Schuldenbremse - Investitionshemmnis oder Vorbild für Europa?
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DOI: 10.1007/s10273-019-2451-7 Zeitgespräch Schuldenbremse – Investitionshemmnis oder Vorbild für Europa? Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor zehn Jahren wurde die Schuldenbremse eingeführt. Seither haben sich die öffentlichen Haushalte deutlich erholt – wohl überwiegend nicht aufgrund der Schuldenbremse. Vielmehr haben der lang anhaltende Aufschwung und dauerhaft niedrige Zinsen zu einem Rückgang der Defizit- und Schuldenquote geführt. Heute steht die Schuldenbremse wieder in der Kritik: Die Defizitgrenze reduziere die Staatsverschuldung auf einen zu niedrigen Wert. Eine niedrige Verschuldungsquote wäre nicht sinnvoll, wenn der Zins für Staatsanleihen langfristig unter der Wachstumrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts liegt. Zudem würde eine höhere Verschuldung das Angebot an sicheren öffentlichen Schuldtiteln und damit das Finanzsystem stabilisieren. Außerdem wird befürchtet, dass die Begrenzung des Defizits Anreize für Politiker setzt, weniger in langfristige Projekte zu investieren. Nicht zuletzt beschneide die Schuldenbremse die Möglichkeit, bei einem konjunkturellen Abschwung zu reagieren. Relativ einfach ließe sich die Kritik auffangen, wenn strukturelle Neuverschuldung in Höhe der Investitionen zugelassen würde (goldene Regel). Clemens Fuest, Klaus Gründler, Niklas Potrafke Für eine nachhaltige Finanzpolitik mit der Schuldenbremse Im Jahr 2009, auf dem Höhepunkt der weltweiten Wirt- kam die Erwartung, dass der demografische Wandel die schaftskrise, hat die deutsche Politik die Verfassungsre- Staatsausgaben in den kommenden Jahrzehnten weiter geln für die öffentliche Verschuldung grundlegend refor- in die Höhe treiben würde. Außerdem galt es, in der kri- miert und die sogenannte Schuldenbremse eingeführt. tischen wirtschaftlichen Lage des Jahres 2009 das Ver- Art. 109 (3) Satz 1 des Grundgesetzes stellt fest: „Die trauen der Kapitalmärkte in die Solidität der deutschen Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich oh- Staatsfinanzen zu stärken. ne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Für den Bund gilt diese Regel als erfüllt, wenn das konjunkturbereinigte Kritik an der Schuldenbremse und Ergebnisse nach Defizit nicht mehr als 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts dem ersten Jahrzehnt (BIP) beträgt. Eventuelle Überschreitungen dieses Be- trags werden in einem Kontrollkonto erfasst und müssen Die Schuldenbremse war allerdings von Anfang an um- ‚konjunkturgerecht‘ (Art. 115 (2) Satz 3 Grundgesetz) zu- stritten. Vier Kritikpunkte standen und stehen bis heute im rückgeführt werden. Für den Bund ist die Einhaltung der Mittelpunkt der Debatte: Schuldenbremse ab 2016 verpflichtend. Die Länder re- geln die Ausgestaltung der Schuldenbremse selbst. Un- • Erstens sei zu wenig Spielraum vorhanden für antizyk- abhängig davon, ob und wie sie dies tun, müssen aber lische Finanzpolitik. auch die Länder ab 2020 ihre Haushalte ausgleichen. • Zweitens sei die Finanzierung öffentlicher Investitionen Diese Reform war eine Reaktion auf wachsende Sorgen mit Schulden anders zu beurteilen als die Finanzierung über die Nachhaltigkeit der deutschen Staatsfinanzen. Die konsumtiver Ausgaben. Staatsverschuldung war im Verhältnis zur Wirtschaftsleis- tung seit den 1970er Jahren immer weiter angestiegen. • Drittens würden ausgeglichene Haushalte dazu führen, 2009 war absehbar, dass 2010 die Schuldenquote 80 % dass die Staatsverschuldungsquote auf Dauer gegen des Bruttoinlandsprodukts überschreiten würde. Hinzu Null konvergiere. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 307
Zeitgespräch Abbildung 1 deutschen Staatsschulden sind wir weit entfernt. Im Jahr Öffentliche Investitionen in Deutschland, 1998 bis 2019 wird die Schuldenquote voraussichtlich die im Ver- 2018 trag von Maastricht verankerte Höchstgrenze von 60 % Bruttoanlageinvestitionen in % des BIP des Bruttoinlandsprodukts unterschreiten. Auch hier gilt, dass wir nicht wissen, wie die Schuldenquote sich oh- % 2,5 ne Schuldenbremse entwickelt hätte. Sicherlich war der Rückgang der Zinsen ein wesentlicher Treiber dieser Ent- 2,0 wicklung, und Wünsche nach Mehrausgaben und Steu- 1,5 ersenkungen wurden wohl eher mit Verweis auf das po- litisch gesetzte Ziel der „schwarzen Null“ abgewehrt als 1,0 mit Verweis auf die Schuldenbremse. Dass die Politik der schwarzen Null im Bundeshaushalt überhaupt so große 0,5 politische Unterstützung fand, hat allerdings mit einem 0,0 breiten Konsens in Politik und Bevölkerung zu tun, dass 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 eine Rückführung der Staatsverschuldung der richtige Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019. Weg ist. Man kann die Einführung der Schuldenbremse auch als Ausdruck dieses politischen Konsenses be- trachten. • Viertens verhindere die Schuldenbremse nicht ein Aus- weichen auf implizite Verschuldung durch Leistungs- Bestätigen muss man allerdings, dass die Politik in den versprechen vor allem der umlagefinanzierten Sozial- letzten Jahren der Versuchung nicht widerstehen konnte, versicherungen. durch neue Leistungsversprechen der umlagefinanzierten Sozialversicherungen – Mütterrente, Rente ab 63, Halte- Heute, zehn Jahre nach der Verabschiedung der Schul- linie für das Rentenniveau von 48 % usw. – die implizite denbremse, sieht ihre Bilanz nicht schlecht aus. Notwen- Staatsverschuldung in die Höhe zu treiben. Auch hier ist dige antizyklische Finanzpolitik hat sie nicht verhindert, schwer abzuschätzen, ob diese Instrumente in geringe- auch wenn man einräumen muss, dass größere Konjunk- rem Umfang genutzt worden wären, wenn die Schulden- turschwankungen in den Jahren seit der globalen Finanz- bremse mehr Raum für explizite Verschuldung eröffnet krise ausgeblieben sind. Die Schuldenbremse bietet je- hätte. doch erhebliche Spielräume für antizyklische Politik, nicht nur durch die Konjunkturbereinigung der Defizitgrenze, Die Schuldenbremse in den Bundesländern sondern auch durch die Möglichkeit, das Ausgleichskon- to zu nutzen. Obwohl die Schuldenbremse für die Bundesländer erst ab dem Jahr 2020 verpflichtend ist, haben einige Bundes- Es ist auch nicht erkennbar, dass notwendige öffentli- länder bereits geregelt, wie sie für ihre Landeshaushalte che Investitionen durch die Schuldenschranke verhindert umgesetzt wird. Mit der Verankerung in den Landesver- wurden. Gesunken sind die öffentlichen Investitionen fassungen oder Haushaltsordnungen können die Landes- in Deutschland1 vor allem vor Einführung der Schulden- regierungen verfügbare Spielräume in der Stringenz des bremse. Seit dem Jahr 2009 haben sie sich eher wieder Neuverschuldungsverbots nutzen. Spielräume ergeben erholt (vgl. Abbildung 1). sich in erster Linie durch die Einführung von Konjunktur- komponenten, Ausnahmeregelungen im Fall von Natur- Natürlich ist unbekannt, wie sich die öffentlichen Inves- katastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, titionen ohne Schuldenbremse entwickelt hätten, aber Vorgaben für Tilgungspläne und die Behandlung von Ex- dass die Ausgaben deutlich schneller gestiegen wären, trahaushalten. ist nicht sehr plausibel, zumal seit Jahren für Investitionen verfügbare Mittel nicht abgerufen werden. Es ist naheliegend zu fragen, wie die Finanzpolitik der Bundesländer, welche die Schuldenbremse früher als an- Die Staatsschuldenquote ist seit ihrem Höchststand 2010 dere auf Landesebene verankert haben, sich entwickelt in der Tat gesunken, aber von einem Verschwinden der hat. In sieben der acht deutschen Bundesländer, die dies getan haben, ist die Schuldenquote danach gesunken. 1 Man könnte hier einwenden, dass die Schuldenbremse für den Bund Nur in Hamburg sank die Verschuldungsquote nicht (vgl. erst ab 2016 und für die Länder erst ab 2020 bindend wird. Der Bund Abbildung 2). In den Bundesländern, welche die Schul- hat seinen Haushalt aber bereits 2014 ausgeglichen. Unter den Bun- desländern haben viele die Schuldenbremse ebenfalls bereits früh in denbremse nicht umgesetzt haben, zeigt die Verschul- ihren Landesverfassungen oder ihren Haushaltsordnungen verankert. dungsquote ebenfalls einen insgesamt fallenden Verlauf Wirtschaftsdienst 2019 | 5 308
Zeitgespräch Zeitgespräch Prof. Dr. Alexander Kriwoluzky leitet © DIW Berlin, Florian Schuh (vgl. Abbildung 3). Dennoch ist die durchschnittliche Ver- die Abteilung Makroökonomie am DIW schuldungsquote in den Bundesländern mit Verankerung Berlin und ist Professor für Makroöko- der Schuldenbremse in der Verfassung insgesamt gerin- nomie an der Freien Universität Berlin. ger (27,0 %) als in Bundesländern ohne Verankerung in der Verfassung (31,5 %). Auch fiel der Rückgang der Ver- schuldungsquote innerhalb der letzten fünf Jahre in Län- dern mit Schuldenbremse in der Verfassung leicht höher Dr. Claus Michelsen leitet die Abtei- lung Konjunkturpolitik am DIW Berlin und lehrt an der Universität Potsdam. Autoren des Zeitgesprächs Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Fuest Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor ist Präsident des ifo Instituts und des Instituts der deutschen Wirtschaft Professor für Volkswirtschaftsleh- (IW) in Köln und Hochschullehrer an re, Lehrstuhl für Nationalökonomie der European Business School in und Finanzwissenschaft, an der Oestrich-Winkel. Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Klaus Gründler ist stellvertre- Prof. Dr. Peter Bofinger ist Lehrstuhl- tender Leiter des ifo Zentrums für inhaber für VWL I, Geld und internati- öffentliche Finanzen und politi- onale Wirtschaftsbeziehungen an der sche Ökonomie des ifo Instituts in Universität Würzburg. München. Prof. Dr. Niklas Potrafke leitet Prof. Dr. Dr. h. c. Lars P. Feld ist das ifo Zentrum für öffentliche Direktor des Walter Eucken Instituts, Finanzen und politische Ökonomie Professor für Wirtschaftspolitik an der und lehrt an der Ludwig-Maximili- Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ans-Universität München. und Mitglied des Sachverständigen- rats zur Begutachtung der gesamtwirt- schaftlichen Entwicklung. Prof. Dr. Marcel Fratzscher ist Dr. Wolf Heinrich Reuter ist General- Hochschullehrer an der Humboldt- sekretär des Sachverständigenrats zur Universität zu Berlin und Präsident Begutachtung der gesamtwirtschaftli- des Deutschen Instituts für Wirt- chen Entwicklung. schaftsforschung (DIW) in Berlin. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 309
Zeitgespräch Abbildung 2 Verschuldung der Länder mit Schuldenbremse in der Verfassung Verschuldung in % des Bruttoinlandsprodukts % Bayern % Bremen % Hamburg % Hessen 12 80 30 25 10 60 25 20 8 40 20 15 15 6 20 10 4 0 10 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 Mecklenburg-Vorpommern Rheinland-Pfalz Sachsen Schleswig-Holstein % % % % 25 40 35 40 20 30 30 30 25 15 20 10 20 10 20 15 5 0 10 1990 2000 2010 2020 1990 2000 2010 2020 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 Daten zur Verschuldung spiegeln Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts wider und beinhalten Kernbudgets und Extrahaushalte. Die gestrichelte Linie gibt den Zeitpunkt an, zu dem die Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wurde. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019. Abbildung 3 Verschuldung der Länder ohne Schuldenbremse in der Verfassung Verschuldung in % des Bruttoinlandsprodukts % Baden-Württemberg % Berlin % Brandenburg % Niedersachsen 18 80 40 30 16 60 25 30 14 40 20 12 20 20 15 10 10 8 0 10 1990 2000 2010 2020 1990 2000 2010 2020 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 % Nordrhein-Westphalen % Saarland % Sachsen-Anhalt % Thüringen 50 50 50 50 40 40 40 40 30 30 30 30 20 20 20 20 10 10 10 10 1990 2000 2010 2020 1990 2000 2010 2020 70 80 90 00 10 20 70 80 90 00 10 20 19 19 19 20 20 20 19 19 19 20 20 20 Daten zur Verschuldung spiegeln Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts wider und beinhalten Kernbudgets und Extrahaushalte. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019. Wirtschaftsdienst 2019 | 5 310
Zeitgespräch aus (-21,3 % gegenüber -18,7 % in Ländern ohne Schul- Abbildung 4 denbremse in der Verfassung).2 Vergleich der Bundesländer mit und ohne Verankerung der Schuldenbremse in der Verfassung Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung der Schul- Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und öffentliche Investitionen in Sachanlagen der Bundesländer, 2018 denquoten nicht ohne weiteres als Folge der Umsetzung der Schuldenbremse betrachtet werden kann. Es ist mög- BIP Sachinvestitionen Euro/Kopf Euro/Kopf Mio. Euro gesamt lich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass eine vorgezoge- 150 600 ne Umsetzung der Schuldenbremse vor allem in den Bun- 40 000 desländern politische Unterstützung erfuhr, in denen dies ohne größere Anpassungen in den Landeshaushalten 30 000 100 400 möglich war. Wie Abbildung 4 illustriert, waren es eher die wohlhabenderen Bundesländer, die die Schuldenbremse 20 000 früh umgesetzt haben. Die Investitionen waren ebenfalls 50 200 höher als in den Bundesländern, die 2018 die Schulden- 10 000 bremse noch nicht umgesetzt hatten. 0 0 0 Nicht Verankert Nicht Verankert Nicht Verankert Wie ist die Anwendung der Schuldenbremse auf die Verankert Verankert Verankert deutschen Bundesländer zu beurteilen? Gegen strikte Quellen: Bundesministerium der Finanzen, 2019; Statistisches Bundes- Verschuldungsregeln in den deutschen Bundesländern amt, 2019; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2019. Alle Da- könnte sprechen, dass die deutschen Landesregierun- ten beziehen sich auf das Jahr 2018. gen kaum Steuerautonomie haben. Sie können nur die Grunderwerbsteuersätze selbst bestimmen. Das Grund- erwerbsteueraufkommen ist mit ca. 13 Mrd. Euro pro Jahr recht gering. Durch strikte Verschuldungsregeln verlieren die Politik sie nur so lange einhält, wie es ohne größere die Länder ein wichtiges Instrument zur Generierung von Anstrengungen möglich ist. Das würde bedeuten, dass Staatseinnahmen und büßen so Autonomie ein.3 Eine die Vorteile aus der deutschen Schuldenbremse über- überzeugende Lösung dieses Problems wäre jedoch nicht schätzt werden. Tatsächlich spricht die vorliegende Evi- ein Verzicht auf die Schuldenbremse, sondern eine Erwei- denz zu den Effekten von Fiskalregeln gegen diese These. terung der Steuerautonomie der Länder, beispielsweise Im internationalen Kontext und auch innerhalb anderer durch Zu- und Abschlagsrechte bei der Einkommen- und Bundesstaaten wie den USA sind die Auswirkungen von Körperschaftsteuer.4 Letztlich ist eine Einbeziehung der unterschiedlichen Fiskalregeln in einer großen Zahl von Bundesländer in die Verschuldungsregeln unumgänglich, Studien analysiert worden. Eine Meta-Studie zu Effekten einerseits um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ins- von Fiskalregeln legt nahe, dass Fiskalregeln insbeson- gesamt zu sichern, andererseits um sicherzustellen, dass dere Primärdefizite, im Schnitt um ca. 1,2 % bis 1,5 % des die rechtlichen Verpflichtungen, die Deutschland im Rah- Bruttoinlandsprodukts eines Landes, reduziert haben.5 men der europäischen Verschuldungsregeln eingegan- Eine neue Studie von Asatryan et al. zeigt überdies, dass gen ist, eingehalten werden. die Staatsverschuldungsquoten in Ländern, die Fiskal- regeln in ihren Verfassungen verankert haben, um ca. Internationale Evidenz zu Wirkungen von 11 Prozentpunkte niedriger waren als in Ländern ohne Fis- Fiskalregeln kalregeln in ihren Verfassungen.6 Kritiker von Fiskalregeln behaupten immer wieder, derar- Viele dieser Studien stehen vor der Herausforderung, tige Regeln würden letztlich kaum Wirkung entfalten, weil den kausalen Effekt von Fiskalregeln auf die betrachte- ten abhängigen Variablen wie Ausgaben, Defizite oder 2 Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2017, dem letzten Zeitpunkt, Staatsverschuldungsquoten empirisch sauber zu iden- zu dem das Statistische Bundesamt Daten vorliegen hat. tifizieren. Offen bleibt in einigen Studien, ob nicht ledig- 3 G. Kirchgässner: The debt brake of the German states: a faulty de- sign, in: Constitutional Political Economy, 28. Jg. (2017), H. 3, S. 257- lich eine Korrelation zwischen den Fiskalregeln und den 269. betrachteten abhängigen Variablen wie Ausgaben, Defi- 4 Die Variation in den Grunderwerbsteuersätzen zwischen den Bun- desländern und innerhalb einzelner Bundesländer nach Regierungs- wechseln zeigt, wie unterschiedlich insbesondere parteipolitisch 5 F. Heinemann, M.-C. Moessinger, M. Yeter: Do fiscal rules constrain anders zusammengesetzte Landesregierungen seit 2007 von ihrer fiscal policy? A meta-regression analysis, in: European Journal of Po- Möglichkeit Gebrauch machen, die Gewerbesteuersätze frei zu wäh- litical Economy, 51. Jg. (2018), H. C, S. 69-92. len, vgl. dazu M. Krause, N. Potrafke: The real estate transfer tax and 6 Z. Asatryan, C. Castellón, T. Stratmann: Balanced budget rules and government ideology: Evidence from the German states, CESifo Wor- fiscal outcomes: Evidence from historical constitutions, in: Journal of king Paper, Nr. 6491, 2017. Public Economics, 167. Jg. (2018), S. 105-119. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 311
Zeitgespräch ziten oder Staatsverschuldungsquoten beschrieben wird. Wahlen zu drücken.10 In den ostdeutschen Bundeslän- Zu vermuten ist beispielsweise, dass sich insbesondere dern gab es auch Wahleffekte in der Finanzplanung, ein Staaten, deren Finanzpolitik bereits nachhaltig aufgestellt Ergebnis, das für die Einrichtung der in den Ländern dis- ist, für strikte Fiskalregeln entscheiden. Beides, die nach- kutierten Konjunkturkomponente bedeutsam sein kann.11 haltige Finanzpolitik und die Entscheidung für strikte Fis- Empirische Evidenz für Industrieländer zeigt, dass Regie- kalregeln, könnte überdies durch dritte Variablen beein- rungen insbesondere vor Wahlen verstärkt Ausgaben aus flusst sein. Eine neue, empirisch vielversprechende Un- den Kern- in Extrahaushalte transferiert haben, um ihre tersuchung unter Verwendung der neuen synthetischen Haushaltsdefizite kleinzurechnen.12 Kontrollmethode misst den Effekt besonders strikter Haushaltregeln im US-Bundesstaat Colorado auf dessen Die durch politische Konjunkturzyklen hervorgerufene Ver- Finanzpolitik. Den Bundesstaat Colorado hatten die Au- wendung von Staatsausgaben, mit der Folge von Defiziten, toren deshalb gewählt, weil das dortige Programm „Tax- ist oftmals ineffizient. Schließlich sind die Staatsausgaben payer Bill of Rights“ (TABOR) als besonders strikt gilt. Die in diesem Fall nicht auf die Überwindung von Marktver- Ergebnisse legen nicht nahe, dass die Fiskalregeln einen sagen oder Rezessionen zurückzuführen, sondern allein Effekt auf die Ausgaben in Colorado hatten.7 Doch zeigt durch das Heranrücken der nächsten Wahl und die Ver- die Studie auch, dass es den Regierungen in Colorado teilung von Wahlgeschenken motiviert. Strikte Schulden- trotz der ausgewiesenen Stringenz der Fiskalregeln ge- bremsen können folglich helfen, solche politischen Kon- lungen ist, diese zu umgehen. Ein wesentliches Problem junkturzyklen einzudämmen oder gar zu verhindern. bei Fiskalregeln ist in der Tat, dass politische Entschei- dungsträger Anreize haben, die Regeln, die gegebenen- Parteipolitische Unterschiede beim Verankern der Schul- falls von politisch ungeliebten Vorgängerregierungen im- denbremse in den Landesverfassungen der deutschen plementiert wurden, zu umgehen. Bundesländer gab es bislang zwischen CDU/CSU und SPD (die in der Mehrzahl der Bundesländer die Minister- Ein in der öffentlichen Debatte bislang wenig beachtetes präsidenten stellen) kaum. Im öffentlichen Diskurs zum Argument für Fiskalregeln wie die Schuldenbremse ist, Umgang mit der Schuldenbremse war dies in den ver- dass sie Wähler vor politischer Manipulation schützen gangenen Jahren nicht durchweg der Fall, die SPD war können. Eine neue empirische Studie von Gootjes et al. oftmals deutlich ablehnender als CDU/CSU.13 Im interna- zeigt, dass Fiskalregeln politische Konjunkturzyklen ein- tionalen Vergleich ist bislang nicht erforscht, wie sich par- dämmen.8 Die Theorie der politischen Konjunkturzyklen teipolitische Zusammensetzungen von Regierungen auf beschreibt, dass Regierungen vor Wahlen expansive Wirt- das Implementieren von Fiskalregeln auswirken. schaftspolitiken betreiben, um wiedergewählt zu werden. Zu expansiven Wirtschaftspolitiken gehören vornehmlich Schuldenbremse ein finanzpolitischer Erfolg Steigerungen der Staatsausgaben, die nicht selten über Neuverschuldung finanziert werden. Die auf den Nobel- Insgesamt kommen wir zu dem Urteil, dass die deutsche preisträger William Nordhaus zurückgehende Theorie Schuldenbremse als ein finanzpolitischer Erfolg anzusehen zeigt auf, wie Amtsinhaber durch Wahlgeschenke Wäh- lerstimmen zu kaufen suchen.9 Sie ist in mittlerweile eini- 10 M. Mechtel, N. Potrafke: Electoral cycles in active labor market poli- gen tausend Studien auf zahlreiche Anwendungen über- cies, in: Public Choice, 156. Jg. (2013), H. 1-2, S. 181-194. Für weitere tragen und empirisch geprüft worden. Für die deutschen Studien siehe beispielsweise C. Schneider: Fighting with one hand Bundesländer zeigten sich politische Konjunkturzyklen tied behind the back: political budget cycles in the West German sta- tes, in: Public Choice, 142. Jg. (2010), H. 1, S. 125-150; B. Jochimsen, beispielsweise in der Verwendung von Arbeitsbeschaf- R. Nuscheler: The political economy of the German Länder deficits: fungsmaßnahmen (ABM), um die Arbeitslosenquoten vor Weak governments meet strong finance ministers, in: Applied Econo- mics, 43. Jg. (2011), H. 19, S. 2399-2415; und B. Kauder, M. Krause, N. Potrafke: Electoral cycles in MPs’ salaries: Evidence from the German 7 P. Eliason, B. Lutz: Can fiscal rules constrain the size of government? states, in: International Tax and Public Finance, 25. Jg. (2018), H. 4, An analysis of the „crown jewel“ of tax and expenditure limitations, in: S. 981-1000. Journal of Public Economics, 166. Jg. (2018), H. C, S. 115-144. 11 B. Kauder, N. Potrafke, C. Schinke: Manipulating fiscal forecasts: Evi- 8 Die Studie von Gootjes et al. basiert auf Daten für 70 Demokratien im dence from the German states, in: FinanzArchiv/Public Finance Ana- Zeitraum von 1984 bis 2015. In Ländern ohne jegliche Fiskalregeln war lysis, 73. Jg. (2017), H. 1, S. 213-236. das Haushaltsdefizit gemessen am Bruttoinlandsprodukt vor Wahlen 12 M. Reischmann: Creative accounting and electoral motives: evidence ca. 0,5 Prozentpunkte größer als in anderen Jahren der Legislaturpe- from OECD countries, in: Journal of Comparative Economics, 44. Jg. riode. In Ländern mit (strikteren) Fiskalregeln war das Haushaltsdefizit (2016), H. 2, S. 243-257. Zu Extrahaushalten in EU-Ländern vgl. auch vor Wahlen nicht signifikant größer als in anderen Jahren der Legisla- J. von Hagen, G. Wolff: What do deficits tell us about debt? Empirical turperiode; vgl. B. Gootjes, J. de Haan, R. Jong-A-Pin: Do fiscal rules evidence on creative accounting with fiscal rules in the EU, in: Journal constrain political budget cycles?, Präsentiert auf dem Jahresreffen of Banking and Finance, 30. Jg. (2006), H. 12, S. 3259-3279. der European Public Choice Society, Jerusalem, 1.-4.4.2019. 13 Vgl. N. Potrafke, M. Riem, C. Schinke: Debt brakes in the German 9 W. Nordhaus: The political business cycle, in: Review of Economic states: Governments’ rhetoric and actions, in: German Economic Re- Studies, 42. Jg. (1975), H. 2, S. 169-190. view, 17. Jg. (2016), H. 2, S. 253-275. Wirtschaftsdienst 2019 | 5 312
Zeitgespräch ist, und dass zumindest derzeit kein Grund besteht, sie in- Bislang ist es dem deutschen Staat unter anderem mit frage zu stellen. Die in der deutschen finanzpolitischen De- Hilfe der Schuldenbremse gelungen, seine Finanzpolitik batte derzeit vorgetragene Kritik an dieser Fiskalregel ist insgesamt nachhaltig auszugestalten.15 Dies gilt weitge- überzogen. Die Schuldenbremse ist Teil einer finanzpoliti- hend auch für die Finanzpolitik in den deutschen Bundes- schen Strategie, die konsequent auf solide Staatsfinanzen ländern.16 Das gegenwärtig niedrige Zins-/Wachstumsdif- setzt und an den Finanzmärkten durch exzellente Finanzie- ferenzial hilft, die Staatsfinanzen nachhaltig aufzustellen. rungskonditionen belohnt wird. Eine rationale Politik öffent- Entwicklungen wie der demografische Wandel stellen licher Investitionen gehört ebenfalls zu solider Finanzpolitik, die deutsche Finanzpolitik aber vor große Herausforde- aber die These, die Schuldenbremse würde dem im Weg rungen.17 Wenn die Schuldenbremse dazu beiträgt, die stehen, überzeugt nicht. Bislang ist nicht erkennbar, dass deutsche Staatsverschuldung in den kommenden Jahren die deutsche Schuldenbremse zu ineffizient niedrigen öf- weiter abzubauen, werden wichtige Spielräume geschaf- fentlichen Investitionen oder mangelnder finanzpolitischer fen, um die erheblichen demografisch bedingten Heraus- Stabilisierung geführt hat. Der Rückgang der Staatsver- forderungen für die deutschen Staatsfinanzen zu bewäl- schuldungsquote in den letzten zehn Jahren von 80 % auf tigen. heute 60 % ist ein wichtiger Erfolg, auch wenn man nicht behaupten kann, dieser Rückgang sei allein durch die Schuldenbremse bedingt. Aus der positiven Entwicklung der deutschen Staatsfinanzen seit Einführung der Schul- denschranke folgt auch nicht, dass andere Fiskalregeln wie etwa Ausgabenregeln oder Nettoinvestitionsregeln not- wendigerweise schlechter sind. Aber es ist nicht erkennbar, dass ein Ersatz der Schuldenbremse in Deutschland durch 15 A. Greiner, U. Koeller, W. Semmler: Testing the sustainability of Ger- derartige Regeln heute eindeutige Vorteile hätte.14 man fiscal policy: evidence for the period 1960-2003, in: Empirica, 33. Jg. (2006), H. 2-3, S. 127-140. 16 Vgl. z. B. N. Potrafke, M. Reischmann: Fiscal transfers and fiscal sus- 14 In Benassy et al. wird vorgeschlagen, in der Europäischen Wäh- tainability, in: Journal of Money, Credit and Banking, 47. Jg. (2015), rungsunion zu Ausgabenregeln überzugehen. Dieser Vorschlag ist H. 5, S. 975-1005; H. T. Burret, L. P. Feld, E. Köhler: (Un-)sustainability allerdings Teil eines umfassenden, sorgfältig austarierten Reformvor- of public finances in German Laender: A panel time series approach, schlags. Wenn das Gesamtpaket umgesetzt würde, sollte Deutsch- in: Economic Modelling, 53. Jg. (2016), S. 254-265. land sich der Neuordnung der europäischen Verschuldungsregeln 17 Vgl. z. B. M. Werding: Demographischer Wandel, soziale Sicherung nicht verschließen. Vgl. A. Bénassy, M. Brunnermeier, H. Enderlein, E. und öffentliche Finanzen: Langfristige Auswirkungen und aktuel- Farhi, M. Fratzscher, C. Fuest, P.-O. Gourinchas, P. Martin, J. Pisani- le Herausforderung, Studie für die Bertelsmann Stiftung, 2018, htt- Ferry, H. Rey, I. Schnabel, N. Véron, B. Weder di Mauro, J. Zettelmey- ps://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikatio- er: Reconciling risk sharing with market discipline: A constructive ap- nen/GrauePublikationen/DemoWandel_Werding__2018_final3.pdf proach to euro area reform, CEPR Policy Insight, Nr. 91, Januar 2018. (9.5.2019). Marcel Fratzscher, Alexander Kriwoluzky, Claus Michelsen Gut investierte Schulden sind eine Entlastung in der Zukunft Das finanzpolitische Prestigeprojekt der 2000er Jahre – im Jahr 2020 und verbietet erst dann jede zusätzliche Kre- die Schuldenbremse – ist zuletzt heftig in die Kritik gera- ditaufnahme. Die Schuldenregel, so wird häufig argumen- ten. Der Staat fährt auch dank niedriger Finanzierungs- tiert, kann so überhaupt nicht negativ auf die öffentlichen kosten seit geraumer Zeit satte Überschüsse ein. Die Ausgaben, insbesondere die Investitionstätigkeit, gewirkt Schuldenstandsquote ist binnen weniger Jahre von etwa haben. Vielmehr datiert der Rückgang der öffentlichen 80 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf nun rund 60 % Investitionen lange vor Einführung der Schuldenbremse.2 gesunken. Die durch die Verfassung gesicherte Ober- Warum also die Debatte um eine Schuldenregel, wenn grenze einer strukturellen Neuverschuldung von 0,35 % überhaupt keine Verbindlichkeiten entstehen müssen, um des BIP beim Bund liegt auch 2019 in weiter Ferne. In die staatlichen Aufgaben zu erfüllen? diesem Jahr hätte der Bund Spielraum für zusätzliche Schulden in der Größenordnung von circa 11,5 Mrd. Eu- ro.1 Für Länder und Kommunen greift die Bremse gar erst 2 D. I. Christofzik, L. P. Feld, M. Yeter: Öffentliche Investitionen: Wie viel 1 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Konjunktur deutlich abge- ist zu wenig?, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik, kühlt – Politische Risiken hoch, Frühjahrsgutachten 2019, S. 1-60. Nr. 19/02, 2019. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 313
Zeitgespräch Diese Argumentation greift aus unterschiedlichen Grün- würde zu einem langfristigen Abbau des Schuldenstands den zu kurz: auf circa 12 % des BIP führen. In dem Beispiel von Aiya- gari und McGrattan4 stehen außerdem Staatsanleihen mit 1. Es ist alles andere als klar, dass die Schuldenbremse einer positiven realen Verzinsung zur Verfügung. keinerlei Auswirkungen hätte – gerade auf die Investi- tionstätigkeit. Für eine Beurteilung dessen fehlt es an Positive Verzinsungen sind für deutsche Staatsschulden einem geeigneten kontrafaktischen Vergleich. in den letzten Jahren nicht mehr zu beobachten. Bevor die Gründe für die niedrige Verzinsung diskutiert werden, 2. Es gibt selbstverständlich auch Wechselbeziehungen soll allerdings der Zusammenhang zwischen dem Preis zwischen den Finanzen der unterschiedlichen födera- einer Anleihe und deren Verzinsung in Erinnerung geru- len Ebenen. Wenn die Entschuldung des Bundes mit fen werden. Für den Käufer einer Anleihe mit festgelegtem einer Aufgabenverlagerung auf andere Ebenen erkauft Auszahlungsbetrag ist deren Verzinsung umso höher, je wird, dann schmälert dies den Handlungsspielraum günstiger die Anleihe erworben werden kann. Die Folgen dort – insbesondere den Kommunen wurden zusätz- der Finanz- und Staatsschuldenkrise hat die Nachfrage liche, teilweise konjunkturreagible, Aufgaben über- nach sicheren Anleihen ansteigen lassen, der sogenann- tragen, beispielsweise im Rahmen des Sozialgesetz- te „safe-haven“-Effekt. Des Weiteren hat die Europäische buchs II, den Kosten der Unterkunft oder im Asylbe- Zentralbank im Zuge des Programms für den erweiterten werberleistungsgesetz. Dies schmälert in konjunkturell Ankauf von Vermögenswerten vermehrt deutsche Staats- schwachen Phasen die Handlungsspielräume für In- anleihen gekauft. Beides führte zu einem Anstieg der vestitionen zusätzlich. Mittelfristig führen ausbleiben- Preise deutscher Staatsanleihen und damit zu einem Sin- de Investitionen zu einem Verlust an Wettbewerbsfä- ken der Verzinsung. Zusätzlich hat Deutschland in letz- higkeit und einem geringeren Wachstumspotenzial. ter Zeit keine neuen Schuldtitel auf den Markt gebracht. Durch die Verknappung des Angebots stieg der Preis der 3. Die Schuldenbremse schreibt eine langfristige Ent- Anleihen weiter und die Verzinsung sank auf das derzei- schuldung der öffentlichen Hand vor. Es ist alles an- tige niedrige, teilweise negative Niveau. Dadurch erfüllen dere als klar, ob dieses Niveau optimal ist: Eine Regel Staatsanleihen die Funktion als sicheres Anlageobjekt für von Verfassungsrang scheint zumindest eine sehr star- die Haushalte seit ein paar Jahren schon nicht mehr. ke Bindung der zukünftigen Finanzpolitik zu sein, die nur wenige Spielräume lässt, um Zukunftsinvestitionen Domeij und Ellingsen5 zeigen, dass das Fehlen von zu tätigen. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil Staats- Staatsanleihen als sichere Anlagen zu Vermögenspreis- schulden auch eine stabilisierende Funktion für das Fi- blasen führen kann. Der Hauptgrund für das Entstehen nanzwesen erfüllen. der Preisblasen ist das Vorsorgemotiv der Haushalte, die ihr Konsumniveau in der Zukunft halten möchten. Das in- Die Rolle der Staatsschulden in der Ökonomie teressante an dieser Betrachtung ist, dass sich Haushal- te in die Preisblase einkaufen, obwohl sie wissen, dass Staatsanleihen, und damit Schulden des Staates, spielen es sich um eine Preisblase handelt. Sie rechnen lediglich eine zentrale Rolle in einer entwickelten Volkswirtschaft. damit, die Anlage noch rechtzeitig verkaufen zu können. Es sind die einzigen Anleihen, die als risikolos eingestuft Diese vorläufigen makroökonomischen Überlegungen werden können. Dadurch können Staatsanleihen zum zeigen, dass eine Schuldenbremse, die zu einem zu nied- einen als Sicherheit von Geschäftsbanken bei der Zen- rigen Stand der Staatsschulden führt, nicht nur ökono- tralbank hinterlegt werden – sie ermöglichen somit die misch nicht optimal ist, sondern dass sie gerade in Kri- Abwicklung der Geldpolitik. Zum anderen erfüllen Staats- senzeiten zu der Bildung von Preisblasen beitragen kann. anleihen aber auch die Funktion, dass sie von allen Haus- halten in der Ökonomie als sicheres Anlageobjekt gekauft Rückgang der Staatsschulden aufgrund fehlender werden können. Haushalte benötigen ein sicheres Anla- Investitionen geobjekt, um sich gegen unvorhergesehene Ereignisse abzusichern. Es ist deswegen in keinem ökonomischen Das geringe Angebot an öffentlichen Schuldtiteln ist unter Modell der Fall, dass das optimale Niveau der Staats- anderem auf eine niedrige Investitionstätigkeit des Staats schulden gering ist. Aiyagari und McGrattan3 zeigen et- wa, dass das optimale Verschuldungsniveau bei etwa zwei Drittel des BIP liegt. Die derzeitige Schuldenbremse 4 Ebenda. 5 D. Domeij T. Ellingsen: Rational bubbles and public debt policy: A 3 S. R. Aiyagari, E. R. McGrattan: The optimum quantity of debt, in: quantitative analysis, in: Journal of Monetary Economics, 96. Jg. Journal of Monetary Economics, 42. Jg. (1998), H. 3, S. 447-469. (2018), S. 109-123. Wirtschaftsdienst 2019 | 5 314
Zeitgespräch Abbildung 1 Nettoanlageinvestitionen und Nettobauinvestitionen nach staatlichen Teilsektoren in Mrd. Euro ohne Sozialversicherungen Nettoanlageinvestitionen Nettobauinvestitionen Mrd. Euro Mrd. Euro 20 20 15 15 10 10 5 5 0 0 -5 -5 - 10 - 10 1991 2017 18 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 2099 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 1992 1993 1994 1995 1996 1997 2008 2009 2010 2011 1998 2099 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2012 2013 2014 2015 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2016 2017 18 19 19 Bund Länder Gemeinden Bund Länder Gemeinden Quelle: Statistisches Bundesamt. zurückzuführen. Bei allen Problemen der Messung6 sind Möglichkeiten schmälert, wichtige Zukunftsinvestitionen Nettoinvestitionen ein guter Indikator, um die Wertent- zu tätigen, bestehende Infrastrukturen zu erhalten, aber wicklung des öffentlichen Vermögens zu beobachten (vgl. auch Gemeindesteuern anzupassen. Es kann bezweifelt Abbildung 1). Und hier zeigt sich, dass der Staat über viele werden, dass die Kommunen mit hohen Schulden diese Jahre den Wertverfall des Kapitalstocks in Kauf genom- so schnell wieder abbauen können, selbst in einem Um- men hat. Vor allem die schwachen kommunalen Investitio- feld mit sehr niedrigen Zinsen. Gleichzeitig sind diese Ge- nen sind dabei ein Problem: Kommunen sind in Deutsch- meinden besonders durch Kosten aus sozialen Leistun- land die größten öffentlichen Investoren – mehr als die gen belastet. Ohne die Hilfe des Bundes oder der Länder Hälfte aller Aufwendungen werden von Kommunen geleis- scheint es ein schwieriges Unterfangen, umfangreichere tet. Besonders hoch ist der Anteil der Städte und Gemein- Investitionen bei den Kommunen anzuregen. den an den Bauinvestitionen. Hier werden gut 70 % aller Vorhaben durch Kommunen geleistet. Angesichts der lan- Investitionstätigkeit der Kommunen stärken und gen Zurückhaltung hat sich ein Instandhaltungsstau in be- Angebot sicherer Anleihen erhöhen trächtlichem Maße aufgebaut. Zudem sollen Kommunen wichtige Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und Weitgehend herrscht Konsens darüber, dass die Inves- im Bildungswesen abdecken: Gerade der Zustand vieler titionstätigkeit der Kommunen zu schwach ist und der Schulen7 und das nach wie vor zu geringe Betreuungsan- Bedarf gleichzeitig groß. Dabei gibt es erhebliche regio- gebot in Kindertagesstätten wird als besonders proble- nale Unterschiede hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der matisch angesehen. Nach offiziellen Statistiken über das Kommunen und ihren Möglichkeiten, zusätzliche Mittel Angebot und die rechnerischen Ansprüche auf Kinder- für Investitionen freizumachen.8 Zwar sind die Kommu- tagesbetreuung fehlen bundesweit rund 300 000 Betreu- nen bislang nicht an die Schuldenbremse gebunden, al- ungsplätze. Dies schmälert die Bildungschancen der jun- lerdings sind viele bereits jetzt angesichts des erreichten gen Generation und verringert das Wachstumspotenzial. Schuldenstands überhaupt nicht mehr in der Lage, zu- sätzliche Kredite aufzunehmen.9 Dabei korreliert die Investitionstätigkeit der Kommunen deutlich mit deren Schuldenstand (vgl. Abbildung 2). Daher stellt sich die Frage, wie die Handlungsfähigkeit der Insbesondere im Westen sind die Städte und Gemein- Kommunen wiederhergestellt werden kann. Ungeachtet den offenbar durch hohe Verschuldung belastet, was die aller verfassungsrechtlicher Barrieren wäre eine Option, die Finanzierung öffentlicher Leistungen wieder stärker 6 S. Dullien, K. Rietzler: Betrachtung des Bruttokapitalstocks mit mas- siven Schwierigkeiten behaftet – eine Replik, in: Wirtschaftsdienst, 8 F. Arnold et al.: Große regionale Disparitäten bei den kommunalen 99. Jg. (2019), H. 4, S. 286-294, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/ Investitionen, in: DIW-Wochenbericht, 82. Jg. (2015), H. 43, S. 1031- jahr/2019/4/verzehrt-deutschland-seinen-staatlichen-kapitalstock- 1040. replik-und-erwiderung/ (13.5.2019). 9 R. Freier, V. Grass: Kommunale Verschuldung in Deutschland: Struk- 7 Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW): KfW-Kommunalpanel 2018, tur verstehen – Risiken abschätzen, in: DIW-Wochenbericht, 80. Jg. Frankfurt 2018. (2013), H.16, S. 13-21. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 315
Zeitgespräch Abbildung 2 Soziale Lage, Investitionen und Schuldenstand1 2016 1 Ohne Sonderhaushalte und Auslagerungen. Quellen: Statistische Ämter der Länder; Bundesagentur für Arbeit, ZEFIR; FORA mbh; Bertelsmann Stiftung; eigene Berechnungen. auf die Bundesebene zu konzentrieren. Dies betrifft ins- Der derzeitige Spielraum der Schuldenbremse wäre damit besondere konjunkturreagible Ausgaben im Bereich der mehr als ausgereizt, ohne andere Zukunftsinvestitionen, Sozialleistungen. Denkbar wäre beispielsweise die Finan- beispielsweise im Bereich der Digitalisierung, der Energie- zierung der Kosten zu übernehmen, die im Rahmen von wende, im Bereich öffentlicher Forschung und Entwicklung Hartz IV auf der kommunalen Ebene entstehen – diese oder dem Wohnungsbau finanziert zu haben. Vor diesem machen gut 15 Mrd. Euro jährlich aus. Würden diese Mit- Hintergrund scheint eine andere Fiskalregel als die Schul- tel ausschließlich in zusätzliche Anlagen investiert, würde denbremse sinnvoller, wie sie z. B. von 14 französischen der Nettokapitalstock nicht wie zuletzt um 6 Mrd. Euro und deutschen Ökonominnen und Ökonomen vorgeschla- sinken – sondern um knapp 10 Mrd. Euro ausgeweitet. gen wurde.10 Diese Regel ist eine nominale Ausgabenregel, Der von den Kommunen berichtete Investitionsrückstand die es der Bundesregierung erlaubt, die Ausgaben jedes von 160 Mrd. Euro würde allmählich abgebaut. Jahr um maximal die nominale Potenzialwachstumsra- te der eigenen Volkswirtschaft zu steigern. Während also Allein dies wird aber nicht bei allen Kommunen ausreichen, die Regeln für die Kommunen und Landesregierungen um die Finanzierung von Investitionen wieder zu ermögli- nicht modifiziert werden sollten, sollte die Fiskalregel des chen. Überschuldete Kommunen könnten daher durch den Bundes überarbeitet werden, da der Bund Ausgaben für Bund von ihren Altschulden entlastet werden. Für ein sol- die Kommunen mit übernimmt. Konkret würde das für ches Vorgehen spricht zudem, dass die kommunalen Kredi- Deutschland bedeuten, dass der Bund jedes Jahr die te nicht dazu genutzt werden können, um den Notstand an sicheren Anlagen zu reduzieren. Die Risikoaufschläge sind deutlich größer – eine Umschuldung auf Bundesebene wäre 10 Wie Risikoteilung und Marktdisziplin in Einklang gebracht werden kön- nen: ein konstruktiver Vorschlag zur Reform des Euroraums, https:// damit auch wirtschaftlich sinnvoll und hätte den Nebenef- www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.575357.de/ fekt, dass die Renditen auf Bundesanleihen wieder stiegen. euro%20reformkonzept_short_deu_final.pdf (30.4.2019). Wirtschaftsdienst 2019 | 5 316
Zeitgespräch Staatsausgaben um bis zu 3 % erhöhen darf.11 Der große • Erstens würde das Angebot an sicheren öffentlichen Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist, dass sie Schuldtiteln steigen und damit auch das Finanzsys- deutlich antizyklischer wirkt als die bestehenden Regeln: In tem stabilisiert, denn die Staatsanleihe ist ein wichti- guten Zeiten schränkt sie die Ausgaben ein, weil sich diese ger Anker der Finanzmärkte. am Potenzialwachstum orientieren müssen und nicht an den aktuell höheren Wachstumsraten; und in schlechten Zeiten • Zweitens würde eine Reform notwendige Investitionen gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum, weil ein Einbruch in den Erhalt und den Ausbau öffentlicher Anlagen, In- der Einnahmen nicht zu einer Verringerung der Ausgaben frastruktur und Forschung ermöglichen und einen Bei- führen muss. Gleichzeitig verstetigt sich die Finanzierung trag zur Modernisierung der Volkswirtschaft leisten. der Kommunen, was unter dem Strich die notwendigen Frei- Dies wäre Grundlage für ein höheres Wachstumspo- räume für eine kontinuierliche Investitionstätigkeit schaffen tenzial und damit Voraussetzung für den Wohlstand sollte. zukünftiger Generationen. Intelligente Reform der Schuldenbremse • Drittens wäre die hier skizzierte Reform ein Beitrag, um den Kommunen den Raum zu geben, wieder ih- Eine Reform der Schuldenbremse erscheint geboten, denn rer Verantwortung für eine ausreichende Daseinsvor- die derzeitigen Vorgaben sind strenger als notwendig und sorge nachzukommen. Auf diese Weise könnten auch sinnvoll. Wenn Veränderungen intelligent gestaltet werden, strukturschwache Regionen an Attraktivität für Haus- können mehrere Probleme gleichzeitig adressiert werden: halte und Unternehmen gewinnen und Negativspiralen aus Verschuldung, fehlenden Investitionen und nied- 11 Das Potenzialwachstum von 3 % für Deutschland setzt sich grob zu- riger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durchbrochen sammen aus 1 % reales BIP-Wachstum und 2 % Inflationsrate. werden. Michael Hüther Alles hat seine Zeit, auch die Kreditaufnahme Zehn Jahre nach der maßgeblichen Verfassungsänderung wegen der konjunkturpolitischen Öffnung sogar beför- ist die Schuldenbremse in die Diskussion gekommen. Die dert. Tatsächlich war weder der Investitionsbegriff klar Schuldenbremse für Bund und Länder wurde 2009 in und konsistent geregelt noch ergab sich daraus eine dis- Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz (GG) geregelt, für den Bund ziplinierende Wirkung für den Bundeshaushalt. wurde dazu Art. 115 reformiert. Seinerzeit wirkten Sor- gen um schwindende budgetpolitische Handlungsspiel- Allerdings wurde in den vergangenen fünf Dekaden immer räume sowie um eine erodierende Vorbildfunktion in der wieder konsolidierungspolitisch gehandelt: durch Haus- Eurozone zusammen, doch mittlerweile haben sich die haltsbegleitgesetze, Veränderungen im Haushaltsgesetz, Bedingungen verändert. Die Frage steht im Raum, ob die gesonderte Spargesetze für einzelne Ausgaben sowie Schuldenbremse weiterhin angemessen ist und welche Maßnahmen im Haushaltsvollzug. Im Lichte dieser Erfah- Veränderungen oder Neujustierungen angezeigt sind. Die rungen ergibt sich ein differenzierteres Urteil: Die Finanz- Verteidigung der Schuldenbremse lebt von zwei Mythen. politik unter dem Regime des Artikel 115 GG scheute Ver- teilungskonflikte nicht, wenn es darum ging, die budgetä- Mythos der schlechten alten Zeit vor 2009 re Handlungsfähigkeit zu sichern; Eingriffe in konsumtive Ausgaben gehörten zum Repertoire der Haushaltspolitik. Die alte Regelung des Art. 115 GG1 war stets mit der Man sollte auch nicht vergessen, dass zugleich in mehr scheinbar unzweifelhaften Kritik verbunden, sie habe die oder weniger regelmäßigen Abständen Reformen der Ein- Ausuferung der Staatsverschuldung nicht verhindert und kommensbesteuerung umgesetzt wurden,2 sodass der 1 „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushalts- 2 Steuerreform 1965, Steuerreform 1975, Tarifanpassungen 1978/79 plan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; und 1981, Steuerreformen 1986/88 und 1990, steuerliche Freistellung Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamt- des Existenzminimums und Familienleistungsausgleichsreform 1996, wirtschaftlichen Gleichgewichts.“; Art. 115 GG alte Fassung. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 und Steuerreform 2000. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 317
Zeitgespräch Abbildung 1 Abbildung 2 Schuldenstandsquote und Arbeitslosenquote, Schuldenstandsquote und Erwerbstätigenquote, Deutschland Deutschland Schuldenstandsquote in % des Bruttoinlandsprodukts (linke Achse), Ar- Schuldenstandsquote in % des Bruttoinlandsprodukts, Erwerbstätigen- beitslosenquote in % abhängiger ziviler Erwerbspersonen (rechte Achse) quote der 20- bis 65-Jährigen 90 12 90 80 80 Erwerbstätigenquote Erwerbstätigenquote Arbeitslosenquote 10 Westdeutschland Gesamtdeutschland 70 70 60 8 60 50 50 6 Schuldenstandsquote 40 40 Schuldenstandsquote Maastricht 30 4 30 Maastricht 20 20 Schuldenstandsquote 2 Schuldenstandsquote Destatis 10 10 Destatis 0 0 0 19 0 19 3 19 6 19 2 19 5 19 8 19 1 19 4 19 7 19 0 19 3 19 6 20 9 20 2 20 5 20 8 20 1 20 4 17 19 0 19 3 19 6 19 2 19 5 19 8 19 1 19 4 19 7 19 0 19 3 19 6 20 9 20 2 20 5 20 8 20 1 20 4 17 6 6 6 7 7 7 8 8 8 9 9 9 9 0 0 0 1 1 6 6 6 7 7 7 8 8 8 9 9 9 9 0 0 0 1 1 19 19 Quellen: Statistisches Bundesamt (Destatis), Deutsche Bundesbank. Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis). Effekt der „kalten Progression“ jedenfalls den Steuerzah- (strukturellen) Arbeitslosigkeit und vor allem ein Anstieg lern cum grano salis zurückgegeben wurde. der Erwerbsbeteiligung schaffen jenen budgetären Spiel- raum, der zur Sanierung der Staatsfinanzen benötigt Ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Staatsverschuldung wird, ohne dass es dazu eines Verteilungskonflikts be- für die Handlungsfähigkeit werfen die Zins-/Steuerquoten darf. für den Bund und die Länder. Mit Ausnahme der neuen Länder, die naturgemäß mit geringer Zinslast nach 1990 Für die These spricht auch der deutliche Anstieg des re- gestartet sind, und dem Land Berlin weisen alle ande- alen Steueraufkommens je Einwohner, der sich seit 2005 ren Gebietskörperschaften für das Jahr 2005 eine Zins-/ – nur kurz unterbrochen durch die Krise 2009 – einge- Steuerquote auf, die in etwa dem Wert des Jahres 1992 stellt hat. Das ist im längerfristigen Vergleich auffällig und entspricht. Eine Ausweidung der Steuereinnahmen durch bemerkenswert. Denn seit 1980 war trendmäßig nur ein die aufgelaufene Verschuldung kann für diesen Zeitraum, sehr begrenzter Anstieg festzustellen. Haupttreiber dieser weit entfernt vom Zinsumfeld, wie es seit 2009 gilt, we- dynamischen Entwicklung seit 2005 dürfte der zeitgleich der generell noch für das Gros der Gebietskörperschaften begonnene kräftige sowie anhaltende Beschäftigungs- bestätigt werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als in aufbau bei guter Lohnentwicklung gewesen sein. Die Er- diesem Zeitraum die Wiedervereinigung zu erheblichen höhung der Erwerbstätigenquote auf fast 80 % ist eben- finanziellen Anspannungen führte; so erreichte allein die falls im längerfristigen Vergleich beachtlich. Verbunden Schuldenstandsquote des Bundes bis 1998, vor allem war damit ein deutlicher Anstieg der realen Bruttoeinkom- durch die Nebenhaushalte zur deutschen Einheit und die men je Einwohner. Übernahme der Treuhandschulden getrieben, 38 %. Ökonomik der Schuldenbegrenzung Mythos der guten neuen Zeit seit 2009 Angesichts der mitunter theologisch anmutenden Be- Seit über einer Dekade hat sich die Lage der öffentlichen geisterung für die Schuldenbremse fällt auf, wie wohltu- Haushalte durchschlagend verbessert. Die unermüdli- end nüchtern der Sachverständigenrat in seiner Expertise chen Verfechter der Schuldenbremse rechnen dies der 2007 formulierte: „Gemessen an den langfristigen Wir- neuen Verfassungsregel zu. Dafür spricht indes wenig. kungen ist eine Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben Einerseits wurden die Budgets durch die sinkenden Zins im Vergleich zur Steuerfinanzierung von vornherein weder ausgaben infolge des historisch anhaltend niedrigen gut noch schlecht.“3 Da seinerzeit für Deutschland der Zinsniveaus automatisch entlastet. Andererseits drängt Zins für Staatsanleihen oberhalb der Zuwachsrate des sich bei längerfristiger Betrachtung die These auf, dass ein durchschlagender Konsolidierungserfolg insbeson- 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen dere von der Lage auf dem Arbeitsmarkt abhängt (vgl. Entwicklung (im Folgenden Sachverständigenrat): Expertise „Staats- Abbildung 1 und 2): Erst ein anhaltender Rückgang der verschuldung wirksam begrenzen“, Wiesbaden 2007, Ziffer 56. Wirtschaftsdienst 2019 | 5 318
Zeitgespräch Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag, folgerte der Sachver- Abbildung 3 ständigenrat, dass eine intergenerative Umverteilung zu- Langfristiger Zins und nominales Wachstum des gunsten der „Einführungsgeneration“ und zulasten künfti- Bruttoinlandsprodukts (BIP) ger Generationen plausibel erwartet werden könne.4 Zu- in % gleich aber forderte der Sachverständigenrat angesichts 14 der Produktivität öffentlicher Investitionen im Sinne der 12 „Goldenen Regel der Finanzpolitik“, diese Investitionen 10 durch Kredite zu finanzieren. Dafür seien „die Nettoinves- 8 Umlaufrendite Bundeswertpapiere 6 titionen als Obergrenze für die zulässige Nettokreditauf- 4 nahme anzusetzen“5. Neben einer solchen investitionso- 2 rientierten Verschuldung seien „in jedem Fall kurzfristige 0 Finanzierungsdefizite oder Finanzierungsüberschüsse -2 -4 zuzulassen, die dem Wirkenlassen der automatischen -6 Wachstum nominales BIP Stabilisatoren entsprechen.“6 19 1 19 3 19 5 19 7 19 9 19 1 19 3 19 5 19 7 19 9 19 1 19 3 19 5 19 7 20 9 20 1 20 3 20 5 20 7 20 9 20 1 20 3 20 5 17 7 7 7 7 7 8 8 8 8 8 9 9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 1 1 19 Zu den Produktivitätswirkungen öffentlicher Investitio- Quellen: Deutsche Bundesbank; Statistisches Bundesamt. nen lässt sich – bei allen methodischen Problemen (z. B. Scheinkorrelationen) – auf verschiedene Studien zurück- greifen. So bestätigten die 2007 verfügbaren Studien die transfer multipliers. Public investment multipliers are even Hypothese eines positiven Effekts der öffentlichen Inves- larger than those of spending in general by approximately titionen auf das BIP sowie die der Komplementarität zwi- 0.5 units.“11 schen öffentlichen und privaten Investitionen. „Deutsch- land zählt dabei aber zu den Ländern, in denen die Er- Abiad et al. untersuchen makroökonomische Effekte öf- tragsrate öffentlicher Investitionen noch vergleichsweise fentlicher Investitionen in 17 OECD-Ländern zwischen hoch und damit eine Kreditfinanzierung dieser investiven 1985 und 2013. Die Effekte sind besonders hoch, wenn Ausgaben, wie sie die Goldene Regel der Finanzpolitik er- die Kapazitätsauslastung gering ist und eine hohe Effizi- möglicht, durchaus zu rechtfertigen gewesen ist.“7 enz bei der Umsetzung öffentlicher Investitionen erreicht wird. Die Autoren kommen zu folgendem Fazit: „We find Jüngere Studien, wie die Meta-Analyse von Bom und suggestive evidence that debt-financed projects have Ligthart, zeigen, dass die Kapitalproduktivität (Multipli- larger expansionary effects than budget-neutral invest- kator des staatlichen Kapitalstocks auf die private Wert- ments financed by raising taxes or cutting other govern- schöpfung) mit zunehmend längerer Frist umso höher ist ment spending. […] Finally, our results show how critical sowie insbesondere in Bereichen wie Infrastruktur und increasing investment efficiency is to mitigating the pos- öffentliche Daseinsvorsorge entsteht.8 Eck et al. kommen sible trade-off between higher output and higher public- zu dem Schluss, dass langfristige Output-Elastizitäten debt-to-GDP ratios.“12 All dies spricht dafür, dass die The- von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen „in der Regel höher se durchaus merklicher Produktivitätswirkungen öffentli- als die kurzfristigen“ sind.9 Lowe et al. schätzen die mar- cher Investitionen bestätigt werden kann. Dies gilt insbe- ginale Produktivität des öffentlichen Kapitals; diese ist in sondere für Investitionen in die Infrastruktur, aber ebenso Deutschland verhältnismäßig hoch und liegt über der des für die Bildungsausgaben.13 privaten Kapitals.10 Gechert resümiert in einer Metaana- lyse von über 100 Studien zu den Multiplikatoreffekten Niedrige Zinsen und Belastung der Gegenwart öffentlicher Ausgaben: „Public spending multipliers are close to 1 and about 0.3 to 0.4 units larger than tax and Das Zinsumfeld hat sich gegenüber der Zeit, als die Schul- denbremse eingeführt wurde, grundlegend verändert (vgl. 4 Ebenda, Ziffer 76. Abbildung 3). Die Finanzkrise hat die Notenbanken glo- 5 Ebenda, Ziffer 70. 6 Ebenda, Ziffer 78. 7 Ebenda, Kasten 4. 11 S. Gechert: What fiscal policy is most effective? A meta-regression 8 Vgl. P. Bom, J. Ligthart: What have we learned from three decades of analysis, in: Oxford Economic Papers, 67. Jg. (2015), H. 3, S. 553. research on the productivity of public capital?, in: Journal of Econo- 12 A. Abiad, D. Furceri, P. Topalova: The macroeconomic effects of pu- mic Surveys, 28. Jg. (2014), H. 5, S. 889-916. blic investment: Evidence from advanced economies, in: Journal of 9 Vgl. A. Eck, J. Ragnitz, S. Scharfe, C. Thater, B. Wieland: Öffentliche Macroeconomics, 50. Jg. (2016), S. 239. Infrastrukturinvestitionen: Entwicklung, Bestimmungsfaktoren und 13 Sachverständigenrat: Jahresgutachten „Zwanzig Punkte für mehr Wachstumswirkungen, ifo Dresden Studien, Nr. 72, 2015. Beschäftigung und Wachstums“, Stuttgart 2002, Kasten 8; ders.: 10 Vgl. M. Lowe, C. Papageorgiou, F. Perez-Sebastian: The Public and Jahresgutachten „Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“, Private Marginal Product of Capital, in: Economica, 86. Jg. (2019), Wiesbaden 2008, Ziffern 430 ff.; T. Krebs, M. Scheffel: Lohnende In- H. 342, S. 336-361. vestitionen, in: ifo-Schnelldienst, 68 Jg. (2016) H. 22, S. 12-14. 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