Moskau bedroht die Balance im hohen Norden - Einleitung - Stiftung ...

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Moskau bedroht die Balance im hohen Norden - Einleitung - Stiftung ...
NR. 19 MÄRZ 2022                          Einleitung

Moskau bedroht die Balance im
hohen Norden
Angesichts der russischen Kriegspolitik rücken Finnland und Schweden näher
an die Nato
Minna Ålander / Michael Paul

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine basiert nicht auf legitimen und nachvoll-
ziehbaren Sicherheitsinteressen, sondern ist eine Absage an die Sicherheitsordnung
Europas. Dies hat Präsident Putin in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar, die
den Angriff einleitete, klargestellt. Finnland und Schweden hatten schon davor an die
KSZE-Schlussakte von 1975 erinnert, auf die sich Russland als Nachfolgestaat der Sow-
jetunion verpflichtet hat. Demnach ist die souveräne Gleichheit der Unterzeichner-
staaten zu achten – und damit auch ihr Recht auf die eigene, freie Bündniswahl. Die
militärische Aggression Moskaus drängt Helsinki und Stockholm nicht nur in einem
noch nie dagewesenen Ausmaß näher an die Nato, sondern macht zudem die Ein-
hegung russischer Macht wieder dringlich, was auch die Stabilität im hohen Norden
tangieren wird.

Der russische Überfall hat Konsequenzen        Beitritt aus. Das schwedische Parlament hat
über die Ukraine hinaus. Bereits in den        schon im Dezember 2020 mit großer Mehr-
vorangegangenen Eskalationsstufen waren        heit für einen künftigen Beitritt des Landes
Auswirkungen im Ostseeraum und im              zum Bündnis gestimmt.
hohen Norden festzustellen, und langfristig       Am 24. Dezember 2021 informierte die
werden damit auch Implikationen in der         Presseabteilung des russischen Außenminis-
Arktis verbunden sein. Neben dem Balti-        teriums darüber, dass die Forderung von
kum sind Finnland und Schweden als nor-        Präsident Wladimir Putin, auf eine künftige
dische EU-Mitgliedstaaten direkt von der       Erweiterung der Nato zu verzichten, auch
verschlechterten Sicherheitslage in Europa     Finnland und Schweden betreffe. Der russi-
und um die Ostsee betroffen. Noch sind         sche Außenminister Sergei Lawrow nahm
beide Länder nicht Mitglied der Nato. In       zwar später die Forderung im Hinblick auf
Helsinki ist die »Nato-Option« aber fester     die beiden nordischen Länder zurück und
Bestandteil der Sicherheitspolitik, und nach   versicherte, Moskau respektiere deren Sou-
einer aktuellen Umfrage spricht sich erst-     veränität. Im selben Atemzug betonte er
mals eine Mehrheit der Finnen für einen        jedoch, dass die Neutralität Finnlands und
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Schwedens ein essentieller Teil der euro-          internationalen Sicherheitsumfeld als gestie-
                 päischen Sicherheitsordnung sei. Am                gene militärische Aktivitäten in der Ostsee-
                 25. Februar warnte die Pressesprecherin des        region widerspiegeln.
                 Kremls, Marija Sacharowa, in einem Tweet,
                 dass ein Nato-Beitritt Finnlands »ernsthafte
                 militärische und politische Folgen« hätte.         Finnlands geopolitischer
                                                                    Spielraum

                 Spannungen im Ostseeraum                           Mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern auf
                                                                    einer Fläche fast so groß wie Deutschland
                 Militärische Machtdemonstrationen sind             gehört Finnland zu den am dünnsten be-
                 inzwischen »ein fest etabliertes Mittel russi-     siedelten Ländern Europas. Es teilt eine
                 scher Zwangsdiplomatie« geworden. Daher            1 343 Kilometer lange Grenze mit Russland
                 überraschte nicht, dass Moskaus Forderun-          und ist abhängig vom Außenhandel über
                 gen – parallel zum Truppenaufmarsch an             See. Sein geopolitischer Spielraum wird von
                 der ukrainischen Grenze – verstärkte russi-        stabilen Beziehungen zu Moskau ebenso
                 sche Aktivitäten auch in der Ostsee folgten.       wie von der gesamteuropäischen Stabilität
                 Im Januar waren drei russische Landungs-           bestimmt. Finnland war deshalb maßgeb-
                 schiffe der Nordflotte aus Murmansk in den         lich an Übereinkommen zur europäischen
                 Stützpunkt der Baltischen Flotte in der rus-       Sicherheit und Zusammenarbeit beteiligt.
                 sischen Exklave Kaliningrad eingelaufen.           Im August 1975 wurde die KSZE-Schluss-
                 Schweden erhöhte daraufhin die Verteidi-           akte in Helsinki unterschrieben.
                 gungsbereitschaft und ließ demonstrativ               Aufgrund seiner geopolitischen Lage in
                 Panzer auf der Insel Gotland patrouillieren,       direkter Nachbarschaft Russlands hat Finn-
                 die nur 330 Kilometer von Kaliningrad ent-         land im Gegensatz zu vielen westeuro-
                 fernt liegt und als primäres russisches An-        päischen EU- und Nato-Mitgliedstaaten die
                 griffsziel im Kriegsfall gilt. Mitte Januar ver-   allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft
                 ließen die Landungsschiffe der Nordflotte          und setzt auf eine starke Landesverteidi-
                 zwar zusammen mit drei weiteren Lan-               gung. Die Streitkräfte des Landes können
                 dungsschiffen den Stützpunkt der Baltischen        im Kriegsfall eine Truppenstärke von
                 Flotte in Richtung Schwarzes Meer. Gleich-         280 000 erreichen. Außerdem erhalten sie
                 zeitig wurden jedoch verdächtige Flüge von         eine moderne Bewaffnung. Im Dezember
                 Drohnen über drei schwedischen Atomkraft-          2021 beschloss die finnische Regierung,
                 werken bekannt. Am 17. Januar 2022 nahm            64 Kampfflugzeuge des Typs F-35A Light-
                 darüber hinaus ein russisches Frachtflug-          ning II vom US-Hersteller Lockheed Martin
                 zeug, das von Moskau nach Leipzig unter-           zu kaufen. Die Anschaffung garantiert eine
                 wegs war, einen großen Umweg über halb             hohe Interoperabilität mit Nato-Staaten
                 Finnland. Dabei überflog es zwei wichtige          und wurde deshalb in russischen Medien
                 finnische Militärstandorte, darunter das           als »unfreundliche Aktion gegenüber
                 Hauptquartier der Luftwaffe und Teile des          Russland« bewertet.
                 Militärgeheimdienstes in Tikkakoski sowie             Außenpolitisch waren Finnlands Priori-
                 den Militärflughafen von Halli in Jämsä.           täten bereits nach einem Strategiepapier
                    Solche Vorgänge finden in Deutschland           des Außenministeriums von 2018, das für
                 wenig Aufmerksamkeit, weil die Ostsee-             die Jahre bis 2022 gelten sollte, von der ver-
                 region in der Regel als wirtschaftlicher Raum      schlechterten Sicherheitslage in Europa ge-
                 wahrgenommen wird. In Nordeuropa steht             kennzeichnet. Die seit 2014 erhöhte mili-
                 die strategische Bedeutung der Region hin-         tärische Präsenz Russlands in finnischen
                 gegen im Fokus der Sicherheits- und Ver-           Nachbargebieten erfordere sowohl eine ent-
                 teidigungspolitik. Im neuen Verteidigungs-         schlossene Antwort als auch die Aufrecht-
                 bericht Finnlands von September 2021 wird          erhaltung eines regelmäßigen Dialogs. Im
                 etwa festgestellt, dass sich Spannungen im         neuen Verteidigungsbericht der Regierung

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von September 2021 verschiebt sich der        seit Anfang der 2000er Jahre selbst nicht
traditionell auf den Ostseeraum gerichtete    über ausreichende Kapazitäten verfügt. Die
Fokus zugunsten einer erweiterten räum-       Präsenz und die Aktivitäten der Nato im
lichen Perspektive, die die Arktis und den    Ostseeraum haben aus finnischer Sicht eine
nördlichen Atlantik als einen sicherheits-    stabilisierende Wirkung. Dementsprechend
politischen Raum erfasst.                     sucht Helsinki die enge Zusammenarbeit mit
   Die veränderten Rahmenbedingungen          der Nato, speziell bei der Luftverteidigung.
im Umfeld haben so zur stärkeren Zusam-       Dem diente im Juni 2021 das multinationale
menarbeit zwischen den nordischen Län-        Manöver »Arctic Challenge 2021«. Dazu
dern, insbesondere Finnland und Schwe-        hatten Finnen und Schweden sieben Nato-
den, und im transatlantischen Verhältnis      Staaten eingeladen, darunter Deutschland.
geführt. Schweden ist Finnlands wichtigster      Aus finnischer Sicht verhalten sich EU,
Partner, der dem Land im Konfliktfall stra-   Nato und Nordische Kooperation komple-
tegische Tiefe verschafft. Umgekehrt ist      mentär zueinander, so dass ein Beitritt zur
die Verteidigungskooperation mit Helsinki     Allianz bislang nicht erforderlich schien.
für Stockholm sehr wichtig, da Schweden       Wenn überhaupt, dann sollte er idealiter
aufgrund seiner militärischen Abrüstung       zusammen mit Schweden koordiniert erfol-

                                                                                             SWP-Aktuell 19
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gen. Ein Alleingang Schwedens könnte die       könne. Im Zeitraum 2021–2025 sollen da-
                 Nato-Option für Helsinki verwässern, weil      her die Rüstungsausgaben des Landes um
                 Finnland als einziger neutraler Staat in der   40 Prozent steigen, gegenüber dem Niveau
                 »Pufferzone« oder »Interessensphäre« Russ-     von 2014 sogar um 85 Prozent. Die Perso-
                 lands verbliebe. Die Nato-Option ist ein       nalstärke der Armee soll bis 2025 von
                 wichtiger und zugleich sensibler Teil der      60 000 auf 90 000 erhöht werden, die Mari-
                 finnischen Sicherheits- und Verteidigungs-     ne zwei weitere Schiffe und ein U-Boot er-
                 politik – in der zugespitzten Lage mehr        halten. Ebenso ist vorgesehen, Armee und
                 denn je. Deshalb reagierte Finnland alar-      Luftwaffe mit neuen Waffensystemen aus-
                 miert, als Kanzler Olaf Scholz bei seiner      zustatten und die Verteidigung von Gotland
                 Pressekonferenz mit Putin in Moskau am         zu verbessern, wo im Konfliktfall eine rus-
                 15. Februar davon sprach, dass eine Nato-      sische Invasion erwartet wird. Die Insel
                 Osterweiterung während seiner Amtszeit         könnte zur »neuen Krim« werden, von wo
                 nicht stattfinden werde. Scholz erklärte da-   aus Russland die Zugänge zum südlichen
                 bei nicht explizit, sich nur auf die Ukraine   Ostseeraum kontrollieren würde. Darüber
                 zu beziehen. Die Aussage wurde deshalb so      hinaus will Stockholm ein System der Zivil-
                 interpretiert, dass Deutschland gegebenen-     verteidigung reaktivieren, damit sich das
                 falls als Zugeständnis an Russland einen       Land in einem Krieg drei Monate lang hal-
                 Nato-Beitritt Finnlands blockieren könnte.     ten kann, bis Hilfe eintrifft. Auch wurde die
                 Wenngleich nicht so gemeint, hat Scholz’       Marinebasis in Muskö reaktiviert und der
                 Äußerung einen empfindlichen Nerv in           Übungsbetrieb dort wiederaufgenommen.
                 Finnland getroffen.                            Die geheim gehaltene Übung von 2020
                                                                dürfte mit Unterstützung des U.S. Special
                                                                Operations Command Europe aus Stuttgart
                 Neutralitätspolitik als außen-                 stattgefunden haben. Noch bemerkenswer-
                 politische Tradition Schwedens                 ter ist die schwedische Entscheidung vom
                                                                27. Februar, Waffen an die Ukraine zu
                 Schweden folgt einer außenpolitischen          liefern. Das Signal ist klar: Selbst Schweden
                 Linie, die auf einer tief im politischen       rückt aufgrund des russischen Vorgehens
                 Selbstverständnis verwurzelten Neutralitäts-   von seiner Neutralitätspolitik ab.
                 politik basiert. Seit 1814 war Schweden
                 nicht mehr an kriegerischen Handlungen
                 beteiligt. Allianzfreiheit und Friedensbe-     »Freiheit der Wahl« unter Druck
                 mühungen stehen traditionell im Zentrum
                 des eigenen Außenhandelns. Parallel ver-       In seiner Neujahrsansprache 2022 erinnerte
                 folgt Stockholm seit dem Ende des Kalten       der finnische Präsident Niinistö an Finn-
                 Krieges eine pragmatische Sicherheitspoli-     lands »Freiheit der Wahl« mit Blick auf eine
                 tik, in der es so nahe wie möglich an die      mögliche Nato-Mitgliedschaft. Dieser Hin-
                 Nato rückt, ohne aber von Beitritt zu reden.   weis war deutlich an die Adresse Russlands
                 Typisch für den schwedischen Ansatz ist,       gerichtet. Ein finnisches »Modell«, die so-
                 dass die genaue Truppenzusammenstellung        genannte Finnlandisierung – gewisser-
                 bei einer Übung von Spezialeinheiten der       maßen freiwillig seine Souveränität ein-
                 schwedischen Armee mit US-Truppen im           zuschränken –, gebe es nicht, so Niinistö,
                 Herbst 2020 in den Schären des Landes          auch nicht mit Blick auf die Ukraine.
                 streng geheim gehalten wurde.                     In der Bevölkerung des Landes hat Russ-
                    Laut Verteidigungsminister Peter Hult-      lands Krieg gegen die Ukraine einen histo-
                 qvist muss sich Schweden der veränderten       rischen Wandel herbeigeführt, was die
                 Lage anpassen, in der Russland gewillt sei,    Unterstützung einer finnischen Nato-Mit-
                 militärische Mittel zur Erreichung politi-     gliedschaft angeht. Nach einer Umfrage
                 scher Ziele einzusetzen und ein bewaffne-      vom 28. Februar gibt es nun erstmals eine
                 ter Angriff nicht ausgeschlossen werden        Mehrheit für den Beitritt zum Bündnis.

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53 Prozent sprachen sich dafür aus, nur        chen: 35 Prozent sind dafür, 33 Prozent
noch 28 Prozent waren dagegen, 19 Prozent      dagegen, 31 Prozent unentschieden. Mos-
zeigten sich unsicher.                         kaus harte Forderung nach mehr Rücksicht-
   Der Stimmungsumschwung hat ebenso           nahme auf eigene Sicherheitsinteressen hat
die politischen Parteien erfasst. Von den      bei seinen Nachbarn in Helsinki und Stock-
fünf Regierungsparteien waren bisher die       holm damit das genaue Gegenteil des Be-
Finnische Zentrumspartei und das Links-        absichtigten erreicht. Russlands Druck hat
bündnis gegen einen Beitritt, während die      den paradoxen Effekt, Finnland und Schwe-
Schwedische Volkspartei (die Partei der        den näher an die Nato heranzurücken.
schwedischsprachigen Minderheit) eine Mit-        Als mögliches Zugeständnis an Russland
gliedschaft bis 2025 anstrebte. Die Grünen     kursierte vor Kriegsbeginn als Verhand-
waren intern gespalten, wobei sich der         lungsoption westlicher Staats- und Regie-
Fraktionsvorsitzende der Partei im finni-      rungschefs, die Ukraine für eine wie auch
schen Parlament, Atte Harjanne, schon vor      immer festgelegte Zeit nicht der Nato bei-
Russlands Invasion in der Ukraine für eine     treten zu lassen. Aus der Sicht Finnlands,
Mitgliedschaft aussprach. Die Sozialdemo-      dessen historische Erfahrung mit der Sow-
kratische Partei vertrat traditionell eine     jetunion den Begriff »Finnlandisierung«
ähnliche Linie wie Präsident Niinistö. Dem-    entstehen ließ, ist diese Idee sehr kritisch
nach blieb die Nato-Option ein wichtiger       zu bewerten. Da die Ukraine aufgrund ihrer
Pfeiler der finnischen Sicherheitspolitik,     fehlenden territorialen Integrität bis zum
während einstweilen kein Bedarf gesehen        Kriegsbeginn ohnehin keine realistische
wurde, die Allianzfreiheit zu verlassen.       Chance auf Beitritt hatte, war die Über-
   Der Krieg in der Ukraine hat das sicher-    legung eines Aufnahmemoratoriums wenig
heitspolitische Kalkül in Finnland jedoch      zielführend. Denn der Ausschluss der
fundamental verändert. Seit dem russi-         Ukraine aus einer Nato-Mitgliedschaftsper-
schen Überfall haben immer mehr Politike-      spektive, selbst wenn nur bedingt in Form
rinnen und Politiker in allen Parteien einen   eines zeitlich begrenzten Moratoriums,
Meinungswechsel bekundet und sich für          könnte auch einen Ausschluss Finnlands
den sofortigen Nato-Beitritt Finnlands aus-    bedeuten. Obwohl die beiden Fälle nicht
gesprochen. Eine nationale Bürgerinitiative    völlig vergleichbar sind, allein schon wegen
für ein richtungsweisendes Referendum zu       der EU-Mitgliedschaft Finnlands, wäre als
dieser Frage sammelte innerhalb von fünf       Worst-Case-Szenario denkbar, dass Russ-
Tagen die notwendigen 50 000 Stimmen,          land in Zukunft ähnliche Forderungen und
die eine parlamentarische Befassung erfor-     Eskalationsmittel gegenüber Helsinki ein-
derlich machen.                                setzt. Wären die Mitgliedstaaten der Allianz
   In Schweden gab es erstmals im Dezem-       dann bereit, auch Finnland die »Nato-Tür«
ber 2020 eine parlamentarische Mehrheit        zu verschließen? Schließlich könnte die
dafür, eine Nato-Beitrittsoption vorzuberei-   Einigung über eine neue Sicherheitsarchi-
ten. Ein Jahr später sorgte die von Russland   tektur für Europa – als selbstauferlegte
geforderte Absage an jede Nato-Erweiterung     Voraussetzung für die Aufnahme weiterer
nahe seiner Grenze auch in Schweden für        Nato-Mitglieder – noch viele Jahre auf sich
Aufruhr. »In Schweden entscheiden wir          warten lassen.
selbst, mit wem wir kooperieren«, erklärte
die seit November 2021 amtierende Pre-
mierministerin Magdalena Andersson und         Auswirkungen auf die Sicherheit
kündigte eine »Vertiefung der Partnerschaft    der Ostseeregion
zwischen Schweden und der Nato« an. In
der schwedischen Bevölkerung haben sich        Finnland ist aufgrund der Reservestärke
laut einer Umfrage von Januar 2022 die         seiner Streitkräfte und deren moderner
Anteile von Unterstützung und Ablehnung        Ausrüstung ein attraktiver verteidigungs-
einer Nato-Mitgliedschaft nahezu angegli-      politischer Partner für die Nato im hohen

                                                                                              SWP-Aktuell 19
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Norden. Seit 2014 ist die strategische Bedeu-    Langfristige Folgen für den
                 tung der Ostseeregion gestiegen, was gleich-     hohen Norden und die Arktis
                 zeitig die Rolle Finnlands aufgewertet hat.
                 Im Fall eines Angriffs durch Russland wür-       Die russische Kriegführung hat eine Zeiten-
                 de Finnland eine wichtige Aufgabe für die        wende in der europäischen Sicherheits-
                 Verteidigung des Ostseeraums zukommen.           ordnung eingeleitet. Länder wie Finnland,
                 So wurde in Estland der finnische Beschluss,     Schweden und Deutschland, die sich mit
                 F-35-Kampfflugzeuge zu erwerben, als sehr        Rüstungsexporten in Konfliktgebiete tradi-
                 vorteilhaft für die Verteidigungskapazität       tionell zurückhalten, haben binnen einer
                 der gesamten Region bewertet.                    Woche beschlossen, Waffen an die Ukraine
                    Die intensivierte Verteidigungszusam-         zu liefern. Die EU hat erstmals in ihrer
                 menarbeit des Nato-Mitglieds Norwegen mit        Geschichte gemeinschaftlich den Beschluss
                 Finnland und Schweden trägt ebenfalls da-        gefasst, ein angegriffenes Land mit Waffen
                 zu bei, die regionale Sicherheit im gesam-       zu versorgen, und will die Ukraine militä-
                 ten Großraum Ostsee-Arktis-Nordatlantik          risch mit Lieferungen im Wert von 500 Mil-
                 zu stärken. Obwohl Schweden mit Blick auf        lionen Euro unterstützen. Selbst die neu-
                 die Schlagkraft der Streitkräfte weit hinter     trale Schweiz hat sich den weitreichenden
                 Finnland zurückfällt, ist die enge sicher-       EU-Sanktionen gegen Russland angeschlos-
                 heits- und verteidigungspolitische Koopera-      sen.
                 tion der zwei Länder für beide Seiten kom-          Die Auswirkungen dieser Umbrüche sind
                 plementär. Sollten sie der Nato beitreten,       in ihrer Gesamtheit noch nicht absehbar,
                 würde dies eine nahezu sofortige operatio-       doch schon jetzt steht fest, dass Moskaus
                 nelle Bereitschaft im Rahmen des Bündnis-        Krieg wie Sprengstoff für die Balance im
                 ses ermöglichen. So wäre der Beitritt der        hohen Norden wirkt. Dort haben europäi-
                 beiden nordischen Staaten durchaus vor-          sche Staaten bislang Ausgleich und Koope-
                 teilhaft für die kollektive Sicherheit der       ration mit Russland gesucht, während auch
                 Nato-Nordflanke.                                 Russland selbst zugunsten seiner Sicher-
                    De facto haben Finnland und Schweden          heits- und Wirtschaftsinteressen um Stabi-
                 ihre Verteidigungspolitik bereits so weitge-     lität bemüht war. Finnland hat 1989 in
                 hend an die Nato angepasst, dass der Status      Rovaniemi die Arctic Environmental Protec-
                 der beiden Länder nicht mehr einer Neutra-       tion Strategy (AEPS) initiiert sowie 1991 die
                 lität im engeren Sinne entspricht. Unter         Rovaniemi-Deklaration unterzeichnet, die
                 normalen Umständen wäre ihr Beitritt zur         zur Gründung des Arktischen Rates führte.
                 Allianz also fast nur eine Formalisierungs-      Umweltschutz und friedliche Nutzung der
                 sache. Wie Russland darauf reagieren wür-        natürlichen Ressourcen in der Arktis boten
                 de, ist aber in der aktuell weiter eskalieren-   damals einen gemeinsamen Nenner, um
                 den Situation schwer absehbar. Putin hat         alle arktischen Staaten an den Verhand-
                 schon oft betont, dass Russland eine Mit-        lungstisch zu bekommen.
                 gliedschaft Schwedens oder Finnlands im             Auch Norwegen wahrte als Nato-Staat
                 westlichen Bündnis nicht ohne weiteres           stets eine Balance zwischen Abschreckung
                 hinnehmen würde. So hat er 2017 einen            durch Mitgliedschaft in der Allianz und
                 Nato-Beitritt Schwedens als Bedrohung für        Rückversicherung für Russland. Einerseits
                 Russland bezeichnet und bereits 2016             fanden Übungen mit Nato-Verbündeten
                 angekündigt, als Antwort auf einen Beitritt      statt, andererseits beschränkte sich Oslo
                 Finnlands russische Truppen an die gemein-       und ließ keine dauerhafte Präsenz von
                 same Grenze zu verlegen. Angesichts der          Nato-Einheiten im eigenen Land zu. Solche
                 Entscheidung Russlands, gegen die Ukraine        Akte selbstauferlegter Beschränkungen
                 einen Angriffskrieg zu führen, ist es nicht      verlieren jedoch ihre Legitimation, wenn
                 von der Hand zu weisen, dass Putin diesen        Russland immer aggressiver auftritt und die
                 Kurs tatsächlich verfolgen könnte.               Souveränität seiner Nachbarstaaten militä-
                                                                  risch angreift. Damit verabschiedet sich

SWP-Aktuell 19
März 2022

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Moskau von den Prinzipien des Völker-          terin Ann Linde hob in einem Kommentar
rechts und der KSZE-Schlussakte – dazu         die wachsende strategische und ökonomi-
gehören der Verzicht auf Androhung oder        sche Bedeutung der Arktis hervor. Schwe-
Anwendung von Gewalt, die sich gegen die       den müsse sich dem dort stattfindenden
territoriale Integrität oder politische Un-    Wandel anpassen. Im Dokument selbst wird
abhängigkeit eines Staates richtet. Infolge-   erklärt, dass die Arktis lange als ein Gebiet
dessen hat Norwegen bereits die Koopera-       niedriger Spannungen gegolten habe, mit
tion mit den USA erheblich ausgeweitet.        günstigen Bedingungen für internationale
   Die veränderte sicherheitspolitische        Kooperation. Doch brächten der Klima-
Betrachtung der arktischen Region wird in      wandel und die veränderte geopolitische
den jüngsten Strategiedokumenten Finn-         Lage neue Herausforderungen mit sich.
lands und Schwedens berücksichtigt. So hat
der finnische Militärgeheimdienst 2021
erstmals einen Bericht veröffentlicht, in      (Wieder-)Einhegung russischer
dem er mit Blick auf Russland nüchtern         Macht
konstatiert, dass Staaten in der Arktis auch
mit militärischen Mitteln ihre Interessen      Sicherheitspolitisch ist allen nordischen
durchzusetzen suchten. Zudem wird im           Staaten die Anlehnung an die Nato gemein-
neuesten Verteidigungsbericht des Landes       sam. Ergänzend dazu vereinbarten nord-
festgehalten, dass die Signifikanz der Groß-   europäische Verteidigungsminister im
mächterivalität im hohen Norden gestiegen      November 2018 in Oslo, sich stärker in der
sei, wo Seewege aufgrund des hier deutlich     Nordischen Verteidigungskooperation
schneller voranschreitenden Klimawandels       (NORDEFCO) zu engagieren und die Inter-
besser zugänglich werden und so neue Mög-      operabilität zu verbessern.
lichkeiten entstehen, Ressourcen auszubeu-        Bei den sicherheitspolitischen Interessen
ten. Die Arktis ist aufgrund der wachsenden    der nordischen Staaten lässt sich im letzten
Großmächtekonkurrenz und der dort plat-        Jahrzehnt eine Angleichungstendenz beob-
zierten Militärkapazitäten Russlands be-       achten, was zum großen Teil Russland
sonders anfällig für Spillover-Effekte aus     geschuldet ist. Seit der Krim-Annexion 2014
anderen Regionen. Dass Moskau hier auf-        finden die nordischen Regierungen auf die-
rüstet, schafft ein hohes Eskalationspoten-    sem Feld immer öfter einen gemeinsamen
tial. Auch in Finnlands neuer Arktisstrate-    Nenner – trotz ihrer unterschiedlichen
gie von Juni 2021 wird betont, wie stark die   euroatlantischen Bezüge, die eine sicher-
arktische Sicherheitslage mit (negativen)      heitspolitische Zusammenarbeit in der Ver-
Entwicklungen in anderen Weltregionen          gangenheit zu einem gewissen Grad er-
verwoben ist. Sicherheitspolitische Entwick-   schwert haben. So sind Dänemark, Finn-
lungen in der Arktis beeinflussen demnach      land und Schweden Mitglieder der EU,
die gesamte nationale Sicherheit Finnlands     Norwegen und Dänemark wiederum Nato-
und sind eng mit dem Ostseeraum und dem        Staaten. Dänemark allerdings nimmt auf-
restlichen Europa verknüpft.                   grund seiner Opt-outs in der Gemeinsamen
   In Schwedens neuer Arktisstrategie von      Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
Oktober 2020 hat die Sicherheitspolitik        EU nicht an der Ständigen Strukturierten
ebenfalls einen erhöhten Stellenwert. In der   Zusammenarbeit (PESCO) teil, während sich
vorausgegangenen Strategie von 2011 hieß       Norwegen aufgrund seiner Opt-ins am
es noch, die sicherheitspolitischen Heraus-    selben Politikbereich beteiligt. Finnland
forderungen der Region hätten keinen mili-     und Schweden haben bereits eine hohe
tärischen Charakter. Im neuen Strategie-       Interoperabilität mit Nato-Strukturen, ob-
papier wird dagegen nicht nur die Notwen-      wohl beide Länder noch keine Mitglieder
digkeit von Frieden und Stabilität betont,     im Bündnis sind.
sondern auch eine »neue militärische Dyna-        Als Reaktion auf den schon damals er-
mik in der Arktis« konstatiert. Außenminis-    folgten Anstieg militärischer Aktivitäten

                                                                                               SWP-Aktuell 19
                                                                                                  März 2022

                                                                                                           7
auf russischer Seite unterzeichneten die                        NORDEFCO ausgebaut und die Zusammen-
                               Verteidigungsminister von Finnland, Nor-                        arbeit mit den USA intensiviert wird. Der
                               wegen und Schweden im September 2020                            Kreml führt das Szenario, das er seit Jahr-
                               eine Absichtserklärung. Demnach wollen                          zehnten als Menetekel beschwört, mit sei-
                               die drei Länder künftig gemeinsam Opera-                        nem Krieg in der Ukraine überhaupt erst
                               tionen in Krisen- und Konfliktsituationen                       herbei: Es ist wieder notwendig geworden,
                               durchführen (wobei Norwegen plant, im                           die russische Macht einzuhegen. Ob die von
                               Krisen- und Kriegsfall das Kommando der                         Putin behauptete Bedrohung der russischen
                               Nato zu übertragen), dazu eine strategische                     Sicherheit der Realität entspricht, ist inso-
                               Planungsgruppe aufbauen und nationale                           fern irrelevant, als er ohnehin seit 2007
© Stiftung Wissenschaft        Operationspläne koordinieren. Zur Inter-                        seinem Narrativ entsprechend handelt
und Politik, 2022              operabilität mit US-Streitkräften trägt bei,                    und reale Konsequenzen für ganz Europa
Alle Rechte vorbehalten        dass Dänemark, Finnland und Norwegen                            schafft. Das stellt den Westen vor ein
                               F-35-Kampfflugzeuge einführen.                                  Dilemma: Es ist nicht möglich, exzessive
Das Aktuell gibt die Auf-
                                  Über die regionale Kooperation hinaus                        russische Sicherheitsbedürfnisse zu erfül-
fassung der Autoren wieder.
                               bleibt Großbritannien trotz seines EU-Aus-                      len, ohne die eigenen Werte, Prinzipien
In der Online-Version dieser   tritts für die nordischen Staaten der wich-                     und Interessen zu kompromittieren.
Publikation sind Verweise      tigste europäische Partner in der Sicher-                           Russland hat eigentlich ein starkes Eigen-
auf SWP-Schriften und          heits- und Verteidigungspolitik. Obwohl                         interesse an der Stabilität im arktisch-nord-
wichtige Quellen anklickbar.
                               Deutschland in vielen Bereichen als gleich-                     atlantischen Raum, weil seine Sicherheit
SWP-Aktuells werden intern
                               gesinnter Partner gilt, wird es in den nordi-                   und sein Wirtschaftsmodell von dieser Re-
einem Begutachtungsverfah-     schen Staaten bisher nicht als ein zentraler                    gion abhängen. So ist Moskaus Aggression
ren, einem Faktencheck und     sicherheitspolitischer Akteur wahrgenom-                        nicht nur deshalb kontraproduktiv, weil sie
einem Lektorat unterzogen.     men. Nach der Ankündigung von Kanzler                           den Westen enger zusammenrücken lässt
Weitere Informationen          Scholz, 100 Milliarden Euro Sondervermö-                        und in der Ukraine den Willen stärkt, die
zur Qualitätssicherung der
                               gen für die Bundeswehr bereitzustellen,                         Souveränität des eigenen Staates zu vertei-
SWP finden Sie auf der SWP-
Website unter https://www.     könnte sich dies allerdings ändern. Für die                     digen. Sie ist es auch im Hinblick auf Frie-
swp-berlin.org/ueber-uns/      Bundesrepublik als Ostsee-Anrainer ist es                       den und Stabilität im hohen Norden, auf
qualitaetssicherung/           geboten, den Norden stärker strategisch                         die Russland angewiesen bleibt. Wirtschaft-
                               (und rüstungspolitisch) zu berücksichtigen                      liche Überlegungen scheinen jedoch in
SWP
                               und den arktisch-nordatlantischen Raum –                        Moskaus Kalkül keine übergeordnete Rolle
Stiftung Wissenschaft und
Politik
                               ähnlich wie Finnland, aber auch Russland                        mehr zu spielen; im Zweifelsfall rangiert
Deutsches Institut für         – als eine sicherheitspolitisch zusammen-                       nationale Sicherheit – bzw. Regimesicher-
Internationale Politik und     hängende Sphäre zu verstehen. Die Vertei-                       heit – vor ökonomischen Fragen. Deshalb
Sicherheit                     digungszusammenarbeit im Norden ent-                            ist nicht auszuschließen, dass eine ähnliche
                               wickelt sich aktuell sehr dynamisch, und                        Eskalation im hohen Norden folgen könn-
Ludwigkirchplatz 3–4
                               eine engere Anbindung Deutschlands wäre                         te, solange im Kreml das Regime Putin
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0        aufgrund seiner geographischen Lage an                          herrscht.
Fax +49 30 880 07-100          der Ostsee von Vorteil. Die Bundeswehr
www.swp-berlin.org             hat bereits erste Schritte in diese Richtung
swp@swp-berlin.org             unternommen. So führte die deutsche
                               Marine Mitte Februar 2022 gemeinsame
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
                               Übungen mit der finnischen und der estni-
doi: 10.18449/2022A19          schen Marine durch, um Bündnissolidarität
                               an der Nato-Nordflanke zu zeigen.
                                  Moskaus Kriegskurs verleiht der Vertei-
                               digungskooperation im Norden neuen
                               Schub und wird absehbar dazu führen, dass

                               Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
                               Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.

      SWP-Aktuell 19
      März 2022

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