Moskau bedroht die Balance im hohen Norden - Einleitung - Stiftung ...
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NR. 19 MÄRZ 2022 Einleitung Moskau bedroht die Balance im hohen Norden Angesichts der russischen Kriegspolitik rücken Finnland und Schweden näher an die Nato Minna Ålander / Michael Paul Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine basiert nicht auf legitimen und nachvoll- ziehbaren Sicherheitsinteressen, sondern ist eine Absage an die Sicherheitsordnung Europas. Dies hat Präsident Putin in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar, die den Angriff einleitete, klargestellt. Finnland und Schweden hatten schon davor an die KSZE-Schlussakte von 1975 erinnert, auf die sich Russland als Nachfolgestaat der Sow- jetunion verpflichtet hat. Demnach ist die souveräne Gleichheit der Unterzeichner- staaten zu achten – und damit auch ihr Recht auf die eigene, freie Bündniswahl. Die militärische Aggression Moskaus drängt Helsinki und Stockholm nicht nur in einem noch nie dagewesenen Ausmaß näher an die Nato, sondern macht zudem die Ein- hegung russischer Macht wieder dringlich, was auch die Stabilität im hohen Norden tangieren wird. Der russische Überfall hat Konsequenzen Beitritt aus. Das schwedische Parlament hat über die Ukraine hinaus. Bereits in den schon im Dezember 2020 mit großer Mehr- vorangegangenen Eskalationsstufen waren heit für einen künftigen Beitritt des Landes Auswirkungen im Ostseeraum und im zum Bündnis gestimmt. hohen Norden festzustellen, und langfristig Am 24. Dezember 2021 informierte die werden damit auch Implikationen in der Presseabteilung des russischen Außenminis- Arktis verbunden sein. Neben dem Balti- teriums darüber, dass die Forderung von kum sind Finnland und Schweden als nor- Präsident Wladimir Putin, auf eine künftige dische EU-Mitgliedstaaten direkt von der Erweiterung der Nato zu verzichten, auch verschlechterten Sicherheitslage in Europa Finnland und Schweden betreffe. Der russi- und um die Ostsee betroffen. Noch sind sche Außenminister Sergei Lawrow nahm beide Länder nicht Mitglied der Nato. In zwar später die Forderung im Hinblick auf Helsinki ist die »Nato-Option« aber fester die beiden nordischen Länder zurück und Bestandteil der Sicherheitspolitik, und nach versicherte, Moskau respektiere deren Sou- einer aktuellen Umfrage spricht sich erst- veränität. Im selben Atemzug betonte er mals eine Mehrheit der Finnen für einen jedoch, dass die Neutralität Finnlands und
Schwedens ein essentieller Teil der euro- internationalen Sicherheitsumfeld als gestie- päischen Sicherheitsordnung sei. Am gene militärische Aktivitäten in der Ostsee- 25. Februar warnte die Pressesprecherin des region widerspiegeln. Kremls, Marija Sacharowa, in einem Tweet, dass ein Nato-Beitritt Finnlands »ernsthafte militärische und politische Folgen« hätte. Finnlands geopolitischer Spielraum Spannungen im Ostseeraum Mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern auf einer Fläche fast so groß wie Deutschland Militärische Machtdemonstrationen sind gehört Finnland zu den am dünnsten be- inzwischen »ein fest etabliertes Mittel russi- siedelten Ländern Europas. Es teilt eine scher Zwangsdiplomatie« geworden. Daher 1 343 Kilometer lange Grenze mit Russland überraschte nicht, dass Moskaus Forderun- und ist abhängig vom Außenhandel über gen – parallel zum Truppenaufmarsch an See. Sein geopolitischer Spielraum wird von der ukrainischen Grenze – verstärkte russi- stabilen Beziehungen zu Moskau ebenso sche Aktivitäten auch in der Ostsee folgten. wie von der gesamteuropäischen Stabilität Im Januar waren drei russische Landungs- bestimmt. Finnland war deshalb maßgeb- schiffe der Nordflotte aus Murmansk in den lich an Übereinkommen zur europäischen Stützpunkt der Baltischen Flotte in der rus- Sicherheit und Zusammenarbeit beteiligt. sischen Exklave Kaliningrad eingelaufen. Im August 1975 wurde die KSZE-Schluss- Schweden erhöhte daraufhin die Verteidi- akte in Helsinki unterschrieben. gungsbereitschaft und ließ demonstrativ Aufgrund seiner geopolitischen Lage in Panzer auf der Insel Gotland patrouillieren, direkter Nachbarschaft Russlands hat Finn- die nur 330 Kilometer von Kaliningrad ent- land im Gegensatz zu vielen westeuro- fernt liegt und als primäres russisches An- päischen EU- und Nato-Mitgliedstaaten die griffsziel im Kriegsfall gilt. Mitte Januar ver- allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft ließen die Landungsschiffe der Nordflotte und setzt auf eine starke Landesverteidi- zwar zusammen mit drei weiteren Lan- gung. Die Streitkräfte des Landes können dungsschiffen den Stützpunkt der Baltischen im Kriegsfall eine Truppenstärke von Flotte in Richtung Schwarzes Meer. Gleich- 280 000 erreichen. Außerdem erhalten sie zeitig wurden jedoch verdächtige Flüge von eine moderne Bewaffnung. Im Dezember Drohnen über drei schwedischen Atomkraft- 2021 beschloss die finnische Regierung, werken bekannt. Am 17. Januar 2022 nahm 64 Kampfflugzeuge des Typs F-35A Light- darüber hinaus ein russisches Frachtflug- ning II vom US-Hersteller Lockheed Martin zeug, das von Moskau nach Leipzig unter- zu kaufen. Die Anschaffung garantiert eine wegs war, einen großen Umweg über halb hohe Interoperabilität mit Nato-Staaten Finnland. Dabei überflog es zwei wichtige und wurde deshalb in russischen Medien finnische Militärstandorte, darunter das als »unfreundliche Aktion gegenüber Hauptquartier der Luftwaffe und Teile des Russland« bewertet. Militärgeheimdienstes in Tikkakoski sowie Außenpolitisch waren Finnlands Priori- den Militärflughafen von Halli in Jämsä. täten bereits nach einem Strategiepapier Solche Vorgänge finden in Deutschland des Außenministeriums von 2018, das für wenig Aufmerksamkeit, weil die Ostsee- die Jahre bis 2022 gelten sollte, von der ver- region in der Regel als wirtschaftlicher Raum schlechterten Sicherheitslage in Europa ge- wahrgenommen wird. In Nordeuropa steht kennzeichnet. Die seit 2014 erhöhte mili- die strategische Bedeutung der Region hin- tärische Präsenz Russlands in finnischen gegen im Fokus der Sicherheits- und Ver- Nachbargebieten erfordere sowohl eine ent- teidigungspolitik. Im neuen Verteidigungs- schlossene Antwort als auch die Aufrecht- bericht Finnlands von September 2021 wird erhaltung eines regelmäßigen Dialogs. Im etwa festgestellt, dass sich Spannungen im neuen Verteidigungsbericht der Regierung SWP-Aktuell 19 März 2022 2
von September 2021 verschiebt sich der seit Anfang der 2000er Jahre selbst nicht traditionell auf den Ostseeraum gerichtete über ausreichende Kapazitäten verfügt. Die Fokus zugunsten einer erweiterten räum- Präsenz und die Aktivitäten der Nato im lichen Perspektive, die die Arktis und den Ostseeraum haben aus finnischer Sicht eine nördlichen Atlantik als einen sicherheits- stabilisierende Wirkung. Dementsprechend politischen Raum erfasst. sucht Helsinki die enge Zusammenarbeit mit Die veränderten Rahmenbedingungen der Nato, speziell bei der Luftverteidigung. im Umfeld haben so zur stärkeren Zusam- Dem diente im Juni 2021 das multinationale menarbeit zwischen den nordischen Län- Manöver »Arctic Challenge 2021«. Dazu dern, insbesondere Finnland und Schwe- hatten Finnen und Schweden sieben Nato- den, und im transatlantischen Verhältnis Staaten eingeladen, darunter Deutschland. geführt. Schweden ist Finnlands wichtigster Aus finnischer Sicht verhalten sich EU, Partner, der dem Land im Konfliktfall stra- Nato und Nordische Kooperation komple- tegische Tiefe verschafft. Umgekehrt ist mentär zueinander, so dass ein Beitritt zur die Verteidigungskooperation mit Helsinki Allianz bislang nicht erforderlich schien. für Stockholm sehr wichtig, da Schweden Wenn überhaupt, dann sollte er idealiter aufgrund seiner militärischen Abrüstung zusammen mit Schweden koordiniert erfol- SWP-Aktuell 19 März 2022 3
gen. Ein Alleingang Schwedens könnte die könne. Im Zeitraum 2021–2025 sollen da- Nato-Option für Helsinki verwässern, weil her die Rüstungsausgaben des Landes um Finnland als einziger neutraler Staat in der 40 Prozent steigen, gegenüber dem Niveau »Pufferzone« oder »Interessensphäre« Russ- von 2014 sogar um 85 Prozent. Die Perso- lands verbliebe. Die Nato-Option ist ein nalstärke der Armee soll bis 2025 von wichtiger und zugleich sensibler Teil der 60 000 auf 90 000 erhöht werden, die Mari- finnischen Sicherheits- und Verteidigungs- ne zwei weitere Schiffe und ein U-Boot er- politik – in der zugespitzten Lage mehr halten. Ebenso ist vorgesehen, Armee und denn je. Deshalb reagierte Finnland alar- Luftwaffe mit neuen Waffensystemen aus- miert, als Kanzler Olaf Scholz bei seiner zustatten und die Verteidigung von Gotland Pressekonferenz mit Putin in Moskau am zu verbessern, wo im Konfliktfall eine rus- 15. Februar davon sprach, dass eine Nato- sische Invasion erwartet wird. Die Insel Osterweiterung während seiner Amtszeit könnte zur »neuen Krim« werden, von wo nicht stattfinden werde. Scholz erklärte da- aus Russland die Zugänge zum südlichen bei nicht explizit, sich nur auf die Ukraine Ostseeraum kontrollieren würde. Darüber zu beziehen. Die Aussage wurde deshalb so hinaus will Stockholm ein System der Zivil- interpretiert, dass Deutschland gegebenen- verteidigung reaktivieren, damit sich das falls als Zugeständnis an Russland einen Land in einem Krieg drei Monate lang hal- Nato-Beitritt Finnlands blockieren könnte. ten kann, bis Hilfe eintrifft. Auch wurde die Wenngleich nicht so gemeint, hat Scholz’ Marinebasis in Muskö reaktiviert und der Äußerung einen empfindlichen Nerv in Übungsbetrieb dort wiederaufgenommen. Finnland getroffen. Die geheim gehaltene Übung von 2020 dürfte mit Unterstützung des U.S. Special Operations Command Europe aus Stuttgart Neutralitätspolitik als außen- stattgefunden haben. Noch bemerkenswer- politische Tradition Schwedens ter ist die schwedische Entscheidung vom 27. Februar, Waffen an die Ukraine zu Schweden folgt einer außenpolitischen liefern. Das Signal ist klar: Selbst Schweden Linie, die auf einer tief im politischen rückt aufgrund des russischen Vorgehens Selbstverständnis verwurzelten Neutralitäts- von seiner Neutralitätspolitik ab. politik basiert. Seit 1814 war Schweden nicht mehr an kriegerischen Handlungen beteiligt. Allianzfreiheit und Friedensbe- »Freiheit der Wahl« unter Druck mühungen stehen traditionell im Zentrum des eigenen Außenhandelns. Parallel ver- In seiner Neujahrsansprache 2022 erinnerte folgt Stockholm seit dem Ende des Kalten der finnische Präsident Niinistö an Finn- Krieges eine pragmatische Sicherheitspoli- lands »Freiheit der Wahl« mit Blick auf eine tik, in der es so nahe wie möglich an die mögliche Nato-Mitgliedschaft. Dieser Hin- Nato rückt, ohne aber von Beitritt zu reden. weis war deutlich an die Adresse Russlands Typisch für den schwedischen Ansatz ist, gerichtet. Ein finnisches »Modell«, die so- dass die genaue Truppenzusammenstellung genannte Finnlandisierung – gewisser- bei einer Übung von Spezialeinheiten der maßen freiwillig seine Souveränität ein- schwedischen Armee mit US-Truppen im zuschränken –, gebe es nicht, so Niinistö, Herbst 2020 in den Schären des Landes auch nicht mit Blick auf die Ukraine. streng geheim gehalten wurde. In der Bevölkerung des Landes hat Russ- Laut Verteidigungsminister Peter Hult- lands Krieg gegen die Ukraine einen histo- qvist muss sich Schweden der veränderten rischen Wandel herbeigeführt, was die Lage anpassen, in der Russland gewillt sei, Unterstützung einer finnischen Nato-Mit- militärische Mittel zur Erreichung politi- gliedschaft angeht. Nach einer Umfrage scher Ziele einzusetzen und ein bewaffne- vom 28. Februar gibt es nun erstmals eine ter Angriff nicht ausgeschlossen werden Mehrheit für den Beitritt zum Bündnis. SWP-Aktuell 19 März 2022 4
53 Prozent sprachen sich dafür aus, nur chen: 35 Prozent sind dafür, 33 Prozent noch 28 Prozent waren dagegen, 19 Prozent dagegen, 31 Prozent unentschieden. Mos- zeigten sich unsicher. kaus harte Forderung nach mehr Rücksicht- Der Stimmungsumschwung hat ebenso nahme auf eigene Sicherheitsinteressen hat die politischen Parteien erfasst. Von den bei seinen Nachbarn in Helsinki und Stock- fünf Regierungsparteien waren bisher die holm damit das genaue Gegenteil des Be- Finnische Zentrumspartei und das Links- absichtigten erreicht. Russlands Druck hat bündnis gegen einen Beitritt, während die den paradoxen Effekt, Finnland und Schwe- Schwedische Volkspartei (die Partei der den näher an die Nato heranzurücken. schwedischsprachigen Minderheit) eine Mit- Als mögliches Zugeständnis an Russland gliedschaft bis 2025 anstrebte. Die Grünen kursierte vor Kriegsbeginn als Verhand- waren intern gespalten, wobei sich der lungsoption westlicher Staats- und Regie- Fraktionsvorsitzende der Partei im finni- rungschefs, die Ukraine für eine wie auch schen Parlament, Atte Harjanne, schon vor immer festgelegte Zeit nicht der Nato bei- Russlands Invasion in der Ukraine für eine treten zu lassen. Aus der Sicht Finnlands, Mitgliedschaft aussprach. Die Sozialdemo- dessen historische Erfahrung mit der Sow- kratische Partei vertrat traditionell eine jetunion den Begriff »Finnlandisierung« ähnliche Linie wie Präsident Niinistö. Dem- entstehen ließ, ist diese Idee sehr kritisch nach blieb die Nato-Option ein wichtiger zu bewerten. Da die Ukraine aufgrund ihrer Pfeiler der finnischen Sicherheitspolitik, fehlenden territorialen Integrität bis zum während einstweilen kein Bedarf gesehen Kriegsbeginn ohnehin keine realistische wurde, die Allianzfreiheit zu verlassen. Chance auf Beitritt hatte, war die Über- Der Krieg in der Ukraine hat das sicher- legung eines Aufnahmemoratoriums wenig heitspolitische Kalkül in Finnland jedoch zielführend. Denn der Ausschluss der fundamental verändert. Seit dem russi- Ukraine aus einer Nato-Mitgliedschaftsper- schen Überfall haben immer mehr Politike- spektive, selbst wenn nur bedingt in Form rinnen und Politiker in allen Parteien einen eines zeitlich begrenzten Moratoriums, Meinungswechsel bekundet und sich für könnte auch einen Ausschluss Finnlands den sofortigen Nato-Beitritt Finnlands aus- bedeuten. Obwohl die beiden Fälle nicht gesprochen. Eine nationale Bürgerinitiative völlig vergleichbar sind, allein schon wegen für ein richtungsweisendes Referendum zu der EU-Mitgliedschaft Finnlands, wäre als dieser Frage sammelte innerhalb von fünf Worst-Case-Szenario denkbar, dass Russ- Tagen die notwendigen 50 000 Stimmen, land in Zukunft ähnliche Forderungen und die eine parlamentarische Befassung erfor- Eskalationsmittel gegenüber Helsinki ein- derlich machen. setzt. Wären die Mitgliedstaaten der Allianz In Schweden gab es erstmals im Dezem- dann bereit, auch Finnland die »Nato-Tür« ber 2020 eine parlamentarische Mehrheit zu verschließen? Schließlich könnte die dafür, eine Nato-Beitrittsoption vorzuberei- Einigung über eine neue Sicherheitsarchi- ten. Ein Jahr später sorgte die von Russland tektur für Europa – als selbstauferlegte geforderte Absage an jede Nato-Erweiterung Voraussetzung für die Aufnahme weiterer nahe seiner Grenze auch in Schweden für Nato-Mitglieder – noch viele Jahre auf sich Aufruhr. »In Schweden entscheiden wir warten lassen. selbst, mit wem wir kooperieren«, erklärte die seit November 2021 amtierende Pre- mierministerin Magdalena Andersson und Auswirkungen auf die Sicherheit kündigte eine »Vertiefung der Partnerschaft der Ostseeregion zwischen Schweden und der Nato« an. In der schwedischen Bevölkerung haben sich Finnland ist aufgrund der Reservestärke laut einer Umfrage von Januar 2022 die seiner Streitkräfte und deren moderner Anteile von Unterstützung und Ablehnung Ausrüstung ein attraktiver verteidigungs- einer Nato-Mitgliedschaft nahezu angegli- politischer Partner für die Nato im hohen SWP-Aktuell 19 März 2022 5
Norden. Seit 2014 ist die strategische Bedeu- Langfristige Folgen für den tung der Ostseeregion gestiegen, was gleich- hohen Norden und die Arktis zeitig die Rolle Finnlands aufgewertet hat. Im Fall eines Angriffs durch Russland wür- Die russische Kriegführung hat eine Zeiten- de Finnland eine wichtige Aufgabe für die wende in der europäischen Sicherheits- Verteidigung des Ostseeraums zukommen. ordnung eingeleitet. Länder wie Finnland, So wurde in Estland der finnische Beschluss, Schweden und Deutschland, die sich mit F-35-Kampfflugzeuge zu erwerben, als sehr Rüstungsexporten in Konfliktgebiete tradi- vorteilhaft für die Verteidigungskapazität tionell zurückhalten, haben binnen einer der gesamten Region bewertet. Woche beschlossen, Waffen an die Ukraine Die intensivierte Verteidigungszusam- zu liefern. Die EU hat erstmals in ihrer menarbeit des Nato-Mitglieds Norwegen mit Geschichte gemeinschaftlich den Beschluss Finnland und Schweden trägt ebenfalls da- gefasst, ein angegriffenes Land mit Waffen zu bei, die regionale Sicherheit im gesam- zu versorgen, und will die Ukraine militä- ten Großraum Ostsee-Arktis-Nordatlantik risch mit Lieferungen im Wert von 500 Mil- zu stärken. Obwohl Schweden mit Blick auf lionen Euro unterstützen. Selbst die neu- die Schlagkraft der Streitkräfte weit hinter trale Schweiz hat sich den weitreichenden Finnland zurückfällt, ist die enge sicher- EU-Sanktionen gegen Russland angeschlos- heits- und verteidigungspolitische Koopera- sen. tion der zwei Länder für beide Seiten kom- Die Auswirkungen dieser Umbrüche sind plementär. Sollten sie der Nato beitreten, in ihrer Gesamtheit noch nicht absehbar, würde dies eine nahezu sofortige operatio- doch schon jetzt steht fest, dass Moskaus nelle Bereitschaft im Rahmen des Bündnis- Krieg wie Sprengstoff für die Balance im ses ermöglichen. So wäre der Beitritt der hohen Norden wirkt. Dort haben europäi- beiden nordischen Staaten durchaus vor- sche Staaten bislang Ausgleich und Koope- teilhaft für die kollektive Sicherheit der ration mit Russland gesucht, während auch Nato-Nordflanke. Russland selbst zugunsten seiner Sicher- De facto haben Finnland und Schweden heits- und Wirtschaftsinteressen um Stabi- ihre Verteidigungspolitik bereits so weitge- lität bemüht war. Finnland hat 1989 in hend an die Nato angepasst, dass der Status Rovaniemi die Arctic Environmental Protec- der beiden Länder nicht mehr einer Neutra- tion Strategy (AEPS) initiiert sowie 1991 die lität im engeren Sinne entspricht. Unter Rovaniemi-Deklaration unterzeichnet, die normalen Umständen wäre ihr Beitritt zur zur Gründung des Arktischen Rates führte. Allianz also fast nur eine Formalisierungs- Umweltschutz und friedliche Nutzung der sache. Wie Russland darauf reagieren wür- natürlichen Ressourcen in der Arktis boten de, ist aber in der aktuell weiter eskalieren- damals einen gemeinsamen Nenner, um den Situation schwer absehbar. Putin hat alle arktischen Staaten an den Verhand- schon oft betont, dass Russland eine Mit- lungstisch zu bekommen. gliedschaft Schwedens oder Finnlands im Auch Norwegen wahrte als Nato-Staat westlichen Bündnis nicht ohne weiteres stets eine Balance zwischen Abschreckung hinnehmen würde. So hat er 2017 einen durch Mitgliedschaft in der Allianz und Nato-Beitritt Schwedens als Bedrohung für Rückversicherung für Russland. Einerseits Russland bezeichnet und bereits 2016 fanden Übungen mit Nato-Verbündeten angekündigt, als Antwort auf einen Beitritt statt, andererseits beschränkte sich Oslo Finnlands russische Truppen an die gemein- und ließ keine dauerhafte Präsenz von same Grenze zu verlegen. Angesichts der Nato-Einheiten im eigenen Land zu. Solche Entscheidung Russlands, gegen die Ukraine Akte selbstauferlegter Beschränkungen einen Angriffskrieg zu führen, ist es nicht verlieren jedoch ihre Legitimation, wenn von der Hand zu weisen, dass Putin diesen Russland immer aggressiver auftritt und die Kurs tatsächlich verfolgen könnte. Souveränität seiner Nachbarstaaten militä- risch angreift. Damit verabschiedet sich SWP-Aktuell 19 März 2022 6
Moskau von den Prinzipien des Völker- terin Ann Linde hob in einem Kommentar rechts und der KSZE-Schlussakte – dazu die wachsende strategische und ökonomi- gehören der Verzicht auf Androhung oder sche Bedeutung der Arktis hervor. Schwe- Anwendung von Gewalt, die sich gegen die den müsse sich dem dort stattfindenden territoriale Integrität oder politische Un- Wandel anpassen. Im Dokument selbst wird abhängigkeit eines Staates richtet. Infolge- erklärt, dass die Arktis lange als ein Gebiet dessen hat Norwegen bereits die Koopera- niedriger Spannungen gegolten habe, mit tion mit den USA erheblich ausgeweitet. günstigen Bedingungen für internationale Die veränderte sicherheitspolitische Kooperation. Doch brächten der Klima- Betrachtung der arktischen Region wird in wandel und die veränderte geopolitische den jüngsten Strategiedokumenten Finn- Lage neue Herausforderungen mit sich. lands und Schwedens berücksichtigt. So hat der finnische Militärgeheimdienst 2021 erstmals einen Bericht veröffentlicht, in (Wieder-)Einhegung russischer dem er mit Blick auf Russland nüchtern Macht konstatiert, dass Staaten in der Arktis auch mit militärischen Mitteln ihre Interessen Sicherheitspolitisch ist allen nordischen durchzusetzen suchten. Zudem wird im Staaten die Anlehnung an die Nato gemein- neuesten Verteidigungsbericht des Landes sam. Ergänzend dazu vereinbarten nord- festgehalten, dass die Signifikanz der Groß- europäische Verteidigungsminister im mächterivalität im hohen Norden gestiegen November 2018 in Oslo, sich stärker in der sei, wo Seewege aufgrund des hier deutlich Nordischen Verteidigungskooperation schneller voranschreitenden Klimawandels (NORDEFCO) zu engagieren und die Inter- besser zugänglich werden und so neue Mög- operabilität zu verbessern. lichkeiten entstehen, Ressourcen auszubeu- Bei den sicherheitspolitischen Interessen ten. Die Arktis ist aufgrund der wachsenden der nordischen Staaten lässt sich im letzten Großmächtekonkurrenz und der dort plat- Jahrzehnt eine Angleichungstendenz beob- zierten Militärkapazitäten Russlands be- achten, was zum großen Teil Russland sonders anfällig für Spillover-Effekte aus geschuldet ist. Seit der Krim-Annexion 2014 anderen Regionen. Dass Moskau hier auf- finden die nordischen Regierungen auf die- rüstet, schafft ein hohes Eskalationspoten- sem Feld immer öfter einen gemeinsamen tial. Auch in Finnlands neuer Arktisstrate- Nenner – trotz ihrer unterschiedlichen gie von Juni 2021 wird betont, wie stark die euroatlantischen Bezüge, die eine sicher- arktische Sicherheitslage mit (negativen) heitspolitische Zusammenarbeit in der Ver- Entwicklungen in anderen Weltregionen gangenheit zu einem gewissen Grad er- verwoben ist. Sicherheitspolitische Entwick- schwert haben. So sind Dänemark, Finn- lungen in der Arktis beeinflussen demnach land und Schweden Mitglieder der EU, die gesamte nationale Sicherheit Finnlands Norwegen und Dänemark wiederum Nato- und sind eng mit dem Ostseeraum und dem Staaten. Dänemark allerdings nimmt auf- restlichen Europa verknüpft. grund seiner Opt-outs in der Gemeinsamen In Schwedens neuer Arktisstrategie von Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Oktober 2020 hat die Sicherheitspolitik EU nicht an der Ständigen Strukturierten ebenfalls einen erhöhten Stellenwert. In der Zusammenarbeit (PESCO) teil, während sich vorausgegangenen Strategie von 2011 hieß Norwegen aufgrund seiner Opt-ins am es noch, die sicherheitspolitischen Heraus- selben Politikbereich beteiligt. Finnland forderungen der Region hätten keinen mili- und Schweden haben bereits eine hohe tärischen Charakter. Im neuen Strategie- Interoperabilität mit Nato-Strukturen, ob- papier wird dagegen nicht nur die Notwen- wohl beide Länder noch keine Mitglieder digkeit von Frieden und Stabilität betont, im Bündnis sind. sondern auch eine »neue militärische Dyna- Als Reaktion auf den schon damals er- mik in der Arktis« konstatiert. Außenminis- folgten Anstieg militärischer Aktivitäten SWP-Aktuell 19 März 2022 7
auf russischer Seite unterzeichneten die NORDEFCO ausgebaut und die Zusammen- Verteidigungsminister von Finnland, Nor- arbeit mit den USA intensiviert wird. Der wegen und Schweden im September 2020 Kreml führt das Szenario, das er seit Jahr- eine Absichtserklärung. Demnach wollen zehnten als Menetekel beschwört, mit sei- die drei Länder künftig gemeinsam Opera- nem Krieg in der Ukraine überhaupt erst tionen in Krisen- und Konfliktsituationen herbei: Es ist wieder notwendig geworden, durchführen (wobei Norwegen plant, im die russische Macht einzuhegen. Ob die von Krisen- und Kriegsfall das Kommando der Putin behauptete Bedrohung der russischen Nato zu übertragen), dazu eine strategische Sicherheit der Realität entspricht, ist inso- Planungsgruppe aufbauen und nationale fern irrelevant, als er ohnehin seit 2007 © Stiftung Wissenschaft Operationspläne koordinieren. Zur Inter- seinem Narrativ entsprechend handelt und Politik, 2022 operabilität mit US-Streitkräften trägt bei, und reale Konsequenzen für ganz Europa Alle Rechte vorbehalten dass Dänemark, Finnland und Norwegen schafft. Das stellt den Westen vor ein F-35-Kampfflugzeuge einführen. Dilemma: Es ist nicht möglich, exzessive Das Aktuell gibt die Auf- Über die regionale Kooperation hinaus russische Sicherheitsbedürfnisse zu erfül- fassung der Autoren wieder. bleibt Großbritannien trotz seines EU-Aus- len, ohne die eigenen Werte, Prinzipien In der Online-Version dieser tritts für die nordischen Staaten der wich- und Interessen zu kompromittieren. Publikation sind Verweise tigste europäische Partner in der Sicher- Russland hat eigentlich ein starkes Eigen- auf SWP-Schriften und heits- und Verteidigungspolitik. Obwohl interesse an der Stabilität im arktisch-nord- wichtige Quellen anklickbar. Deutschland in vielen Bereichen als gleich- atlantischen Raum, weil seine Sicherheit SWP-Aktuells werden intern gesinnter Partner gilt, wird es in den nordi- und sein Wirtschaftsmodell von dieser Re- einem Begutachtungsverfah- schen Staaten bisher nicht als ein zentraler gion abhängen. So ist Moskaus Aggression ren, einem Faktencheck und sicherheitspolitischer Akteur wahrgenom- nicht nur deshalb kontraproduktiv, weil sie einem Lektorat unterzogen. men. Nach der Ankündigung von Kanzler den Westen enger zusammenrücken lässt Weitere Informationen Scholz, 100 Milliarden Euro Sondervermö- und in der Ukraine den Willen stärkt, die zur Qualitätssicherung der gen für die Bundeswehr bereitzustellen, Souveränität des eigenen Staates zu vertei- SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. könnte sich dies allerdings ändern. Für die digen. Sie ist es auch im Hinblick auf Frie- swp-berlin.org/ueber-uns/ Bundesrepublik als Ostsee-Anrainer ist es den und Stabilität im hohen Norden, auf qualitaetssicherung/ geboten, den Norden stärker strategisch die Russland angewiesen bleibt. Wirtschaft- (und rüstungspolitisch) zu berücksichtigen liche Überlegungen scheinen jedoch in SWP und den arktisch-nordatlantischen Raum – Moskaus Kalkül keine übergeordnete Rolle Stiftung Wissenschaft und Politik ähnlich wie Finnland, aber auch Russland mehr zu spielen; im Zweifelsfall rangiert Deutsches Institut für – als eine sicherheitspolitisch zusammen- nationale Sicherheit – bzw. Regimesicher- Internationale Politik und hängende Sphäre zu verstehen. Die Vertei- heit – vor ökonomischen Fragen. Deshalb Sicherheit digungszusammenarbeit im Norden ent- ist nicht auszuschließen, dass eine ähnliche wickelt sich aktuell sehr dynamisch, und Eskalation im hohen Norden folgen könn- Ludwigkirchplatz 3–4 eine engere Anbindung Deutschlands wäre te, solange im Kreml das Regime Putin 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 aufgrund seiner geographischen Lage an herrscht. Fax +49 30 880 07-100 der Ostsee von Vorteil. Die Bundeswehr www.swp-berlin.org hat bereits erste Schritte in diese Richtung swp@swp-berlin.org unternommen. So führte die deutsche Marine Mitte Februar 2022 gemeinsame ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 Übungen mit der finnischen und der estni- doi: 10.18449/2022A19 schen Marine durch, um Bündnissolidarität an der Nato-Nordflanke zu zeigen. Moskaus Kriegskurs verleiht der Vertei- digungskooperation im Norden neuen Schub und wird absehbar dazu führen, dass Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 19 März 2022 8
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