Von der Schmerzlichkeit des Schmerzerlebens - Norbert Kohnen Wie fremde Kulturen Schmerzen wahrnehmen, erleben und bewältigen.
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Norbert Kohnen Von der Schmerzlichkeit des Schmerzerlebens Wie fremde Kulturen Schmerzen wahrnehmen, erleben und bewältigen. pvv 1
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Von der Schmerzlichkeit des Schmerzerlebens Wie fremde Kulturen Schmerzen wahrnehmen, Norbert Kohnen erleben und bewältigen. Ratingen, pvv 2003 Autor: PD Dr. med. Norbert Kohnen Von der Arbeitsmediziner, Internist, Medizinhistoriker Werderstraße 31, 50672 Köln Schmerzlichkeit E-Mail: kohnen@uni-duesseldorf.de des Schmerzerlebens 1. Auflage 2003 Verlag und Herstellung: Wie fremde Kulturen pvv, Ratingen Schmerzen wahrnehmen, erleben und bewältigen. Gestaltung, Satz und Copyright: K.F.C., 53804 Much Alle Rechte vorbehalten Titelbild: Ein Philippino tanzt auf Printed in Germany glühenden Kohlen (Foto: N. Kohnen) ISBN 3-927826-45-6 pvv
Inhalt 3.3 Schmerzbegriff in Deutschland: Vielfalt der Erlebnisformen 43 Vorwort 7 Wissenschaftliche Klassifikation des ICD 43 Einleitung und Fragestellung 8 Der somatische Schmerzbegriff 44 1 Schmerzen empfinden und wahrnehmen 9 Der emotionale Schmerzbegriff 44 Schmerzbegriff deutscher Probanden (medizinischer Laien) 46 – Nozizeption – 9 Schmerzbegriff und Alter 47 1.1 Schmerzempfindung 10 Schmerzbegriff und Ausbildung 49 Die Empfindungsschwelle ist in allen Kulturen gleich 10 Schmerzbegriff und Beruf 52 1.2 Schmerzwahrnehmung 10 Schmerzbegriff der Ärzte 52 Die Schmerzschwelle ist zwischen den Kulturen unterschiedlich 10 Schmerzbegriff und Geschlecht 55 Denken und Erleben: logisch somatisch und reflexiv emotional 56 1.3 Schmerztoleranz 10 3.4 Schmerzerleben und Schmerzbegriff in verschiedenen Kulturen 59 Die Schmerztoleranz ist zwischen den Kulturen unterschiedlich 10 Prozentuale Verteilung des somatischen und emotionalen Anteils im Schmerzerleben 60 1.4 Schmerzäußerungen 11 Mittlere Schmerzeinschätzung oder das allgemeine Schmerzniveau 63 Kulturelle Bedeutung des Schmerzes in der Schmerz- und Lebensbewältigung 11 Rangkorrelationen 65 Die individuellen Schmerzäußerungen sind erworben Qualitative Auswertung: Rangstellung verschiedener Krankheiten 69 und von kulturellen Werten, Normen und der Biographie geprägt 12 4 Schmerzen bewältigen 70 2 Schmerzen erklären und begreifen 15 Schmerzbewältigungsstrategien 70 – Denken und Assoziation – 15 Religiöse Schmerzbewältigung (Juden) 72 2.1 Geschichtliche Erklärungen des Schmerzes 15 Willentliche Schmerzbewältigung (Iren) 72 Der logische Schmerzbegriff der Griechen 15 Familiäre Schmerzbewältigung (Italiener) 72 Unterscheidung des Krankheits- und Schmerzerlebens 15 Rationale Schmerzbewältigung (Nordamerikaner und Nordeuropäer) 73 Der traditionelle reflexive Schmerzbegriff (Sinn und Bedeutung) 16 Fatalistische Schmerzbewältigung (Philippinos) 73 Umbewertung des Schmerzbegriffs im 17. Jahrhundert: Buddhistische Schmerzbewältigung (Burmesen) 73 Schmerz ist gut, er ist Wächter und Hüter des Lebens 17 Unverträglichkeit verschiedener Schmerzbewältigungsstrategien 74 2.2 Der moderne Schmerzbegriff 18 5 Schmerzen behandeln 75 Definition des Schmerzbegriffes 18 5.1 Dem Schmerz die Schmerzhaftigkeit nehmen 77 Transkulturelle Untersuchung des Schmerzbegriffes und seine Bedeutung 19 Traditionelle Schmerzbehandlung der Deutschen 77 3 Schmerzen erleben 22 Kälte 77 – Schmerzen und ihr individueller Sinn für das Leben – 22 Wärme oder Hitze 78 Periphere (elektrische) Stimulation 79 Reflexion des Schmerzes auf dem Lebenshorizont 22 Definition: Erleben und Schmerzerleben 22 5.2 Dem Schmerz die Schmerzlichkeit nehmen 79 3.1 Grundlage des Erlebens: Dasein als ästhetische Reflexion 24 Ein Erklärungskonzept anbieten 80 Hilflosigkeit reduzieren und die Kontrollüberzeugung stärken 81 Das ästhetische Menschsein 24 Die Schuld nehmen 82 Das ästhetische Urteil: Erkenntnis vor allem Denken 24 Schmerzbehandlung in traditionellen Gesellschaften Das ästhetische Urteil: Der Bezug auf Passungsgefüge 26 bei den Cabuntogueños (Südphilippinen) 83 Äußerungen des ästhetischen Urteils: Befinden, Stimmung und Erleben 26 Kognitive Klassifikationsdimensionen der Stimmungen und Gefühle 28 5.3 Fallbeispiele traditioneller Schmerzbehandlung 84 Stimmungen und Gefühle als Handlungsdimension 29 Schmerzbehandlung bei den Cabuntogueños (Südphilippinen) 84 Erleben als ästhetische Reflexion der Lebenswelt 30 Schmerzbehandlung bei den Igorot (Philippinen) 95 Denken, ästhetisches Urteil und ästhetische Reflexion 31 Schmerzbehandlung bei den Krahô-Indianern (Brasilien) 98 Schmerz, ästhetisches Urteil und ästhetische Reflexion 33 Schmerzbehandlung bei den Lahuaytambos (Peru) 100 Befinden und Entsetzen 35 Zahnschmerz in Cabuntog (Südphilippinen) 102 3.2 Schmerzbegriff in einer indigenen Kultur: Schmerz im Spiegel des Lebens 36 6 Schmerzen in der ärztlichen Praxis 104 Krankheits- und Schmerzerleben einer indigenen Kultur Diagnostik 104 (Cabuntogueños, Philippinen) 36 Störungen des Schmerzerlebens 105 Grundlegende Faktoren des Schmerzerlebens 38 Therapie 105 Krankheits- und Schmerzerleben in unserer Kultur 40 Literatur/Bildverzeichnis 107 4 5
Vorwort „Für den Patienten unserer Tage ist der Schmerz meist nur eine lästige Betriebsstörung im Organis- mus, die so rasch und problemlos behoben werden muß wie etwa ein Defekt in seinem Auto. Der Arzt wird zum Techniker der Schmerzbekämpfung, die Praxis oder Klinik zur Reparatur- stelle für den Betriebsschaden „Schmerz“. Die Wissenschaft untersucht den Schmerz in seinen Teilaspekten und das heißt: in Abstraktionen, ohne damit das konkrete Schmerzerleben selbst objektivieren zu können. Von diesen drei Seiten her droht der Blick verdeckt zu werden für das eigentlich Menschliche am Schmerz des Menschen: für den Schmerz als Erleben, als Erleiden und als Impuls zu seiner Deutung und Wertung. Die Fähigkeit, sich mit dem Schmerz aus- einanderzusetzen, nach seinem Sinn zu fragen, der Spielraum der Reflexion – das ist es, was den Schmerz des Menschen als eines geschichtlichen Wesens fundamental vom Schmerz des Tieres unterscheidet. Die Geschichte des menschlichen Schmerzes gehört zur Geschichte menschlichen Leidens. Es ist die Geschichte des vom Geist der Epochen bestimmten Wandels der Haltung des Menschen zum Schmerz: der bejahenden oder verneinenden Deutung seines Sinns im Da sein, der Wege zu seiner Bewältigung, aber auch der Möglichkeiten des Überwäl- tigtwerdens von ihm, der Auflehnung oder der Kapitulation“ (JANZ 1972). Diese Schrift gründet sich auf den Erfahrungen wissenschaftlicher Untersuchungen des Schmerzbegriffes bei mehr als 600 Probanden (Survey mittels eines Schmerzfragebogens bei medizinischen Laien), der wissenschaftlichen Untersuchung des Schmerzbegriffes in fremden Kulturen, insbesondere bei den Cabuntogueños, einer philippinischen Fischergruppe, mit ins- gesamt zweijährigem Feldforschungsaufenthalt (Untersuchung von 500 Patienten in einer Health Station), Untersuchungen zum Schmerzbegriff in Australien, Frankreich, Kuba und vor allem den persönlichen Erfahrungen einer 30-jährigen ärztlichen Tätigkeit, bei der die wissen- schaftlichen Ergebnisse zum Schmerzbegriff in der Praxis reflektiert werden konnten. Die Schrift richtet sich an praktizierende Ärzte, um ihnen die Hintergründe der Schmerzwahr- nehmung und des Schmerzerlebens fremdländischer Patienten und vor allem auch das Schmerzerleben der eigenen deutschen Bevölkerung offen zu legen und verständlich zu machen. Denn es hat sich gezeigt, dass wir Ärzte ebenfalls einen sehr eigentümlichen Schmerzbegriff haben, der von dem unserer Patienten abweicht. So gibt es grundsätzliche und allgemein menschliche Bedürfnisse, die bei der Schmerzbehandlung berücksichtigt werden sollten. Für mich wurden diese grundsätzlichen menschlichen Basisbedürfnisse (Basic Needs) erst bei der Untersuchung einer nicht industrialisierten Kultur, bei der Untersuchung des Schmerzbegriffes bei den Cabuntogueños, deutlich. Norbert Kohnen 6 7
tienten fraglich erscheint, dann haben wir Paralleluntersuchungen zum Krankheits- wendige und Mögliche begleiten unser Le- Einleitung und noch kein Kognitionsmuster für dieses erleben und Körpererleben durchgeführt ben und äußern sich als angenehme und Verhalten erlernt und genau dies war meine hatte, mir aber Vergleichsuntersuchungen unangenehme Grund- oder Lebensbefind- Fragestellung persönliche Erfahrung, als ich als Assistenz- zum Schmerzbegriff und zum Schmerzer- lichkeiten. Entsprechend nennen wir ihre arzt in einer größeren Kölner Klinik nach leben einer deutschen Bevölkerung fehlten. Störungen auch die Befindlichkeitsstörun- dem Studium in der Zentralaufnahme häu- In den darauf folgenden Jahren befragte ich gen, die selbst wenig differenziert, unreflek- Welchem praktizierenden Arzt ist folgende figer ausländischen Patienten und ihren hierzu mehr als 600 Probanden und kam zu tiert und nicht analysiert sich uns bloß als Situation nicht bekannt? Ein ausländischer Schmerzäußerungen gegenüberstand. Doch dem Ergebnis, dass auch die deutsche Be- angenehme und unangenehme Grundstim- Patient nimmt gequält vor dem behandeln- auch meine Kollegen hatten für dieses völkerung, ähnlich wie die Philippinos, über mungen präsentieren. den Arzt Platz. Mit leidvollem Gesichtsaus- Verhalten keine Wahrnehmungsmuster im Schmerzen urteilt und einen „erweiterten“ druck präsentiert er seine Leidensgeschichte: Studium erlernt. So umschrieben wir dieses Schmerzbegriff hat. So enthüllt sich uns ein gestörter Lebensvoll- „Doktor, ich überall Schmerz“. Noch lange Verhalten mit einer Vielzahl nicht wertend zug anfänglich als bloßes unangenehmes bevor wir durch Palpation oder durch gemeinter Diagnosebezeichnungen wie Die Tatsache allerdings, zu behaupten, dass Gefühl. Wird er reflektiert und bewusst er- Beklopfen der Körperoberfläche die Loka- „vegetative Dystonie, das Mittelmeersyn- die Allgemeinbevölkerung einen „erweiter- kannt, worin der Mangel besteht, dann wird lisation des Schmerzes ausmachen können, drom, Mater Dolorosa-Syndrom“. Die Diag- ten“ Schmerzbegriff besitze, ist arztzentriert aus der unangenehmen Befindlichkeitsstö- wissen wir, dass, ganz gleich wo wir bei nose „vegetative Dystonie“, eine damals gedacht. Viel eher verhält es sich doch so, rung ein schmerzlicher Schmerz. Die Schmerz- solchen Patienten palpieren oder Berührungs- häufige Diagnose, die nebenbei überwie- dass der Schmerzbegriff der Allgemein- lichkeit ist also ein unangenehmes Gefühl, reize setzen werden, immer die gleiche gend nur in Deutschland gestellt wurde, war bevölkerung der Schmerzbegriff in einer das die Reflexion auf den eingeschränkten Antwort folgt: „Ich viel Schmerz, Doktor, ich der Ausdruck dafür, dass man „nicht so Gesellschaft ist, und die Ärzte darüber nach- Lebensvollzug begleitet. In dieser Gestalt ist überall Schmerz“. genau wusste, welche Ursache vorlag und denken müssen, ob nicht sie es sind, die die Schmerzlichkeit des Schmerzes eine Form das Krankheitsbild wohl mit den Nerven zu tun einen abweichenden Schmerzbegriff haben. des Erlebens und nicht des körperlichen Bei der Wahrnehmung solcher hatte. Höchstwahrscheinlich sogar mit dem So folgten Untersuchungen zum Schmerz- Schmerzes. Die Schmerzlichkeit wird ver- Schmerzpräsentationen stellt sich rätselhaften vegetativen Nervensystem“. begriff der Ärzte, deren Ergebnisse im Fol- stärkt, wenn Lebensvollzüge chronisch ge- die Frage: genden präsentiert werden sollen. stört werden (Blindheit, Taubheit, Geistes- Eine weitere persönliche Erfahrung war, schwäche, Sucht, Schlaganfall, Lähmungen, 1. Nehmen Patienten aus anderen dass bei der Untersuchung der philippini- Neben den bereits gestellten Fragen, ob denn Verbrennungen und der Schmerz selbst). Kulturen Schmerzen anders als deut- schen Fischergruppe aus Cabuntog deutlich Patienten aus anderen, fremden Kulturen eine Ein chronischer somatischer Schmerz kann sche Mitpatienten wahr? Haben sie also wurde, dass die Cabuntogueños einen von deutschen Patienten unterschiedliche selbst zur Schmerzlichkeit führen, wenn er eine andere Schmerzperzeption? erweiterten Schmerzbegriff besaßen und Schmerzwahrnehmung oder ein unterschied- dauerhaft die Lebensvollzüge behindert. 2. Haben sie einen anderen und zwar z. B. Erblinden, Blindheit, Taubheit und liches Schmerzerleben haben, sollen die Fragen Geistesschwäche für schmerzhaft hielten. In beantwortet werden, welchen Schmerzbe- erweiterten Schmerzbegriff? Das heißt, denken sie anders über Schmerzen als einem Artikel (KOHNEN 1989) veröffent- griff denn unsere deutschen Patienten und 1 deutsche Mitpatienten? lichte ich diese Beobachtungen und schloss welchen Schmerzbegriff die Ärzte haben. 3. Oder erleben sie Schmerzen anders mit dem Ergebnis, dass die Cabuntogueños emotionale Schmerzfaktoren stärker beto- Erleben ist ein Gefühl, das uns wie die Stim- Schmerzen empfinden als deutsche Mitpatienten? Haben sie also ein anderes Schmerzerleben? nen würden als wir Deutsche dies tun. mung stets begleitet. Stimmungen, Gefühle und das Erleben sind die Antwort über die und wahrnehmen Als ich nun 1998 von dem Leiter der Stimmigkeit unserer Vermögen, unserer ver- – Nozizeption – An dieser Stelle seien einige persönliche Tutzinger Schmerzklinik eingeladen wurde, fügbaren Mittel und Werkzeuge, in Ange- Erfahrungen und Anmerkungen erlaubt. um auf dem Tutzinger Schmerzkongress sicht der Lebensherausforderungen, der Die Schmerzwahrnehmung ist von kulturel- Wenn es so ist, dass uns praktizierenden über meine Erfahrungen zum Schmerz- Lebenserwartungen wie der Lebensbewälti- len und individuellen Faktoren beeinflusst. Ärzten die Krankheitswahrnehmung und begriff der philippinischen Fischergruppe zu gung in theoretischer und praktischer Weise Gesellschaftliche Einflüsse wie Normen und das Krankheitserleben ausländischer Pa- berichten, stellte ich fest, dass ich zwar überhaupt. Diese Reflexionen auf das Not- Werte der Schmerzäußerung und individu- 8 9
elle biographische Einflüsse wie die erlernte MELZACK (1978), dass der sensorische Schmerzes. Schmerztoleranz ist der Punkt, Beobachtungen und wissenschaftliche Un- und selbst erworbene Deutung und die Leistungsapparat bei allen Menschen ähn- an dem sich eine Person einem Stimulusreiz tersuchungen von LARBIG (1982, 1989) be- Bedeutung des Schmerzes für den eigenen lich funktioniert. entziehen will. Italienerinnen zeigten die legen MELZACKS Feststellung, dass in ver- Körper wie für den eigenen Lebenslauf, die niedrigsten Schmerztoleranzwerte. Ameri- schiedenen Kulturen Initiationsriten und an- Lebensbewältigung und das ganze Leben kanische und irische Frauen fielen durch dere Rituale, die unmittelbar mit intensiven sowie der ihm zugesprochene Sinn prägen 1.2 wesentlich höhere Schmerztoleranz auf. Sie Schmerzreizen in Verbindung stehen, ohne das Schmerzerleben. Die Einflussfaktoren des zeigten kaum Schmerzreaktionen, während oder mit nur geringem Schmerzausdruck Schmerzerlebens sind innerhalb der einzel- nen Kultur wie transkulturell unterschiedlich. Schmerzwahrnehmung italienische und jüdische Frauen deutlich Schmerzverhalten demonstrierten. Psycho- und geringer Schmerzwahrnehmung durch- geführt werden. LARBIG (1982) untersuchte Die Schmerzschwelle physiologische Parameter verdeutlichen die unter laborexperimentellen Bedingungen Daten. In Antizipation des elektrischen Reizes mit EEG-Ableitungen und blutchemischer 1.1 ist zwischen den Kulturen traten biphasische Potentiale der Hautleit- Bestimmung der Adrenalin- und Noradre- fähigkeit auf, die im Laufe der Gewöhnung nalin-Ausschüttung Feuerläufer aus Nord- unterschiedlich Schmerzempfindung Die Schmerzschwelle ist der Punkt, an dem in monophasische Fluktuationen übergin- gen. STERNBACH UND TURSKY fanden bei griechenland, Zelebranten des so genann- ten Haken-Hänge-Rituals in Sri Lanka und eine Person einen Stimulusreiz als schmerz- den amerikanischen Frauen die schnellsten einen Fakir mongolischer Abstammung. Die Empfindungsschwelle haft empfindet. CLARK UND CLARK (1980) Gewöhnungsraten. Die Ergebnisse bestäti- Beim Haken-Hänge-Ritual wurden dem ist in allen Kulturen gleich benutzten elektrische Reize zur Schmerz- gen die Theorie von PETRIE (1960), dass Zelebranten sechs bis acht Stahlhaken, die schwellenmessung und stellten fest, dass bei Reizverminderer (Reduser) Schmerzen am mit Seilen an der Spitze eines fahrbaren Nach MELZACK (1978, p. 17) ist offensicht- nepalesischen Trägern und bei westlichen besten tolerieren, da sie wie die amerikani- Holzkarrens befestigt sind, durch die Haut lich, „dass Schmerz wesentlich variabler Touristen die Empfindungsschwelle gleich schen Versuchspersonen versuchen, durch in die Rückenmuskulatur gestoßen. Der und wandlungsfähiger ist, als es die Men- hoch war, dass die Nepalesen allerdings erst eine Hemmung emotionalen Ausdruckver- Fakir durchbohrte allabendlich seine Zunge schen in der Vergangenheit geglaubt hatten. bei einem höheren Stimulus den Reiz als haltens die Schmerzen zu blockieren. mit vier 50 cm langen spitzen Dolchen. Schmerz ändert sich von Person zu Person, schmerzhaft empfanden. Nach HARDY, von Kultur zu Kultur. Reize, die bei einer Per- WOLFF UND GOODELL (1952) wurden Schmerzwahrnehmung ist von der Erzie- son unerträglichen Schmerz hervorrufen, Hitzereize von Ethnien, die aus dem Mit- hung, den kulturellen Normen und Werten, werden von einer anderen, ohne mit der telmeerraum stammen, schon als schmerz- dem erlernten Verhalten sowie von eigenen Wimper zu zucken, ertragen.“ haft wahrgenommen, die Nordeuropäer Sozialisationserfahrungen abhängig. noch als warm bezeichneten. Interkulturelle Unterschiede bezüglich der 1.4 Empfindungsschwelle (das ist die geringste Reizstärke, die nötig ist, um eine Empfin- 1.3 dung auszulösen) wurden nicht gefunden. Schmerzäußerungen STERNBACH UND TURSKY (1965) stellten Empfindungsschwellenmessungen bei Frau- Schmerztoleranz Kulturelle Bedeutung des en verschiedener ethnischer Gruppen an: Die Schmerztoleranz Schmerzes in der Schmerz- Italienerinnen, Jüdinnen, Irinnen und Frauen alteingesessener amerikanischer Familien. ist zwischen den Kulturen und Lebensbewältigung Fehlende Unterschiede zwischen den Grup- unterschiedlich pen bezüglich der Empfindungsschwelle legen In einer Studie an schwarzen, puertoricani- die Annahme nahe, dass die Empfindungs- Hauptunterschiede zwischen den genann- schen und weißen Zahnarztpatienten wur- schwelle unabhängig vom kulturellen Hin- ten Gruppen fanden STERNBACH ET AL. Abb. 1.1: Die Schmerzempfindung und Schmerzwahrnehmung den Einstellungen zum Schmerz untersucht, eines Fakirs wird unter wissenschaftlich klinischen Bedingungen tergrund einheitlich ist. Daraus folgert (1974) in den Toleranzkomponenten des untersucht (Aus LARBIG: Schmerz 1982 Abb. 43) die als wesentliche Ursache für Unterschiede 10 11
in der Schmerztoleranz angesehen werden. tungen der jungen Männer zurück, die Abstammung) Schmerzpatienten mit vor- arabischen Kinder erklärten häufig, dass sie Es ergaben sich zwischen den Gruppen durch diese Zeremonie Erfolg, Ansehen und wiegend neurologischen Erkrankungen, wie sich bei Schmerzen erregt (nervous), verle- signifikante Einstellungsunterschiede, die Vertrauen der älteren Generation gewin- Diskushernien mit Wurzelreizung und spi- gen (embarrassed) und ungehalten (angry) durch folgende Aussagen ermittelt wurden: nen. In dieser Weise ist das Verhalten in nalen Läsionen, untersucht. Miteinbezogen fühlten, während die lateinamerikanischen „Der beste Weg mit dem Schmerz fertig zu Schmerzsituationen der sozialen Umwelt wurden auch Familienangehörige, die zu Kinder sich einfach schlecht (bad) fühlten. werden, ist, ihn zu ignorieren. Es ist ein Zei- angepasst, da die Gruppe das individuelle ihrer Haltung gegenüber Schmerz und chen von Schwäche, dem Schmerz nachzu- Verhalten bewertet und es prägt. Schmerzäußerungen befragt wurden. Jüdi- PERKOFF UND STAND (1973) stellten geben. Wenn ich krank werde, möchte ich, sche und italienische Patienten zeigten unterschiedliche Schmerzäußerungen bei dass der Arzt die Schmerzen beseitigt.“ Natürlich üben neben diesen kulturellen Ein- emotionale Schmerzreaktionen. Den Inter- Herzinfarktpatienten fest. Weiße Patienten Diese Einstellungen, die im Wesentlichen flüssen die individuellen, persönlichen phy- viewdaten ist zu entnehmen, dass beide berichteten über Brustschmerzen, während die die Abwehr, sich mit dem Schmerz ausein- sischen und psychologischen Faktoren einen Gruppen eine niedrige Schmerzschwelle ha- dunkelhäutigen eher über Luftnot klagten. ander zu setzen, widerspiegeln, wurden am wesentlichen Einfluss auf das Schmerzerle- ben. Jüdische Patienten verhalten sich eher stärksten von puertoricanischen Patienten, ben aus, so dass trotz des kulturellen Hinter- pessimistisch gegenüber Ursache und Thera- Kulturelle Bewertungen einzelner Zeichen weniger ausgeprägt von dunkelhäutigen grundes, der gesellschaftlichen Erziehung, pie der Schmerzen. Die Italiener versuchen, und gesellschaftliche Normen bestimmen Probanden („Schwarzen“) und am schwäch- aller vermittelter und anerzogener Werte und sofortige Hilfe in Anspruch zu nehmen, die die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung sten von hellhäutigen Probanden („Wei- Bewertungen, trotz der Sozialisation jede sie dann schnell zufrieden stellt. Die Amerika- von sinnlichen Phänomenen. HELLER be- ßen“) vertreten (WEISENBERG 1982). MER- einzelne Person ein individuelles Verhalten ner zeichnen sich durch phlegmatische und schreibt, dass die Tamang aus Cautara in SKEY UND SPEAR (1967) fanden keinen bei Schmerzen zeigt. nüchterne Einschätzung der Schmerzen aus Nepal immer schon die gefürchteten Unterschied in der Schmerzreaktion (Druck- und ertragen die Schmerzen ohne entspre- Ödeme an ihrem Körper entdeckten, wo algometertest) zwischen „Weißen und chende Schmerzäußerungen. Irische Ver- der westliche Arzt noch nichts wahrnahm, Schwarzen“. Die individuellen suchspersonen zeigen sich ebenfalls zurück- wohingegen umgekehrt der westliche Arzt Schmerzäußerungen sind haltend im Schmerzausdruck, ziehen sich Husten und Bronchitiden diagnostizierte, CHAPMAN UND JONES (1944) untersuch- von Familie und Freunden zurück, teilweise um denen die Nepalesen keine Bedeutung ten die Schmerzantworten nach Hitzereizen erworben und von kulturellen unbeobachtet ihren Schmerz auszudrücken. zumaßen (HELLER 1977, 1985 p. 151-157). bei Amerikanern aus Südafrika und Nord- Werten, Normen und der Amerikaner mexikanischer Abstammung europa, bei Amerikanern russisch-jüdischer ABU-SAAD (1984) untersuchte die verbalen sollen Schmerzzeichen seltener ihre Auf- und italienischer Abstammung. Es fiel auf, dass Biographie geprägt Äußerungen für Schmerzen von amerikani- merksamkeit schenken, weil sie Schmerzen die italienischen Amerikaner ihre Schmerzen schen Kindern arabischer, asiatischer und als mangelndes Durchhaltevermögen und deutlich in Worten äußerten, während die Nach WEISENBERG (1982) scheinen die un- lateinamerikanischer Abstammung. Die ara- als Zeichen der Schwäche deuten (CALA- afrikanischen Amerikaner ihre Schmerzen einheitlichen Daten in der transkulturellen bisch-amerikanischen Kinder benutzten all- TRELLA 1980). Allerdings ist es erlaubt und nicht durch Worte sondern durch Gesten Schmerzforschung teilweise auf Stichpro- gemeine Beschreibungen wie schlimm gesellschaftlich akzeptiert, bei Schmerzen ausdrückten. beneffekte zurückzugehen. Es sei fraglich, (sore), unangenehm (uncomfortable) und zu jammern. Dieses Jammern wird als ange- ob dieselben Ergebnisse hinsichtlich sozio- kribbelig (tingling), um Schmerzen zu be- messener Ausdruck angesehen, Schmerzen WISSLER (1921) berichtet von den nord- kultureller Schmerzreaktionen bei verschie- nennen. Asiatische Kinder beschrieben den zu äußern, und ist bei ihnen eine kulturell amerikanischen Plains-Indianern, bei denen denen rassischen Personengruppen mit Ver- Schmerz als Furcht erregend (scary), läh- anerkannte Form, Schmerzen zu bewältigen. eine besonders hohe Schmerztoleranz be- suchsleitern unterschiedlicher ethnischer mend (paralysing) und kalt (cold). Latein- obachtet wurde. Junge Männer stechen sich Herkunft zu Stande kämen. Ethnokulturelle amerikanische sprachen von verletzenden HILBERT (1984) stellte fest, dass Patienten bei der „Sonnentanz-Zeremonie“ mit Spee- Unterschiede in der Art Schmerz zu äußern, (hitting), fürchterlichen (terrible) und krank mit chronischen Schmerzen sich oft in einer ren in die Brust und tanzen vor einem Gott- wurden in der klassischen Studie des An- machenden (sickening) Empfindungen. Alle sozialen Isolation befinden, weil ihnen die heitssymbol, bis sich Teile der Haut vom thropologen ZBOROWSKI (1952) anhand von Kinder dieser drei Kulturen waren sich darin Möglichkeit fehlt, die kulturell erworbenen Leib lösen. Die hohe Schmerztoleranzgren- Interviews und Beobachtungen an irischen, einig, dass sie sich bei Schmerzen elendig Erklärungen, Ausdrucksmöglichkeiten und ze geht nach Ansicht der Autoren auf die jüdischen, italienischen und alteingesesse- (miserable), scheußlich (awful) und ängst- Bewältigungsstrategien des Schmerzes an- individuellen und gesellschaftlichen Erwar- nen amerikanischen (Protestanten britischer lich (scared) fühlten. Die asiatischen und zuwenden. Er berichtet, dass diese Men- 12 13
2 2.1 schen ihre Schmerzen und Schmerzbewälti- sind das Lernen und Erlernen von gungsstrategien oft verbergen. KOTARBA Schmerzverhalten, die kognitiven Prozes- Schmerzen erklären Geschichtliche wies 1983 nach, dass Patienten mit chroni- se (Körperwahrnehmung und Schmerz, schen Schmerzsyndromen vielfach davon Aufmerksamkeit, Ablenkungen, die tat- und begreifen Erklärungen des überzeugt waren, dass ihr Zustand vor allem sächliche und die vermeintliche Kon- durch persönliche und weniger durch medi- trolle über Schmerz und Hilflosigkeit – Denken und Assoziation – Schmerzes zinische Probleme hervorgerufen würde. insbesondere bei Unvorhersagbarkeit Ihre Schmerzen waren durch eine Reihe von und Unkontrollierbarkeit des Schmer- Der logische Schmerz ist ein unangenehmes Erlebnis, das Erwartungen wie Hoffnung, Furcht und Ver- zes), soziale und persönliche individuel- der Mensch nach ASKLEPIADES AUS Schmerzbegriff der Griechen trauen beeinflusst. Diese Erwartungen wa- le Faktoren. BITHYNIEN seit jeher versucht tuto, cito et ren kulturell verwurzelt. Beispielsweise konn- jucunde, sicher, schnell und angenehm, zu Unterscheidung des Krankheits- ten stark religiöse Probanden ihre Schmer- zen durch Sinn und Ausdruck religiöser Alle diese Faktoren werden in den üblichen beseitigen. Hierzu benötigt er wirksame und Schmerzerlebens Handlungskonzepte. Nun steht vor jedem Doktrinen erklären. In Japan besteht die Lehrbüchern zum Schmerz diskutiert. Bei Handlungskonzept ein Erklärungskonzept. In den ersten medizinischen Schriften des Vorstellung, dass Bauchschmerzen Aus- der Diskussion kultureller Faktoren des Erklärt und gelehrt wird in Begriffen. So ist Altertums wurde noch nicht streng zwischen druck einer geistigen Disharmonie sind, weil Schmerzes ist ein weiterer Aspekt hilfreich, im einzelnen Schmerzbegriff alles das ent- dem Krankheits- und dem Schmerzbegriff man glaubt, dass das Abdomen der Sitz der und zwar die Reflexion der Schmerzwahr- halten, was die Menschen der einzelnen unterschieden. POLYBOS, der Schwiegersohn Seele ist (OHNUKI-TIERNEY 1984). nehmung auf Bedeutung und Sinn für die Kulturen über Schmerzen denken, wissen des HIPPOKRATES (460 - 375 v. Chr.), sagt: Lebensführung und auf das persönliche und was sie mit diesem Phänomen assoziieren. Der Unterschied der Schmerzwahrneh- Leben insgesamt. Eine solche Reflexion „Der Körper des Menschen enthält in sich mung und der Schmerzäußerung zwischen erfolgt in einer industrialisierten und indivi- In unserer abendländischen Kultur ent- Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, den Geschlechtern soll darin bestehen, dass dual orientierten Gesellschaft anders als in wickelte sich der Schmerzbegriff geschicht- sie stellen die Natur seines Körpers dar Frauen Schmerzen offener zeigen als Män- einer nicht industrialisierten, sozial- und lich aus dem allgemeinen Krankheitsbegriff, und ihretwegen empfindet er Schmerzen ner und offener über Schmerzen mit Freun- familienorientierten (traditionellen) Gesell- indem zwischen Krankheit und Schmerz un- und ist er gesund. Gesund ist er nun be- dinnen und medizinischem Personal spre- schaft. Schmerzen werden in diesen Gesell- terschieden wurde. Anfänglich umfasste die sonders dann, wenn diese Substanzen in chen. Frauen haben in jüngeren Jahren schaften aufgrund solcher Reflexionen un- Bezeichnung für Schmerz sowohl die kör- ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer schon mehr Erfahrungen mit Schmerzen als terschiedlich erlebt. Im Schmerzerleben er- perlichen als auch die seelischen Missemp- Menge das richtige Verhältnis aufweisen Männer, meist Menstruationsbeschwerden fassen wir neben der Empfindung und findungen, ein weiter Schmerzbegriff, der und am besten gemischt sind; Schmerzen oder Geburtsschmerzen. Folglich sollen sie Wahrnehmung auch die Schmerzverar- noch heute bei vielen ethnischen Gruppen empfindet er, wenn sich eine von diesen mit Schmerzen vertrauter sein und sie als beitung in ihren unterschiedlichen kulturel- nachweisbar ist und den ich z. B. bei For- Substanzen in geringerer oder größerer einen natürlichen Teil ihres Lebens begrei- len Interpretationen über Herkunft, Bedeu- schungen auf den Philippinen bei den Menge im Körper absondert und nicht mit fen (ENCANDELA 1993). tung und Sinn des Schmerzphänomens. Cabuntogueños fand (KOHNEN 1989). Erst allen genannten gemischt ist.” im Denken RENÉ DESCARTES (1596 – 1650) (POLYBOS / HIPPOKRATES: Über die Natur des und später in der wissenschaftlichen For- Menschen, Kap. 4: s. griechischen Text MÜRI 1979 Wenn die physiologischen Aspekte der p. 191-192) schung wuchs das Bewusstsein für eine Un- Schmerzleitung und Schmerzempfin- terscheidung zwischen den körperlichen dung generell gesprochen bei allen Im Altgriechischen findet sich der gemein- und seelischen Schmerzen. Menschen und in allen Kulturen gleich same Wortstamm algos, algia und algedon. sind, so müssen andere Faktoren für Er bezeichnete sowohl physische als auch die unterschiedlichen Äußerungen von psychische Schmerzbereiche. So sprechen Schmerz verantwortlich sein. Eine kultu- wir in unserer medizinischen Terminologie relle Variable des Schmerzerlebens ist noch heute von einer Arthralgie (somatischer die Schmerztoleranz. Andere Faktoren Gelenkschmerz) und von einer Nostalgie 14 15
(seelischer Sehnsuchtsschmerz). Algema um- Der traditionelle Umbewertung des nehmen Schmerz noch als gut, weil er schrieb später den rein körperlichen und zweckvoll und weil er nützlich ist. algesis den Seelenschmerz. reflexive Schmerzbegriff Schmerzbegriffs (Sinn und Bedeutung) im 17. Jahrhundert: Die Bezeichnung des Schmerzerlebens bei Germanen ist auch sehr viel umfassender als Schmerzen wurden jahrtausendelang als Schmerz ist gut, der neuzeitliche Schmerzbegriff. Ursprüng- Ausbleiben des Wohlbefindens empfunden er ist Wächter und Hüter lich bezeichnet das Wort Pein auch sowohl und in ihren ersten Bestimmungen als die seelischen wie die körperlichen Aspekte Grundübel der Natur und als das Leiden der des Lebens des Schmerzes. Im späten Mittelalter war Seele an der Schadhaftigkeit der Welt ge- die „peinliche Befragung” vor Gericht mit Der historische Prozess, in dem eine Umbe- dacht. So wie nach ARISTOTELES Krankheit körperlichen Schmerzen verbunden, denn wertung und eine neue Einstellung zur Deu- Ausbleiben und Mangel der Gesundheit ist es war eine Befragung unter der Folter. Im (KOHNEN 1978), so wird Schmerz als defi- tung des Schmerzes gewonnen wird, vollzieht Englischen bezeichnet das aus dem Urger- sich im 17. Jahrhundert und lässt sich nach zienter Modus (steresis, Mangel) ganz un- manischen stammende Wort pain heute TOELLNER (1971) in drei Stadien beschreiben: mittelbar in die gedankliche Ordnung auf- gleichfalls den Körper- und Seelenschmerz, Im Denken RENÉ DESCARTES (1596 – 1650), genommen als ein Zeichen für diesen allge- und das indogermanisch verwandte lateini- wird erstmals eine Trennung der Einheit aus meinen Mangel der Natur, der sich in sche poena = Strafe weist darauf hin, dass Körper und Seele vollzogen und der Schmerz Krankheit, Leid und Tod äußert. Ob dieser Strafe in alter Zeit mit Schmerzen verbun- mit allen anderen Affekten der Seele schließ- Mangel nun verstanden wird als Disharmo- den war (MICHLER 1979). lich ohne Einschränkung nicht mehr als Übel nie unter den Elementen und Qualitäten des Abb. 2.1: Holzschnitt aus „L’homme“ von RENE DESCARTES angesehen, sondern gut genannt. Mit dem Satz Kosmos, wie bei den hippokratischen Ärz- (Paris 1664): Vermittlung einer Sinnesfunktion von der Zehe Experimentelle Forschungen im 18. und 19. „Wir sehen, dass sie alle [die Affekte] ihrer mittels eines Nervs zur Zwirbeldrüse. DESCARTES beschreibt ten, oder als notwendig defizienter Modus den funktionellen Zusammenhang einer Sinnesempfindung, Jahrhundert leiteten eine Entwicklung in der Natur nach gut sind“, schließt DESCARTES die an dem einen Ort, und der Sinneswahrnehmung, die an alles Daseienden in seiner Vielfalt, wie bei einem anderen Ort stattfindet. Damit unterscheidet er topo- Schmerzforschung und Schmerztherapie seine Argumentation in den Passions de l‘ âme den Neuplatonikern und Gnostikern, oder graphisch die sensitive Empfindung von einer sensorischen ein, die heute noch nicht abgeschlossen ist, (DESCARTES 1692 p. 91). Wahrnehmung. wie bei den Christen als Folge des Sünden- und die den Bedeutungsgehalt des Begriffs falles, immer liegt die Auffassung zu Grunde, Schmerz erheblich veränderte. Indem man DESCARTES trennt den Leib von der Seele 1. Die sich aus dem kartesischen Dualismus dass die Natur der Dinge wesenhaft verdor- nach bewährter naturwissenschaftlicher und versteht den entseelten Körper als tech- ergebenden Probleme hat Leibniz für sei- ben ist und dass dies letztlich die Ursache Methode das Hauptproblem in Einzelprob- nischen Apparat, als kunstvoll aufgebaute ne Zeit weiter gelöst und dabei dem kar- des Schmerzes ist. In dieser ursprünglichen leme zerlegte, kam man zur Trennung der Maschine. Er stellt eine neue kognitive Sicht, tesischen Gedanken zum Siege verhol- kognitiven Ordnung gibt es weder den iso- Schmerzempfindung vom Schmerzerleben. eine neue systematische Wahrnehmungs- fen, dass der körperliche Schmerz kein lierbaren Körperschmerz noch den reinen Durch weitere Zergliederung sind hinsicht- ordnung auf, infolge derer der Schmerzvor- Übel, kein Fehler und Mangel der Natur Seelenschmerz. lich der Schmerzempfindung in Histologie, gang zu einem rein körperlichen Empfinden sei, sondern die höchst zweckvolle, not- Physiologie und Biochemie bestimmte Teile wird und die Schmerzreaktion zu einem wendige Einrichtung einer überlegenen des Schmerzgeschehens naturwissenschaft- Reflex. Der Körperschmerz löst Schutz- und Weisheit zum Schutze und zur Erhaltung lich fassbar und definierbar geworden. Die Abwehrreaktionen aus, die allesamt auf des Lebens. In der Theodizee trennt Leibniz Einengung des Schmerzbegriffs auf einen Nervenbahnen ihren Weg über die Epiphy- das physische Übel vom moralischen rein körperlich-somatischen Aspekt in den se nehmen. Erst in der Epiphyse als dem Sitz Übel ab und zeigt, dass der physische medizinischen Wissenschaften ist der vor- der Seele entsteht das Schmerzerlebnis, aus Schmerz nicht Ausdruck eines Schadens läufige Endpunkt einer Entwicklung und wis- dem die Seele lernt, das Schädliche zu ver- der unvollkommenen Natur, sondern not- senschaftlichen Spezialisierung im Laufe der meiden (Abbildung 2.1). Diese teleologi- wendiges Mittel eines guten Zweckes ist. abendländischen Geschichte. sche Sicht, nach der in der Natur nichts Der Schmerz ist Zeichen einer vollkom- umsonst ist, bewertet selbst diesen unange- menen Naturordnung. 16 17
2. In der Folgezeit wird der Nachweis ge- Und je besser man diese Funktionsweise haft, 3. schmerzhaft oder 4. nicht schmerz- wird sie je nach der allgemeinen Meinung führt, dass die Natur wunderbar, sinn- verstand, umso besser konnte man den haft?“, beantworten wir mittels unseres ihre drohenden Schmerzen erwarten und und zweckvoll eingerichtet ist, dass alles Schmerz beherrschen. Aus dem Problem Denkens aus unserer Erfahrung und aus un- empfinden. Die Meinung nimmt über die in ihr seinen Platz hat, dass in ihr das der Bewältigung des Schmerzes wurde das serem erworbenen Wissen um den Begriff Erwartungshaltung einen Einfluss auf das Kleinste auf das Größte sinnvoll bezogen Problem der Ausschaltung des Schmerzes. Magenschmerz. Dabei ist dieses Wissen um Erleben (self-fulfilling prophecy JONES erscheint, nichts überflüssig ist und nichts die Schmerzhaftigkeit der Magenschmer- 1977). In der Psychologie und Gestaltthera- fehlt, und auch Schmerz und Tod eine zen im Schmerzbegriff enthalten. Ebenso pie ist die Wirksamkeit solcher Meinungen gute, weil notwendige Funktion im Gan- 2.2 verhält es sich mit der Frage nach der in der Form von Glaubenssätzen bekannt. zen haben. Die Natur präsentierte sich Schmerzhaftigkeit von Erblinden, Blindheit, den Denkern jenes Jahrhunderts als eine Taubheit oder Geistesschwäche. Unter dem Die Untersuchungen zum Schmerzbegriff in von ewigen, notwendigen und unver- Der moderne Schmerzbegriff wird alles verstanden, was fremden sozial- und familienorientierten Kul- brüchlichen Gesetzen beherrschte Ord- bei der Vorstellung des Begriffes Schmerz turen führte uns zu der Einsicht, dass in die- nung. Die kognitive Ordnung der Natur- Schmerzbegriff gedacht und assoziiert wird. sen Gesellschaften der Krankheits- und dinge wie des Naturganzen wurde unter Schmerzbegriff viel grundsätzlicher und den Dimensionen von Proportionen und Definition des zwar emotionaler erlebt und begriffen wird Gesetzmäßigkeiten systematisiert. Diese Schmerzbegriffes Transkulturelle Untersuchung als in einer individual orientierten Gesell- neue kognitive Wahrnehmung der Natur des Schmerzbegriffs schaft. Die Faktoren, die ursprünglich das war die wichtigste theoretische Voraus- Schmerzerleben bei Krankheit beeinflussen, setzung für die sich breit entfaltende em- Die internationale Vereinigung zum Stu- und seine Bedeutung sind Beurteilungen bezüglich der Lebens- pirische Naturforschung, die im Beginn dium des Schmerzes (International bewältigung: soziale Einschränkung, körper- des 18. Jahrhunderts auch in der Medizin Association for the Study of Pain, IASP) Unsere transkulturelle Untersuchung zur liche Einschränkung, Sinnesreizungen und immer größere Bedeutung erlangt. So definiert Schmerz als „ein unangeneh- Schmerzwahrnehmung und zur Schmerz- Funktionseinbußen, (schlechte) Prognose, ist denn auch der Gedanke, dass der mes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das bewältigung führten wir in Form einer Befra- Behandlungskosten und Behandlungser- Schmerz „Wächter und Hüter des Le- mit aktueller oder potentieller Gewebs- gung, einer Meinungsumfrage (survey) durch wartung, Angst und Hilflosigkeit. Um dieser bens“ sei, um die Mitte des 18. Jahrhun- schädigung verknüpft ist oder mit Be- und nicht in der Form einer Messung kör- Tatsache Rechnung zu tragen, ist es nötig, derts endgültig in die medizinische Wis- griffen einer solchen Schädigung be- perlicher physiologischer Schmerzempfin- das Schmerzphänomen im weiteren Sinne senschaft eingedrungen und fester Be- schrieben wird“. dungen oder Schmerzwahrnehmungen. zu erfassen und einen entsprechenden standteil ihrer Vorstellungen geworden. Das Medium war die Sprache. In ihr spre- Schmerzbegriff zu definieren. Diese erwei- Mit der Änderung der Erkenntnissituation chen sich Meinungen aus dem allgemeinen terte Sicht von Schmerzen nennen wir das verändert sich der Naturbegriff und mit Begriffe sind die Gegenstände des Den- erlernten Wissen aus, das im Denken aus Schmerzerleben und definieren: dem Naturbegriff die Bewertung und kens. Sie bestehen aus der Substantia, dem Begriffen besteht, die die zur Präsenz ge- Einordnung des Schmerzes. Zugrundeliegenden (Sein), und den Akzi- brachten Vorstellungen benennen und be- dentien, den wechselnden Eigenschaften. schreiben. Die Meinungen in der vorliegen- Schmerz ist die reflektierte Beurteilung Weil der Körper von der Seele getrennt Einige Akzidenzien sind wesensnotwendig, den Untersuchung sind Beurteilungen über einer Sinnesreizung, die mit aktueller wurde, konnte das Schmerzphänomen in andere beliebig. Im Begriff ist alles das ent- die Schmerzhaftigkeit einzelner Krankhei- oder potentieller Gewebsschädigung die Körperwelt eingeordnet werden als halten, was wir in Aussagen über den Ge- ten. Die Beurteilungen haben einen wesent- verknüpft ist. Das Schmerzerleben um- Ausdruck einer Selbstregulation des Or- genstand aussagen können. Es sind die not- lichen Einfluss auf das Erleben. So besteht fasst die somatische Sinnesverarbeitung ganismus; weil die Natur als vollständige wendigen und beliebigen Eigenschaften beispielsweise in gewissen Kulturen die und das unangenehme Gefühl, das die Ordnung verstanden wurde, konnte auch sowie die Assoziationen, die wir mit dem Meinung, dass eine Geburt sehr schmerzhaft Beurteilung eines aktuellen oder po- der in sie eingeordnete körperliche Begriff verbinden. sei (wie bei den Italienern) und in anderen tentiellen körperlichen oder seelischen Schmerzvorgang als gut, das heißt, als Kulturen hält man die Geburt für weniger Schadens begleitet. Die Beurteilung zweckhaft, als Funktion begriffen und in Die einfache Frage: „Sind Magenschmerzen schmerzhaft (wie bei den Iren). Sollte eine eines Schmerzes erfolgt analytisch- seiner Funktionsweise erforscht werden. 1. äußerst schmerzhaft, 2. sehr schmerz- Schwangere erste Wehen verspüren, so rational in Hinsicht auf seine Schmerz- 18 19
haftigkeit und reflexiv-emotional in Ob die Unterscheidung in eine analytisch- hilflos, im ewigen Dunkel, tastend durch das eine reflexiv-emotionale Form des Schmerz- Hinsicht auf seine Schmerzlichkeit. rationale und eine reflexiv-emotionale Form Leben bewegt. Unter dieser Vorstellung erlebens und die Definition des Untersu- des Schmerzerlebens, zwischen der Schmerz- wird dann auch die Blindheit als schmerz- chungsgegenstandes als Untersuchung des haftigkeit und der Schmerzlichkeit des haft erlebt. Schließlich kamen wir zum Schmerzerlebens in der differenzierenden Es hat sich als nützlich erwiesen, eine neue Schmerzerlebens, auch für Patienten unse- Ergebnis: Unterscheidung zwischen Schmerzhaftigkeit Klassifikation des Schmerzerlebens einzufüh- rer abendländischen Kulturen sinnvoll ist, und Schmerzlichkeit des Schmerzerlebens ren. Wir unterscheiden zwischen der ana- dies sollte durch eine Untersuchung bei ist die Vorwegnahme der Ergebnisse unse- lytisch-rationalen und der reflexiv-emotio- deutschen Probanden und ihrer Meinung Das Verhalten, Ereignisse des Lebens rer Untersuchung. Sie wird an dieser Stelle nalen Form des Schmerzerlebens, zwi- zum Krankheitserleben von Erblinden, analytisch-rational oder reflexiv-emotio- vorgegeben, damit die Richtung erkennbar schen der Schmerzhaftigkeit und der Blindheit, Geistesschwäche und Taubheit nal zu bewältigen, beeinflusst das Erle- ist, in der sich die weiteren Erläuterungen Schmerzlichkeit des Schmerzerlebens. geklärt werden (Kap. 3.3: Schmerzbegriff in ben des Schmerzes. zum Schmerzerleben in verschiedenen Kul- Deutschland: Vielfalt der Erlebnisformen). turen bewegen. Aus welchen Untersuchun- Diese Krankheiten wurden gewählt, weil sie gen wir diese Ergebnisse hergeleitet haben, Bei unseren transkulturellen ethnomedi- nach Meinung der Ärzte in analytisch-ratio- Die klassifizierende Unterteilung des Schmerz- dies wird erst in den folgenden Kapiteln zinischen Untersuchungen stellten wir naler Sicht nicht schmerzhaft sind. Unter phänomens in eine analytisch-rationale und beschrieben und bewiesen werden. fest, dass die Heiler mit ihren traditio- reflexiv-emotionalen Aspekten sind sie aller- nellen Heilmethoden in hervorragender dings als schmerzlich einzustufen. Die The- Weise das Krankheitserleben ihrer Pa- se lautete also, wenn auch unter deutschen tienten beeinflussen können. Die Kran- Probanden eine Differenz zwischen diesen Analytische und reflexive Urteile ken haben oft vor und nach der traditio- beiden Formen des Schmerzerlebens vor- nellen Behandlung noch die gleichen handen ist, dann muss sich dieser Unter- körperlichen Krankheiten, allerdings er- schied an den allgemeinen Einstellungen leben sie diese nicht mehr als so be- zum Schmerz gerade bei diesen Erkrankun- drohlich und gefährlich. Sie fürchten gen zeigen. analytisch reflexiv diese nicht mehr, was das Befinden der Kranken deutlich bessert. Die Krankheit Das analytisch-rationale Schmerzerleben rational emotional mag zwar schmerzen, aber sie wird entsteht in der Folge der Frage nach der nicht mehr als schmerzlich empfunden, (rationalen) Ursache des Schmerzes und sie verliert ihre Schmerzlichkeit. der Frage nach dem Ort der Sinnesreizung. Wird beispielsweise die Frage: „Ist Blindheit Umgekehrt verstehen die naturwissen- schaftlich abendländisch ausgebildeten schmerzhaft?“ analytisch-rational beantwor- tet, stellt man sich als Ursache und Ort der Schmerz Ärzte in hervorragender Weise die kör- Sinnesreizung das erkrankte Auge vor und perlichen Krankheitserscheinungen zu be- kommt zu dem Ergebnis: Blindheit ist nicht seitigen und sie können die Schmerzhaf- schmerzhaft. tigkeit einer Krankheit sofort nehmen, räumliche Struktur ästhetische Struktur gleichwohl kann es sein, dass trotz feh- Wird dagegen die Frage: „Ist Blindheit lender Schmerzhaftigkeit die Schmerz- schmerzhaft?“ reflexiv-emotional beantwor- lichkeit einer Erkrankung fortbesteht tet, dann stellt man sich einen blinden Schmerzhaftigkeit Schmerzlichkeit und Patienten – wie chronische Schmerz- Menschen in seiner Lebenswelt vor und re- patienten – weiter unter der Schmerz- flektiert seinen gesamten individuellen Le- lichkeit ihrer Krankheit leiden. benshorizont und sieht, wie er sich mit sei- nem weißen Blindenstock orientierungslos, Abb. 2.2: Der rational-analytische und der reflexiv-emotionale Prozess in der Beurteilung eines schmerzhaften Sinnesreizes 20 21
3 seelische Aspekt des Schmerzes ist weit ge- Reflexion auf dem Lebenshorizont ist dasje- 2. Oder habe ich etwas Falsches gegessen? Schmerzen erleben hend als das bloß subjektive Schmerzerle- nige Verhalten, das die Bedeutung und den Ich weiß, dass ich auf Glutamat und ben dem Patienten überlassen geblieben. Sinngehalt einer Wahrnehmung für das Walnüsse allergisch bin, war vielleicht – Schmerzen Mit den wirksamen Medikamenten setzte ganze Leben, den Lebensweg und die Be- eines der Gerichte mit Glutamat im Ge- sich bei den Ärzten die z.T. noch heute so wältigung des Lebens in den Blick nimmt schmack verstärkt? War etwas Marinier- und ihr individueller Sinn vertretene Meinung durch, dass sich das tes dabei, da Marinade bekanntermaßen und reflektiert. Es ist nicht das Verhalten, das für das Leben – Schmerzerleben bei regelmäßiger und ge- vereinzelt die Ursache einer Schmerzemp- oft Glutamate enthält? wissenhafter Medikamenteneinnahme von findung analysiert. Der Unterschied zwi- 3. Oder habe ich vielleicht doch zu lange selbst bessern werde. schen dem logischen wissenschaftlichen gearbeitet. Bin ich überarbeitet, wie Die Art und Weise, Schmerzen zu erleben, Schmerzbegriff geschulter Ärzte und dem meine Frau immer behauptet? Sollte ich ist vielfältig. Schon unter normalen und ge- allgemein gültigen Schmerzbegriff, den insgesamt kürzer treten? sunden Bedingungen können Schmerzemp- Definition: Erleben 4. Oder bin ich vielleicht wieder zu spät Menschen im Alltag anwenden, und der finden und Schmerzäußerung erheblich und Schmerzerleben entsprechend auch in der deutschen Allge- schlafen gegangen? Das Feiern bis in den schwanken: Von der „Schmerzunempfindlich- meinbevölkerung angewandt wird, besteht frühen Morgen war früher kein Problem, keit“ von Fakiren und Feuerläufern (Kap. 1.2) Schmerzerleben ist eine Unterart des darin, dass der erste logisch und der letztere aber heute? bis zum Gesamtkörperschmerzsyndrom, bei allgemeinen Erlebens. Erleben ist das reflexiv ist. Dies soll an einem Beispiel er- dem jede Faser des Körpers zu schmerzen Gefühl, das die ästhetische Beurteilung läutert werden: scheint. Dazwischen sind alle Stufungen der Reflexion eines Wahrnehmungsin- Was sind also diese Fragen, die bei denkbar. Das Schmerzerleben ist abhängig haltes auf dem individuellen Lebenshin- Viele Leser werden schon eigene Erfah- einem morgendlichen Kopfschmerz re- von den verschiedenen Kulturen; es ist an- tergrund begleitet. In dieser Reflexion rungen mit Schmerzen gesammelt haben flektiert werden? Es sind diejenigen ders zwischen Italienern und Iren, anders werden einerseits die Einzelbeobach- und ebenso vom Unterschied zwischen dem nach der alltäglichen Lebensführung, bei Türken und Deutschen und anders bei tungen und ihre logisch-analytischen Schmerzempfinden und dem Schmerzerle- die Reflexion auf Essen, Trinken, Schla- Juden und Nordamerikanern. Junge Men- Einzelerkenntnisse reflektiert, anderer- ben. Jemand, der morgens aufwacht und fen und Arbeiten und darauf, ob diese schen erleben Schmerzen anders als alte seits und vor allem bestimmt diese Re- schon beim Aufschlagen der Augen fest- Grundaktivitäten des Lebens in einem und Kunsthistoriker wieder ganz anders flexion aber die Spiegelung der Einzel- stellt, dass er von heftigen pochenden Kopf- ausgeglichenen Verhältnis stehen. Eine als Menschen mit einer medizinischen erkenntnisse in ihrer Bedeutung für das schmerzen geplagt wird, wie geht er vor Lebensweisheit, die schon in der medi- Ausbildung (Ärzte und Ärztinnen, Kranken- ganze Leben des einzelnen Menschen. und von welchen Fragen wird er gequält zinischen Lehre des HIPPOKRATES und schwestern und Pfleger). Schmerzen erle- In einer solchen Reflexion kündigt sich werden? Etwa die Frage nach der Lokali- GALENS (Eukrasie der Säfte) verankert ben heißt, sie nicht nur empfinden und wahr- dann entweder ein harmonisches Pas- sation des Schmerzes, und ob sie etwa ein- ist und als erstrebenswert gelehrt wur- nehmen, Schmerzen erleben heißt, ihren sungsgefüge der Einzelbeobachtung auf seitig oder beidseitig sind, und von welcher de. Und warum reflektieren wir diese Sinn und ihre Bedeutung einzuschätzen, die dem Lebenshorizont an, was sich als Art und Qualität: stechend, bohrend, po- Bereiche? Weil es die Grundbedürfnisse sie für den Körper, das Individuum und den Stimmigkeit in einer angenehmen Stim- chend oder gar lanzierend? Oder stellt er des Menschen sind und die Reflexion individuellen Lebensweg haben. mung äußert, oder aber es offenbart sich eher folgende Fragen: methodisch eine Art Lebensbewälti- sich eine Unstimmigkeit, indem sich die gungsstrategie ist, die dem kultivierten Einzelheiten nicht in ein Gesamtbild ein- 1. Habe ich gestern Abend vielleicht ein Menschen gegeben ist, um aus Fehlern Reflexion des Schmerzes und Schaden zu lernen und die unange- passen, was sich als unangenehme Stim- Glas Wein zu viel getrunken? Es schließt auf dem Lebenshorizont mung äußert. Entsprechend ist Schmerz- sich ein Überschlag der genossenen Glä- nehmen Lebenssituationen in Zukunft zu erleben das unangenehme Gefühl, das ser alkoholischer Getränke an, beim ge- vermeiden. Im modernen wissenschaftlichen Schmerz- die Beurteilung der Reflexion einer schulten Arzt kann ein solcher Über- verständnis stehen Schmerzleitung, körper- Schmerzwahrnehmung auf dem Lebens- schlag auch genauer bis in die Gramm liche Schmerzempfindung und Schmerz- horizont begleitet. genossenen Alkohols durchgeführt werden. wahrnehmung, insgesamt also der somati- sche Schmerzbegriff, im Vordergrund. Der 22 23
3.1 ven Urteil, indem die Stimmigkeiten des Vermögen, eine Institution voraus, die sich und sage „Diese Wiese ist grün“, dann be- Grundlage Prozesses beurteilt werden. Denken ist uns nachvollziehbar offenbart auch ohne ge- ziehe ich das sinnlich Gegebene, das Grüne, in seinem wahren Vollzug auf das refle- dacht werden zu müssen. Und um es so- das ich da wahrnehme, auf die Wiese. In des Erlebens: xive Urteil und die dieses Urteil beglei- gleich vorwegzunehmen, damit wir zu allererst diesem Falle fälle ich ein logisches (Erkennt- tenden Stimmungen angewiesen. Den- wissen, worauf die Untersuchung hinaus- nis-) Urteil. Ich sehe das sinnlich Gegebene Dasein als ästhetische ken wird in Stimmungen einbehalten. Es läuft, sei diese Institution benannt. Es ist das immer als Bestimmung des Gegenstandes äußert sich nicht bloß in gedachten Be- ästhetische Urteil, das unser Dasein beglei- „Die Wiese ist grün“. Im zweiten Falle, im Reflexion griffen, es erlebt sich in stimmiger oder tet und über die Daseinskompetenz urteilt. ästhetischen (Erkenntnis-) Urteil, nehme ich unstimmiger Reflexion. Denken erleben das den Sinnen sich Zeigende hinsichtlich heißt, es wahrhaft vollziehen. Im Befin- Kompetenz ist die Fähigkeit, Anforderungen der Weise, wie es mich angeht – wie es Das ästhetische Menschsein den erlebt Denken sich selbst. Erleben zu erfüllen. Lebenskompetenz ist die Fähig- mich als Mensch angeht. ist die Gewissheit wahrhaft zu denken keit, den Anforderungen des Lebens zu ge- Schmerzen sind in ihren somatischen Er- und zu sein. nügen und Leben bewältigen zu können. scheinungsbildern bestens untersucht. In Daseinskompetenz ist die Fähigkeit, die An- Das ästhetische Urteil vollzieht sich un- diesem Buch soll vor allem der Aspekt des forderung des Daseins zu erfüllen, sich zu gedacht und ohne in den Sinnen wahr- Schmerzerlebens dargestellt und bestimmt entäußern und sich ins Befinden zu setzen. genommen zu werden. Aber es äußert werden. Dies setzt ein allgemeines Ver- Das ästhetische Urteil: sich. Die Entäußerung dieses Vermö- ständnis des Erlebens überhaupt voraus Erkenntnis vor allem Denken Das Urteil über die Seins- und Lebenskom- gens und somit dasjenige, was wir sinn- und des Menschseins, das diesem Erleben petenz urteilt über das Verhältnis zwischen lich empfinden und als etwas Bestimm- zu Grunde liegt. Wie wird das Sein des Das klassische Menschenbild wird gedacht den Anforderungen und den Möglichkeiten, tes, etwas Umgrenztes wahrnehmen Menschen gedacht, dass ihm ein Erleben zu in einer Einheit aus Geist – Seele – Leib, diese Anforderungen zu erfüllen. Entschie- können, sind die Stimmungen. Stim- eigen ist? Welche Institution ist das Erleben Denken – Fühlen – Körperempfinden, Ra- den wird über ein Passungsgefüge. Geurteilt mungen sind die wahrnehmbaren Be- und wie äußert es sich? Worin unterschei- tionalität – Emotionalität – Körperlichkeit. wird über die Stimmigkeit (primär über das findlichkeiten, die das Urteil über die den sich Befinden und Erleben? Dieses Menschenbild geht auf die Erfahrung Passungsgefüge und sekundär wie es uns Stimmigkeit zwischen den Anforderun- des Denkens, Fühlens und der Wahrneh- berührt, wie es uns angeht) zwischen den gen und den Möglichkeiten, diese An- mung der Gegenständlichkeit und Materi- Anforderungen des Seins wie des Lebens forderungen zu erfüllen, begleiten. Stim- Dasein als ästhetische Reflexion ist ein alität des Körpers zurück. Das, was erfahren und den verfügbaren nutzbaren Möglich- mungen sind Gegenstände der ästheti- umfassender ganzheitlicher Entwurf, wird, verweist auf die Institutionen, die als Teil keiten, diese Anforderungen zu erfüllen. schen Erkenntnis. der nicht im Denken die höchste Stufe des menschlichen Wesens gedacht werden. Dies geschieht im ästhetischen Urteil. des Menschen sieht, sondern in einer allumfassenden Reflexion, die Denken Im Unterschied zu diesem klassischen Men- Worüber urteilt denn nun das ästhetische und Fühlen als Formen des Erlebens prä- schenbild wagen wir den Entwurf eines Ästhetisch ist alles, was sich auf meinen Urteil? Es urteilt über die Verhältnisse und sentiert. Denken vollzieht sich im Wech- Menschenbildes vor der Erfahrung des Den- Gefühlszustand bezieht, die Art und Passungsgefüge aller verfügbarer, sinnlich selspiel eines Entfaltens der Einheit in kens. Dieser Entwurf verlangt zweierlei: Weise, wie ich durch die Vorstellung, präsenter und erinnerbarer Informationen die Vielheit (Explikation) und eines Zu- Einerseits muss er sich denken lassen, und durch das Sichdarstellen eines Wahr- biologischer, psychischer und sozialer Art. sammenfaltens der Vielheit in die Ein- das heißt, er wird sich durch Begriffe und nehmungsinhaltes, eines Sachverhaltes Deshalb ist dieses Urteil umfassend. Im Ur- heit (Implikation), in einem analytischen Aussagen im Denken präsentieren lassen oder Gegenstandes selber bestimmt teil offenbart sich entweder ein harmoni- und einem reflexiven Prozess. Denken müssen, da wir gewohnt sind, alles und jeg- und gestimmt bin. sches Passungsgefüge, was sich als Stimmig- ist nicht beliebig, sondern auf Richtig- liches, das ist, in unserem Denken zu be- keit in einer angenehmen Stimmung (Lust) keit seiner Äußerungen in den begriffli- stimmen. Andererseits muss er nachvoll- äußert, oder aber es findet sich ein unpas- chen Aussagen und auf Wahrheit ange- ziehbar auch außerhalb des Denkens fass- Alles, was uns sinnlich gegeben ist, können sendes Gefüge, eine Unstimmigkeit, indem wiesen. Das Urteil über die Richtigkeit bar sein und sich den Sinnen offenbaren wir entweder auf den Gegenstand oder auf sich die Einzelheiten nicht in ein Gesamtbild und Wahrheit vollzieht sich im reflexi- können. Ein solcher Entwurf setzt also ein uns selbst beziehen. Sehe ich eine Wiese einpassen, was sich als unangenehme Stim- 24 25
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