Schmerzbericht Wien 2018 - Vienna Pain Report 2018 - wien.at
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Magistratsabteilung 24 Gesundheits- und Sozialplanung
Schmerzbericht Wien 2018 Vienna Pain Report 2018 Magistratsabteilung 24 Gesundheits- und Sozialplanung Dieser Bericht unterstützt das Wiener Gesundheitsziel 9: Aufbau eines integrierten Gesundheitsmonitorings
Vorwort Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, mit dem ersten Wiener Schmerzbericht darf ich Krankheitsverlauf, werden beeindruckend ausge- Ihre Aufmerksamkeit auf ein hochaktuelles Kapi- führt. tel in der Gesundheitsversorgung lenken. Ich freue mich, Ihnen diese umfassende Arbeit, die Nicht zuletzt analysieren Ökonomen die Folgen den chronischen Schmerz aus unterschiedlichen unzulänglicher Schmerzversorgung. Fehlversor- Blickwinkeln beleuchtet, zu präsentieren. gung, häufige Arztkontakte und erfolglose Thera- pien sowie Arbeitsausfälle, wie Krankenstände Am wichtigsten sind dabei natürlich die Patien- und verfrühte Pensionen, führen zu hohen volks- tinnen und Patienten, die im Bericht eindrucks- wirtschaftlichen Belastungen, ohne den Betroffe- voll schildern, welche Herausforderungen sie bis nen zu helfen. Das Land Wien arbeitet deshalb zur richtigen Diagnosestellung und Therapie zu gemeinsam mit den Krankenversicherungsträ- bewältigen hatten. Weiters kommen Expertinnen gern und der Pensionsversicherung im Rahmen und Experten aller damit befassten medizini- der Zielsteuerung Gesundheit an einer Verbesse- schen und therapeutischen Berufsgruppen zu rung der Schmerzversorgung. Dafür stellt dieses Wort. Ursachen und Risikofaktoren für die Entste- Kompendium eine essenzielle Grundlage dar. hung von chronischem Schmerz werden im De- tail erläutert ebenso Therapiemöglichkeiten und Ich darf mich abschließend bei all den Autorinnen Epidemiologie dieser Volkskrankheit. Auch weni- und Autoren, die zum Gelingen des Berichts bei- ger bekannte Aspekte, wie der Einfluss von Kul- getragen haben, recht herzlich bedanken und tur und Geschlecht auf Wahrnehmung und wünsche Ihnen ein bereicherndes Leseerlebnis. Wien, Juli 2018 Peter Hacker Amtsführender Wiener Stadtrat für Soziales, Gesundheit und Sport Schmerzbericht Wien 2018 5
Vorwort Vorwort Sehr geehrte Leserinnen! Sehr geehrte Leser! Chronische Schmerzen sind ein Thema, das sich deln. Diese spezielle „Multimodale Schmerzthera- nicht nur auf eine kleine Minderheit der österrei- pie“ wird bereits im Gesundheitszentrum der chischen Bevölkerung erstreckt. Betroffen sind WGKK in der Andreasgasse angeboten, eine Erwei- zwischen 1,5 und 1,7 Millionen Menschen. Dies terung des Angebots im Rahmen der Gesundheits- wiederum hat neben der persönlichen Betroffen- reform ist darüber hinaus geplant. Wichtig ist der heit auch Auswirkungen auf unser Gesundheits- WGKK aber auch die Gesundheitskompetenz der system, auf die Volkswirtschaft und generell auf Betroffenen zu steigern, denn diese ist ein starkes unsere Gesellschaft. Alleine die direkten Kosten Instrument zur Prävention chronischer Schmerzen für die medizinische Behandlung variieren zwi- und trägt dazu bei, unnötige medizinische Maß- schen 1,4 und 1,8 Milliarden Euro im Jahr. Die Ge- nahmen zu vermeiden. samtkosten werden mit 6 Milliarden Euro pro Jahr berechnet, wozu auch Arbeitsausfälle zählen. Der vorliegende „Schmerzbericht Wien 2018“ infor- Frauen sind dabei öfter Leidtragende als Männer. miert und beleuchtet dieses wichtige Thema von allen Seiten. Expertinnen und Experten informie- Deswegen ist der chronische Schmerz ein wichti- ren über Risikofaktoren und Ursachen von chroni- ges Thema der Gesundheitsversorgung und der schen Schmerzen, Prävention, Schmerzversorgung Gesundheitsreform in Wien. Den Patientinnen und sowie Therapiemöglichkeiten und vieles mehr. Patienten stehen mehrere Schmerzambulanzen in den Wiener Spitälern zur Verfügung. Es fehlen aber Das Ziel einer optimalen Schmerzversorgung ist noch Einrichtungen, die eine spezielle Multimoda- es, den Betroffenen mehr Lebensqualität und so- le Schmerztherapie anbieten, wo ÄrztInnen, Phy- ziale Teilhabe trotz Erkrankung zu ermöglichen. siotherapeutInnen, PsychologInnen und weitere Dafür sei allen Mitwirkenden recht herzlich ge- Berufsgruppen eng zusammenarbeiten, um alle dankt und allen Interessierten und Betroffenen Dimensionen einer Schmerzerkrankung zu behan- wünsche ich eine aufschlussreiche Lektüre! Wien, Juli 2018 Mag.a Ingrid Reischl Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse Schmerzbericht Wien 2018 7
Vorwort Vorwort Chronische Schmerzen wirken sich nicht nur kör- de Therapieangebot der Pensionsversicherungs- perlich und psychisch für Betroffene aus. Auch die anstalt im Rahmen von Rehabilitation und Ge- Familie und der Freundeskreis sowie die berufli- sundheitsvorsorge soll daher auf Basis che Situation leiden häufig darunter. wissenschaftlicher Erkenntnisse adaptiert und modernisiert werden. Darüber hinaus gehören chronische Rücken- schmerzen zu den volkswirtschaftlich teuersten Um diesem bedeutenden Thema ausreichend Gesundheitsstörungen. Dem rechtzeitigen Erken- Rechnung zu tragen und die effiziente Versorgung nen von chronischen Schmerzen und dem Einsatz unserer Versicherten möglichst frühzeitig sicher- der richtigen Therapien kommt daher eine enor- zustellen, ist es der Pensionsversicherungsanstalt me Bedeutung zu. Multimodale interdisziplinäre ein großes Anliegen – in enger Kooperation mit Behandlungskonzepte mit bio-psycho-sozialem der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Charakter haben sich international als effektiv Wien – ein integriertes Versorgungskonzept zu und kostenökonomisch erwiesen. Das bestehen- entwickeln. Wien, Juli 2018 Manfred Anderle Obmann der Pensionsversicherungsanstalt Schmerzbericht Wien 2018 9
Zum Geleit Zum Geleit „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ (Erich Kästner) Von der Geburt bis zum Tod – Schmerz ist ein stän- kannten Regeln und verfügbaren Mittel der Schmerz dig drohender Begleiter unseres Lebens. Wir medizin in unseren Krankenanstalten und Ordina- fürchten Schmerz, wir suchen ihn tunlichst zu ver- tionen auch tatsächlich den Weg bis zur Patientin/ meiden und wollen ihn möglichst rasch beseitigt zum Patienten finden. Hier zeigt der Bericht, dass wissen. Schmerz ist mehr als die bewusste Wahr- dies keine besondere medizinische oder gar wis- nehmung von schmerzhaften Reizen und Schädi senschaftliche, sondern eine primär konzeptionel- gungen; Schmerz erzeugt je nach seiner Dauer le und logistische Herausforderung darstellt. kurzfristige oder langanhaltende psychische und soziale Veränderungen beim Betroffenen – bis zur Chronische Schmerzen sind im Gegensatz zu aku- gefürchteten Chronifizierung. Umso erstaunlicher tem Schmerz trotz Behandlung lange anhaltend ist das Ergebnis dieses ersten Wiener Schmerzbe- oder kehren immer wieder. In manchen Fällen sind richts, dass es nämlich bei uns für chronische chronische Erkrankungen die Ursache, oft ist aber SchmerzpatientInnen nach wie vor keinen ein- kein eindeutiger körperlicher Schaden erkennbar. deutig geregelten Zugang zu standardisierten öf- In einigen Fällen kann der Schmerz zu einer eigen- fentlichen Versorgungsstrukturen und Behand- ständigen chronischen Erkrankung werden. Mo- lungsangeboten gibt. derne Schmerzmedizin erkennt im chronischen Schmerz ein komplexes bio-psycho-soziales Phä- Schmerz ist entwicklungsgeschichtlich viel älter als nomen; es ist die wichtige Aufgabe der Schmerz- die Gattung Mensch. Als akuter Schmerz bei Verlet medizinerin/ des Schmerzmediziners herauszufin- zung, Entzündung oder (drohender) Organschädi- den, ob körperliche oder mehr psycho-soziale gung hat er evolutionsbiologisch die wichtige Auf- Komponenten schmerzbestimmend sind. Diagno- gabe, die Integrität des Organismus in einer (über-) se und Behandlung chronischer Schmerzen sind lebensfeindlichen Umwelt zu schützen und zu er- daher in der Regel schwierig, langwierig und letzt- halten. Die Behandlung akuter Schmerzen ist heute lich nur mittels multimodaler Konzepte im inter- prinzipiell leicht und sehr wirksam, wenn die be- disziplinären Kontext erfolgreich durchführbar. Schmerzbericht Wien 2018 11
Zum Geleit Dafür braucht es eine breite interdisziplinäre Aus- Der Magistratsabteilung 24, der Projektleiterin bildung in Schmerzmedizin, die es in Österreich Frau Mag.a Guld und der Projektkoordinatorin leider als Fachdisziplin noch nicht gibt. Frau DDr.in Bachinger gebührt nicht nur das Ver- dienst, eine kompakte Gesamtschau und aktuelle Die – oft verwirrend vielfältigen – Aspekte chroni- Bestandsaufnahme zur Versorgung chronischer scher Schmerzen werden in den zehn Kapiteln des SchmerzpatientInnen in Wien vorgelegt sowie feh- vorliegenden Schmerzberichtes für Wien systema- lende Bausteine in der Versorgung aufgezeigt zu tisch erörtert und mit Fakten sowie Zahlenmateri- haben, sondern mit einem Reformkonzept der al aus Wien eindrucksvoll belegt. Dabei werden Schmerzversorgung in Wien auch in die Zukunft auch die wichtigen sozioökonomischen Konse- zu weisen. quenzen und die resultierenden gesundheitspoli- tischen Herausforderungen für die Zukunft nicht Ganz im Sinne des an den Anfang gestellten Zitats vergessen. Häufige Arztbesuche, Krankenstände, von Erich Kästner können wir also noch viel Gutes Krankenhausaufenthalte, Berufsunfähigkeit und tun für die Versorgung chronischer Schmerzpati- Frühpensionen belasten nicht nur die Betroffenen entInnen in unserem Land. und das Gesundheitssystem, sondern die gesamte Volkswirtschaft erheblich. Wien, Juli 2018 o.Univ.Prof. DDr. Hans Georg Kress EDPM, FFPMCAI (hon) Past President European Pain Federation EFIC Vorstand der Abt. Spezielle Anästhesie und Schmerzmedizin Medizinische Universität /AKH Wien 12 Schmerzbericht Wien 2018
Impressum Impressum Erstellt durch die Magistratsabteilung 24 Projektleitung Gesundheits- und Sozialplanung Mag.a Susanne GULD, MBA Mit Beiträgen von Konzeptentwicklung, Projektkoordination, (in alphabetischer Reihenfolge)1 Redaktion der Beiträge und wissen schaftliches Lektorat Dr.in Dr. PH. Eleonore BACHINGER, MSc Dr.in Dr. PH. Eleonore BACHINGER, MSc Prim.a Dr.in Silvia BRANDSTÄTTER Dkfm. Erika FOLKES Endredaktion OÄin Dr.in Gabriele GRÖGL-ARINGER Dr.in Dr.PH. Eleonore BACHINGER, MSc Dr.in Solmaz GOLSABAHI-BROCLAWSKI Mag.a Susanne GULD, MBA Mag.a Susanne GULD, MBA Mag. Felix HOFMANN Projektteam OA Dr. Wolfgang JAKSCH, DEAA Dr.in Dr.PH. Eleonore BACHINGER, MSc (MA 24) Dr.in Birgit KRAFT Mag.a Susanne GULD, MBA (MA 24) Mag.a Daniela LEITHNER, MSc Mag. Felix HOFMANN (MA 24) Prim. Dr. Klaus-Peter MIHALEC Selen KADAK-GÜNGÖR, MPH (MA 24) Mag.a Dr.in Sanela PIRALIC-SPITZL, MSc Dr.in Birgit KRAFT (WGKK) Mag.a Dr.in Barbara PREITLER Dr. Otto RAFETSEDER, MPH (WGF) Mag.a (FH) Heidrun RADER Mag.a Dr.in Ekim SAN Lektorat Katharina SCHWEIGER Mag.a Monika FRANK OA Dr. Ekkehard SCHWEITZER, DEAA Mag.a Hilde WOLF, MBA Grafische Produktion Peter KRATZER (www.co-des.at) Umschlaggestaltung Peter KRATZER (www.co-des.at) Umschlagbild: www.pexels.com Englische Übersetzung Dr.in Claudia KOLOSZAR-KOO Medieninhaberin, Herausgeberin und Verlegerin Stadt Wien MA 24 – Gesundheits- und Sozialplanung 1200 Wien, Brigittenauer Lände 50-54/2/5 www.wien.gv.at/kontakte/ma24/index.html Hersteller SPV-DRUCK GESELLSCHAFT M.B.H Vorgeschlagene Zitierweise Stadt Wien (Hrsg.), Schmerzbericht Wien 2018. Wien, September 2018. 1 Nähere Informationen zu den genannten ExpertInnen siehe AutorInnenverzeichnis am Ende dieses Berichtes. Schmerzbericht Wien 2018 13
Register Zusammenfassung / Summary z Einleitung 1 Definition und Klassifikation 2 Datenquellen und Methoden 3 Epidemiologie 4 Ursachen und Risikofaktoren für chronischen Schmerz 5 Gender- und Kulturaspekte von Schmerz 6 Leben mit Schmerz 7 Schmerztherapie und Schmerzversorgung 8 Sozioökonomische Konsequenzen und gesundheitspolitische Herausforderungen 9 Schlussbetrachtung und Ausblick 10 Autorinnen und Autoren a Schmerzbericht Wien 2018 15
Inhalt Inhalt Zusammenfassung 25 1 Einleitung 39 2 Definition und Klassifikation 45 Was ist Schmerz? 45 Neurobiologie des Schmerzes 46 Schmerz als „bio-psycho-soziales Gesamtphänomen“ 48 Messung und Klassifikation von Schmerzen 49 3 Datenquellen und Methoden 53 Einleitung 53 Statistische Datenquellen 54 Qualitative Verfahren 57 Verwendete Maßzahlen und statistische Verfahren 59 4 Epidemiologie 63 Einleitung 63 Verbreitung, Auswirkungen und therapeutische Versorgung von chronischen Schmerzen 64 Bedarf und Notwendigkeit multimodaler, interdisziplinärer Schmerztherapie unter Einbeziehung psychosozialer krankheitsbeeinflussender Faktoren 68 Resümee 71 5 Ursachen und Risikofaktoren für chronischen Schmerz 75 5.1 Risikofaktoren der Chronifizierung von Schmerzen und Ursache-Wirkungsmechanismen (Überblick) 76 Einleitung 76 5.1.1 Chronische Schmerzformen 77 5.1.2 Ursachen einer Schmerzchronifizierung und Risikofaktoren, die eine chronische Schmerz erkrankung oder Symptomverstärkung begünstigen 78 Schmerzursachen auf körperlicher Ebene 78 Therapiebedingte Risikofaktoren 79 Psychosozial bedingte Risikofaktoren 80 Genetisch und familiär bedingte Risikofaktoren 81 Lebensstilbedingte Risikofaktoren 82 Sonstige mögliche Risikofaktoren 84 Resümee 86 Schmerzbericht Wien 2018 17
Inhalt 5.2 Physische (somatische) Ursachen 89 Einleitung 89 Klassifikationen von chronischem Schmerz 89 Klassifikationssysteme: ICD-11 90 Resümee 91 5.3 Psychosoziale Risikofaktoren und psychologische Mechanismen in der Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen 92 Einleitung 92 Psychosoziale Risikofaktoren für Schmerzentstehung 93 Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – „Yellow Flags“ 95 Resümee 98 5.4 Ursachenforschung und Auswirkungen auf die Therapie 100 Multifaktorielle und ungeklärte Ursachen 100 Resümee 101 5.5 Gesamtresümee 102 6 Gender- und Kulturaspekte von Schmerz 108 6.1 Einleitung 110 6.2 Die kulturelle Konstruktion von Körper, K rankheit und Schmerz 114 Einleitung 115 6.2.1 Schmerz als integraler Bestandteil der Kulturgeschichte 115 6.2.2 Weltbild und Körperverständnis 117 6.2.3 Biomedizin und Sozialität/ Kulturalität von Körper, Krankheit und Schmerz 120 Kulturalisierung des physischen Körpers 120 Krankheit aus kultur- und medizinanthropologischer Sicht 121 Biomedizinisches Modell und Schmerz 122 Medikalisierung von Schmerz 123 6.2.4 Kulturanthropologie des Schmerzes 124 Schmerz und Ethnizität 124 Geografische Varietät von Schmerzempfinden und Schmerzverhalten 126 Schmerz als eigene Realität 129 Nichtkommunizierbarkeit von Schmerz 132 Schmerzwahrnehmung und die Rolle von Kultur und Gender 134 6.2.5 Resümee 135 6.3 Gesundheitsstatistische Aspekte zu Geschlecht und Kultur 140 Einleitung 140 Schmerzen nach Geschlecht und Herkunft auf Basis von ATHIS 141 Unterschiede nach Geschlecht auf Basis von Dokumentationsdaten 143 Resümee 146 6.4 Spezielle Aspekte aus genderspezifischer und soziokultureller Perspektive 147 18 Schmerzbericht Wien 2018
Inhalt 6.4.1 Gendered Pain: Schmerz und genderspezifische Prägungen 147 Einleitung 147 Forschungsergebnisse 148 Resümee und Ausblick 151 6.4.2 Schmerz aus kultureller Sicht: Der orientalische Schmerz 154 Einleitung: die Bedeutung der Sprache 154 Migration als transkulturelle Herausforderung 155 Wenn der Körper in der Fremde schmerzt: Transkulturelle Herausforderungen im Umgang mit leidenden PatientInnen und deren Angehörigen 156 Transkulturelle Diagnostik 157 Sprache als Instrument der Diagnostik 159 Resümee 161 6.4.3 Flucht und Schmerz: Menschenrechtsverletzungen verursachen Schmerz – Wege der Anerkennung und Behandlung 163 Einleitung 163 Funktionen von Schmerz 164 Schmerz und Erinnerung 165 Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Verletzungen 165 Therapiemethoden und Faktoren der Therapiewahl 166 Schmerz ohne medizinische Evidenz 167 Schmerz und Trauer 168 Schlussbemerkungen 168 6.4.4 Krieg – Migration – Schmerz – Trauma: Chronischer Schmerz mit komplexen Traumafolgestörungen bei Migrantinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien 169 Einleitung 169 Chronische Schmerzen und PTBS 171 Genderspezifische Unterschiede 172 Traumaerfahrungen von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien 173 Spezifische Perspektive aus therapeutischer Sicht 174 Frau H. – ein Fallbeispiel 177 Resümee 178 6.4.5 Transgeneratives Trauma verfolgter Volksgruppen 181 Einleitung 181 Psychotrauma – Schmerz: Begriffsbeschreibungen 182 Psychotrauma – Schmerz: Transgenerative Weitergabe 183 Drei Generationen Fallvignette 184 Zusammenfassung – Erkenntnisse – Ausblick 187 6.5 Gesamtresümee 190 7 Leben mit Schmerz 195 7.1 Einleitung 196 7.2 Funktionen, Auswirkungen und Bedeutung von Schmerz 198 Einleitung 198 Auswirkungen von Schmerz auf das Individuum und seine soziale Umwelt 198 Resümee 202 Schmerzbericht Wien 2018 19
Inhalt 7.3 Schmerz aus Sicht der Betroffenen: B efragungsergebnisse 203 Schmerzstudie belegt, wo die Probleme liegen 203 Ergebnisse der Studie 204 Fazit 206 7.4 Selbsthilfegruppen 207 Wesen und Bedeutung von Selbsthilfegruppen 207 Selbsthilfelandschaft in Wien und Selbsthilfe-Unterstützungsstelle SUS Wien 208 Blick in die Praxis aus Sicht einer Betroffenen 210 Resümee 211 7.5 Gesamtresümee 212 8 Schmerztherapie und Schmerzversorgung 216 8.1 Einleitung 218 8.2 Therapieangebote 220 8.2.1 Pharmakotherapie 221 Einleitung 221 Schmerzmittel (Analgetika) nach Wirkmechanismen 222 Grundsätzliches zur medikamentösen Schmerztherapie 228 Resümee 229 8.2.2 Invasive Therapien 230 Einleitung 230 Angewandte Therapien 231 Resümee 233 8.2.3 Psychologische Behandlung und Psychotherapie 234 Einleitung 234 Psychologisch-psychotherapeutische Begleitung von SchmerzpatientInnen 234 Wichtigste Ansätze der Psychotherapie zur Behandlung von chronischen Schmerzen 238 Resümee 240 8.2.4 Multimodale integrative Schmerztherapie 242 Einleitung und Definition 242 Komponenten und Verfahren der Multimodalen Schmerztherapie 243 Indikation und Assessment 243 Ziele der Multimodalen Schmerztherapie 244 Inhalte der Multimodalen Therapie und Schwerpunkte einzelner Professionen 245 Behandlungsumfang und Setting 248 Bedeutsamkeit der therapeutischen Beziehung und Haltung 249 Effektivität und Nachhaltigkeit Multimodaler integrativer Schmerztherapie 250 Resümee 251 8.2.5 Physikalische Maßnahmen 252 Einleitung 252 Wissenschaftliche Evidenz von Leistungen der physikalischen Medizin 252 Schlussfolgerung 254 20 Schmerzbericht Wien 2018
Inhalt 8.2.6 Alternative Methoden 255 Einleitung 255 Ausgewählte Methoden 256 Resümee 259 8.3 Schmerzversorgung in Österreich 260 8.3.1 Schmerzversorgung in Wien: Eine Soll-Ist-Darstellung der Situation 260 Soll-Darstellung 260 Ist-Darstellung 263 Fazit 265 8.3.2 Schmerzversorgung in Österreich aus Sicht der SchmerzpatientInnen 266 Einleitung 267 Studien- und Befragungsergebnisse zur Situation von SchmerzpatientInnen in Österreich 268 Erfahrungsberichte von SchmerzpatientInnen in Wien 276 Briefe von SchmerzpatientInnen an die Selbsthilfeorganisation „Allianz chronischer Schmerz Österreich“ 280 Resümee 283 8.4 Gesamtresümee 285 9 Sozioökonomische Konsequenzen und gesundheitspolitische Herausforderungen 289 Einleitung: Allgemeine Überlegungen 289 9.1 Prävalenz des chronischen Schmerzes 290 9.2 Auswirkungen des chronischen Schmerzes 293 9.2.1 Wirkungen im Gesundheitssystem 293 9.2.2 Wirkungen im Sozialsystem 298 9.2.3 Wirkungen in der Arbeitswelt und im Wirtschaftssystem 300 9.3 Ökonomische Bewertungen des chronischen Schmerzes und seiner Folgen 303 9.3.1 Direkte Kosten 303 9.3.2 Indirekte Kosten 304 9.4 Konsequenzen für das alltägliche Leben 305 9.5 Resümee 309 10 Schlussbetrachtung und Ausblick 315 Autorinnen und Autoren 321 Schmerzbericht Wien 2018 21
Abbildungen und Tabellen Abbildungsverzeichnis 4 Epidemiologie Abb. 4.1 Einfluss chronischer Schmerzen auf die täglichen Aktivitäten 64 Abb. 4.2 Dauer von chronischem Schmerz mit Intensität 5 oder mehr auf einer Schmerzintensitäts-Skala von 1–10 65 Abb. 4.3 Häufigste Körperlokalisationen von Schmerz 66 Abb. 4.4 Häufigst genannte Schmerzursachen 66 6 Gender- und Kulturaspekte von Schmerz Abb. 6.1 Chronische Schmerzen zumindest mäßiger Intensität, nach Geschlecht (Wien) 141 Abb. 6.2 Chronische Schmerzen zumindest mäßiger Intensität, nach Migrationshintergrund (Wien) 142 Abb. 6.3 Chronische Schmerzen, nach Migrationshintergrund und Geschlecht (Österreich) 143 Abb. 6.4 Chronische SchmerzpatientInnen in Wiener KAV-Spitälern, Geschlechterverteilung in der Stichprobe (in %) und Altersverteilung je Geschlecht (in %) 144 8 Schmerztherapie und S chmerzversorgung Abb. 8.1 Aktuelle Empfehlungen zur Therapie neuropathischer Schmerzen 228 9 Sozioökonomische Konsequenzen und gesundheitspolitische H erausforderungen Abb. 9.1 Krankenhausaufenthalt/e in den letzten 12 Monaten 294 Abb. 9.2 Krankenhaus-TagespatientIn in den letzten 12 Monaten 294 Abb. 9.3 Besuche bei AllgemeinmedizinerIn in den letzten 12 Monaten 296 Abb. 9.4 Besuche bei FachärztInnen in den letzten 12 Monaten 296 Abb. 9.5 Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente in den letzten zwei Wochen 297 Abb. 9.6 Einnahme nicht verschreibungspflichtiger Medikamente in den letzten zwei Wochen 297 Abb. 9.7 Erwerbsstruktur der Personen mit und ohne chronische Schmerzen, Alter 20 bis 65 Jahre 299 Abb. 9.8 Krankenstandsdauer in den letzten 12 Monaten, Verteilung mit Ausreißern bis 150 Tage 301 Abb. 9.9 Krankenstand in den letzten 12 Monaten 302 Abb. 9.10 Trotz gesundheitlicher Probleme zur Arbeit gegangen 302 Abb. 9.11 Beeinträchtigung der Schlafqualität 306 Abb. 9.12 Interesse und Anteilnahme durch andere Menschen 307 Abb. 9.13 Einschränkungen bei normalen Tätigkeiten des Alltags 308 Tabellenverzeichnis 8 Schmerztherapie und S chmerzversorgung Tabelle 8.1 Unterschiedliche Wirkprofile von NSAR, Paracetamol und Metamizol 223 9 Sozioökonomische Konsequenzen und gesundheitspolitische H erausforderungen Tabelle 9.1 Prävalenz des chronischen Schmerzes. Überblick über internationale Studienergebnisse 291 Tabelle 9.2 Effekte des chronischen Schmerzes auf Kontakte mit ÄrztInnen 295 Tabelle 9.3 Effekte chronischer Schmerzen auf Indikatoren zu Arbeit und Wirtschaft 300 22 Schmerzbericht Wien 2018
Z Zusammenfassung Summary
▶ Zusammenfassung Inhalt Zusammenfassung 25 Summary 31 z 24 Schmerzbericht Wien 2018
Zusammenfassung Zusammenfassung Schmerz führt – im Vergleich zu anderen chroni- Epidemiologie schen Erkrankungen – ein wenig beachtetes Da- Zur Verbreitung von chronischen Schmerzen in sein im österreichischen Gesundheitssystem. Die der Bevölkerung lassen sich kaum Aussagen tref- Versorgungslandschaft für SchmerzpatientInnen fen, da einerseits Daten zur Prävalenz von chroni- ist durch fehlende standardisierte Versorgungs- schen SchmerzpatientInnen weitgehend nicht konzepte und nicht ausreichende Behandlungs- verfügbar sind, andererseits auch klare Definitio- angebote gekennzeichnet. Wien hat es sich des- nen und Klassifikationsschemata für die verschie- halb im Rahmen der Landeszielsteuerung zur denen Schmerzformen fehlen. Aufgabe gemacht, die Schmerzversorgung nach- haltig zu verbessern. Laut Ergebnis der österreichischen Gesundheits- befragung 2014 gaben circa 20 Prozent der Öster- Mit diesem ersten Wiener Schmerzbericht wird reicherInnen an, chronische Schmerzen zu haben. das Thema chronischer Schmerz in seiner ganzen Die am häufigsten betroffenen Körperregionen Komplexität beleuchtet. Dies erfordert eine breite sind Rücken und Gelenke (Arthroseschmerzen) Kontextualisierung des äußerst komplexen und sowie Kopfschmerzen. Aufgrund der Veränderun- z vielschichtigen Phänomens Schmerz und die Ein- gen der Alterspyramide in den kommenden Jah- beziehung verschiedener Perspektiven, darunter ren und Jahrzehnten ist davon auszugehen, dass insbesondere auch die Sicht von Schmerzpatien die altersassoziierte Häufigkeit von chronischen tInnen. Schmerzen des Bewegungsapparates weiter zu- nehmen wird. Chronische Schmerzen gehen zu- Definition und Datenquellen dem häufig mit einer höheren Rate an Depressio- Schmerz ist ein vielschichtiges Phänomen, das der nen, Angststörungen und Substanzproblemen Mensch sowohl auf der körperlichen als auch auf einher, die es in einer erfolgversprechenden der Gefühlsebene erlebt. Körperlicher und seeli- (multimodalen) Therapie mitzubehandeln gilt. scher Schmerz sind untrennbar miteinander ver- knüpft und beeinflussen sich gegenseitig. Man Ursachen und Risikofaktoren spricht daher von einem „bio-psycho-sozialen Ge- Chronische Schmerzen sind immer das jeweilige samtphänomen“. Bei länger andauernden Schmer- Endprodukt eines oft jahre- bis jahrzehntelang zen wird das ursprüngliche Symptom zur Krank- dauernden vorangegangenen Prozesses, der durch heit und man spricht von einer „chronischen unterschiedliche und zum Teil höchst komplexe Schmerzerkrankung“. Sowohl die Ursachen als Ursache-Wirkungsfaktoren ausgelöst und kontinu- auch die Wahrnehmung von Schmerz sind vielfäl- ierlich gestaltet wird. Die Entstehung von chroni- tig, sodass verschiedene Kategorien von Schmerz schen Schmerzen ist individuell sehr verschieden. klassifiziert werden. Die Ursachen für chronischen Schmerz können auf körperlicher Ebene liegen, meist spielen jedoch Der vorliegende Bericht basiert auf unterschiedli- psychosoziale Faktoren eine mindestens ebenso chen, sowohl quantitativen als auch qualitativen große Rolle. Zudem wurden genetische, therapie- Datenquellen: Ergebnisse von nationalen und in- und lebensstilbedingte Risikofaktoren identifiziert. ternationalen Befragungen, teilweise ergänzt Basierend auf Erkenntnissen der Neuroimmunolo- durch eigene Analysen, Inhalte von Studien und gie und Umweltmedizin werden weiters chroni- wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Schmerz, sche Infektionen und Umweltschadstoffe als mög- Fallbeispiele aus der therapeutischen Praxis, In- liche Ursachen und Risikofaktoren für chronische terviews mit SchmerzpatientInnen sowie Patien Erkrankungen mit Schmerzsyndrom diskutiert. tInnenbriefe an die Plattform Allianz chronischer Schmerz Österreich werden gleichermaßen be- Eine chronische Schmerzerkrankung ist zumeist rücksichtigt, um ein möglichst breites Spektrum ein multifaktorielles und vielschichtiges Gesche- des Schmerzgeschehens abzubilden. hen, das individuell höchst unterschiedlich und auf verschiedenen Ebenen ablaufen kann und dessen Entstehung und Ursache-Wirkungsmecha- Schmerzbericht Wien 2018 25
▶ Zusammenfassung nismus noch weitgehend unklar ist bzw. dessen rum die Ausrichtung von Gesundheitspolitik be- Kausalzusammenhänge oft schwer nachweisbar stimmt. sind. „Ursache“, „Folgeerkrankung“, „Trigger“ und „Symptomverstärker“ sind oft nicht klar zu unter- Weltbild und Kultur stehen in enger Wechselwir- scheidende Faktoren, da die wahre Ursache häu- kung zueinander und prägen unsere Vorstellungen fig ein bis mehrere Ebenen unter der scheinbar von gesellschaftlichen Werten, aber auch unser feststellbaren oder scheinbar unerklärbaren Ursa- Denken und unsere Sprache ebenso wie die Vor- che liegt und sich erst mit der Zeit ein bestimmtes stellung, Bedeutung und Funktion von Krankheit Krankheitsbild herausbildet. und Schmerz. Die seit dem 17. Jahrhundert von ei- nem dualistischen und mechanistischen Weltbild Die Literatur belegt weiters, dass schmerzbeding- geformte Vorstellungswelt der christlich geprägten te und erlebte Beeinträchtigung sowie Schmerzin- westlichen Kultursphäre führt zur bis heute in un- tensität bei chronischen Schmerzen nur marginal serem Denken und in der schulmedizinischen bis mittelstark durch das Ausmaß der tatsächlich Lehre und Praxis verbreiteten mechanistischen diagnostizierbaren Körperschäden bestimmt wird. Sichtweise sowohl des Körpers (und Körperver- Vielmehr spielen hier psychosoziale Faktoren, ständnisses) als auch von Krankheit und Schmerz emotionale Aspekte und die jeweiligen Umgangs- sowie von Behandlung und „Heilung“. z weisen mit dem Schmerz eine zentrale Rolle. Die Fokussierung auf rein körperliche Symptome hat So erfuhr vor allem auch das Phänomen Schmerz dazu geführt, dass die Effizienz der klassischen, als integraler Teil der Kulturgeschichte im Zuge von der Schulmedizin angebotenen Therapien dieser veränderten Sichtweise eine extreme Ob- (medikamentöse und physikalische Symptombe- jektivierung und spiegelt sich in der modernen handlung) als wenig wirksam bis gänzlich ineffek- Schmerzmedizin wider: PatientInnenbild ebenso tiv einzustufen sind und darüber hinaus diesen wie Krankheitsbild und Art der angewandten The- komplexen biopsychischen Bereich bestenfalls rapien sind beeinflusst von der Vorstellung des auch nur teilweise abdecken können. Menschen als Körper-Maschine. Mit dem alleini- gen Fokus der Medizin auf körperliche Symptome Das Wissen um die Ursache(n) chronischer kommt es zur Entfremdung der Patientin/des Pa- Schmerzen ermöglicht ein zielgerichtetes, rechtzei- tienten, die/der sich unbehandelt, unverstanden tiges Eingreifen, um der Chronifizierung des und mit ihrem/seinem Schmerz allein gelassen Schmerzes zuvorzukommen. Wesentliche Voraus- fühlt. setzungen zur Verhinderung der Schmerzchronifi- zierung sind zeitgerecht einsetzende präventive Wie sehr Körperverständnis und die Sichtweise Maßnahmen und die Verfügbarkeit multimodaler, von Krankheit und Schmerz in Bezug zum kultu- interdisziplinärer Therapiemöglichkeiten zur Be- rellen und sozialen Kontext stehen, zeigt sich auch handlung von Akutschmerzen und psychischen im empirischen kulturellen Vergleich. Die seit der Komorbiditäten. Ebenso wichtig ist das Minimie- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorliegenden ren von Risikofaktoren, die eine Schmerzchronifi- Arbeiten und empirischen Studien zum Schmerz- zierung begünstigen. geschehen in unterschiedlichen Kulturkreisen und zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen Gender- und Kulturaspekte von Schmerz bestätigen, dass es weder universale Krankheiten Krankheit, Leiden und Schmerz sind nicht nur noch einen universalen Schmerz oder universell biologische Prozesse und Phänomene, sondern gültige Annahmen über Wahrnehmung, Ausdruck immer auch kulturelle Erscheinungen. Diese „kul- und Bedeutung von Schmerz (Schmerzverhalten) turelle Konstruktion“ von Krankheit, Leiden und gibt. Demzufolge gibt es auch keine universell gül- Schmerz beeinflusst das individuelle Empfinden tigen, kulturunabhängigen Therapien und „Heil- und den individuellen Ausdruck von Krankheit methoden“ von Schmerz. ebenso wie den gesellschaftlichen Umgang damit. Darüber hinaus steht die Kulturalität von Krank- Bei der kulturspezifischen Analyse geht es deshalb heit und Schmerz immer auch in Zusammenhang nicht nur um die unterschiedliche Wahrnehmung mit der Art des Medizinsystems, welches wiede und Bedeutungszuschreibung von Schmerz sowie die Rolle von Schmerzen und Schmerzleidenden 26 Schmerzbericht Wien 2018
Zusammenfassung im jeweiligen sozialen Setting, sondern vor allem bzw. überall dort, wo schwere Traumatisierungen auch um die Implikationen für Schmerzdiagnostik erneut aktualisiert werden, dar. Im Körper wird oft und Schmerztherapie. Unmittelbar davon betrof- ausgedrückt, was sich der Sprache entzieht, wofür fen ist die Beziehung zwischen den behandelnden es keine Worte gibt. Erschwerend kommt zumeist ÄrztInnen und TherapeutInnen und ihren aus ei- die fehlende medizinische Evidenz des Schmerzes/ nem anderen Kulturkreis stammenden PatientIn- Traumas und die Unwirksamkeit medikamentöser nen und KlientInnen, wenn diese mit der westli- und therapeutischer Behandlungen hinzu. chen Schulmedizin konfrontiert sind. Abgesehen von der Sprachbarriere haben viele dieser Patien Darüber hinaus droht die transgenerative Weiter- tInnen ein völlig anderes Körperverständnis und gabe des Psychotraumas an die Folgegenerati- Krankheitsbild, gehen von einer anderen Bezie- on(en). Komplex traumatisierte Flüchtlinge aus hung zwischen Patientin/Patient und Ärztin/Arzt Kriegsgebieten sowie Überlebende aus verfolgten aus und kommen auch mit den hier angebotenen Gruppen des Nationalsozialismus stellen eine Diagnose- und Therapiemöglichkeiten nicht enorme Herausforderung sowohl für die behan- immer gut zurecht. Umgekehrt stellt das Zusam- delnden ÄrztInnen und TherapeutInnen selbst als mentreffen unterschiedlicher Kulturkreise (z. B. auch für die strukturellen und personellen Res- kollektivistisch vs. individualistisch orientiertes sourcen des Gesundheitssystems dar. Gesellschaftsbild und komplex-ganzheitliche z vs. dualistisch-mechanistisch-kategoriengeleitete Zusätzlich zu den kulturell bedingten Unterschie- Denkweise, Wahrnehmung und Einordnung des den in der Schmerzwahrnehmung und im Schmerz Schmerzgeschehens) auch eine enorme Heraus- verhalten sind auch Geschlechts- und Genderun- forderung an die behandelnden ÄrztInnen und terschiede festzustellen. So werden Frauen sowohl TherapeutInnen dar, die selten bewältigt wird. im Aushalten von als auch im Umgehen mit körper- Grund dafür ist das westlich-ethnozentrische Welt- lichem und emotionalem Schmerz für schmerz bild und die ausschließliche Anwendung von Dia- resistenter gehalten. Eine wesentliche Rolle spielt gnosetechniken und Therapiemethoden der ver- dabei die Rolle von Emotionen und sozialen Erwar- trauten westlichen Schulmedizin, mit ihrer auf tungen, die in diesem Zusammenhang meist be- westliche Standards ausgerichteten Anamneseer- tont wird. Für Österreich zeigen statistisch hebung und den einzig verfügbaren und als univer- nachweisbare Geschlechterdifferenzen, dass Frau- sell aufgefassten Klassifikationssystemen. Da der en häufiger sowohl unter akutem als auch unter eigene Hintergrund und oft auch die Vorstellungs- chronischem Schmerz leiden als Männer. Bei den kraft fehlen, sind die Antworten und häufig meta- meisten Schmerzarten ist die Prävalenz bei Frauen phorischen Beschreibungen der PatientInnen/Kli- um das 1,5-fache höher als bei Männern. Auch im entInnen nicht immer nachvollziehbar. Allzu oft Hinblick auf die Bewältigung des Schmerzes sowie wird die Botschaft nicht erkannt, fehlinterpretiert die Wirkung von medikamentöser und therapeuti- oder kann schlichtweg nicht in das vertraute klas- scher Behandlung zeigen sich geschlechtsbezoge- sische System eingeordnet werden. So sind Miss- ne Unterschiede. Dabei stellen vor allem Rollener- verständnisse, Fehldiagnosen und Fehlbehandlun- wartungen, sozioökonomischer Status und ethni- gen bzw. überhaupt fehlende Behandlungen vor- sche Herkunft wesentliche Einflussgrößen dar. Bei programmiert. Migrantinnen aus der Türkei zeigt sich, insbeson- dere im Zusammenspiel mit psychosozialen und Einen besonderen Aspekt von chronischem migrationsspezifischen Belastungen, ein deutlich Schmerz stellt die posttraumatische Belastungsstö- erhöhtes Auftreten von Schmerzsymptomatik. Die rung dar. Dabei handelt es sich um die vielfältigen statistisch nachweisbaren Zusammenhänge zwi- Ausprägungen von traumatischen Erfahrungen im schen Geschlecht bzw. Migrationshintergrund und Zuge von Kriegsgeschehen, Verfolgung, organisier- dem Risiko für chronischen Schmerz wirken sich ter Gewalt, Menschenrechtsverletzungen wie phy- in der Folge auch auf die Behandlung und das In- sischer und psychischer Folter, Vergewaltigung, Er- anspruchnahmeverhalten der von chronischem lebnissen in Arbeits-/Konzentrationslagern und Schmerz Betroffenen in Wiener Spitälern aus. Flucht, an deren Folgen die Betroffenen zeitlebens leiden. Schmerz stellt eine zentrale Komponente Insbesondere in transkulturellen Beziehungen zwi- im Erleben von posttraumatischen Belastungen schen ÄrztInnen/ TherapeutInnen und PatientIn- Schmerzbericht Wien 2018 27
▶ Zusammenfassung nen sind die vom jeweiligen Weltbild geprägten der erhaltenen Schmerzbehandlung nicht beson- kulturellen und sozialen Vorstellungen (einschließ- ders zufrieden und fast die Hälfte ist mit den von lich der Zuweisung bestimmter Geschlechtsrollen), ihrer behandelnden Ärztin/ihrem behandelnden Denkweisen und sprachlichen Ausdrucksformen Arzt erhaltenen Informationen nur mäßig zufrie- sehr oft die Ursache für Missverständnisse, Fehldi- den. Was die ärztliche Betreuung insgesamt be- agnosen und Fehlbehandlungen. Unverständnis trifft, so sind für PatientInnen drei wesentliche und Ignoranz auf Seiten der Behandelnden, Fixie- Forderungen von gleich hoher Wichtigkeit: Ernst rung auf ein ethnozentrisches Weltbild mit einem genommen zu werden, eine verständliche Erklä- als universell gedachten Klassifikationssystem und rung über die Krankheit zu erhalten und genügend Nicht-Erkennen bzw. Nicht-Anerkennen des Zeit der Ärztin/des Arztes für ein Gespräch mit der Schmerzes berauben hilfesuchende Menschen mit Patientin/dem Patienten. chronischen Schmerzen und schweren Traumati- sierungen einer psychisch und physisch wirksa- Schmerzleidende haben sich quer durch Öster- men Therapie. reich zu zahlreichen Selbsthilfegruppen zusam- mengeschlossen. Dem zugrunde liegt der Wunsch, Die Folgen fehldiagnostizierter, fehlbehandelter sich gegenseitig zu helfen und Erfahrungen und oder nicht behandelter Schmerz- und Traumapa- Informationen auszutauschen. In Wien stellen z tientInnen – sei es aufgrund von Unverständnis Selbsthilfegruppen eine wesentliche Ergänzung der Behandelnden oder Nicht-Vorhandensein zur professionellen Gesundheitsversorgung für freier Therapieplätze und TherapeutInnen mit ei- SchmerzpatientInnen dar. In Selbsthilfegruppen nem gendersensiblen und transkulturell orientier- kommen Menschen zusammen, die von einer ten Ansatz und entsprechender Expertise – bedeu- gleichen Situation betroffen sind. Erfahrungsaus- ten auch für die Gesellschaft letztlich hohe Kosten tausch, Informationsweitergabe und gemeinsa- bedingt durch Arbeitslosigkeit, Arbeits-/Erwerbs- mes Entwickeln von Handlungsoptionen wirken unfähigkeit, Frühpensionierung und Sozialhilfe. sich positiv auf das Alltagsleben mit Schmerzen, Nicht zuletzt führen anhaltende bzw. sich mit der auf die Krankheitsbewältigung und die soziale Ge- Zeit verstärkende und vervielfältigende Sympto- sundheit von Betroffenen aus. Von immenser Be- me aufgrund von fehlender oder ineffizienter Be- deutung und hoher therapeutischer Funktion ist handlung zu einer langfristigen Belastung für das dabei die Möglichkeit des Erzählens der eigenen Gesundheitssystem. Krankengeschichte, sowohl als Teil der aktiven Partizipation der Patientin/ des Patienten auf ih- Leben mit Schmerz rem/ seinem Weg zur Genesung als auch als Mo- Rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich ma- tivation und Unterstützung Anderer. chen die Erfahrung, was es bedeutet, mit Schmer- zen leben zu müssen. Chronische Schmerzen sind Selbsthilfegruppen können durch das Einbringen ein komplexes bio-psycho-soziales Geschehen mit von kollektivem Erfahrungswissen wesentlich zur vielfältigen Auswirkungen auf alle Ebenen und Le- Gestaltung einer adäquaten Gesundheitsversor- bensbereiche des betroffenen Individuums. Die gung für SchmerzpatientInnen beitragen. In Wien Ergebnisse mehrerer österreichweit durchgeführ- gibt es einige Selbsthilfegruppen speziell für ter PatientInnenbefragungen geben Einblick in die SchmerzpatientInnen. In anderen Gruppen sind Situation von Schmerzleidenden und zeigen die Schmerzen eines von vielen Themen. vielen Problemfelder auf, mit denen die Betroffe- nen konfrontiert sind. Hervorzuheben sind dabei Schmerztherapie und Schmerzversorgung die langen Zeiträume bis zur Erstellung einer Di- Nach internationalen, evidenzbasierten Erkennt- agnose und einer oft nicht zielführenden Behand- nissen stellen abgestufte, genau definierte Behand- lung sowie die in dieser Zeit erfahrene Beeinträch- lungskonzepte, die immer multimodal und inter- tigung der Lebensqualität der Betroffenen. disziplinär ausgerichtet sein sollten, die Basis einer effizienten schmerzmedizinischen Versorgung dar. Die Befragungen lassen vor allem auch ein großes Multimodale Programme sind gekennzeichnet Potenzial für Verbesserung der angebotenen Ein- durch das gleichzeitige Stattfinden der einzelnen richtungen und ärztlichen Versorgung erkennen. (multimodalen) Behandlungsbausteine und ein eng Ein Großteil der befragten PatientInnen war mit vernetztes interdisziplinäres Arbeiten. Die zentra- 28 Schmerzbericht Wien 2018
Zusammenfassung len Therapiesäulen sind insbesondere körperlich schränkung auf medikamentöse und physikalische aktivierende Therapiemaßnahmen, inklusive Be- Therapie sowie das häufig angetroffene Unver- wegungstherapie und unterstützendes Training mit ständnis und die mangelnde Empathie der behan- Information und Anweisungen für die PatientInnen delnden ÄrztInnen den SchmerzpatientInnen ge- (Edukation) sowie psychologisch-psychotherapeu- genüber. Die in allen Befragungen zum Ausdruck tische Behandlungsansätze. Vor allem die psycho- gebrachten Anliegen von Betroffenen können in therapeutische bzw. psychologische Behandlung drei wesentlichen Punkten zusammengefasst wer- stellt einen wichtigen Teil eines multimodalen Be- den: Die PatientInnen fühlen sich nicht ernst ge- handlungspaketes dar und richtet sich neben der nommen, schlecht informiert und wünschen sich psychoedukativen Vermittlung schmerzrelevanter eine Verbesserung der Versorgungssituation. Themen inhaltlich nach den Bedürfnissen der ein- zelnen PatientInnen bzw. der spezifischen Patien Die Herausforderung im Umgang mit chronischen tInnengruppe. Schmerzen bestünde also darin, vorhandene Res- sourcen sinnvoller einzusetzen. Dafür existieren Betrachtet man die Schmerzversorgung in Öster- verschiedene Ansätze. Einer besteht im Ausbau in- reich und auch in Wien, so ist vor dem Hintergrund terdisziplinärer bzw. multimodaler Therapieansät- der genannten Anforderungen die Versorgungssi- ze. Weitere Maßnahmen zielen vor allem auf die tuation von SchmerzpatientInnen als wenig zufrie- rechtzeitige Verhinderung einer Chronifizierung ab. z denstellend zu bezeichnen. Eine qualitätsgesicher- Demnach wären etwa die frühzeitige Risikoidenti- te schmerzmedizinische Versorgung existiert nicht fikation und das Erkennen von Warnsignalen wich- und die erforderlichen personellen, zeitlichen, tig, damit die Patientin/der Patient im Rahmen einer räumlichen und finanziellen Strukturen und Res- abgestuften Behandlung rechtzeitig an eine geeig- sourcen zur Gewährleistung einer multimodalen, netere Stelle weiterverwiesen werden kann. Er- interdisziplinären Schmerzmedizin sind derzeit leichtern würde dies eine standardisierte Doku nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Ein wei- mentation, eine leitlinienbasierte Vorgehensweise, terer Grund für mangelnde Kompetenz sowohl im mehr und bessere schmerzspezifische Ausbildung Hinblick auf die schmerzmedizinische Versorgung im niedergelassenen Bereich sowie intensivere als auch im Umgang mit den PatientInnen ist das Kommunikation zwischen dem niedergelassenen Fehlen einer qualitätsgesicherten und breit ange- Bereich und den Schmerzambulanzen. legten interdisziplinären schmerzmedizinischen Ausbildung für alle Berufsgruppen. Für Ärztinnen Wien verfügt im Vergleich zu anderen Bundeslän- und Ärzte ist eine (unstrukturierte) schmerzmedi- dern über eine höhere Anzahl von Schmerzambu- zinische Ausbildung derzeit nur postgraduell auf lanzen in Krankenhäusern. Extramural fehlen je- Freiwilligenbasis möglich. Anzustreben ist hier doch Versorgungsstrukturen, klar definierte Be eine schmerzmedizinische Basisausbildung für handlungspfade und qualitätssichernde Maßnah- alle Ärztinnen und Ärzte auch im niedergelassenen men für eine koordinierte Behandlung chronischer Bereich, mit Schmerzmedizin als Querschnittsfach SchmerzpatientInnen („best point of service“). und fixem Bestandteil der universitären humanme- Ebenso wie in allen anderen Bundesländern bleibt dizinischen Ausbildung. auch in Wien die Situation aufgrund fehlender Ge- samtkonzepte für eine strukturierte Versorgung Auch aus Sicht der SchmerzpatientInnen und der von SchmerzpatientInnen sowie der Unklarheiten sie vertretenden Organisationen wird bereits seit in Bezug auf Zuständigkeiten und Finanzierung vielen Jahren deutliche Kritik laut. Ergebnisse von insgesamt unsicher. PatientInnenbefragungen und Erfahrungsberichten ebenso wie Inhalte von PatientInnenbriefen an Sozioökonomische Konsequenzen und Schmerz-Selbsthilfeorganisationen zeigen überein gesundheitspolitische Herausforderungen stimmend, dass die Schmerzversorgung in Öster- Internationale Studien und österreichspezifische reich für die PatientInnen frustrierend, unzureich Auswertungen belegen die vielfältigen sozialen end und inadäquat ist – sowohl betreffend Effektivi und ökonomischen Auswirkungen von chroni- tät der angebotenen Therapien als auch betreffend schem Schmerz. So nutzen Betroffene das Ge- Orientierung an den Bedürfnissen der Patien sundheitssystem intensiver: sie werden öfter in tInnen. Die Kritik richtet sich primär gegen die Be- Spitälern und Ambulanzen versorgt, konsultieren Schmerzbericht Wien 2018 29
▶ Zusammenfassung öfter medizinisches Fachpersonal und verbrau- Gerade für so komplexe psychisch und physisch chen größere Mengen an Heilmitteln. Personen beeinflusste Krankheitsbilder wie dem Schmerz ist mit chronischen Schmerzen sind außerdem über- das Zusammenwirken mehrerer ärztlicher und durchschnittlich oft erwerbslos, werden früher therapeutischer Disziplinen wie Anästhesie, Psy- pensioniert und gehen häufiger und länger in chiatrie, Neurologie, Orthopädie, Allgemeinmedi- Krankenstand als ihre KollegInnen. Aber auch das zin, physikalische Medizin und Physiotherapie, Nachgehen beruflicher Tätigkeit trotz Gesund- Psychologie und Psychotherapie ebenso unerläss- heitsproblemen ist bei ihnen häufiger verbreitet lich wie die schmerzspezifische Zusatzausbildung als bei Personen mit anderen Erkrankungen. aller Berufsgruppen. Nicht zuletzt ist bei der Dia- gnose und Therapie von Schmerz auch noch der Bedeutsam sind zudem die ökonomischen Auswir- kultursensible Aspekt zu berücksichtigen – gerade kungen von chronischem Schmerz. Insgesamt rei- in Wien, wo nicht nur viele Menschen mit Migra- chen die Schätzungen aller durch chronischen tionshintergrund leben, sondern viele davon auch Schmerz verursachten volkswirtschaftlichen Kos- traumatische Fluchterlebnisse bewältigen müssen. ten, je nach Land und verwendeter Methodik, bis zu 4 Prozent des BIP, wobei indirekte Kosten (z. B. Um das Zusammenwirken der einzelnen Berufs- Produktivitätsausfälle, Kosten von Frühpensionen gruppen, Versorgungsstufen und Kompetenzen z etc.) gegenüber direkten Behandlungskosten ein qualitätsgesichert organisieren zu können, bedarf weitaus höheres Ausmaß einnehmen. Fest steht, es anerkannter Leitlinien und klar strukturierter dass chronische Schmerzen in Österreich gesund- Behandlungspfade. Diese gibt es in Österreich, im heitliche und volkswirtschaftliche Kosten in Milli- Vergleich zu anderen europäischen Ländern, bis- ardenhöhe verursachen. her nicht. Die Anforderungen einer modernen Schmerzversorgung zeigen deutlich die Mängel Das komplexe psychische und somatische Ge- unseres segregierten Systems auf und viele Patien schehen, welches letztendlich zu chronischen tInnen gehen an den Nahtstellen zwischen extra- Schmerzen führt, lässt sich auch für MedizinerIn- und intramuralem System sowie zwischen Fach- nen oft schwer nachverfolgen. Die Folge sind mit- disziplinen und Berufsgruppen verloren. unter nicht adäquate Diagnosen und Behand- lungsketten sowie frustrierende Erfahrungen Für Österreich errechnet sich eine Zahl von min- chronischer SchmerzpatientInnen im Gesund- destens 500.000 bis 600.000 Personen, die an stark heitssystem. Dadurch werden die erwähnten fi- beeinträchtigenden chronischen Schmerzen lei- nanziellen Aufwendungen hochgehalten, ohne den und einer spezialisierten ärztlichen Versor- dass sich dadurch irgendetwas an der Lebensqua- gung bedürfen. Für ein Zehntel dieser Schmerz- lität der Betroffenen verbessert. Ein sinnvollerer patientInnen (50.000 bis 60.000 Personen) wäre Einsatz der vorhandenen Ressourcen würde die eine multimodale, interdisziplinäre schmerzthe- Situation deutlich entschärfen. rapeutische Behandlung unter bio-psycho-sozia- len Gesichtspunkten erforderlich. Umgerechnet Schlussbetrachtung und Ausblick auf Wien würde demnach ein Bedarf an multimo- Trotz der Komplexität und der hohen Anforderun- dal-interdisziplinären Schmerzzentren für ca. gen an Diagnostik und Therapie chronischer 12.000 bis 14.000 PatientInnen bestehen. Schmerzen zeigen internationale Erfahrungen, dass umfassende, langfristige und multimodale Eine Reform der Schmerzversorgung unter Einbe- Therapieangebote die Lebensqualität der Betrof- ziehung aller betroffenen Systempartner müsste fenen deutlich verbessern. Wichtig ist dabei, dass bereits bei der Ausbildung, gleichzeitig aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg eine inten- bei der medizinischen Behandlung und Therapie sive körperlich aktivierende und gleichzeitig psy- sowie der Rehabilitation ansetzen. Vor allem sind chologisch-psychotherapeutische Behandlung er- jedoch in dieser Diskussion auch VertreterInnen folgt. Die PatientInnen lernen dabei, die Ursachen von Risikogruppen und chronischen Schmerzpa- ihrer Schmerzen zu verstehen und – wenn auch tientInnen einzubeziehen, damit diese in ihrer Ge- eine völlige Heilung oft nicht möglich ist – mit dem sundheitskompetenz gestärkt werden können. Schmerz soweit umzugehen, dass wieder eine kör- perliche, psychische und soziale Teilhabe möglich wird. 30 Schmerzbericht Wien 2018
Summary Summary Compared to other chronic illnesses, relatively lit According to the results of the Austrian Health Survey tle attention has been given by the Austrian health- 2014, about 20 per cent of Austrians reported to suffer care system to chronic pain. Austria’s pain manage- from chronic pain. The most frequently stated pain ment landscape is characterised by a lack of stan conditions were back and joints pain (arthrosis dardised care concepts and insufficient treatment pain) as well as headache. Due to the expected options. For this reason, Vienna has set itself the changes in the age pyramid over the next years and task of sustainably improving pain management decades we have to assume that the frequency of services as one of the targets of Austria’s health- chronic pain of the musculoskeletal system, which care reform to be achieved at provincial level. is associated with old age, will increase further. In addition, chronic pain is often accompanied by a This first Vienna Pain Report looks at the issue of higher rate of depression, anxiety disorders and chronic pain in all its complexity. In order to do so, substance use problems, which have to be included the highly complicated and multi-faceted pheno- in a successful (multimodal) therapy. menon of pain must be seen in a broad context and from many different perspectives, particular- Causes and risc factors z ly including the perspective of pain patients. Chronic pain is always the end product of a preced ing process which has lasted for years or decades Definition and sources of information and which is triggered and continually shaped by Pain is a multidimensional phenomenon which different and sometimes very complex cause-ef- people experience both physically and emotional- fect factors. The development of chronic pain var ly. Physical and psychological pain are insepara- ies greatly among individuals. The causes of chro- bly linked and mutually influence each other. Pain nic pain can be physical, yet in most cases is therefore called a “biopsychosocial phenome- psychosocial factors play an equally important non”. If the pain persists, the original symptom be- role. Moreover, genetic as well as therapy and life comes the disease and we speak of a “chronic pain style-related risk factors have also been identified. syndrome”. Both the causes and perceptions of Based on findings in neuroimmunology and envi- pain are diverse, which is why different categories ronmental medicine, chronic infections and envi- of pain have been classified. ronmental pollutants are also discussed as poten- tial causes of and risk factors for chronic diseases The present report is based on different sources of with pain syndrome. quantitative and qualitative information: Results of national and international surveys, partly com- In most cases, a chronic pain condition is a multi- plemented by our own analyses, contents of stu- factorial and complex process, which unfolds in dies and scientific work on the issue of pain, case very different ways and on different levels, whose studies from therapeutic practice, interviews with development and cause-effect mechanism are pain patients and patient letters sent to the “Alli- largely unclear and whose causal relationships are anz chronischer Schmerz Österreich” platform of frequently hard to prove. Factors such as “cause”, self-help groups have been equally taken into ac- “secondary disease”, “trigger” and “symptom am- count in order to cover as wide a spectrum of pain plifier” often cannot be clearly distinguished from issues as possible. each other, since the actual cause frequently lies one or several layers below the seemingly identi- Epidemiology fiable or apparently inexplicable cause and a spe- It is nearly impossible to assess the occurrence of cific clinical picture evolves only over time. chronic pain among the Austrian population, as relevant data on the prevalence of patients with Literature further proves that pain-related and ex- chronic pain are mostly unavailable and there are perienced impairment as well as pain intensity in no clear definitions or classification schemes for chronic pain are only marginally to moderately de- the different types of pain. termined by the degree of the actually diagnosable physical injuries. It is rather psychosocial factors, Schmerzbericht Wien 2018 31
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