Schuldenbremse - Investitionshemmnis oder Vorbild für Europa?

Die Seite wird erstellt Laura Hensel
 
WEITER LESEN
DOI: 10.1007/s10273-019-2451-7                                                                         Zeitgespräch

Schuldenbremse – Investitionshemmnis oder
Vorbild für Europa?
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor zehn Jahren wurde die Schuldenbremse eingeführt.
Seither haben sich die öffentlichen Haushalte deutlich erholt – wohl überwiegend nicht
aufgrund der Schuldenbremse. Vielmehr haben der lang anhaltende Aufschwung und
dauerhaft niedrige Zinsen zu einem Rückgang der Defizit- und Schuldenquote geführt.
Heute steht die Schuldenbremse wieder in der Kritik: Die Defizitgrenze reduziere die
Staatsverschuldung auf einen zu niedrigen Wert. Eine niedrige Verschuldungsquote wäre nicht
sinnvoll, wenn der Zins für Staatsanleihen langfristig unter der Wachstumrate des nominalen
Bruttoinlandsprodukts liegt. Zudem würde eine höhere Verschuldung das Angebot an sicheren
öffentlichen Schuldtiteln und damit das Finanzsystem stabilisieren. Außerdem wird befürchtet,
dass die Begrenzung des Defizits Anreize für Politiker setzt, weniger in langfristige Projekte
zu investieren. Nicht zuletzt beschneide die Schuldenbremse die Möglichkeit, bei einem
konjunkturellen Abschwung zu reagieren. Relativ einfach ließe sich die Kritik auffangen, wenn
strukturelle Neuverschuldung in Höhe der Investitionen zugelassen würde (goldene Regel).

Clemens Fuest, Klaus Gründler, Niklas Potrafke
Für eine nachhaltige Finanzpolitik mit der Schuldenbremse

Im Jahr 2009, auf dem Höhepunkt der weltweiten Wirt-          kam die Erwartung, dass der demografische Wandel die
schaftskrise, hat die deutsche Politik die Verfassungsre-     Staatsausgaben in den kommenden Jahrzehnten weiter
geln für die öffentliche Verschuldung grundlegend refor-      in die Höhe treiben würde. Außerdem galt es, in der kri-
miert und die sogenannte Schuldenbremse eingeführt.           tischen wirtschaftlichen Lage des Jahres 2009 das Ver-
Art. 109 (3) Satz 1 des Grundgesetzes stellt fest: „Die       trauen der Kapitalmärkte in die Solidität der deutschen
Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich oh-         Staatsfinanzen zu stärken.
ne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Für den Bund
gilt diese Regel als erfüllt, wenn das konjunkturbereinigte   Kritik an der Schuldenbremse und Ergebnisse nach
Defizit nicht mehr als 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts       dem ersten Jahrzehnt
(BIP) beträgt. Eventuelle Überschreitungen dieses Be-
trags werden in einem Kontrollkonto erfasst und müssen        Die Schuldenbremse war allerdings von Anfang an um-
‚konjunkturgerecht‘ (Art. 115 (2) Satz 3 Grundgesetz) zu-     stritten. Vier Kritikpunkte standen und stehen bis heute im
rückgeführt werden. Für den Bund ist die Einhaltung der       Mittelpunkt der Debatte:
Schuldenbremse ab 2016 verpflichtend. Die Länder re-
geln die Ausgestaltung der Schuldenbremse selbst. Un-         • Erstens sei zu wenig Spielraum vorhanden für antizyk-
abhängig davon, ob und wie sie dies tun, müssen aber            lische Finanzpolitik.
auch die Länder ab 2020 ihre Haushalte ausgleichen.
                                                              • Zweitens sei die Finanzierung öffentlicher Investitionen
Diese Reform war eine Reaktion auf wachsende Sorgen             mit Schulden anders zu beurteilen als die Finanzierung
über die Nachhaltigkeit der deutschen Staatsfinanzen. Die       konsumtiver Ausgaben.
Staatsverschuldung war im Verhältnis zur Wirtschaftsleis-
tung seit den 1970er Jahren immer weiter angestiegen.         • Drittens würden ausgeglichene Haushalte dazu führen,
2009 war absehbar, dass 2010 die Schuldenquote 80 %             dass die Staatsverschuldungsquote auf Dauer gegen
des Bruttoinlandsprodukts überschreiten würde. Hinzu            Null konvergiere.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                            307
Zeitgespräch

      Abbildung 1                                                                 deutschen Staatsschulden sind wir weit entfernt. Im Jahr
      Öffentliche Investitionen in Deutschland, 1998 bis                          2019 wird die Schuldenquote voraussichtlich die im Ver-
      2018                                                                        trag von Maastricht verankerte Höchstgrenze von 60 %
      Bruttoanlageinvestitionen in % des BIP                                      des Bruttoinlandsprodukts unterschreiten. Auch hier gilt,
                                                                                  dass wir nicht wissen, wie die Schuldenquote sich oh-
      %
      2,5                                                                         ne Schuldenbremse entwickelt hätte. Sicherlich war der
                                                                                  Rückgang der Zinsen ein wesentlicher Treiber dieser Ent-
      2,0                                                                         wicklung, und Wünsche nach Mehrausgaben und Steu-
      1,5
                                                                                  ersenkungen wurden wohl eher mit Verweis auf das po-
                                                                                  litisch gesetzte Ziel der „schwarzen Null“ abgewehrt als
      1,0                                                                         mit Verweis auf die Schuldenbremse. Dass die Politik der
                                                                                  schwarzen Null im Bundeshaushalt überhaupt so große
      0,5
                                                                                  politische Unterstützung fand, hat allerdings mit einem
      0,0                                                                         breiten Konsens in Politik und Bevölkerung zu tun, dass
        1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018                    eine Rückführung der Staatsverschuldung der richtige
      Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019.                                      Weg ist. Man kann die Einführung der Schuldenbremse
                                                                                  auch als Ausdruck dieses politischen Konsenses be-
                                                                                  trachten.
      • Viertens verhindere die Schuldenbremse nicht ein Aus-
        weichen auf implizite Verschuldung durch Leistungs-                       Bestätigen muss man allerdings, dass die Politik in den
        versprechen vor allem der umlagefinanzierten Sozial-                      letzten Jahren der Versuchung nicht widerstehen konnte,
        versicherungen.                                                           durch neue Leistungsversprechen der umlagefinanzierten
                                                                                  Sozialversicherungen – Mütterrente, Rente ab 63, Halte-
      Heute, zehn Jahre nach der Verabschiedung der Schul-                        linie für das Rentenniveau von 48 % usw. – die implizite
      denbremse, sieht ihre Bilanz nicht schlecht aus. Notwen-                    Staatsverschuldung in die Höhe zu treiben. Auch hier ist
      dige antizyklische Finanzpolitik hat sie nicht verhindert,                  schwer abzuschätzen, ob diese Instrumente in geringe-
      auch wenn man einräumen muss, dass größere Konjunk-                         rem Umfang genutzt worden wären, wenn die Schulden-
      turschwankungen in den Jahren seit der globalen Finanz-                     bremse mehr Raum für explizite Verschuldung eröffnet
      krise ausgeblieben sind. Die Schuldenbremse bietet je-                      hätte.
      doch erhebliche Spielräume für antizyklische Politik, nicht
      nur durch die Konjunkturbereinigung der Defizitgrenze,                      Die Schuldenbremse in den Bundesländern
      sondern auch durch die Möglichkeit, das Ausgleichskon-
      to zu nutzen.                                                               Obwohl die Schuldenbremse für die Bundesländer erst
                                                                                  ab dem Jahr 2020 verpflichtend ist, haben einige Bundes-
      Es ist auch nicht erkennbar, dass notwendige öffentli-                      länder bereits geregelt, wie sie für ihre Landeshaushalte
      che Investitionen durch die Schuldenschranke verhindert                     umgesetzt wird. Mit der Verankerung in den Landesver-
      wurden. Gesunken sind die öffentlichen Investitionen                        fassungen oder Haushaltsordnungen können die Landes-
      in Deutschland1 vor allem vor Einführung der Schulden-                      regierungen verfügbare Spielräume in der Stringenz des
      bremse. Seit dem Jahr 2009 haben sie sich eher wieder                       Neuverschuldungsverbots nutzen. Spielräume ergeben
      erholt (vgl. Abbildung 1).                                                  sich in erster Linie durch die Einführung von Konjunktur-
                                                                                  komponenten, Ausnahmeregelungen im Fall von Natur-
      Natürlich ist unbekannt, wie sich die öffentlichen Inves-                   katastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen,
      titionen ohne Schuldenbremse entwickelt hätten, aber                        Vorgaben für Tilgungspläne und die Behandlung von Ex-
      dass die Ausgaben deutlich schneller gestiegen wären,                       trahaushalten.
      ist nicht sehr plausibel, zumal seit Jahren für Investitionen
      verfügbare Mittel nicht abgerufen werden.                                   Es ist naheliegend zu fragen, wie die Finanzpolitik der
                                                                                  Bundesländer, welche die Schuldenbremse früher als an-
      Die Staatsschuldenquote ist seit ihrem Höchststand 2010                     dere auf Landesebene verankert haben, sich entwickelt
      in der Tat gesunken, aber von einem Verschwinden der                        hat. In sieben der acht deutschen Bundesländer, die dies
                                                                                  getan haben, ist die Schuldenquote danach gesunken.
      1     Man könnte hier einwenden, dass die Schuldenbremse für den Bund       Nur in Hamburg sank die Verschuldungsquote nicht (vgl.
            erst ab 2016 und für die Länder erst ab 2020 bindend wird. Der Bund   Abbildung 2). In den Bundesländern, welche die Schul-
            hat seinen Haushalt aber bereits 2014 ausgeglichen. Unter den Bun-
            desländern haben viele die Schuldenbremse ebenfalls bereits früh in   denbremse nicht umgesetzt haben, zeigt die Verschul-
            ihren Landesverfassungen oder ihren Haushaltsordnungen verankert.     dungsquote ebenfalls einen insgesamt fallenden Verlauf

                                                                                                                Wirtschaftsdienst 2019 | 5
308
Zeitgespräch
                                                                                                          Zeitgespräch

                                                                                           Prof. Dr. Alexander Kriwoluzky leitet

                                                             © DIW Berlin, Florian Schuh
(vgl. Abbildung 3). Dennoch ist die durchschnittliche Ver-
                                                                                           die Abteilung Makroökonomie am DIW
schuldungsquote in den Bundesländern mit Verankerung
                                                                                           Berlin und ist Professor für Makroöko-
der Schuldenbremse in der Verfassung insgesamt gerin-
                                                                                           nomie an der Freien Universität Berlin.
ger (27,0 %) als in Bundesländern ohne Verankerung in
der Verfassung (31,5 %). Auch fiel der Rückgang der Ver-
schuldungsquote innerhalb der letzten fünf Jahre in Län-
dern mit Schuldenbremse in der Verfassung leicht höher

                                                                                           Dr. Claus Michelsen leitet die Abtei-
                                                                                           lung Konjunkturpolitik am DIW Berlin
                                                                                           und lehrt an der Universität Potsdam.

Autoren des Zeitgesprächs

                    Prof. Dr. Dr. h. c. Clemens Fuest                                      Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor
                    ist Präsident des ifo Instituts und                                    des Instituts der deutschen Wirtschaft
                    Professor für Volkswirtschaftsleh-                                     (IW) in Köln und Hochschullehrer an
                    re, Lehrstuhl für Nationalökonomie                                     der European Business School in
                    und Finanzwissenschaft, an der                                         Oestrich-Winkel.
                    Ludwig-Maximilians­-Universität
                    München.

                    Dr. Klaus Gründler ist stellvertre-                                    Prof. Dr. Peter Bofinger ist Lehrstuhl-
                    tender Leiter des ifo Zentrums für                                     inhaber für VWL I, Geld und internati-
                    öffentliche Finanzen und politi-                                       onale Wirtschaftsbeziehungen an der
                    sche Ökonomie des ifo Instituts in                                     Universität Würzburg.
                    München.

                    Prof. Dr. Niklas Potrafke leitet                                       Prof. Dr. Dr. h. c. Lars P. Feld ist
                    das ifo Zentrum für öffentliche                                        Direktor des Walter Eucken Instituts,
                    Finanzen und politische Ökonomie                                       Professor für Wirtschaftspolitik an der
                    und lehrt an der Ludwig-Maximili-                                      Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
                    ans-Universität München.                                               und Mitglied des Sachverständigen-
                                                                                           rats zur Begutachtung der gesamtwirt-
                                                                                           schaftlichen Entwicklung.

                    Prof. Dr. Marcel Fratzscher ist                                        Dr. Wolf Heinrich Reuter ist General-
                    Hochschullehrer an der Humboldt-                                       sekretär des Sachverständigenrats zur
                    Universität zu Berlin und Präsident                                    Begutachtung der gesamtwirtschaftli-
                    des Deutschen Instituts für Wirt-                                      chen Entwicklung.
                    schaftsforschung (DIW) in Berlin.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                   309
Zeitgespräch

      Abbildung 2
      Verschuldung der Länder mit Schuldenbremse in der Verfassung
      Verschuldung in % des Bruttoinlandsprodukts
      %                     Bayern               %                    Bremen                %                  Hamburg                  %                 Hessen
      12                                         80                                         30                                          25

      10                                         60                                         25
                                                                                                                                        20
       8                                         40                                         20

                                                                                            15                                          15
       6                                         20

                                                                                            10
       4                                          0                                                                                     10
           70

                  80

                   90

                   00

                   10

                   20

                                                      70

                                                               80

                                                                90

                                                                00

                                                                10

                                                                20

                                                                                                      70

                                                                                                       80

                                                                                                       90

                                                                                                       00

                                                                                                       10

                                                                                                       20

                                                                                                                                               70

                                                                                                                                                80

                                                                                                                                                90

                                                                                                                                                00

                                                                                                                                                10

                                                                                                                                                20
       19

             19

                19

                20

                20

                20

                                                  19

                                                           19

                                                             19

                                                             20

                                                             20

                                                             20

                                                                                                19

                                                                                                    19

                                                                                                    19

                                                                                                    20

                                                                                                    20

                                                                                                    20

                                                                                                                                         19

                                                                                                                                             19

                                                                                                                                             19

                                                                                                                                             20

                                                                                                                                             20

                                                                                                                                             20
             Mecklenburg-Vorpommern                             Rheinland-Pfalz                                Sachsen                            Schleswig-Holstein
      %                                          %                                          %                                           %
                                                                                            25
      40                                         35                                                                                     40
                                                                                            20
      30                                         30
                                                                                                                                        30
                                                 25                                         15
      20
                                                                                            10                                          20
      10                                         20

                                                 15                                             5
       0                                                                                                                                10
           1990      2000       2010      2020                                                      1990    2000    2010     2020
                                                       70

                                                               80

                                                                90

                                                                00

                                                                10

                                                                20

                                                                                                                                             70

                                                                                                                                                    80

                                                                                                                                                     90

                                                                                                                                                     00

                                                                                                                                                     10

                                                                                                                                                     20
                                                      19

                                                           19

                                                             19

                                                             20

                                                             20

                                                             20

                                                                                                                                          19

                                                                                                                                                19

                                                                                                                                                  19

                                                                                                                                                  20

                                                                                                                                                  20

                                                                                                                                                  20
      Daten zur Verschuldung spiegeln Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts wider und beinhalten Kernbudgets und Extrahaushalte. Die gestrichelte
      Linie gibt den Zeitpunkt an, zu dem die Schuldenbremse in die Verfassung aufgenommen wurde.

      Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019.

      Abbildung 3
      Verschuldung der Länder ohne Schuldenbremse in der Verfassung
      Verschuldung in % des Bruttoinlandsprodukts

      %           Baden-Württemberg              %                    Berlin               %                Brandenburg             %             Niedersachsen
      18                                         80                                        40                                       30
      16
                                                 60                                                                                 25
                                                                                           30
      14
                                                 40                                                                                 20
      12                                                                                   20
                                                 20                                                                                 15
      10
                                                                                           10
       8                                          0                                                                                 10
                                                      1990      2000       2010     2020        1990       2000    2010     2020
           70

                  80

                        90

                              00

                                     10

                                           20

                                                                                                                                         70

                                                                                                                                                80

                                                                                                                                                     90

                                                                                                                                                           00

                                                                                                                                                                 10

                                                                                                                                                                      20
        19

                19

                       19

                             20

                                   20

                                          20

                                                                                                                                     19

                                                                                                                                             19

                                                                                                                                                   19

                                                                                                                                                         20

                                                                                                                                                              20

                                                                                                                                                                   20

      %           Nordrhein-Westphalen           %                   Saarland              %               Sachsen-Anhalt           %                Thüringen
      50                                                                                   50                                       50
                                                 50
      40                                                                                   40                                       40
                                                 40
      30                                                                                   30                                       30
                                                 30
      20                                                                                   20                                       20
                                                 20
      10                                                                                   10                                       10
                                                 10
                                                                                                1990       2000    2010     2020         1990     2000      2010      2020
           70

                  80

                        90

                              00

                                     10

                                           20

                                                      70

                                                           80

                                                                 90

                                                                       00

                                                                               10

                                                                                    20
        19

                19

                       19

                             20

                                   20

                                          20

                                                 19

                                                        19

                                                                19

                                                                      20

                                                                            20

                                                                                  20

      Daten zur Verschuldung spiegeln Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts wider und beinhalten Kernbudgets und Extrahaushalte.

      Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019.

                                                                                                                                         Wirtschaftsdienst 2019 | 5
310
Zeitgespräch

aus (-21,3 % gegenüber -18,7 % in Ländern ohne Schul-                           Abbildung 4
denbremse in der Verfassung).2                                                  Vergleich der Bundesländer mit und ohne
                                                                                Verankerung der Schuldenbremse in der Verfassung
Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung der Schul-                          Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und öffentliche Investitionen in
                                                                                Sachanlagen der Bundesländer, 2018
denquoten nicht ohne weiteres als Folge der Umsetzung
der Schuldenbremse betrachtet werden kann. Es ist mög-                                          BIP                          Sachinvestitionen
                                                                                Euro/Kopf                     Euro/Kopf            Mio. Euro gesamt
lich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass eine vorgezoge-
                                                                                                              150                    600
ne Umsetzung der Schuldenbremse vor allem in den Bun-                           40 000
desländern politische Unterstützung erfuhr, in denen dies
ohne größere Anpassungen in den Landeshaushalten                                30 000
                                                                                                              100                       400
möglich war. Wie Abbildung 4 illustriert, waren es eher die
wohlhabenderen Bundesländer, die die Schuldenbremse                             20 000
früh umgesetzt haben. Die Investitionen waren ebenfalls                                                        50                       200
höher als in den Bundesländern, die 2018 die Schulden-                          10 000
bremse noch nicht umgesetzt hatten.
                                                                                      0                         0                         0
                                                                                            Nicht Verankert           Nicht Verankert           Nicht Verankert
Wie ist die Anwendung der Schuldenbremse auf die                                          Verankert                 Verankert                 Verankert
deutschen Bundesländer zu beurteilen? Gegen strikte
                                                                                Quellen: Bundesministerium der Finanzen, 2019; Statistisches Bundes-
Verschuldungsregeln in den deutschen Bundesländern                              amt, 2019; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2019. Alle Da-
könnte sprechen, dass die deutschen Landesregierun-                             ten beziehen sich auf das Jahr 2018.
gen kaum Steuerautonomie haben. Sie können nur die
Grunderwerbsteuersätze selbst bestimmen. Das Grund-
erwerbsteueraufkommen ist mit ca. 13 Mrd. Euro pro Jahr
recht gering. Durch strikte Verschuldungsregeln verlieren                       die Politik sie nur so lange einhält, wie es ohne größere
die Länder ein wichtiges Instrument zur Generierung von                         Anstrengungen möglich ist. Das würde bedeuten, dass
Staatseinnahmen und büßen so Autonomie ein.3 Eine                               die Vorteile aus der deutschen Schuldenbremse über-
überzeugende Lösung dieses Problems wäre jedoch nicht                           schätzt werden. Tatsächlich spricht die vorliegende Evi-
ein Verzicht auf die Schuldenbremse, sondern eine Erwei-                        denz zu den Effekten von Fiskalregeln gegen diese These.
terung der Steuerautonomie der Länder, beispielsweise                           Im internationalen Kontext und auch innerhalb anderer
durch Zu- und Abschlagsrechte bei der Einkommen- und                            Bundesstaaten wie den USA sind die Auswirkungen von
Körperschaftsteuer.4 Letztlich ist eine Einbeziehung der                        unterschiedlichen Fiskalregeln in einer großen Zahl von
Bundesländer in die Verschuldungsregeln unumgänglich,                           Studien analysiert worden. Eine Meta-Studie zu Effekten
einerseits um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ins-                        von Fiskalregeln legt nahe, dass Fiskalregeln insbeson-
gesamt zu sichern, andererseits um sicherzustellen, dass                        dere Primärdefizite, im Schnitt um ca. 1,2 % bis 1,5 % des
die rechtlichen Verpflichtungen, die Deutschland im Rah-                        Bruttoinlandsprodukts eines Landes, reduziert haben.5
men der europäischen Verschuldungsregeln eingegan-                              Eine neue Studie von Asatryan et al. zeigt überdies, dass
gen ist, eingehalten werden.                                                    die Staatsverschuldungsquoten in Ländern, die Fiskal-
                                                                                regeln in ihren Verfassungen verankert haben, um ca.
Internationale Evidenz zu Wirkungen von                                         11 Prozentpunkte niedriger waren als in Ländern ohne Fis-
Fiskalregeln                                                                    kalregeln in ihren Verfassungen.6

Kritiker von Fiskalregeln behaupten immer wieder, derar-                        Viele dieser Studien stehen vor der Herausforderung,
tige Regeln würden letztlich kaum Wirkung entfalten, weil                       den kausalen Effekt von Fiskalregeln auf die betrachte-
                                                                                ten abhängigen Variablen wie Ausgaben, Defizite oder
2   Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2017, dem letzten Zeitpunkt,         Staatsverschuldungsquoten empirisch sauber zu iden-
    zu dem das Statistische Bundesamt Daten vorliegen hat.                      tifizieren. Offen bleibt in einigen Studien, ob nicht ledig-
3   G. Kirchgässner: The debt brake of the German states: a faulty de-
    sign, in: Constitutional Political Economy, 28. Jg. (2017), H. 3, S. 257-   lich eine Korrelation zwischen den Fiskalregeln und den
    269.                                                                        betrachteten abhängigen Variablen wie Ausgaben, Defi-
4   Die Variation in den Grunderwerbsteuersätzen zwischen den Bun-
    desländern und innerhalb einzelner Bundesländer nach Regierungs-
    wechseln zeigt, wie unterschiedlich insbesondere parteipolitisch            5   F. Heinemann, M.-C. Moessinger, M. Yeter: Do fiscal rules constrain
    anders zusammengesetzte Landesregierungen seit 2007 von ihrer                   fiscal policy? A meta-regression analysis, in: European Journal of Po-
    Möglichkeit Gebrauch machen, die Gewerbesteuersätze frei zu wäh-                litical Economy, 51. Jg. (2018), H. C, S. 69-92.
    len, vgl. dazu M. Krause, N. Potrafke: The real estate transfer tax and     6   Z. Asatryan, C. Castellón, T. Stratmann: Balanced budget rules and
    government ideology: Evidence from the German states, CESifo Wor-               fiscal outcomes: Evidence from historical constitutions, in: Journal of
    king Paper, Nr. 6491, 2017.                                                     Public Economics, 167. Jg. (2018), S. 105-119.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                                  311
Zeitgespräch

      ziten oder Staatsverschuldungsquoten beschrieben wird.                          Wahlen zu drücken.10 In den ostdeutschen Bundeslän-
      Zu vermuten ist beispielsweise, dass sich insbesondere                          dern gab es auch Wahleffekte in der Finanzplanung, ein
      Staaten, deren Finanzpolitik bereits nachhaltig aufgestellt                     Ergebnis, das für die Einrichtung der in den Ländern dis-
      ist, für strikte Fiskalregeln entscheiden. Beides, die nach-                    kutierten Konjunkturkomponente bedeutsam sein kann.11
      haltige Finanzpolitik und die Entscheidung für strikte Fis-                     Empirische Evidenz für Industrieländer zeigt, dass Regie-
      kalregeln, könnte überdies durch dritte Variablen beein-                        rungen insbesondere vor Wahlen verstärkt Ausgaben aus
      flusst sein. Eine neue, empirisch vielversprechende Un-                         den Kern- in Extrahaushalte transferiert haben, um ihre
      tersuchung unter Verwendung der neuen synthetischen                             Haushaltsdefizite kleinzurechnen.12
      Kontrollmethode misst den Effekt besonders strikter
      Haushaltregeln im US-Bundesstaat Colorado auf dessen                            Die durch politische Konjunkturzyklen hervorgerufene Ver-
      Finanzpolitik. Den Bundesstaat Colorado hatten die Au-                          wendung von Staatsausgaben, mit der Folge von Defiziten,
      toren deshalb gewählt, weil das dortige Programm „Tax-                          ist oftmals ineffizient. Schließlich sind die Staatsausgaben
      payer Bill of Rights“ (TABOR) als besonders strikt gilt. Die                    in diesem Fall nicht auf die Überwindung von Marktver-
      Ergebnisse legen nicht nahe, dass die Fiskalregeln einen                        sagen oder Rezessionen zurückzuführen, sondern allein
      Effekt auf die Ausgaben in Colorado hatten.7 Doch zeigt                         durch das Heranrücken der nächsten Wahl und die Ver-
      die Studie auch, dass es den Regierungen in Colorado                            teilung von Wahlgeschenken motiviert. Strikte Schulden-
      trotz der ausgewiesenen Stringenz der Fiskalregeln ge-                          bremsen können folglich helfen, solche politischen Kon-
      lungen ist, diese zu umgehen. Ein wesentliches Problem                          junkturzyklen einzudämmen oder gar zu verhindern.
      bei Fiskalregeln ist in der Tat, dass politische Entschei-
      dungsträger Anreize haben, die Regeln, die gegebenen-                           Parteipolitische Unterschiede beim Verankern der Schul-
      falls von politisch ungeliebten Vorgängerregierungen im-                        denbremse in den Landesverfassungen der deutschen
      plementiert wurden, zu umgehen.                                                 Bundesländer gab es bislang zwischen CDU/CSU und
                                                                                      SPD (die in der Mehrzahl der Bundesländer die Minister-
      Ein in der öffentlichen Debatte bislang wenig beachtetes                        präsidenten stellen) kaum. Im öffentlichen Diskurs zum
      Argument für Fiskalregeln wie die Schuldenbremse ist,                           Umgang mit der Schuldenbremse war dies in den ver-
      dass sie Wähler vor politischer Manipulation schützen                           gangenen Jahren nicht durchweg der Fall, die SPD war
      können. Eine neue empirische Studie von Gootjes et al.                          oftmals deutlich ablehnender als CDU/CSU.13 Im interna-
      zeigt, dass Fiskalregeln politische Konjunkturzyklen ein-                       tionalen Vergleich ist bislang nicht erforscht, wie sich par-
      dämmen.8 Die Theorie der politischen Konjunkturzyklen                           teipolitische Zusammensetzungen von Regierungen auf
      beschreibt, dass Regierungen vor Wahlen expansive Wirt-                         das Implementieren von Fiskalregeln auswirken.
      schaftspolitiken betreiben, um wiedergewählt zu werden.
      Zu expansiven Wirtschaftspolitiken gehören vornehmlich                          Schuldenbremse ein finanzpolitischer Erfolg
      Steigerungen der Staatsausgaben, die nicht selten über
      Neuverschuldung finanziert werden. Die auf den Nobel-                           Insgesamt kommen wir zu dem Urteil, dass die deutsche
      preisträger William Nordhaus zurückgehende Theorie                              Schuldenbremse als ein finanzpolitischer Erfolg anzusehen
      zeigt auf, wie Amtsinhaber durch Wahlgeschenke Wäh-
      lerstimmen zu kaufen suchen.9 Sie ist in mittlerweile eini-
                                                                                      10 M. Mechtel, N. Potrafke: Electoral cycles in active labor market poli-
      gen tausend Studien auf zahlreiche Anwendungen über-                               cies, in: Public Choice, 156. Jg. (2013), H. 1-2, S. 181-194. Für weitere
      tragen und empirisch geprüft worden. Für die deutschen                             Studien siehe beispielsweise C. Schneider: Fighting with one hand
      Bundesländer zeigten sich politische Konjunkturzyklen                              tied behind the back: political budget cycles in the West German sta-
                                                                                         tes, in: Public Choice, 142. Jg. (2010), H. 1, S. 125-150; B. Jochimsen,
      beispielsweise in der Verwendung von Arbeitsbeschaf-                               R. Nuscheler: The political economy of the German Länder deficits:
      fungsmaßnahmen (ABM), um die Arbeitslosenquoten vor                                Weak governments meet strong finance ministers, in: Applied Econo-
                                                                                         mics, 43. Jg. (2011), H. 19, S. 2399-2415; und B. Kauder, M. Krause, N.
                                                                                         Potrafke: Electoral cycles in MPs’ salaries: Evidence from the German
      7    P. Eliason, B. Lutz: Can fiscal rules constrain the size of government?       states, in: International Tax and Public Finance, 25. Jg. (2018), H. 4,
           An analysis of the „crown jewel“ of tax and expenditure limitations, in:      S. 981-1000.
           Journal of Public Economics, 166. Jg. (2018), H. C, S. 115-144.            11 B. Kauder, N. Potrafke, C. Schinke: Manipulating fiscal forecasts: Evi-
      8    Die Studie von Gootjes et al. basiert auf Daten für 70 Demokratien im         dence from the German states, in: FinanzArchiv/Public Finance Ana-
           Zeitraum von 1984 bis 2015. In Ländern ohne jegliche Fiskalregeln war         lysis, 73. Jg. (2017), H. 1, S. 213-236.
           das Haushaltsdefizit gemessen am Bruttoinlandsprodukt vor Wahlen           12 M. Reischmann: Creative accounting and electoral motives: evidence
           ca. 0,5 Prozentpunkte größer als in anderen Jahren der Legislaturpe-          from OECD countries, in: Journal of Comparative Economics, 44. Jg.
           riode. In Ländern mit (strikteren) Fiskalregeln war das Haushaltsdefizit      (2016), H. 2, S. 243-257. Zu Extrahaushalten in EU-Ländern vgl. auch
           vor Wahlen nicht signifikant größer als in anderen Jahren der Legisla-        J. von Hagen, G. Wolff: What do deficits tell us about debt? Empirical
           turperiode; vgl. B. Gootjes, J. de Haan, R. Jong-A-Pin: Do fiscal rules       evidence on creative accounting with fiscal rules in the EU, in: Journal
           constrain political budget cycles?, Präsentiert auf dem Jahresreffen          of Banking and Finance, 30. Jg. (2006), H. 12, S. 3259-3279.
           der European Public Choice Society, Jerusalem, 1.-4.4.2019.                13 Vgl. N. Potrafke, M. Riem, C. Schinke: Debt brakes in the German
      9    W. Nordhaus: The political business cycle, in: Review of Economic             states: Governments’ rhetoric and actions, in: German Economic Re-
           Studies, 42. Jg. (1975), H. 2, S. 169-190.                                    view, 17. Jg. (2016), H. 2, S. 253-275.

                                                                                                                              Wirtschaftsdienst 2019 | 5
312
Zeitgespräch

ist, und dass zumindest derzeit kein Grund besteht, sie in-                  Bislang ist es dem deutschen Staat unter anderem mit
frage zu stellen. Die in der deutschen finanzpolitischen De-                 Hilfe der Schuldenbremse gelungen, seine Finanzpolitik
batte derzeit vorgetragene Kritik an dieser Fiskalregel ist                  insgesamt nachhaltig auszugestalten.15 Dies gilt weitge-
überzogen. Die Schuldenbremse ist Teil einer finanzpoliti-                   hend auch für die Finanzpolitik in den deutschen Bundes-
schen Strategie, die konsequent auf solide Staatsfinanzen                    ländern.16 Das gegenwärtig niedrige Zins-/Wachstumsdif-
setzt und an den Finanzmärkten durch exzellente Finanzie-                    ferenzial hilft, die Staatsfinanzen nachhaltig aufzustellen.
rungskonditionen belohnt wird. Eine rationale Politik öffent-                Entwicklungen wie der demografische Wandel stellen
licher Investitionen gehört ebenfalls zu solider Finanzpolitik,              die deutsche Finanzpolitik aber vor große Herausforde-
aber die These, die Schuldenbremse würde dem im Weg                          rungen.17 Wenn die Schuldenbremse dazu beiträgt, die
stehen, überzeugt nicht. Bislang ist nicht erkennbar, dass                   deutsche Staatsverschuldung in den kommenden Jahren
die deutsche Schuldenbremse zu ineffizient niedrigen öf-                     weiter abzubauen, werden wichtige Spielräume geschaf-
fentlichen Investitionen oder mangelnder finanzpolitischer                   fen, um die erheblichen demografisch bedingten Heraus-
Stabilisierung geführt hat. Der Rückgang der Staatsver-                      forderungen für die deutschen Staatsfinanzen zu bewäl-
schuldungsquote in den letzten zehn Jahren von 80 % auf                      tigen.
heute 60 % ist ein wichtiger Erfolg, auch wenn man nicht
behaupten kann, dieser Rückgang sei allein durch die
Schuldenbremse bedingt. Aus der positiven Entwicklung
der deutschen Staatsfinanzen seit Einführung der Schul-
denschranke folgt auch nicht, dass andere Fiskalregeln wie
etwa Ausgabenregeln oder Nettoinvestitionsregeln not-
wendigerweise schlechter sind. Aber es ist nicht erkennbar,
dass ein Ersatz der Schuldenbremse in Deutschland durch                      15 A. Greiner, U. Koeller, W. Semmler: Testing the sustainability of Ger-
derartige Regeln heute eindeutige Vorteile hätte.14                             man fiscal policy: evidence for the period 1960-2003, in: Empirica, 33.
                                                                                Jg. (2006), H. 2-3, S. 127-140.
                                                                             16 Vgl. z. B. N. Potrafke, M. Reischmann: Fiscal transfers and fiscal sus-
14 In Benassy et al. wird vorgeschlagen, in der Europäischen Wäh-               tainability, in: Journal of Money, Credit and Banking, 47. Jg. (2015),
   rungsunion zu Ausgabenregeln überzugehen. Dieser Vorschlag ist               H. 5, S. 975-1005; H. T. Burret, L. P. Feld, E. Köhler: (Un-)sustainability
   allerdings Teil eines umfassenden, sorgfältig austarierten Reformvor-        of public finances in German Laender: A panel time series approach,
   schlags. Wenn das Gesamtpaket umgesetzt würde, sollte Deutsch-               in: Economic Modelling, 53. Jg. (2016), S. 254-265.
   land sich der Neuordnung der europäischen Verschuldungsregeln             17 Vgl. z. B. M. Werding: Demographischer Wandel, soziale Sicherung
   nicht verschließen. Vgl. A. Bénassy, M. Brunnermeier, H. Enderlein, E.       und öffentliche Finanzen: Langfristige Auswirkungen und aktuel-
   Farhi, M. Fratzscher, C. Fuest, P.-O. Gourinchas, P. Martin, J. Pisani-      le Herausforderung, Studie für die Bertelsmann Stiftung, 2018, htt-
   Ferry, H. Rey, I. Schnabel, N. Véron, B. Weder di Mauro, J. Zettelmey-       ps://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikatio-
   er: Reconciling risk sharing with market discipline: A constructive ap-      nen/GrauePublikationen/DemoWandel_Werding__2018_final3.pdf
   proach to euro area reform, CEPR Policy Insight, Nr. 91, Januar 2018.        (9.5.2019).

Marcel Fratzscher, Alexander Kriwoluzky, Claus Michelsen
Gut investierte Schulden sind eine Entlastung in der Zukunft
Das finanzpolitische Prestigeprojekt der 2000er Jahre –                      im Jahr 2020 und verbietet erst dann jede zusätzliche Kre-
die Schuldenbremse – ist zuletzt heftig in die Kritik gera-                  ditaufnahme. Die Schuldenregel, so wird häufig argumen-
ten. Der Staat fährt auch dank niedriger Finanzierungs-                      tiert, kann so überhaupt nicht negativ auf die öffentlichen
kosten seit geraumer Zeit satte Überschüsse ein. Die                         Ausgaben, insbesondere die Investitionstätigkeit, gewirkt
Schuldenstandsquote ist binnen weniger Jahre von etwa                        haben. Vielmehr datiert der Rückgang der öffentlichen
80 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf nun rund 60 %                       Investitionen lange vor Einführung der Schuldenbremse.2
gesunken. Die durch die Verfassung gesicherte Ober-                          Warum also die Debatte um eine Schuldenregel, wenn
grenze einer strukturellen Neuverschuldung von 0,35 %                        überhaupt keine Verbindlichkeiten entstehen müssen, um
des BIP beim Bund liegt auch 2019 in weiter Ferne. In                        die staatlichen Aufgaben zu erfüllen?
diesem Jahr hätte der Bund Spielraum für zusätzliche
Schulden in der Größenordnung von circa 11,5 Mrd. Eu-
ro.1 Für Länder und Kommunen greift die Bremse gar erst

                                                                             2   D. I. Christofzik, L. P. Feld, M. Yeter: Öffentliche Investitionen: Wie viel
1   Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Konjunktur deutlich abge-               ist zu wenig?, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik,
    kühlt – Politische Risiken hoch, Frühjahrsgutachten 2019, S. 1-60.           Nr. 19/02, 2019.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                                313
Zeitgespräch

      Diese Argumentation greift aus unterschiedlichen Grün-                    würde zu einem langfristigen Abbau des Schuldenstands
      den zu kurz:                                                              auf circa 12 % des BIP führen. In dem Beispiel von Aiya-
                                                                                gari und McGrattan4 stehen außerdem Staatsanleihen mit
      1. Es ist alles andere als klar, dass die Schuldenbremse                  einer positiven realen Verzinsung zur Verfügung.
         keinerlei Auswirkungen hätte – gerade auf die Investi-
         tionstätigkeit. Für eine Beurteilung dessen fehlt es an                Positive Verzinsungen sind für deutsche Staatsschulden
         einem geeigneten kontrafaktischen Vergleich.                           in den letzten Jahren nicht mehr zu beobachten. Bevor
                                                                                die Gründe für die niedrige Verzinsung diskutiert werden,
      2. Es gibt selbstverständlich auch Wechselbeziehungen                     soll allerdings der Zusammenhang zwischen dem Preis
         zwischen den Finanzen der unterschiedlichen födera-                    einer Anleihe und deren Verzinsung in Erinnerung geru-
         len Ebenen. Wenn die Entschuldung des Bundes mit                       fen werden. Für den Käufer einer Anleihe mit festgelegtem
         einer Aufgabenverlagerung auf andere Ebenen erkauft                    Auszahlungsbetrag ist deren Verzinsung umso höher, je
         wird, dann schmälert dies den Handlungsspielraum                       günstiger die Anleihe erworben werden kann. Die Folgen
         dort – insbesondere den Kommunen wurden zusätz-                        der Finanz- und Staatsschuldenkrise hat die Nachfrage
         liche, teilweise konjunkturreagible, Aufgaben über-                    nach sicheren Anleihen ansteigen lassen, der sogenann-
         tragen, beispielsweise im Rahmen des Sozialgesetz-                     te „safe-haven“-Effekt. Des Weiteren hat die Europäische
         buchs II, den Kosten der Unterkunft oder im Asylbe-                    Zentralbank im Zuge des Programms für den erweiterten
         werberleistungsgesetz. Dies schmälert in konjunkturell                 Ankauf von Vermögenswerten vermehrt deutsche Staats-
         schwachen Phasen die Handlungsspielräume für In-                       anleihen gekauft. Beides führte zu einem Anstieg der
         vestitionen zusätzlich. Mittelfristig führen ausbleiben-               Preise deutscher Staatsanleihen und damit zu einem Sin-
         de Investitionen zu einem Verlust an Wettbewerbsfä-                    ken der Verzinsung. Zusätzlich hat Deutschland in letz-
         higkeit und einem geringeren Wachstumspotenzial.                       ter Zeit keine neuen Schuldtitel auf den Markt gebracht.
                                                                                Durch die Verknappung des Angebots stieg der Preis der
      3. Die Schuldenbremse schreibt eine langfristige Ent-                     Anleihen weiter und die Verzinsung sank auf das derzei-
         schuldung der öffentlichen Hand vor. Es ist alles an-                  tige niedrige, teilweise negative Niveau. Dadurch erfüllen
         dere als klar, ob dieses Niveau optimal ist: Eine Regel                Staatsanleihen die Funktion als sicheres Anlageobjekt für
         von Verfassungsrang scheint zumindest eine sehr star-                  die Haushalte seit ein paar Jahren schon nicht mehr.
         ke Bindung der zukünftigen Finanzpolitik zu sein, die
         nur wenige Spielräume lässt, um Zukunftsinvestitionen                  Domeij und Ellingsen5 zeigen, dass das Fehlen von
         zu tätigen. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil Staats-              Staatsanleihen als sichere Anlagen zu Vermögenspreis-
         schulden auch eine stabilisierende Funktion für das Fi-                blasen führen kann. Der Hauptgrund für das Entstehen
         nanzwesen erfüllen.                                                    der Preisblasen ist das Vorsorgemotiv der Haushalte, die
                                                                                ihr Konsumniveau in der Zukunft halten möchten. Das in-
      Die Rolle der Staatsschulden in der Ökonomie                              teressante an dieser Betrachtung ist, dass sich Haushal-
                                                                                te in die Preisblase einkaufen, obwohl sie wissen, dass
      Staatsanleihen, und damit Schulden des Staates, spielen                   es sich um eine Preisblase handelt. Sie rechnen lediglich
      eine zentrale Rolle in einer entwickelten Volkswirtschaft.                damit, die Anlage noch rechtzeitig verkaufen zu können.
      Es sind die einzigen Anleihen, die als risikolos eingestuft               Diese vorläufigen makroökonomischen Überlegungen
      werden können. Dadurch können Staatsanleihen zum                          zeigen, dass eine Schuldenbremse, die zu einem zu nied-
      einen als Sicherheit von Geschäftsbanken bei der Zen-                     rigen Stand der Staatsschulden führt, nicht nur ökono-
      tralbank hinterlegt werden – sie ermöglichen somit die                    misch nicht optimal ist, sondern dass sie gerade in Kri-
      Abwicklung der Geldpolitik. Zum anderen erfüllen Staats-                  senzeiten zu der Bildung von Preisblasen beitragen kann.
      anleihen aber auch die Funktion, dass sie von allen Haus-
      halten in der Ökonomie als sicheres Anlageobjekt gekauft                  Rückgang der Staatsschulden aufgrund fehlender
      werden können. Haushalte benötigen ein sicheres Anla-                     Investitionen
      geobjekt, um sich gegen unvorhergesehene Ereignisse
      abzusichern. Es ist deswegen in keinem ökonomischen                       Das geringe Angebot an öffentlichen Schuldtiteln ist unter
      Modell der Fall, dass das optimale Niveau der Staats-                     anderem auf eine niedrige Investitionstätigkeit des Staats
      schulden gering ist. Aiyagari und McGrattan3 zeigen et-
      wa, dass das optimale Verschuldungsniveau bei etwa
      zwei Drittel des BIP liegt. Die derzeitige Schuldenbremse
                                                                                4   Ebenda.
                                                                                5   D. Domeij T. Ellingsen: Rational bubbles and public debt policy: A
      3    S. R. Aiyagari, E. R. McGrattan: The optimum quantity of debt, in:       quantitative analysis, in: Journal of Monetary Economics, 96. Jg.
           Journal of Monetary Economics, 42. Jg. (1998), H. 3, S. 447-469.         (2018), S. 109-123.

                                                                                                                     Wirtschaftsdienst 2019 | 5
314
Zeitgespräch

Abbildung 1
Nettoanlageinvestitionen und Nettobauinvestitionen nach staatlichen Teilsektoren
in Mrd. Euro ohne Sozialversicherungen
                             Nettoanlageinvestitionen                                                        Nettobauinvestitionen
    Mrd. Euro                                                                  Mrd. Euro
    20                                                                         20

    15                                                                         15

    10                                                                         10

     5                                                                          5

     0                                                                             0

    -5                                                                         -5

- 10                                                                          - 10
     1991

     2017
       18

                                                                                1991
                                                                                1992
                                                                                1993
                                                                                1994
                                                                                1995
                                                                                1996
                                                                                1997
                                                                                1998
                                                                                2099
                                                                                2000
                                                                                2001
                                                                                2002
                                                                                2003
                                                                                2004
                                                                                2005
                                                                                2006
                                                                                2007
     1992
     1993
     1994
     1995
     1996
     1997

                                                                                2008
                                                                                2009
                                                                                2010
                                                                                2011
     1998
     2099
     2000
     2001
     2002
     2003
     2004
     2005
     2006
     2007
     2008
     2009
     2010

                                                                                2012
                                                                                2013
                                                                                2014
                                                                                2015
     2011
     2012
     2013
     2014
     2015
     2016

                                                                                2016
                                                                                2017
                                                                                   18
     19

                                                                                19
                         Bund    Länder     Gemeinden                                                 Bund      Länder    Gemeinden

Quelle: Statistisches Bundesamt.

zurückzuführen. Bei allen Problemen der Messung6 sind                          Möglichkeiten schmälert, wichtige Zukunftsinvestitionen
Nettoinvestitionen ein guter Indikator, um die Wertent-                        zu tätigen, bestehende Infrastrukturen zu erhalten, aber
wicklung des öffentlichen Vermögens zu beobachten (vgl.                        auch Gemeindesteuern anzupassen. Es kann bezweifelt
Abbildung 1). Und hier zeigt sich, dass der Staat über viele                   werden, dass die Kommunen mit hohen Schulden diese
Jahre den Wertverfall des Kapitalstocks in Kauf genom-                         so schnell wieder abbauen können, selbst in einem Um-
men hat. Vor allem die schwachen kommunalen Investitio-                        feld mit sehr niedrigen Zinsen. Gleichzeitig sind diese Ge-
nen sind dabei ein Problem: Kommunen sind in Deutsch-                          meinden besonders durch Kosten aus sozialen Leistun-
land die größten öffentlichen Investoren – mehr als die                        gen belastet. Ohne die Hilfe des Bundes oder der Länder
Hälfte aller Aufwendungen werden von Kommunen geleis-                          scheint es ein schwieriges Unterfangen, umfangreichere
tet. Besonders hoch ist der Anteil der Städte und Gemein-                      Investitionen bei den Kommunen anzuregen.
den an den Bauinvestitionen. Hier werden gut 70 % aller
Vorhaben durch Kommunen geleistet. Angesichts der lan-                         Investitionstätigkeit der Kommunen stärken und
gen Zurückhaltung hat sich ein Instandhaltungsstau in be-                      Angebot sicherer Anleihen erhöhen
trächtlichem Maße aufgebaut. Zudem sollen Kommunen
wichtige Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und                         Weitgehend herrscht Konsens darüber, dass die Inves-
im Bildungswesen abdecken: Gerade der Zustand vieler                           titionstätigkeit der Kommunen zu schwach ist und der
Schulen7 und das nach wie vor zu geringe Betreuungsan-                         Bedarf gleichzeitig groß. Dabei gibt es erhebliche regio-
gebot in Kindertagesstätten wird als besonders proble-                         nale Unterschiede hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der
matisch angesehen. Nach offiziellen Statistiken über das                       Kommunen und ihren Möglichkeiten, zusätzliche Mittel
Angebot und die rechnerischen Ansprüche auf Kinder-                            für Investitionen freizumachen.8 Zwar sind die Kommu-
tagesbetreuung fehlen bundesweit rund 300 000 Betreu-                          nen bislang nicht an die Schuldenbremse gebunden, al-
ungsplätze. Dies schmälert die Bildungschancen der jun-                        lerdings sind viele bereits jetzt angesichts des erreichten
gen Generation und verringert das Wachstumspotenzial.                          Schuldenstands überhaupt nicht mehr in der Lage, zu-
                                                                               sätzliche Kredite aufzunehmen.9
Dabei korreliert die Investitionstätigkeit der Kommunen
deutlich mit deren Schuldenstand (vgl. Abbildung 2).                           Daher stellt sich die Frage, wie die Handlungsfähigkeit der
Insbesondere im Westen sind die Städte und Gemein-                             Kommunen wiederhergestellt werden kann. Ungeachtet
den offenbar durch hohe Verschuldung belastet, was die                         aller verfassungsrechtlicher Barrieren wäre eine Option,
                                                                               die Finanzierung öffentlicher Leistungen wieder stärker

6    S. Dullien, K. Rietzler: Betrachtung des Bruttokapitalstocks mit mas-
     siven Schwierigkeiten behaftet – eine Replik, in: Wirtschaftsdienst,      8       F. Arnold et al.: Große regionale Disparitäten bei den kommunalen
     99. Jg. (2019), H. 4, S. 286-294, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/            Investitionen, in: DIW-Wochenbericht, 82. Jg. (2015), H. 43, S. 1031-
     jahr/2019/4/verzehrt-deutschland-seinen-staatlichen-kapitalstock-                 1040.
     replik-und-erwiderung/ (13.5.2019).                                       9       R. Freier, V. Grass: Kommunale Verschuldung in Deutschland: Struk-
7    Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW): KfW-Kommunalpanel 2018,                     tur verstehen – Risiken abschätzen, in: DIW-Wochenbericht, 80. Jg.
     Frankfurt 2018.                                                                   (2013), H.16, S. 13-21.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                               315
Zeitgespräch

      Abbildung 2
      Soziale Lage, Investitionen und Schuldenstand1 2016

      1
          Ohne Sonderhaushalte und Auslagerungen.

      Quellen: Statistische Ämter der Länder; Bundesagentur für Arbeit, ZEFIR; FORA mbh; Bertelsmann Stiftung; eigene Berechnungen.

      auf die Bundesebene zu konzentrieren. Dies betrifft ins-                    Der derzeitige Spielraum der Schuldenbremse wäre damit
      besondere konjunkturreagible Ausgaben im Bereich der                        mehr als ausgereizt, ohne andere Zukunftsinvestitionen,
      Sozialleistungen. Denkbar wäre beispielsweise die Finan-                    beispielsweise im Bereich der Digitalisierung, der Energie-
      zierung der Kosten zu übernehmen, die im Rahmen von                         wende, im Bereich öffentlicher Forschung und Entwicklung
      Hartz IV auf der kommunalen Ebene entstehen – diese                         oder dem Wohnungsbau finanziert zu haben. Vor diesem
      machen gut 15 Mrd. Euro jährlich aus. Würden diese Mit-                     Hintergrund scheint eine andere Fiskalregel als die Schul-
      tel ausschließlich in zusätzliche Anlagen investiert, würde                 denbremse sinnvoller, wie sie z. B. von 14 französischen
      der Nettokapitalstock nicht wie zuletzt um 6 Mrd. Euro                      und deutschen Ökonominnen und Ökonomen vorgeschla-
      sinken – sondern um knapp 10 Mrd. Euro ausgeweitet.                         gen wurde.10 Diese Regel ist eine nominale Ausgabenregel,
      Der von den Kommunen berichtete Investitionsrückstand                       die es der Bundesregierung erlaubt, die Ausgaben jedes
      von 160 Mrd. Euro würde allmählich abgebaut.                                Jahr um maximal die nominale Potenzialwachstumsra-
                                                                                  te der eigenen Volkswirtschaft zu steigern. Während also
      Allein dies wird aber nicht bei allen Kommunen ausreichen,                  die Regeln für die Kommunen und Landesregierungen
      um die Finanzierung von Investitionen wieder zu ermögli-                    nicht modifiziert werden sollten, sollte die Fiskalregel des
      chen. Überschuldete Kommunen könnten daher durch den                        Bundes überarbeitet werden, da der Bund Ausgaben für
      Bund von ihren Altschulden entlastet werden. Für ein sol-                   die Kommunen mit übernimmt. Konkret würde das für
      ches Vorgehen spricht zudem, dass die kommunalen Kredi-                     Deutschland bedeuten, dass der Bund jedes Jahr die
      te nicht dazu genutzt werden können, um den Notstand an
      sicheren Anlagen zu reduzieren. Die Risikoaufschläge sind
      deutlich größer – eine Umschuldung auf Bundesebene wäre                     10 Wie Risikoteilung und Marktdisziplin in Einklang gebracht werden kön-
                                                                                     nen: ein konstruktiver Vorschlag zur Reform des Euroraums, https://
      damit auch wirtschaftlich sinnvoll und hätte den Nebenef-                      www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.575357.de/
      fekt, dass die Renditen auf Bundesanleihen wieder stiegen.                     euro%20reformkonzept_short_deu_final.pdf (30.4.2019).

                                                                                                                        Wirtschaftsdienst 2019 | 5
316
Zeitgespräch

Staatsausgaben um bis zu 3 % erhöhen darf.11 Der große                    • Erstens würde das Angebot an sicheren öffentlichen
Vorteil einer solchen nominalen Ausgabenregel ist, dass sie                 Schuldtiteln steigen und damit auch das Finanzsys-
deutlich antizyklischer wirkt als die bestehenden Regeln: In                tem stabilisiert, denn die Staatsanleihe ist ein wichti-
guten Zeiten schränkt sie die Ausgaben ein, weil sich diese                 ger Anker der Finanzmärkte.
am Potenzialwachstum orientieren müssen und nicht an den
aktuell höheren Wachstumsraten; und in schlechten Zeiten                  • Zweitens würde eine Reform notwendige Investitionen
gibt es mehr finanzpolitischen Spielraum, weil ein Einbruch                 in den Erhalt und den Ausbau öffentlicher Anlagen, In-
der Einnahmen nicht zu einer Verringerung der Ausgaben                      frastruktur und Forschung ermöglichen und einen Bei-
führen muss. Gleichzeitig verstetigt sich die Finanzierung                  trag zur Modernisierung der Volkswirtschaft leisten.
der Kommunen, was unter dem Strich die notwendigen Frei-                    Dies wäre Grundlage für ein höheres Wachstumspo-
räume für eine kontinuierliche Investitionstätigkeit schaffen               tenzial und damit Voraussetzung für den Wohlstand
sollte.                                                                     zukünftiger Generationen.

Intelligente Reform der Schuldenbremse                                    • Drittens wäre die hier skizzierte Reform ein Beitrag,
                                                                            um den Kommunen den Raum zu geben, wieder ih-
Eine Reform der Schuldenbremse erscheint geboten, denn                      rer Verantwortung für eine ausreichende Daseinsvor-
die derzeitigen Vorgaben sind strenger als notwendig und                    sorge nachzukommen. Auf diese Weise könnten auch
sinnvoll. Wenn Veränderungen intelligent gestaltet werden,                  strukturschwache Regionen an Attraktivität für Haus-
können mehrere Probleme gleichzeitig adressiert werden:                     halte und Unternehmen gewinnen und Negativspiralen
                                                                            aus Verschuldung, fehlenden Investitionen und nied-
11 Das Potenzialwachstum von 3 % für Deutschland setzt sich grob zu-        riger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit durchbrochen
   sammen aus 1 % reales BIP-Wachstum und 2 % Inflationsrate.               werden.

Michael Hüther
Alles hat seine Zeit, auch die Kreditaufnahme
Zehn Jahre nach der maßgeblichen Verfassungsänderung                      wegen der konjunkturpolitischen Öffnung sogar beför-
ist die Schuldenbremse in die Diskussion gekommen. Die                    dert. Tatsächlich war weder der Investitionsbegriff klar
Schuldenbremse für Bund und Länder wurde 2009 in                          und konsistent geregelt noch ergab sich daraus eine dis-
Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz (GG) geregelt, für den Bund                   ziplinierende Wirkung für den Bundeshaushalt.
wurde dazu Art. 115 reformiert. Seinerzeit wirkten Sor-
gen um schwindende budgetpolitische Handlungsspiel-                       Allerdings wurde in den vergangenen fünf Dekaden immer
räume sowie um eine erodierende Vorbildfunktion in der                    wieder konsolidierungspolitisch gehandelt: durch Haus-
Eurozone zusammen, doch mittlerweile haben sich die                       haltsbegleitgesetze, Veränderungen im Haushaltsgesetz,
Bedingungen verändert. Die Frage steht im Raum, ob die                    gesonderte Spargesetze für einzelne Ausgaben sowie
Schuldenbremse weiterhin angemessen ist und welche                        Maßnahmen im Haushaltsvollzug. Im Lichte dieser Erfah-
Veränderungen oder Neujustierungen angezeigt sind. Die                    rungen ergibt sich ein differenzierteres Urteil: Die Finanz-
Verteidigung der Schuldenbremse lebt von zwei Mythen.                     politik unter dem Regime des Artikel 115 GG scheute Ver-
                                                                          teilungskonflikte nicht, wenn es darum ging, die budgetä-
Mythos der schlechten alten Zeit vor 2009                                 re Handlungsfähigkeit zu sichern; Eingriffe in konsumtive
                                                                          Ausgaben gehörten zum Repertoire der Haushaltspolitik.
Die alte Regelung des Art. 115 GG1 war stets mit der                      Man sollte auch nicht vergessen, dass zugleich in mehr
scheinbar unzweifelhaften Kritik verbunden, sie habe die                  oder weniger regelmäßigen Abständen Reformen der Ein-
Ausuferung der Staatsverschuldung nicht verhindert und                    kommensbesteuerung umgesetzt wurden,2 sodass der

1   „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushalts-        2   Steuerreform 1965, Steuerreform 1975, Tarifanpassungen 1978/79
    plan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten;       und 1981, Steuerreformen 1986/88 und 1990, steuerliche Freistellung
    Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamt-          des Existenzminimums und Familienleistungsausgleichsreform 1996,
    wirtschaftlichen Gleichgewichts.“; Art. 115 GG alte Fassung.              Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 und Steuerreform 2000.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                    317
Zeitgespräch

      Abbildung 1                                                              Abbildung 2
      Schuldenstandsquote und Arbeitslosenquote,                               Schuldenstandsquote und Erwerbstätigenquote,
      Deutschland                                                              Deutschland
      Schuldenstandsquote in % des Bruttoinlandsprodukts (linke Achse), Ar-    Schuldenstandsquote in % des Bruttoinlandsprodukts, Erwerbstätigen-
      beitslosenquote in % abhängiger ziviler Erwerbspersonen (rechte Achse)   quote der 20- bis 65-Jährigen

      90                                                                  12   90
      80                                                                       80         Erwerbstätigenquote           Erwerbstätigenquote
                         Arbeitslosenquote                                10               Westdeutschland              Gesamtdeutschland
      70                                                                       70
      60                                                                  8    60
      50                                                                       50
                                                                          6                                                  Schuldenstandsquote
      40                                                                       40
                                             Schuldenstandsquote                                                                  Maastricht
      30                                                                  4    30
                                             Maastricht
      20                                                                       20
                              Schuldenstandsquote                         2                 Schuldenstandsquote Destatis
      10                                                                       10
                              Destatis
       0                                                                  0        0
       19 0
       19 3
       19 6
       19 2
       19 5
       19 8
       19 1
       19 4
       19 7
       19 0
       19 3
       19 6
       20 9
       20 2
       20 5
       20 8
       20 1
       20 4
         17

                                                                                   19 0
                                                                                   19 3
                                                                                   19 6
                                                                                   19 2
                                                                                   19 5
                                                                                   19 8
                                                                                   19 1
                                                                                   19 4
                                                                                   19 7
                                                                                   19 0
                                                                                   19 3
                                                                                   19 6
                                                                                   20 9
                                                                                   20 2
                                                                                   20 5
                                                                                   20 8
                                                                                   20 1
                                                                                   20 4
                                                                                     17
         6
         6
         6
         7
         7
         7
         8
         8
         8
         9
         9
         9
         9
         0
         0
         0
         1
         1

                                                                                     6
                                                                                     6
                                                                                     6
                                                                                     7
                                                                                     7
                                                                                     7
                                                                                     8
                                                                                     8
                                                                                     8
                                                                                     9
                                                                                     9
                                                                                     9
                                                                                     9
                                                                                     0
                                                                                     0
                                                                                     0
                                                                                     1
                                                                                     1
      19

                                                                               19
      Quellen: Statistisches Bundesamt (Destatis), Deutsche Bundesbank.        Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis).

      Effekt der „kalten Progression“ jedenfalls den Steuerzah-                (strukturellen) Arbeitslosigkeit und vor allem ein Anstieg
      lern cum grano salis zurückgegeben wurde.                                der Erwerbsbeteiligung schaffen jenen budgetären Spiel-
                                                                               raum, der zur Sanierung der Staatsfinanzen benötigt
      Ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Staatsverschuldung                 wird, ohne dass es dazu eines Verteilungskonflikts be-
      für die Handlungsfähigkeit werfen die Zins-/Steuerquoten                 darf.
      für den Bund und die Länder. Mit Ausnahme der neuen
      Länder, die naturgemäß mit geringer Zinslast nach 1990                   Für die These spricht auch der deutliche Anstieg des re-
      gestartet sind, und dem Land Berlin weisen alle ande-                    alen Steueraufkommens je Einwohner, der sich seit 2005
      ren Gebietskörperschaften für das Jahr 2005 eine Zins-/                  – nur kurz unterbrochen durch die Krise 2009 – einge-
      Steuerquote auf, die in etwa dem Wert des Jahres 1992                    stellt hat. Das ist im längerfristigen Vergleich auffällig und
      entspricht. Eine Ausweidung der Steuereinnahmen durch                    bemerkenswert. Denn seit 1980 war trendmäßig nur ein
      die aufgelaufene Verschuldung kann für diesen Zeitraum,                  sehr begrenzter Anstieg festzustellen. Haupttreiber dieser
      weit entfernt vom Zinsumfeld, wie es seit 2009 gilt, we-                 dynamischen Entwicklung seit 2005 dürfte der zeitgleich
      der generell noch für das Gros der Gebietskörperschaften                 begonnene kräftige sowie anhaltende Beschäftigungs-
      bestätigt werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als in                  aufbau bei guter Lohnentwicklung gewesen sein. Die Er-
      diesem Zeitraum die Wiedervereinigung zu erheblichen                     höhung der Erwerbstätigenquote auf fast 80 % ist eben-
      finanziellen Anspannungen führte; so erreichte allein die                falls im längerfristigen Vergleich beachtlich. Verbunden
      Schuldenstandsquote des Bundes bis 1998, vor allem                       war damit ein deutlicher Anstieg der realen Bruttoeinkom-
      durch die Nebenhaushalte zur deutschen Einheit und die                   men je Einwohner.
      Übernahme der Treuhandschulden getrieben, 38 %.
                                                                               Ökonomik der Schuldenbegrenzung
      Mythos der guten neuen Zeit seit 2009
                                                                               Angesichts der mitunter theologisch anmutenden Be-
      Seit über einer Dekade hat sich die Lage der öffentlichen                geisterung für die Schuldenbremse fällt auf, wie wohltu-
      Haushalte durchschlagend verbessert. Die unermüdli-                      end nüchtern der Sachverständigenrat in seiner Expertise
      chen Verfechter der Schuldenbremse rechnen dies der                      2007 formulierte: „Gemessen an den langfristigen Wir-
      neuen Verfassungsregel zu. Dafür spricht indes wenig.                    kungen ist eine Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben
      Einerseits wurden die Budgets durch die sinkenden Zins­                  im Vergleich zur Steuerfinanzierung von vornherein weder
      ausgaben infolge des historisch anhaltend niedrigen                      gut noch schlecht.“3 Da seinerzeit für Deutschland der
      Zinsniveaus automatisch entlastet. Andererseits drängt                   Zins für Staatsanleihen oberhalb der Zuwachsrate des
      sich bei längerfristiger Betrachtung die These auf, dass
      ein durchschlagender Konsolidierungserfolg insbeson-
                                                                               3       Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
      dere von der Lage auf dem Arbeitsmarkt abhängt (vgl.                             Entwicklung (im Folgenden Sachverständigenrat): Expertise „Staats-
      Abbildung 1 und 2): Erst ein anhaltender Rückgang der                            verschuldung wirksam begrenzen“, Wiesbaden 2007, Ziffer 56.

                                                                                                                        Wirtschaftsdienst 2019 | 5
318
Zeitgespräch

Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag, folgerte der Sachver-                      Abbildung 3
ständigenrat, dass eine intergenerative Umverteilung zu-                    Langfristiger Zins und nominales Wachstum des
gunsten der „Einführungsgeneration“ und zulasten künfti-                    Bruttoinlandsprodukts (BIP)
ger Generationen plausibel erwartet werden könne.4 Zu-                      in %
gleich aber forderte der Sachverständigenrat angesichts
                                                                            14
der Produktivität öffentlicher Investitionen im Sinne der                   12
„Goldenen Regel der Finanzpolitik“, diese Investitionen                     10
durch Kredite zu finanzieren. Dafür seien „die Nettoinves-                   8
                                                                                                                 Umlaufrendite Bundeswertpapiere
                                                                             6
titionen als Obergrenze für die zulässige Nettokreditauf-
                                                                             4
nahme anzusetzen“5. Neben einer solchen investitionso-                       2
rientierten Verschuldung seien „in jedem Fall kurzfristige                   0
Finanzierungsdefizite oder Finanzierungsüberschüsse                         -2
                                                                            -4
zuzulassen, die dem Wirkenlassen der automatischen                          -6
                                                                                                                       Wachstum nominales BIP
Stabilisatoren entsprechen.“6

                                                                            19 1
                                                                            19 3
                                                                            19 5
                                                                            19 7
                                                                            19 9
                                                                            19 1
                                                                            19 3
                                                                            19 5
                                                                            19 7
                                                                            19 9
                                                                            19 1
                                                                            19 3
                                                                            19 5
                                                                            19 7
                                                                            20 9
                                                                            20 1
                                                                            20 3
                                                                            20 5
                                                                            20 7
                                                                            20 9
                                                                            20 1
                                                                            20 3
                                                                            20 5
                                                                               17
                                                                               7
                                                                               7
                                                                               7
                                                                               7
                                                                               7
                                                                               8
                                                                               8
                                                                               8
                                                                               8
                                                                               8
                                                                               9
                                                                               9
                                                                               9
                                                                               9
                                                                               9
                                                                               0
                                                                               0
                                                                               0
                                                                               0
                                                                               0
                                                                               1
                                                                               1
                                                                               1
                                                                            19
Zu den Produktivitätswirkungen öffentlicher Investitio-                     Quellen: Deutsche Bundesbank; Statistisches Bundesamt.
nen lässt sich – bei allen methodischen Problemen (z. B.
Scheinkorrelationen) – auf verschiedene Studien zurück-
greifen. So bestätigten die 2007 verfügbaren Studien die                    transfer multipliers. Public investment multipliers are even
Hypothese eines positiven Effekts der öffentlichen Inves-                   larger than those of spending in general by approximately
titionen auf das BIP sowie die der Komplementarität zwi-                    0.5 units.“11
schen öffentlichen und privaten Investitionen. „Deutsch-
land zählt dabei aber zu den Ländern, in denen die Er-                      Abiad et al. untersuchen makroökonomische Effekte öf-
tragsrate öffentlicher Investitionen noch vergleichsweise                   fentlicher Investitionen in 17 OECD-Ländern zwischen
hoch und damit eine Kreditfinanzierung dieser investiven                    1985 und 2013. Die Effekte sind besonders hoch, wenn
Ausgaben, wie sie die Goldene Regel der Finanzpolitik er-                   die Kapazitätsauslastung gering ist und eine hohe Effizi-
möglicht, durchaus zu rechtfertigen gewesen ist.“7                          enz bei der Umsetzung öffentlicher Investitionen erreicht
                                                                            wird. Die Autoren kommen zu folgendem Fazit: „We find
Jüngere Studien, wie die Meta-Analyse von Bom und                           suggestive evidence that debt-financed projects have
Ligthart, zeigen, dass die Kapitalproduktivität (Multipli-                  larger expansionary effects than budget-neutral invest-
kator des staatlichen Kapitalstocks auf die private Wert-                   ments financed by raising taxes or cutting other govern-
schöpfung) mit zunehmend längerer Frist umso höher ist                      ment spending. […] Finally, our results show how critical
sowie insbesondere in Bereichen wie Infrastruktur und                       increasing investment efficiency is to mitigating the pos-
öffentliche Daseinsvorsorge entsteht.8 Eck et al. kommen                    sible trade-off between higher output and higher public-
zu dem Schluss, dass langfristige Output-Elastizitäten                      debt-to-GDP ratios.“12 All dies spricht dafür, dass die The-
von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen „in der Regel höher                  se durchaus merklicher Produktivitätswirkungen öffentli-
als die kurzfristigen“ sind.9 Lowe et al. schätzen die mar-                 cher Investitionen bestätigt werden kann. Dies gilt insbe-
ginale Produktivität des öffentlichen Kapitals; diese ist in                sondere für Investitionen in die Infrastruktur, aber ebenso
Deutschland verhältnismäßig hoch und liegt über der des                     für die Bildungsausgaben.13
privaten Kapitals.10 Gechert resümiert in einer Metaana-
lyse von über 100 Studien zu den Multiplikatoreffekten                      Niedrige Zinsen und Belastung der Gegenwart
öffentlicher Ausgaben: „Public spending multipliers are
close to 1 and about 0.3 to 0.4 units larger than tax and                   Das Zinsumfeld hat sich gegenüber der Zeit, als die Schul-
                                                                            denbremse eingeführt wurde, grundlegend verändert (vgl.
4  Ebenda, Ziffer 76.                                                       Abbildung 3). Die Finanzkrise hat die Notenbanken glo-
5  Ebenda, Ziffer 70.
6  Ebenda, Ziffer 78.
7  Ebenda, Kasten 4.                                                        11 S. Gechert: What fiscal policy is most effective? A meta-regression
8  Vgl. P. Bom, J. Ligthart: What have we learned from three decades of        analysis, in: Oxford Economic Papers, 67. Jg. (2015), H. 3, S. 553.
   research on the productivity of public capital?, in: Journal of Econo-   12 A. Abiad, D. Furceri, P. Topalova: The macroeconomic effects of pu-
   mic Surveys, 28. Jg. (2014), H. 5, S. 889-916.                              blic investment: Evidence from advanced economies, in: Journal of
9 Vgl. A. Eck, J. Ragnitz, S. Scharfe, C. Thater, B. Wieland: Öffentliche      Macroeconomics, 50. Jg. (2016), S. 239.
   Infrastrukturinvestitionen: Entwicklung, Bestimmungsfaktoren und         13 Sachverständigenrat: Jahresgutachten „Zwanzig Punkte für mehr
   Wachstumswirkungen, ifo Dresden Studien, Nr. 72, 2015.                      Beschäftigung und Wachstums“, Stuttgart 2002, Kasten 8; ders.:
10 Vgl. M. Lowe, C. Papageorgiou, F. Perez-Sebastian: The Public and           Jahresgutachten „Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken“,
   Private Marginal Product of Capital, in: Economica, 86. Jg. (2019),         Wiesbaden 2008, Ziffern 430 ff.; T. Krebs, M. Scheffel: Lohnende In-
   H. 342, S. 336-361.                                                         vestitionen, in: ifo-Schnelldienst, 68 Jg. (2016) H. 22, S. 12-14.

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                                      319
Sie können auch lesen