hassreden dienen, was wieder- Die veränderte Wahlgeografie wirkt sich um zu gewaltsamen Auseinandersetzungen auch auf das Anreizsystem der Konflikt- führen und langfristig Befriedung und parteien aus. Russlands strategisches Ziel ist Demokratisierung verhindern kann. Die es, langfristig die Ukraine politisch zu enge Verquickung von politischen und beeinflussen und ihre vertiefte Integration militärischen Strukturen in den NRKG stellt mit der Europäischen Union (EU) und der ohnehin eine immense Herausforderung Nato zu verhindern. Ein nicht eingefrorener für die Durchführung von Wahlen dar. Aus Konflikt oder aber eine Reintegration der mehreren Gründen verschärft die Passporti- »Volksrepubliken« unter den Bedingungen sierung diese Problematik, die insbesondere des Minsker Abkommens sind dabei vorteil- die im Minsker Abkommen festgelegten hafter als zwei unabhängige Ministaaten Lokalwahlen betrifft. oder zwei weitere angegliederte Föderations- Erstens bringt das Verteilen von Pässen subjekte Russlands. Für die Ukraine be- zusätzlichen Zündstoff in den Verhand- sitzen die Herstellung der territorialen lungsprozess. So präsentierte der ukraini- Unversehrtheit und die Souveränität über sche Vertreter bei der Sitzung des Ständigen das eigene Staatsgebiet oberste Priorität. Rates der Organisation für Sicherheit und Allerdings ist sich jede Kyjiwer Zentral- Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am regierung bewusst, dass eine Reintegration 21. Mai 2020 die russischen Pässe des Ober- des Donbas die Wiederaufnahme von Hun- hauptes der »Volksrepublik Donezk«, Denys derttausenden Wählerinnen und Wählern Puschylin, und der »Außenminister« der mit sich bringen würde, die – anders als beiden »Volksrepubliken«. Die Pässe seien die Wähler in der Restukraine – Kyjiw ein Unterpfand dafür, dass Russland Ver- kritischer und Russland wohlgesonnener treter nominiere, die Russland, nicht aber gegenüberstehen. die lokale Bevölkerung repräsentieren. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zweitens sorgt die Passportisierung für öffentliche Warnung zu interpretieren, Spaltungspotential in der Ukraine. Zwar ist einen »Plan B« umzusetzen, den Präsident sich die ukrainische Führung einig, dass Selenskyj seit Oktober 2019 immer wieder die von Russland verteilten Pässe nicht rech- ins Spiel bringt. Obwohl die Details dieses tens und damit ungültig sind. Jedoch »Plans B« nie ausbuchstabiert wurden, besteht in der ukrainischen Elite kein Kon- ist darunter wohl eine Abkehr vom Minsker sens, mit welchen konkreten Schritten das Prozess und somit von der Reintegration Land reagieren soll. Hardliner brachten zu verstehen, die das zeitweise oder Vorschläge ins Gespräch wie den Entzug der endgültige Abstoßen der NRKG bedeuten ukrainischen Staatsbürgerschaft, von Ren- würde. Trotz der Unterzeichnung der ten und anderen sozialen Beihilfen oder gar »Steinmeier-Formel« am 1. Oktober 2019 strafrechtliche Verfolgung durch die Staats- prallen gegensätzliche Interpretationen anwaltschaft. Diese Vorschläge blieben aufeinander: Russland besteht auf der bisher eine rhetorische Drohkulisse. Zudem wortwörtlichen Umsetzung des Minsker brachte die Passportisierung am 19. Mai SWP-Aktuell 58 Juni 2020 6
2020 einen Gesetzentwurf über die Libera- Kindern oder Rentner hat der russische Pass lisierung der Staatsbürgerschaft zu Fall, bisher nur symbolischen Wert. Er bietet den Selenskyj im Dezember 2019 einge- kein automatisches Anrecht auf russische bracht hatte. Die Einführung einer doppel- Rente oder Sozialleistungen wie Kindergeld ten Staatsbürgerschaft würde nicht nur (»Mutterkapital« für zwei oder mehr Kinder), Artikel 4 der ukrainischen Verfassung wider- da hierfür eine Meldebestätigung in Russ- sprechen, so die Kritik, sondern könnte in land notwendig ist oder weitere Bedingun- Zukunft auch ein Einfallstor für russischen gen erfüllt sein müssen – denen die über- Einfluss bieten, etwa wenn sich nach einer wiegende Mehrheit der im Donbas wohn- Reintegration Einwohner der ehemaligen haften Menschen auch nach der Einbürge- NRKG mit russischem Pass für die ukraini- rung nicht entspricht. sche Rada zur Wahl stellen würden. Die NRKG verlieren somit neben Perso- Drittens widerspricht die Passportisierung nen, die Verwandte in Russland haben, der Umsetzung der laut Punkt 4 des Minsker insbesondere entscheidungsfreudige Ein- Abkommens abzuhaltenden Lokalwahlen. wohner im arbeitsfähigen Alter und mit Das bis dato geltende Verbot der doppelten Berufen, die auf dem russischen Arbeits- Staatsbürgerschaft würde es jenen Bürge- markt gefragt sind. Im Oktober 2019 wurde rinnen und Bürgern der »Volksrepubliken« erstmals eine Volksbefragung in den NRKG nicht gestatten, sich zur Wahl zu stellen durchgeführt, deren Ergebnisse bisher nicht oder Ämter in der Staats- und Kommunal- veröffentlicht wurden. Schätzungen zufolge verwaltung zu bekleiden, die zusätzlich leben dort circa 2 Millionen Menschen, zum ukrainischen einen russischen Pass etwa halb so viele wie offiziell angegeben besitzen. Da die russische Passportisierung (3,7 Millionen). Über die soziodemografi- vor allem auf die Zivil- und Militärverwal- sche Komposition der Bevölkerung ist kaum tung, auf Angestellte in Medizin und etwas bekannt. Neben geopolitischen Ein- Bildung ebenso wie auf de-facto-staatliche stellungen dürfte bei möglichen Wahlen Unternehmen abzielt, würde dies bedeuten: ein bedeutender Faktor sein, dass die Bevöl- Zehntausende Personen könnten weder kerung der NRKG schlechter qualifiziert, von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch älter, ärmer und bei weniger guter Gesund- machen noch staatliche Posten in einem re- heit ist als diejenige in der restlichen Ukra- integrierten Donbas einnehmen. Faktisch ine. Die Passportisierung begünstigt die würde dies in eine umfassende Lustration soziodemografische Umwälzung zusätzlich. münden, die mit der im Minsker Abkom- men fixierten Amnestie und den Lokal- wahlen nach OSZE-Standards nicht vorge- Covid-19 verschärft die humani- sehen ist und einer längerfristigen Konflikt- täre Situation im Donbas beilegung abträglich wäre. Viertens verschärft die Passportisierung Die Covid-19-Pandemie verlangsamt die das durch den Krieg verursachte Gerry- Passportisierung vorerst. Zwar hielt Russ- mandering, also die Manipulation von land nach einer kurzzeitigen Schließung Grenzen und der Zusammensetzung von Mitte März die Grenzen zu den »Volks- Wahlkreisen. Im von Tod, Flucht und Ver- republiken« offen und die Sondermigra- treibung geprägten Alltag setzt die Pass- tionsbehörden arbeiteten weiter. Doch die portisierung Anreize: Für Ukrainer, die »Volksrepubliken« haben am 13. April 2020 schon eine Aufenthaltsberechtigung in Russ- die regelmäßigen Fernbusfahrten aus den land haben, wird es einfacher, sich dort NRKG in das Rostower Gebiet eingestellt. dauerhaft niederzulassen. Den in den NRKG Vor allem die Beantragung von Ausweis- wohnhaften Ukrainern wird der Weg auf dokumenten der »Volksrepubliken«, die den russischen Arbeitsmarkt erleichtert. zum Nachweis des Wohnsitzes erforderlich Für sozial schwache und wenig mobile sind, verzögert den gesamten Prozess. Personen wie etwa Eltern von mehreren Dennoch ist davon auszugehen, dass trotz SWP-Aktuell 58 Juni 2020 7
der Pandemie die Passportisierung voran- mung findet. Gerade aufgrund der Pande- schreitet – nach offiziellen Angaben sind mie sollte die EU daran interessiert sein, noch 98 000 Passanträge in Bearbeitung. von der Zivilbevölkerung im Donbas als Seit dem 23. März 2020 ist kein Personen- humanitärer Akteur wahrgenommen zu verkehr mehr über die Kontaktlinie zwischen werden. Die EU sollte zusätzliche Mittel den NRKG und den RKG möglich. Dies hat für humanitäre Güter bereitstellen. Gleich- die Anzahl der Passagen von durchschnitt- zeitig ist Druck auf Russland und die lich 550 000 pro Monat auf wenige hundert de-facto-staatlichen Strukturen nötig, damit reduziert. Betroffen sind in erster Linie diese zugelassen werden. Darüber hinaus Personen aus den NRKG, die Renten be- sollte die EU auf die Ukraine einwirken, © Stiftung Wissenschaft ziehen, Geld abheben, Verwandte besuchen bestehende Pläne konsequent umzusetzen, und Politik, 2020 oder Behördengänge erledigen wollen. nach der Pandemie die Passagen über die Alle Rechte vorbehalten Die pandemiebedingte Isolation der NRKG Kontaktlinie zu vereinfachen, die Bearbei- verschlechtert die humanitäre Situation tung von Dokumenten und die Inanspruch- Das Aktuell gibt die Auf- dort dramatisch. nahme von sozialen Beihilfen zu entbüro- fassung des Autors wieder. kratisieren. Denn die durch Covid-19 ver- In der Online-Version dieser ursachte Isolation der NRKG trägt massiv Publikation sind Verweise Ausblick und Empfehlungen zur Entfremdung der Ukraine von den auf SWP-Schriften und NRKG bei, als Folge steigt unweigerlich das wichtige Quellen anklickbar. Mit der Passportisierung des Donbas er- Gewicht Russlands. SWP-Aktuells werden intern reicht Russland hauptsächlich zwei Ziele: Die visafreie Einreise für Ukrainerinnen einem Begutachtungsverfah- Durch die bewusste Torpedierung des und Ukrainer in die EU ist zwar ein Erfolg; ren, einem Faktencheck und Minsker Friedensprozesses übt es dauerhaft gleichwohl trägt die EU als wichtiges Ziel einem Lektorat unterzogen. Druck auf die Ukraine aus. Ohne militä- für Arbeitsmigranten auch zum Bevölke- Weitere Informationen risch eskalieren zu müssen, untergräbt es rungsschwund in der gesamten Ukraine zur Qualitätssicherung der die Souveränität der Ukraine. Zudem trägt bei. Um dieser demografischen Krise und SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. die Verschleppung der Konfliktlösung dazu ihren sozialen Folgen entgegenzuwirken, swp-berlin.org/ueber-uns/ bei, dass Russland als Einwanderungsland sollte die EU etwa in Kooperation mit der qualitaetssicherung/ für Ukrainerinnen und Ukrainer vergleichs- Internationalen Organisation für Migration weise attraktiver wird. Neben geopoliti- langfristige Strategien entwickeln, die die SWP schen Motiven ist Russlands demografischer NRKG miteinbeziehen. Stiftung Wissenschaft und Politik Wandel als Treiber seiner Staatsbürger- Schließlich sollte bedacht werden, dass Deutsches Institut für schaftspolitik zu beachten. sich der ukrainische Präsident Selenskyj Internationale Politik und Deutschland und die EU sollten daran im Herbst 2019 eine Frist von einem Jahr Sicherheit festhalten, die auf Basis des Dekrets vom gesetzt hat, um Fortschritte im Osten seines 24. April 2019 ausgestellten Pässe nicht an- Landes zu erzielen, und mehrfach einen Ludwigkirchplatz 3–4 zuerkennen. Hierbei ist auf eine kohärente »Plan B« ins Spiel gebracht hat. Weil Alter- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Umsetzung zu achten, weil die Identifizie- nativen fehlen, bleibt der Minsker Prozess Fax +49 30 880 07-100 rung der Dokumente im Einzelfall tech- der einzig gangbare Weg. Trotzdem lohnt www.swp-berlin.org nisch schwierig und aufwendig sein kann. es sich, darüber nachzudenken, wie eine swp@swp-berlin.org Da die Nichtanerkennung nur dann wirk- Übergangsperiode in den Minsker Prozess sam ist, wenn sie konsequent umgesetzt eingefügt werden könnte, bevor Lokal- ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2020A58 wird und ihre Ursachen klar kommuniziert wahlen durchgeführt werden. Grund- werden, ist eine enge Absprache der EU- voraussetzung für Wahlen sind Sicherheit Konsularabteilungen in Russland notwendig. und funktionierende Institutionen. Das Mit der Passportisierung betreibt Russ- braucht Zeit. Denn das durch Flucht und land auch Symbolpolitik, die in Teilen der Migration beförderte Gerrymandering Zivilbevölkerung im Donbas wegen der hat die Wahlgeografie der Ukraine tief- schwierigen humanitären Lage Zustim- greifend verändert. Dr. Fabian Burkhardt ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. SWP-Aktuell 58 Juni 2020 8
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