SCHWEDEN EDINBURGH COOL DOWN PINK BAUHAUS

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SCHWEDEN EDINBURGH COOL DOWN PINK BAUHAUS
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                 FEBRUAR 2019

SCHWEDEN
EDINBURGH
COOL DOWN PINK
BAUHAUS
SCHWEDEN EDINBURGH COOL DOWN PINK BAUHAUS
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editorial

   HÄFTLINGE, PINK UND
   DER DRANG NACH FREIHEIT

   Geschätzte Leserinnen und Leser

   Ob eingesperrt in einer Zelle, den Zwängen der Gesellschaft unterworfen oder gefangen in den
   engen Strukturen des Alltags: Wer seine Freiheit verliert, sucht nach Möglichkeiten, sie zurückzu-
   gewinnen. In der aktuellen Ausgabe des medico JOURNAL greifen unsere Autorinnen und Auto-
   ren verschiedene Dimensionen der Gefangenschaft und des Ausbruchs auf.

   Martin Mühlegg begleitet junge, unkonventionelle Freestyler auf ihrer Suche nach Freiheit und
   sportlichen Ehren. Felicitas Witte hat einen Ausflug nach Edinburgh unternommen, um dort den
   Spuren einer Chirurgin nachzugehen: Gertrude Herzfeld. Sie war eine der ersten Frauen, die im
   19. Jahrhundert aus den traditionellen Rollenbildern der Medizin ausgebrochen sind.

   Um den Zwängen des Alltags zu entfliehen, machten sich Nadja Belviso und Fotograf Adrian
   Vollenweider auf in den hohen Norden, um von Schweden zu berichten. In den Süden gelockt hat
   es Cornelia Voigt. Sie bricht aus dem grauen Alltag der Schweiz aus und vermittelt ihre vielfältigen
   Eindrücke von Bali.

   Eine Gefängniszelle in Pink? Was die untypische Farbe in der Welt hinter Gittern für eine Rolle spielt,
   erfahren Sie von Gregor Lüthy. Das Aufbrechen von Konventionen ist auch das Thema der Bau-
   haus-Bewegung, die Gabriela Beck uns näherbringt. Zu guter Letzt kommt in der Reportage von
   Marco Iezzi ein Häftling zu Sprache, der seinen Alltag im Gefängnis Affoltern am Albis verbringt.

   Viel Vergnügen beim Lesen wünschen

   Marc Schwitter                                Rolf Ryter
   Redaktion                                     Verlag
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inhalt

12   REISEN
     Ausbrechen –
     Per VW-Bus durch Schweden

     28   Bali

     38   Edinburgh

                                               82   KUNST
                                                    100 Jahre Bauhaus –
                                                    Versuchslabor für eine neue Gesellschaft

52   MENSCHEN
     Cool Down Pink

     64   Gefängnis – Drinnen, aber draussen

     72   Freestyle über den Wolken
SCHWEDEN EDINBURGH COOL DOWN PINK BAUHAUS
medico JOURNAL – REISEN                                                                    12

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                          Ausbrechen
                               MIT DEM VW-BUS
                               DURCH SCHWEDEN
                               Mit Pippi Langstrumpf hat Schweden der Welt
                               gezeigt, wie es lebt, wer sich nicht im Gefängnis
                               der Konventionen einsperren lässt. Mit dem
                               Jedermannsrecht lässt das Land Einheimischen
                               und Reisenden die Freiheit, sich überall
                               aufzuhalten, wo niemand gestört wird. Und
                               mit seinen vielen Nationalparks erlaubt es der
                               Natur, sich zu entfalten, wie sie will.

                               Der Himmel ist grau, das Meer ist grau und der Asphalt ist grau. Die
                               Scheibenwischer haben längst aufgehört zu quietschen. Ein solider
                               schwedischer Landregen schmiert die Scheiben unseres VW-Busses,
                               seit wir Malmö hinter uns gelassen haben. Schon wieder gleitet ein
                               handgemaltes Schild mit der Aufschrift Loppis an uns vorbei. «Erdbee-
                               ren vielleicht?», nehme ich unser Rätselraten zum x-ten Mal wieder auf.
                               Ich schaue im Reiseführer nach: Nein, Erdbeeren heissen Jordgubbar.

                               Erst viele Tage und Dutzende Schilder später erschliesst sich uns
                               das Phänomen: Loppis bedeutet Flohmarkt und meint hier nicht
                               nur die gut organisierten Trödelmärkte in Städten, sondern auch
                               Privatverkäufe in Garagen, Scheunen und auf Parkplätzen. Sogar
                               Kofferraumflohmärkte gibt es hier, nicht nur an Strassenrändern,
                               sondern ganz offiziell auch in Wörterbüchern: Bagageloppis. Vor
                               allem in ländlichen Regionen bessern viele private Anbieter ihre
                               Haushaltskasse mit dem Verkauf ausgedienter Habseligkeiten auf.

                               Loppis-Schildern zu folgen, lohnt sich: Einerseits besteht die Chan-
                               ce, die kaputte Knoblauchpresse zu einem unschlagbaren Preis zu
                               ersetzen oder ein Moskitonetz zu finden, das engmaschig genug
                               ist, um die in Skandinavien verbreiteten Kriebelmücken fernzuhalten.
                               Andererseits ermöglichen die Besuche privater Flohmärkte authen-
                               tische Einblicke ins schwedische Landleben und Begegnungen mit
                               der Bevölkerung. Anders als in den Städten, wo praktisch alle beinahe
                               perfekt Englisch sprechen, und gerade bei älteren Loppis-Anbietern
                               bedient man sich zur Verständigung oft der Hände und Füsse.

                               links: Wir sind früh aufgestanden, die Sonne noch früher.
                               5 Uhr morgens irgendwo in Südschweden.
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Campingleben leicht gemacht
F     ür einen Roadtrip im VW-Bus ist Schweden prädestiniert. Aus
      vielen Gründen. Einer der wichtigsten ist wohl das Allemans-
rätten. Das Jedermannsrecht erlaubt Reisenden, sich in der Natur
frei zu bewegen, auch auf Privatgrundstücken. Ein weiterer Grund
ist die enorme Naturvielfalt: Astrid-Lindgren-Idylle im Süden, ur-
sprüngliche Wildheit in Mittelschweden, schroffe Schären an der
Westküste und lieblich-grüne im Osten, Berge und Meer, Klippen
und Sand, Wälder und Moore. Nicht zuletzt ist das Land von Däne-
mark her über die im Jahr 2000 eröffnete Öresundbrücke einfach
zu erreichen.

Die rund 1500 Kilometer von Zürich nach Malmö bewältigen wir
in 15 Stunden, aufgeteilt in zwei Etappen. Als wir ankommen,
suchen wir uns einen ersten Übernachtungsplatz und finden ihn
auf Anhieb. Ein gekiestes Waldsträsschen führt uns zu einem
verlassenen Parkplatz irgendwo im Niemandsland. Dass uns hier
draussen ein sauberes Klo in einem Holzhäuschen zur Verfügung
steht, erstaunt uns zwar angesichts der Tatsache, dass der Ort
kaum frequentiert ist, doch wir sind dankbar. Noch haben wir nicht in
den Büssli-Lifestyle gefunden, der als Preis für das Freiheitsgefühl
Duschen unter freiem Himmel und Notdurft im Dickicht verlangt
(Hinterlassenschaften werden selbstverständlich vergraben,
benutztes Klopapier akkurat verbrannt).

Bald merken wir aber, dass Wildcampern hier die hygienischen Her-
ausforderungen denkbar leicht gemacht werden. Das öffentliche WC
am Waldrand ist in der Nähe von Dörfern keine Ausnahme. Duschen
lässt sich für wenig Geld in öffentlichen Saunen, und den Frischwas-
sertank des Wohnmobils darf man auf Campingplätzen und Tank-
stellen meist kostenlos oder gegen eine kleine Gebühr auffüllen.

     «FÜR EINEN
 ROADTRIP IM VW-BUS
   IST SCHWEDEN
  PRÄDESTINIERT.»

rechts: Wildcampen an einsamen Seeufern: Das Jedermannsrecht macht es möglich.
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                          Schwedisch:
                          Hürde und Amüsement
                          U       nsere Route ist grob geplant: Die schärenreiche Ostküs-
                                  te hoch bis Stockholm, landeinwärts zu den Nationalparks
                          Mittelschwedens, wieder südwärts zum grössten Süsswassersee
                                                                                               Die Sprache wird uns auf unserer dreiwöchigen Reise öfter das Ge-
                                                                                               fühl geben, weit weg von zu Hause zu sein und uns gleichzeitig die
                                                                                               tränenreichsten Lachanfälle der letzten Jahre bescheren. Im her-
                          Europas und dann der Westküste entlang zurück zur Südspitze.         zigen Küstenstädtchen Kristianstad nutzen wir einen kurzen Re-
                          Anfangs streifen wir einigermassen ziellos umher. Das Wetter mo-     genstopp nicht nur, um durch die einladende Altstadt zu flanieren,
                          tiviert uns kaum, die Pläne in Angriff zu nehmen. So landen wir am   sondern auch, um eine Zeitung zu kaufen, die uns die Wetterprog-
                          Strand von Ystad, wo ein Rettungsring als einziger Farbtupfer den    nose für die nächsten Tage offenbaren soll. Das väder soll besser
                          Blick gefangen hält. Abgesehen von ein paar melancholischen Bil-     werden. Glaube ich zumindest, als ich lese: «Både lördag och sönd-
                          dern gibt dieser Strandmorgen kaum etwas her.                        ag ska vara soligt och regn fritt» und frei übersetze: «Irgendwas mit
                                                                                               Sonne und frittiertem Regen (haha). Sonne kommt jedenfalls drin
                          Wir beschliessen, den Regentag zu nutzen, um die Essensvorräte       vor.» Perfekt – wir peilen die Insel Öland an.
                          zu füllen. So kommen wir doch noch in den Genuss eines Abenteu-
                          ers. Denn der erste Einkauf in Schweden entpuppt sich dank unse-
                          rer absoluten Unkenntnis der Sprache als wahre Odyssee. Allein die
                          Suche nach einem Vollrahm kostet uns eine Viertelstunde. Nach
                          intensivem Studium der Verpackungen kommen wir zum Schluss,
                          dass man hier wohl zu grädde greifen muss. Und jetzt? Visp grädde,
                          mellan grädde oder syrad grädde? Wir orientieren uns an der Illus-
                          tration eines Kochtopfs. Erst beim abendlichen Kochen werden wir
                          merken, dass wir besser einem anderen Aufdruck Beachtung ge-
                          schenkt hätten: Laktosfri steht da. Das verstehen sogar wir Anfän-
                          ger, nur mögen tun wir es nicht.

                          links: Auch ganz in der Nähe einer
                          x-beliebigen Landstrasse ist die Natur
                          wild und wunderbar.
                          rechts: Ein Strand bei Regen.
                          Der Rettungsring wird heute wohl
                          hängen bleiben.
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Paradies für Botaniker
D       ort erkunden wir Windmühlen aus dem 19. Jahrhundert, be-
        suchen den Långe Jan, Schwedens grössten Leuchtturm,
und sind begeistert vom Stora Alvaret, einer der letzten Karst-
                                                                      Dass wir uns dagegen entscheiden, erweist sich als nicht allzu
                                                                      schlimm: Schweden ist überall atemberaubend. Selbst was wir zwi-
                                                                      schen den Sehenswürdigkeiten antreffen, haut uns Tag für Tag um.
landschaften Europas, die 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO          Allein die Übernachtungsplätze in freier Natur; eine Lichtung, auf
erklärt wurde. Wirkt die Gegend auf den ersten Blick karg und ein-    der wilde Kamille für eine angenehme Duftkulisse sorgt, das Ufer
tönig, verändert sich das Bild, sobald man aus dem Bus steigt und     eines Waldsees oder die stillgelegte, längst überwachsene Kies-
die Augen auf den Boden richtet: Zwar haben wir die Blüte der über    grube, deren Seitenhänge uns wie die Zuschauerränge eines Am-
40 Orchideenarten im Mai verpasst, doch immer noch bietet sich        phitheaters umgeben. Kein einziges Mal werden wir gestört, kein
eine unglaubliche Vielfalt an Pflanzen dar, die sonst nirgendwo auf   einziges Mal empfindet uns jemand als störend. So fühlt sich Frei-
der Welt wachsen. Dazu kommen unzählige reliktische Arten, die        heit an.
aus unterschiedlichsten Klimazonen stammen, von mediterran bis
arktisch alpin. Ein Paradies nicht nur für Botaniker.

Der Schärengarten zwischen Oskarshamn und Västervik ist unser
nächstes Ziel. Es zu erreichen, kostet viele Autostunden mehr als
gedacht, da an einer derart verwinkelten Küste keine pfeilgeraden
                                                                                  «SO FÜHLT SICH
und schnell befahrbaren Strassen vorhanden sind. Wir erhaschen
einige schöne Blicke auf die bewaldeten Inseln vor der Küste, aber
                                                                                   FREIHEIT AN.»
uns ist klar, dass uns die richtig beeindruckenden Panoramen, die
romantischen kleinen Buchten und die Strandcafés unter Waldbäu-
men verwehrt bleiben, wenn wir den Bus nicht zurücklassen, um uns
mit einem Boot zu einem B&B auf einer der Inseln fahren zu lassen.    unten: Für Ölands Bauern waren die Windmühlen im 19. Jahrhundert ein Statussymbol.
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Schwedens
schönste Märchen
A       uf dem Weg in den Norden legen wir einen Zwischenstopp
        in der Region um Vimmerby ein, der Geburtsstadt Astrid
Lindgrens. Wir haben jedoch nicht den Themenpark Astrid Lind-
gren Värld im Visier, sondern authentische Landschaften, die eine
typische Kinderbuch-Idylle zeigen. Besonders beeindruckt uns die
Kvilleken, eine rund 1000 Jahre alte Eiche, deren Stamm einen Um-
fang von ungefähr 14 Metern misst.

Der Besuch dieses Baumgreises ist die perfekte Einstimmung für
die Wanderung im Nationalpark Nora Kvill, wo seit über 150 Jahren
kein Baum mehr gefällt wurde. Schon nach wenigen Metern wäh-
nen wir uns in einer geheimnisvollen Märchenwelt. Umgestürzte
Baumskelette, moosbewachsene Felsbrocken, riesige, bunte Pil-
ze, von den Bäumen hängende Bartflechten, verwunschene Seen
voller Seerosen. Würde im Dickicht dieses stillen, erdduftenden
Urwalds plötzlich ein Troll auftauchen, wir wären nicht verblüfft.
Schweden hat uns vollends im Sack. Und wir sind begierig auf wei-
tere Naturerlebnisse.

rechts: Die 1000-jährige Kvilleken ist die dickste Eiche Schwedens.
unten: Der Urwald im Nationalpark Nora Kvill weckt Fantasien über Trolle und Feen.
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                          Höher, älter, wilder
                          M       ittelschweden sollte uns diesbezüglich nicht enttäuschen.
                                  Hier erwartet uns eine wildere Seite des Landes, die aber in
                          ihrer Rauheit nicht minder berührt. In der Provinz Dalarna wandern
                          wir durch den Nationalpark Fulufjället, um den grössten Wasserfall
                          des Landes, den 93 Meter hohen Njupeskär und den ältesten indi-
                          viduellen Klonbaum der Welt, den 9550-jährigen Old Tjikko zu se-
                          hen. Während Ersterer akustisch und optisch umwerfend ist, wirkt
                          Letzterer geradezu unscheinbar. Das liegt einerseits daran, dass
                          der Stamm «bloss» ein paar Hundert Jahre alt ist, und andererseits,
                          dass Fichten in dieser Klimazone nur sehr langsam wachsen.

                          Mittelschweden bietet aber nicht nur natürliche Sensationen, son-
                          dern auch menschengemachte. In der Nähe des Trollvägen, einer
                          magischen Strasse, auf der das Auto im Leerlauf bergauf zu rollen
                          scheint, befindet sich ein Heer von Steintürmen. Auch wenn sie kaum
                          ein Reiseführer erwähnt, lohnt sich der Besuch dieses lustigen Mo-
                          numents, das sich im fortwährenden Bau befindet. Wer Zeit hat, fügt
                          Türmchen hinzu oder baut ein zusammengefallenes wieder auf.

                          «HIER ERWARTET UNS
                             EINE WILDERE
                           SEITE DES LANDES,
                           DIE ABER IN IHRER
                            RAUHEIT NICHT
                           MINDER BERÜHRT.»

                          links: Mit Stora Alvaret verfügt die Insel Öland über eine der letzten Karstlandschaften
                          Europas und Lebensraum für seltene Pflanzen.
                          rechts: Natürliche Filmkulisse: In der Schlucht Kungsklyftan bei Fjällbacka wurden
                          Teile von Ronja Räubertochter gedreht.
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medico JOURNAL – REISEN                                                                      24

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links: Die Schiffsetzung von Anundshög stammt aus dem 6. Jahrhundert.
mitte: Die raueren Schären im Westen verfügen über eine eigentümliche Schönheit.
oben: Runensteine sind in Schweden weit verbreitet. Über 2800 sind bisher gefunden worden.
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Ein Elch aus nächster Nähe
W        aren wir zur Halbzeit langsam unruhig geworden, weil uns
         noch kein Elch begegnet war, hat sich dieses Thema inzwi-
schen erledigt. Obwohl Elche Einzelgänger sind und die Brunft noch
nicht begonnen hat, überqueren eines Morgens direkt vor uns gleich
mehrere Exemplare die Strasse. Nicht allzu nah zwar, aber doch so,
dass wir sie gut beobachten können. Auf dem Weg an die Westküste
brechen wir ein zweites Mal in Jubelschreie aus: Wir entdecken eines
dieser imposanten Tiere unmittelbar neben uns gemütlich kauend
zwischen brusthohen Jungbäumen am Strassenrand.

Als Abschluss unserer Reise wollen wir der Westküste bis zur Öre-
sundbrücke folgen. Mit ihren felsigen Schären, den malerischen Fi-
scherdörfern und den natürlichen Filmkulissen ist die Küste ein be-
liebtes Ferienziel. Inzwischen komplett frei von Erlebnisgier lassen wir
uns während unserer letzten Tage in diesem abwechslungsreichen
Land einfach treiben und geniessen, dass wir auch ohne Planung
immer wieder von natürlichen und menschengemachten Prezio-
sen überrascht werden: romantische Badeplätzchen an verlassenen
Seen, ein Vogelschutzgebiet, eine Übernachtungsmöglichkeit auf
einem bewaldeten Damm. Und sogar noch ein bisschen Astrid Lind-
gren finden wir hier: die Schlucht, über die die Räuberkinder in der
Verfilmung von Ronja Räubertochter springen, als sie aus der Fehde
ihrer Eltern ausbrechen, um ihre Freundschaft in Freiheit zu pflegen.

rechts: Am Strand des Vänern, dem grössten Süsswassersee Europas, finden wir die pure Idylle.
unten: Eine Terrasse aus Porphyr leisten sich in der Schweiz nur wenige; in Schweden liegt das
Gestein tonnenweise herum.

Text: Nadja Belviso
Bilder: Adrian Vollenweider
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                          Bali
                          ATMEN
                          UND ERLEBEN

                          Die Götterinsel, wie Bali treffenderweise sonst
                          noch genannt wird, hat verschiedene Gesich-
                          ter: Abgesehen von schönen Stränden, die auch
                          massenweise australisches Partyvolk anlocken,
                          bietet dieser hübsche Flecken Erde interessier-
                          ten Menschen spannende Möglichkeiten, tiefer
                          einzutauchen.

                          Religion und Spiritualität geniessen in der balinesischen Gesellschaft
                          einen hohen Stellenwert. Die Freundlichkeit der Menschen, die Hilfs-
                          bereitschaft und der Respekt gegenüber anderen, sind in den tägli-
                          chen Begegnungen spürbar. Authentizität ist eine der herausragen-
                          den Eigenschaften, die sich Bali trotz Massentourismus bewahrt hat.

                          Dieser Nährboden, gepaart mit einer ordentlichen Portion Hedonis-
                          mus und Sinnsuche von uns Westlern, gebiert eine Vielzahl an eso-
                          terischen und spirituellen Angeboten. Ausbrechen aus Sinnlosigkeit
                          und rigiden gesellschaftlichen Strukturen – das ist die Motivation
                          zahlreicher Besucher aus Europa, Amerika und Asien. Bali ist unbe-
                          stritten ein guter Ort dafür. Kein Zufall, hat auch Yoga in Bali eine zwei-
                          te Heimat gefunden.

                          Mit wenigen Grundkenntnissen und einer gehörigen Portion Neugier
                          breite ich ein erstes Mal meine Matte aus. Einige Yogis sitzen bereits in
                          stiller Meditation. Zur Einstimmung ertönt sanfte Musik. Die Lehrerin
                          teilt eine kleine Lebensphilosophie mit uns. Über die Atmung sollen wir
                          in uns hineinfühlen und uns mit unserem Körper verbinden. Ein langes,
                          tiefes «Ohm» ertönt aus 36 Kehlen. Ungewohnt, aber stimmungsvoll
                          startete die heutige Yoga-Klasse und damit die Reise zum Selbst.

                          links: Unesco Weltkulturerbe: die Reisterrassen von Jatiluwih.
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A       ls Nächstes steht die Erkundung von Ubud an, einem exo-
        tischen und pulsierenden Ort. Ubud ist weit verzweigt und
liegt inmitten von leuchtend grünen Reisfeldern. Im Zentrum kann
man sich auf holprigen Trottoirs gut zu Fuss bewegen. Nebst den
Yoga-Studios laden gemütliche, zum Teil ziemlich trendige Res-
taurants und Cafés zum Verweilen ein. Vegan und organic stehen
hoch im Kurs. Achtung: «Vegetarisch» wird hierzulande eigenwillig
ausgelegt. Poulet und manchmal auch Fisch zählen in Bali zur vege-
tarischen Küche. Möchte man sich tatsächlich fleischlos ernähren,
erwähnt man dies besser noch einmal explizit. «No Chicken, no
Fish, please.»
                                                                          «DIE BEIDEN
In Ubud bieten originelle Läden Inspiration und man könnte Tage
mit Shopping verbringen. Man findet hier stilvolle Wohnaccessoires,         TEMPEL
bunte Kleider, Yoga-Artikel und allerlei Schnickschnack. Unzählige
Tätowierer bieten ihre Künste an und an fast jeder Strassenecke          GUNUNG KAWI
gibt es Spa. Die fantastischen Massagen, welche dort für wenig
Geld angeboten werden, sind ein echtes Highlight.                      UND TIRTA EMPUL
Die Strassen rund um Ubud sind grundsätzlich zu schmal und zu           SIND AUF JEDEN
voll. Dank der entspannten Grundeinstellung der Menschen funk-
tioniert der Verkehr trotzdem. Sogar E-Bike-Touren durch die von          FALL EINEN
Reisfeldern geprägte Gegend werden angeboten.
                                                                        BESUCH WERT.»
Ich leihe ein fahrtüchtiges Velo aus, um die Landschaft zu erkun-
den. Die beiden zwölf Kilometer entfernten Tempel Gunung Kawi
und Tirta Empul sind auf jeden Fall einen Besuch wert. Überall am
Strassenrand stehen landestypische Häuser. Die dazugehörenden
Familientempel sind teilweise von beachtlicher Grösse. Ab und an
passiere ich dekorierte Bäume, die ebenfalls verehrt werden. Bali
ist sehr dicht besiedelt. Es finden sich kaum offene, unbebaute Flä-
chen. Gebäude und Reisfelder prägen die Landschaft.

Die Tempelanlage Gunung Kawi liegt in einem hübschen Flusstal.
Nachdem man den Eintritt bezahlt und den für Frauen und Männer
obligatorischen Sarong um die Hüfte geschlungen hat, steigt man
unzählige Stufen hinunter. Der drohende Regen hält die Souvenir-
verkäufer zurück und sorgt dafür, dass sie heute nur halbherzig en-
gagiert sind. Grosse, aus dem Felsen gehauene Altare, umrahmen
das Gelände. Die exotischen Pflanzen und Lianen, die von den Bäu-
men hängen, erinnern an die Kulissen von Indiana Jones. In diesem
stimmungsvollen Ambiente hält eine Familie ein Ritual ab: Sie bringt
                                                                                                                                «BUNTE SCHAREN VON
Opfergaben dar, entzündet Räucherstäbchen und spricht Gebete.
                                                                                                                              BESUCHERN BADEN HIER IM
Turbulenter geht es beim Wassertempel Tirta Empul zu, einer von
Balis wichtigsten Tempelanlagen. Bunte Scharen von Besuchern ba-
                                                                                                                              HEILIGEN WASSER, UM SICH
den hier im heiligen Wasser, um sich von Krankheiten und anderen
Problemen zu befreien. Gläubigen, die Stille suchen, steht ein sepa-
                                                                                                                               VON KRANKHEITEN UND
rater Platz zur Verfügung.
                                                                                                                              PROBLEMEN ZU BEFREIEN.»

                                                                                         links: Üppige Dekoration, wie man sie oft bei Tempeln antrifft.
                                                                                         rechts: Wassertempel Tirta Empul.
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oben: Ein kunstvoll geschnitzter Penjor.
mitte: Festlicher Einzug in den Tempel an Kuningan.
rechts: Ein ganzer Berg an Opfergaben im Tempel Tirta Empul.
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                          U      m Bali auch kulinarisch zu entdecken, bietet sich ein Kochkurs
                                 an. Dieser beinhaltet als Erstes einen Marktbesuch. Unser
                          Reiseleiter erklärt uns die exotischen Gemüsesorten. Dazu gehört
                          die rund ein Meter lange Schlangenbohne, aus der wir zusammen
                          mit Spinat, Sprossen, Kokos, Chili und anderen Gewürzen unseren
                          Salat zubereiten werden. Nebst Papayas, Mangos und Mangosta-
                          nen, sind die grünen Mini-Bananen und die Schlangenhautfrucht
                          weitere Besonderheiten. Letztere sind aufgrund ihrer festen Schale
                          besonders praktisch für unterwegs.

                          Die Vielfalt an Gewürzen ist beeindruckend: Galgant, Kurkuma,
                          verschiedene Ingwer, Koriandersamen und Kafirlimetten machen
                          neugierig auf die Gerichte. Am ausgefallendsten ist die Kerzen-
                          oder Lichtnuss. Eine weitere Bezeichnung ist Kemirinuss. Ihr Kern
                          gleicht einer Maccadamia. Die Kemirinuss findet in der malayischen
                          und indonesischen Küche häufig Verwendung. Vom Verzehr in ro-
                          hem Zustand sei dringend abgeraten: Unbehandelt ist sie giftig und
                          verursacht starke Bauchschmerzen. All diese Zutaten sind essen-
                          zieller Bestandteil der ominösen Basis-Paste. Diese verleiht vielen
                          Gerichten ihr ganz spezielles Aroma.

                          Auf der Weiterfahrt zum Kochstudio erklärt uns Maduk, der Reiseleiter,
                          die Besonderheiten des balinesischen Reises. Nebst der weissen Sor-
                          te mit kleinen runden Körnern, existieren eine rötlich-braune und eine
                          schwarze. Schwarzer Reis wird zusammen mit Kokosmilch zu Black
                          Rice Pudding gekocht, einem äusserst gehaltvollen, süssen Gericht.

  «DIE AUSWAHL AN
    GEWÜRZEN IST
  BEEINDRUCKEND.»

                          oben: Die rund ein Meter lange Schlangenbohne, aus der wir einen leckeren Salat zubereiten.
                          unten: Das Rezept letztendlich ist geheim. Doch hier die wichtigsten Ingredienzien der Basis-Paste.
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B      ali verfügt über tropisches Klima und ausreichend Wasser,
       sodass das ganze Jahr über Reis angebaut werden kann. Es
gibt keine saisonalen Schwankungen. Der Reisanbau ist mühsam,
weil mit viel Handarbeit verbunden. Junge Leute findet man kaum
noch auf den Feldern. Es ist zu befürchten, dass Balis weltberühm-
te Reisterrassen dereinst verschwinden werden. Die Terrassen von
Jatiluwih sind von überwältigender Schönheit und zählen zu den
bekanntesten ihrer Art.

Spaziergänge von unterschiedlicher Länge sind markiert. Sie zu
entdecken, ist eine besondere Art der Meditation: Schritt um Schritt
tun, atmen und dieses beruhigende Grün auf sich wirken lassen.
                                                                                  «MAN MUSS KEINE
Von Schreinen und Familientempeln her verbreiten Räucherstäb-
chen ihren Duft. Einsam ist es hier keineswegs. Heute ist Kuningan,
                                                                                  WASSERRATTE SEIN,
ein Fest, an dem besonders viele Menschen unterwegs sind.
                                                                                     UM IN BALI
Galungan findet alle 210 Tage statt. Es ist das wichtigste religiöse
Fest Balis und endet nach zehn Tagen mit dem Kuningan-Fest.
                                                                                 GENUSSVOLLEN UND
Die Strassen sind in dieser Zeit mit wunderschönen Penjors ge-
schmückt – von Meisterhand gefertigte Bambusfahnen. Im Zen-
                                                                                   INTERESSANTEN
trum der Feier steht die Schöpfung, der Sieg des Guten über das
Böse. Die Balinesen gedenken der Ahnen und huldigen den Göttern.
                                                                                     URLAUB ZU
Sanyang Widi, die Inkarnation des göttlichen Dreigestirns Shiva,
                                                                                    VERBRINGEN.»
Vishnu und Brahma, steigt von seinem Berg Gunung Agung herab
und besucht die Tempel. Die Geister der Verstorbenen kehren zu-
rück in die Häuser. Es ist üblich, sie mit Opfergaben willkommen zu
heissen. An Kuningan verlassen die Geister und Götter die Häuser
und Tempel wieder. An diesem Tag zieht Barong, der Löwenhund,
durch die Strassen. An den bunten Prozessionen kann man sich nur
schwer sattsehen.

Man muss kein Strandfan und keine Wasserratte sein, um in Bali ge-
nussvollen und interessanten Urlaub zu verbringen. Allerdings sollte
man sich bewusst sein, dass die Insel auf dem pazifischen Feuerring
liegt und somit prädestiniert ist für Erdbeben, Tsunamis und Vulkan-
ausbrüche. Der Gunung Agung, der mit gut 3000 Metern höchste
Berg der Insel, ist ein aktiver Vulkan. Seine Besteigung böte eine
prächtige Alpinwanderung (T4). Aufgrund anhaltender Aktivität ist
das Gebiet jedoch seit Ende 2017 gesperrt.

                                                                                                       Text und Bilder:
links: In Tirta Empul gibt es auch ruhige Ecken.                                                       Cornelia Voigt
rechts: Die Reisterrassen von Jatiluwih, eingebettet in eine Vulkanlandschaft.
medico JOURNAL – REISEN                                                                        38

                                                                                               39

                          Edinburgh
                              TROMMELN,
                              KANONENDONNER
                              UND HERUNTER-
                              FALLENDE KUGELN:
                              «I AM A STAGE FOR
                              YOU TO PLAY UPON,
                              I AM EDINBURGH.»

                              links: Im Fischerdörfchen Leiths kann man übernachten und mit dem Bus in die Stadt pendeln.
medico JOURNAL – REISEN                                                                               40

                                                                                                      41

Wie gefangen müssen sich die Frauen vorge-
kommen sein? Gefangen in den Konventionen,
in Traditionen, in einer männerdominierten
Welt? Für eine Frau war es lange Zeit undenk-
bar, Ärztin zu werden. Die Männer trauten es
ihnen nicht zu, erst Recht nicht in chirurgischen
Fächern. Gertrude Herzfeld waren die Vorurtei-
le offenbar egal. Schon als Fünfjährige soll die
Tochter österreichischer Emigranten gewusst
haben, dass sie Ärztin werden wollte.
                                                                                    «SECHS LEISTEN-
Herzfeld, geboren 1890, war die erste praktizierende Chirurgin in
Schottland und die zweite Frau, die Mitglied im Royal College of Sur-
                                                                                     HERNIEN SOLL
geons in Edinburgh werden durfte. Wer an den Hunderten anato-
mischen Präparaten vorbeigegangen ist, an den grotesk grossen
                                                                                   DIE CHIRURGIN IN
Knochentumoren, an den Ungeborenen mit Deformitäten, an den
Skeletten mit verkrüppelten Unterschenkelknochen, an dem Phyto-
                                                                                      50 MINUTEN
bezoar des kleinen Mädchens – dann sieht man Herzfelds Portrait mit
dem gütigen Gesicht. Eine einfühlsame Ärztin, so kommt es einem in
                                                                                   OPERIERT HABEN.»
den Sinn, mit einem energischen Blick und einer massigen Statur, die
sicherlich so manch einem männlichen Kollegen Respekt einflösste.
1920 wurde sie Chirurgin und arbeitete 25 Jahre im Kinderkranken-
haus in Edinburgh. «Gertie» wie sie liebevoll genannt wurde, operierte
schon ambulant, bevor das zur Routine wurde – einfach weil es nicht
genügend Spitalbetten gab. Sechs Leistenhernien soll die Chirur-
gin in 50 Minuten operiert haben. Doch nicht nur das Operieren lag
ihr am Herzen. Sie lehrte Kinderchirurgie an der Uni in Edinburgh, be-
riet Gesellschaften für körperbehinderte Kinder, war Vorsitzende der
Britischen Ärztegesellschaft in Edinburgh, nationale Präsidentin der
Ärztinnen-Vereinigung und unterstützte junge Kolleginnen bei ihrer
Karriere. Als Herzfeld mit 91 Jahren starb, schrieb das British Medical
Journal: «A large woman in heart [and] mind.»

Die Surgeons' Hall Museums der Schottischen Gesellschaft für Chi-
rurgie sind ein Muss für jeden Mediziner in Edinburgh. Die patholo-
gisch-anatomische Sammlung ist eine der grössten und ältesten der
Welt. Der Besucherin wird wieder bewusst, wie grossartig die Erfin-
dung der Anästhesie ist, was für ein Spektakel die Anatomievorlesung
damals gewesen sein muss und sie stellt überrascht fest, dass Charles
Bell nicht nur ein talentierter Arzt, sondern auch Künstler gewesen ist:
Sein Gemälde eines Soldaten zeigt so anschaulich einen Opisthoto-
nus durch Tetanus, dass Frank Netter neidisch geworden wäre.

links: «Gertie» Gertrude Herzfeld. @ The Royal College of Surgeons of Edinburgh.
rechts: Tron Kirk auf der Royal Mile.
medico JOURNAL – REISEN                                                                                                                                                 42

                                                                                                                                                                        43

                                          V      ielleicht liegt es an der Offenheit der Schotten, dass eine
                                                 Frau damals so eine Karriere machen konnte, obwohl das
                                          alles andere als normal war? Vielleicht weil Schottland selbst lan-
                                                                                                                        «Schottland als Reiseziel steht immer im Schatten von England»,
                                                                                                                        sagt Anna Campbell Birn, die in Kanada wohnt und gerade ein Se-
                                                                                                                        mester in Edinburgh studiert. «Die Schotten überschlagen sich
                                          ge vergeblich kämpfte, um von England unabhängig zu werden?                   zwar nicht vor Freundlichkeit, aber wenn man sich mit den Leuten
                                          Noch 1997 stimmten 4 von 5 Schotten für den Autonomiestatus,                  etwa im Pub oder im Restaurant etwas unterhält, wird man mit
            «DAS BALMORAL WURDE 1902      aber 2014 votierten 55,3% ganz knapp gegen eine Unabhängigkeit                grossartigen Geschichten, vielen Tipps und Gratis-Drinks belohnt.»
                                          Schottlands. Seit dem 15. Jahrhundert ist Edinburgh Hauptstadt                Salzig riecht die Luft und ein im Vergleich zum lausekalten Zürich
          ALS BAHNHOFS-HOTEL GEBAUT...»   von Schottland und seit 1999 Sitz des schottischen Parlaments.                warmer Wind schlägt einem entgegen, als man die wackelnde
                                          Mit knapp 500'000 Einwohnern ist es nach Glasgow die zweitgröss-              Gangway am Flughafen heruntersteigt. Das Meer ist nicht weit, 10
                                          te Stadt Schottlands.                                                         Kilometer östlich von Edinburgh liegt der «Hausstrand» Portobello,
                                                                                                                        15 Kilometer nordwestlich überspannt eine rote Eisenbahnbrü-
                                                                                                                        cke – übrigens Weltkulturerbe – den Fjord «Firth», wo der Forth in
                                                                                                                        die Nordsee mündet. Wer «Firth of Forth» auch nach dem dritten
                                                                                                                        Whisky noch problemlos aussprechen kann, dürfte wohl von allen
                                                                                                                        Schotten akzeptiert sein.

                                                                                                                        Der Barmann im «Balmoral Hotel» zieht eine Augenbraue hoch. Ei-
                                                                                                                        nen Whisky wolle die Touristin aus der Schweiz? Ja, aber was denn
                                                                                                                        für einen? «We have more than 550 Single Malt Scottish Whiskies!»
                                                                                                                        Gut, jeder habe ja mal klein angefangen, sagt er und schenkt mir ein
                                                                                                                        Glas ein. Er erinnert an einen Grappa aus dem Holzfass, nur rauchi-
                                                                                                                        ger. Das Zeug schmeckt so gut, dass man die Schotten versteht:
                                                                                                                        Whisky gehört hier zum Alltag, sei es als Feierabendbier, nach dem
                                                                                                                        Shoppen oder «mal eben so» in einem Pub.

                                                                                                                        Vom Balmoral Hotel, gebaut 1902, am Anfang der Princess Street,
                                                                                                                        lassen sich alle Sehenswürdigkeiten zu Fuss erreichen und die sym-
                                                                                                                        pathischen Concierges haben stets persönliche Tipps parat. Hier
                                                                                                                        hat Joanne K. Royling ihren Harry Potter zu Ende geschrieben, ein
                                                                                                                        Zimmer ist ihr gewidmet, was regelmässig von Fans ausgebucht ist.
                                                                                                                        Am nächsten Morgen reibt sich die Touristin verwundert die Au-
                                                                                                                        gen. Ist man in der Fantasie-Welt von Harry Potter gelandet? Oder
                                                                                                                        lag es doch an den zwei Gläsern Whisky? Die Uhr am Uhrturm des
                                                                                                                        Balmoral geht drei Minuten vor! Doch Concierge Andrew Thomson
                                                                                                                        beruhigt: Das sei schon immer so. «Das Balmoral wurde als Bahn-
                                                                                                                        hofs-Hotel gebaut und die Uhr wurde drei Minuten vorgestellt, da-
                                                                                                                        mit Reisende nie ihren Zug verpassen.»

                                                                                                                           «...UND DIE UHR
                                                                                                                             WURDE DREI
                                                                                                                                MINUTEN
                                                                                                                            VORGESTELLT,
                                                                                                                         DAMIT REISENDE NIE
                                                                               links: Vom luxuriösen Balmoral Hotel
                                                                               kann man die Sehenswürdigkeiten gut
                                                                                                                               IHREN ZUG
                                                                               zu Fuss erreichen und sich nachmittags
                                                                               bei high tea oder im Spa erholen.             VERPASSEN.»
medico JOURNAL – REISEN                                                                        44

                                                                                               45

links: Das Scott Monument ist dem Schriftsteller Sir Walter Scott gewidmet.
Die 287 Stufen auf die Spitze lohnen sich für einen Ausblick auf Edinburgh und die Umgebung.
mitte: Very british: Häuser am Park «The Meadows».
oben: Trotz Handy-Zeitalter: Die roten Telefonzellen gibt es noch.
medico JOURNAL – REISEN                                                                                                                                                     46

                                                                                                                                                                            47

A      rchitekt James Craig liess im 18. Jahrhundert die südliche
       Seite der Princess Street frei. So blieb Platz, um den Nor
Loch trockenzulegen und in einen Park umzuwandeln. Der Loch –
                                                                         um es runterzuspülen.» Sie finde, Haggis schmecke eigentlich ganz
                                                                         lecker, sagt Anwältin Dorothea aus Den Haag, «Mit gerösteten To-
                                                                         maten und Pilzen, gebratenen Eiern, Bohnen und Speck wird das
Schottisch für See – muss übel gerochen haben. Leute warfen hier
ihre Abfälle hinein, und bis ins 17. Jahrhundert galt er als Hinrich-
                                                                         auch zum Frühstück angeboten – da ist man bis abends satt.»
                                                                                                                                             «AUF DEM GROSSEN PLATZ VOR DER BURG,
tungsort. Berühmt ist der Tod der 18-jährigen Margaret Wilson und
der 63-jährigen Margaret McLachlan. Sie wurden 1685 im See er-
                                                                         Edinburgh habe mehr Restaurants pro Kopf als jede andere Stadt in
                                                                         Grossbritannien – London ausgenommen, erzählt Andrew Thomas,
                                                                                                                                              DER ESPLANADE, FINDET JEDEN SOMMER
tränkt, angeblich weil sie sich weigerten, den König von Schottland,
James VII, als Oberhaupt der Kirche anzusehen.
                                                                         Concierge im Balmoral-Hotel. «Die grosse Auswahl unterschiedli-
                                                                         cher Küchen und verschiedener Restaurant-Stile macht es enorm
                                                                                                                                                   DAS MILITARY TATTOO STATT,
James VII war der letzte katholische Monarch in Grossbritannien.
                                                                         schwierig, den Gästen ein passendes Restaurant zu empfehlen. Ich
                                                                         höre mir deshalb immer genau an, was der Gast sich vorstellt und
                                                                                                                                             URSPRÜNGLICH VOR ALLEM MILITÄRMUSIK
Wegen seiner prokatholischen und absolutistischen Politik wurde er
kurzerhand abgesetzt. Im Königspalast im Schloss bekommt man
                                                                         gebe ihm dann einen Tipp.» Der 29-Jährige, der schon sein gan-
                                                                         zes Leben in Edinburgh lebt, hat die meisten Restaurants und Pubs
                                                                                                                                                MIT DUDELSACK UND TROMMELN.»
eine ungefähre Vorstellung, wie gebeutelt das Land und die Men-          selbst ausprobiert und das richtige Gespür entwickelt: Seine Emp-
schen durch die vielen Kämpfe und Intrigen gewesen sein müssen.          fehlungen passen perfekt.
«Edinburgh Castle ist ein Muss», sagt Justus Becker, Philosophie-
und Physikstudent aus Bochum. «Zum einen hat man einen tollen
Ausblick auf die Stadt und kann sogar bis zum Forth schauen, zum
anderen wird einem die Geschichte richtig nahegebracht.»

1313 kletterten Gefolgsleute des schottischen Königs Robert the
Bruce über die steilen Felsen auf den Burgberg und überrumpelten
die Engländer – ein Jahr später wurde Schottland unabhängig. Laut
hört man die Kämpfer schreien, zwischendurch dramatische Mu-
sik und viele geschichtliche Informationen – der Audioguide lohnt
sich. Purpurrot mit Gold, Edelsteinen und Hermelinfell liegt sie dann
vor einem, gut geschützt hinter Panzerglas: Die schottische Krone.
Auch wenn man mit den Royals nichts am Hut hat – so viel Edelstei-
ne auf einmal zu sehen, fasziniert schon. Wie schwer wohl so eine
Krone ist? Wieder in die Realität aufgetaucht, ertönt Dudelsack-
musik, Kanonenschüsse werden abgefeuert. Der Burghof ist abge-
sperrt, Touristen müssen an der Seite warten. Ein Staatsereignis?
Nein, Prince Charles hat heute Geburtstag, und Edinburgh bringt
ihm aus der Ferne ein Ständchen.

Im Sommer ist Edinburgh Schauplatz des International Festivals
und des Fringe Festivals. «Die Stadt ist voller Leute und Leben – es
ist eine tolle Atmosphäre», sagt Dorothea Engel, Anwältin in Den
Haag. «Überall Theatervorführungen, Musik, Tanz, Oper und Ballett
– die Stadt ist eine einzige grosse Bühne.» Fast zeitgleich findet auf
dem grossen Platz vor der Burg, der Esplanade, das Edinburgh Mili-
tary Tattoo statt, ursprünglich vor allem Militärmusik mit Dudelsack
und Trommeln. «Die Militärmusik höre sich wohl kaum ein Schotte
privat zu Hause an, aber hier gehe es um die Mischung von Musik,
Marschieren und Artistik. Da bekommt man echt Gänsehaut.»

Die kriegen manche Touristen auch, wenn sie an das schottische Na-
tionalgericht Haggis denken: Ein Schafmagen wird mit Herz, Leber,
Lunge und Nierenfett vom Schaf, mit Zwiebeln und Hafermehl ge-
füllt. Die Meinungen darüber gehen allerdings auseinander. «Der ein-
zige Weg, Haggis zu essen, ist in Form frittierter Bällchen mit einem
Whisky dazu», sagt die Studentin Anna. Penny Howard, Halb-Schot-
tin und Kunsthistorikerin aus London, kann ihrem Nationalgericht
nichts abgewinnen. «Es wurde damals als billige, nährreiche Mahlzeit
erfunden. Ich halte es für das widerlichste Essen, was ich jemals ge-
                                                                         rechts: Das Tattoo-Festival - Militärmusik
gessen habe. Sogar die Schotten brauchen danach einen Whisky,            mit Dudelsack und Trommeln.
medico JOURNAL – REISEN                                                                                                                        48

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K       alt ist es jetzt geworden, dunkle Wolken haben sich vor die
        Nachmittagssonne geschoben und ein ungemütlicher Wind
pfeift um das Hotel. Ob der Gast sich vielleicht bei einem Tee auf-
                                                                        Es gibt noch viel zu erzählen über diese Stadt, und noch mehr zu
                                                                        sehen: Das schottische Nationalmuseum zum Beispiel, das Writers
                                                                        Museum, der gruselige Untergrund mit zugemauerten, vergesse-
wärmen wolle, fragt Andrew, oder in der Sauna? «But I would rather      nen Gassen und düsteren Gewölbekellern, der «Hausberg» Arthurs
suggest buying a nice scarf, that`s far more sustainable.» Den solle    Seat, die Princess Street Gardens, die vor Weihnachten in einen
man aber bitte nicht auf der Royal Mile erwerben, dort gäbe es nur      romantischen Weihnachtsmarkt verwandelt werden... «The city
billiges Chinesen-Imitat. Der erstandene Schal bei Hawico auf dem       whispers», schreibt der Edinburgher Schriftsteller Alexander McCall
Grassmarket – wo bis ins 20. Jahrhundert Vieh- und Pferde gehan-        Smith, «come look at me, listen to the beating of my heart, I am the
delt wurden – kostet zwar fast so viel wie der Flug nach Edinburgh,     place you have seen in dreams, I am a stage for you to play upon, I
aber eine Angina hat damit keine Chance. Um wieder auf ein nor-         am Edinburgh.» Die Stadt sei so vielseitig und faszinierend, so das
males Preisniveau zu kommen, wird nebenan noch ein bisschen             Fazit von Student Justus. «Ich hätte nur mehr Schlaf gebraucht.»
im Secondhand-Laden gestöbert. Hier gibt es von Abendkleidern
über irische Strickpullover und Original 1980er-Rayban-Brillen al-      Die Situation der Ärztinnen hat sich inzwischen gebessert: Heute
les – auch Kilts. «Manche Touristen amüsieren sich über Männer          sind 45 Prozent der Ärzte in Grossbritannien weiblich. Doch in hö-
in Röcken», erzählt die Halb-Schottin Penny. «Man sollte sich das       heren Positionen und vor allem in chirurgischen Fächern sind Frau-
aber verkneifen und sich bewusst machen: Teil der Kilt-Uniform          en nach wie vor unterrepräsentiert – das sieht in der Schweiz leider
ist ein sgian-dubh, ein scharfes Messer, was verborgen im Strumpf       nicht anders aus. Vielleicht braucht es mehr Vorbilder wie Gertrud
steckt.» Studentin Anna sieht in Kilts die praktische Seite: «Viele     Herzfeld, damit sich Ärztinnen von den männergeprägten Konven-
Männer mit Kilt in Edinburgh gehen zu einem Ball oder einer Party.      tionen befreien können.
Sich am besten dranhängen!»

Goldgelb färbt sich der Himmel über der Burg, Zeit für einen Abend-
spaziergang. In einer Viertelstunde ist man am Calton Hill, von allen
Plätzen mit Aussicht wohl der beste, wie der schottische Schrift-
steller Robert Stevenson meinte. Mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde be-
schrieb Stevenson auf geniale Weise das, was Psychiater heute dis-
soziative Identitätsstörung nennen würden. Hätte es damals Ende
des 19. Jahrhunderts schon Tuberkulosemittel gegeben, wäre Ste-
venson wohl nicht schon mit 44 Jahren gestorben und hätte uns
noch weitere grandiose Werke hinterlassen. «Athen des Nordens»
wird Edinburgh wegen des nie vollendeten National Monuments
mit den 12 Säulen auf dem Hügel genannt, das an die gefallenen
Soldaten vom Napoleon-Krieg erinnert. Auf dem Nelson-Monu-
ment, was aussieht wie ein umgedrehtes Fernrohr, weht einem fast
die Kamera aus der Hand. Die Säule von 1816 erinnert an Nelsons
Sieg und seinen Tod in der Trafalgarschlacht 1805. Den Zeitball auf
der Spitze der Säule gibt es seit 1853, er fällt noch heute montags
bis samstags pünktlich um 13 Uhr. Gleichzeitig wird von der Burg
ein Schuss abgefeuert. Kugel und Donner halfen den Seeleuten im
Firth of Forth damals, ihre Uhren zu stellen – Schweizer wären be-
geistert gewesen.

      «HEUTE SIND
       45 PROZENT
      DER ÄRZTE IN                                                      oben: Die Feinde im Blick:
                                                                        Kanone auf der Burg.

    GROSSBRITANNIEN                                                     unten: 1313 kletterten Gefolgsleute
                                                                        von Robert the Bruce über die steilen
                                                                        Felsen auf den Burgberg und

       WEIBLICH.»                                                       überrumpelten die Engländer – ein Jahr
                                                                        später wurde Schottland unabhängig.
medico JOURNAL – REISEN                                                                                                                               50

                                                                                                                                                      51

TIPPS VON                                  TIPPS VON                          TIPPS VON                           TIPPS VON
DER AUTORIN                                STUDENTIN ANNA                     ANWÄLTIN DOROTHEA                   CONCIERGE ANDREW

Übernachten wie die Royals                 Word of Mouth Cafe                 High Tea in der Signet Library      Essen mit Sternen
The Balmoral                               «Small, cheap and cozy with a      «Genussvoll zur Ruhe kommen,        Number One
https://balmoralhotel.grandluxu-           great vibe and delicious food»     umgeben von alten Büchern.          The Kitchin
ryhotels.com/en/hotel/balmo-               https://www.facebook.com/          Rechtzeitig reservieren!»
ral-hotel?occ=a02                          Word-of-Mouth-Cafe-                http://www.thesignetlibrary.        Einkaufen
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media/1297024/This-is-                     bar» www.theparadisepalms.         «Etwas robuster, aber nicht         «A wonderful shop that sell
Edinburgh-Press-Information-               com                                weniger lecker» Frühstück,          beautiful, very high quality
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Surgeons' Hall Museums
                                                                              https://www.youtube.com/
https://museum.rcsed.ac.uk
                                                                              watch?v=71iGqxV7NhI

rechts: UNESCO Weltkulturerbe:
Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth.

Text:
Dr. med. Felicitas Witte
Bilder: Dorothea und
Michael Engel,
Felicitas Witte
medico JOURNAL – MENSCHEN                                                                      52

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                            PINK HINTER
                              GITTERN
                                 WIE EINE
                                 FARBE KARRIERE
                                 MACHTE

                                 Mühelos drückte der Studienleiter die ausgestreck-
                                 ten Arme des erstaunten Probanden nach unten.
                                 Sekunden zuvor hatte dieser dem Druck noch
                                 standhalten können. Was war passiert, in dem Ex-
                                 periment, das der Fotobiologe John N. Ott 1978
                                 im kalifornischen Santa Ana durchführte?

                                 Zunächst sollte der Proband seine Arme im rechten Winkel von
                                 sich strecken. Der Studienleiter versuchte daraufhin, die Arme
                                 wieder nach unten zur Hüfte zu drücken. Waren Studienleiter
                                 und Proband ähnlich kräftig, konnte der Proband den Druck
                                 während drei Sekunden aushalten, ohne ihm nachzugeben. Dann
                                 aber wurde ihm ein 60 x 90 cm grosser, rosafarbener Bogen Papier
                                 vor die Augen gehalten. Schlagartig liess die Kraft des Probanden
                                 nach und der Studienleiter drückte seine Arme nach unten.

                                 links: Beruhigungszelle, Kantonspolizei Biel, Switzerland. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN                                                                                                                 54

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                                   BERICHTEN ZUFOLGE GAB
                                          ES SOGAR
                                     MENSCHEN, DIE SICH
                                       DIE FARBE NUR
                                    VORSTELLEN MUSSTEN,
                                         UM EINEN
                                     ERHOLSAMEN EFFEKT
                                       ZU VERSPÜREN.

Der Sozialbiologe Alexander G. Schauss berichtete ein Jahr spä-
ter an einem medizinischen Kongress von diesem Experiment.
Der Effekt konnte bei 151 von 153 Studienteilnehmern fest-
gestellt werden. Schauss erzählte in der Folge auch von einem
Test, den er selbst durchführen wollte. Bei Tierexperimenten sei
bereits festgestellt worden, dass sich rosafarbenes Licht auf das
Hormonsystem von Mäusen auswirke. Der genaue Grund für
den Effekt konnte allerdings nicht geklärt werden.

Pink lag plötzlich im Trend

Schauss schlug zunächst vor, eine Zelle in einem Gefängnis rosa
zu streichen. Diese Zelle sollte dazu dienen, neu eingetroffene
Gefangene zu beruhigen. Zur Anwendung kam der Test in einem
Gefängnis in Seattle im Bundesstaat Washington. Die Militärs
Gene Baker und Ron Miller entschieden, eine ihrer Zellen in
ihrem Marine-Gefängnis zu kolorieren. Nach einigen Monaten
meldeten sie, dass neu eingetroffene Gefangene nach 15-minüti-
gem Aufenthalt in der Zelle beruhigt gewesen seien. Der Effekt
halte 30 Minuten lang an.

Die rosa Farbe machte unaufhaltsam Karriere in den USA.
Sie wurde nach den beiden Militärs Baker-Miller-Pink genannt
und in vielen Gefängnissen, Jugendhaftanstalten und psychiatri-
schen Kliniken eingesetzt. Immer sollten die kolorierten Räume
dazu dienen, die physiologische Erregung der Menschen zu
reduzieren, deren Aggressionen abzubauen und sie zu beruhigen.
Der Einsatz beschränkte sich nicht auf die USA. Auch weitere
Länder auf der ganzen Welt nutzten in den folgenden Jahrzehn-
ten das Baker-Miller-Pink.

Das Pink, so spätere Berichte, musste nicht einmal bewusst
wahrgenommen werden. Es nütze bei Farbenblinden und Skep-
tikern. Berichten zufolge gab es sogar Menschen, die sich die
Farbe nur vorstellen mussten, um einen erholsamen Effekt zu
verspüren. Ein amerikanischer Arzt meinte, er könne mit einem
Karton in dieser Farbe seinen eigenen persönlichen Tranquilizer
mit sich tragen. Noch dazu einen, der nicht süchtig mache.          rechts: Blutdrucksenkend. Beruhigungszelle in Biel. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN                                                                                      56

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                                      IN EINER STUDIE HAT SPÄTH
                                DIE WIRKUNG VON ACHT VERSCHIEDENEN
                            FARBEN UNTERSUCHT. ÜBER 700 PROBANDEN HIEL-
                                     TEN SICH EINIGE MINUTEN IN
                                 VERSCHIEDENFARBIGEN KABINEN AUF.

                                                  Studie besagt: Pink wirkt auf Blutdruck

                                                  In der Schweiz begann sich die Farbdesignerin Daniela Späth
                                                  Anfang des neuen Jahrtausends für das Baker-Miller-Pink und
                                                  seine Wirkung zu interessieren. Sie hatte sich wissenschaftlich
                                                  mit dem Farbton befasst und ihn weiterentwickelt. Das neue
                                                  Produkt liess sie unter dem Namen «Cool Down Pink» marken-
                                                  rechtlich schützen.

                                                  In einer Studie hat Späth die Wirkung von acht verschiedenen
                                                  Farben untersucht. Über 700 Probanden hielten sich einige
                                                  Minuten in verschiedenfarbigen Kabinen auf. Vor Eintritt und
                                                  nach Verlassen der Kabine wurden Blutdruck und Puls gemes-
                                                  sen. Die Studie wurde von einer Forscherin an dem für seine
                                                  komplementärmedizinische Ausrichtung bekannten Paracel-
                                                  sus-Spital Richterswil begleitet. Es zeigte sich, dass der Blut-
                                                  druck durchschnittlich um rund vier mmHG zurückging. «Die
                                                  massive Reduktion von Aggression und Gewaltbereitschaft steht
                                                  in unmittelbarem Zusammenhang mit dem blutdrucksenkenden
                                                  Effekt von Cool Down Pink,» schreibt Späth dazu in einem
                                                  Paper über die Farbe.

                                                  Die Einsatzmöglichkeiten sind laut Späth vielfältig: sie reichen
                                                  vom Justizvollzug über Schulen und medizinische Einrichtun-
                                                  gen bis hin zu öffentlichen Sicherheitszonen an Flughäfen oder
                                                  Bahnhöfen. Besonders auffällig sei, dass die Wirkung schon
                                                  nach wenigen Minuten eintrete. Ein Effekt, den auch schon
                                                  Schauss bemerkte. In den vergangenen Jahren wurden denn
                                                  auch Zellen in diversen Schweizer Gefängnissen mit Cool Down
                                                  Pink gestrichen, so in Biel oder im zürcherischen Pfäffikon.
                                                  Auch wenn Späth positive Ergebnisse aus den Evaluationen
                                                  in den Gefängnissen aufzählt, so ist weiterhin unklar, wie der
                                                  Effekt zustande kommt.

                                                  links: Farbkabinen für die Studie von Daniela Späth. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN                                                                                                                   58

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Farben beeinflussen die Psyche                                        Prinzen trugen früher Rosa
Daniela Späth nennt im Paper ihre eigene Hypothese: «Die              Die Zuordnung von Rosa zum Weiblichen ist nicht naturge-
kurze Reaktionszeit bis zur tatsächlichen Senkung des Blut-           geben und in historischer Perspektive ein neues Phänomen.
drucks sowie die Blutdrucksenkung grundsätzlich sind Indizien         Jahrhundertelang war Rosa die Farbe von Prinzen. Rot galt
für einen vegetativen, hormonellen Steuerungsmechanismus,             als männliche Farbe, während blau mit Weiblichkeit assoziiert
der durch Cool Down Pink aktiviert wird.» Und weiter: «Cool           wurde. Herrscher wie Kaiser, Könige und kirchliche Würden-
Down Pink senkt primär nachweislich den Blutdruck. Dies ist           träger trugen Purpur, die Prinzen, die kleinen Könige, hingegen
ein rein körperlicher Effekt, der in der Folge zu einer psychi-       das «kleine Purpur», also Rosa. Die Jungfrau Maria hingegen
schen Beruhigung führt.»                                              ist auf klassischen Gemälden fast immer in Blau gekleidet.
                                                                      Das US-amerikanische «Ladies’ Home Journal» schrieb noch
Der Laie mag sich fragen, ob die Farbe Rosa nicht auch zu ne-         1918: «Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und
gativen Reaktionen führe, wenn, wie der Zürcher «Tages-Anzei-         Blau für die Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine
ger» vor Jahren titelte, «böse Buben» mit pinken Wänden in der        entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt,
Gefängniszelle konfrontiert werden. Immerhin gilt Rosa heute          während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen
meist als Farbe für Prinzessinnen oder solche, die es werden          hübscher aussieht.»
wollen. Das dürfte eher nicht dem Berufsziel derjenigen entspre-
chen, die sich in einer Beruhigungszelle wiederfinden. Wie also       Erst im 20. Jahrhundert wechselten Rosa und Blau ihr symboli-
nehmen die Betroffenen die Farbe wahr?                                sches Geschlecht. Blau galt durch die Anzüge der Matrosen als
                                                                      starke Farbe; die grassierende Vorliebe, Jungen in Matrosenan-
                                                                      züge zu stecken, tat das Ihrige dazu. Rosa verschwand aber nie
Lieber Blau und Grün statt Pink?                                      ganz von der männlichen Farbpalette. Rosa Oberhemden sind
                                                                      weiterhin beliebt und die männlichste aller Zeitungen Südeuro-
Eine Evaluation der Psychiatrischen Dienste Bern aus dem              pas, die italienische «Gazetta dello sport» erscheint seit mehr als
Jahr 2011 kommt in einer Befragung von psychisch kranken              einem Jahrhundert auf rosa Papier.
Personen zu einem diffusen Ergebnis – wie so viele Studien auf
diesem Gebiet. Rund die Hälfte der befragten Patientinnen und
Patienten gaben an, dass sie eine pink gestrichene Isolierzelle, in   Effekt ohne Erklärung
der sie sich aufhalten mussten, einer weissen vorziehen. 41 Pro-
zent allerdings würde eine ganz andere Farbe präferieren, etwa        Letztlich bleibt der wissenschaftliche Grund für die beruhigende
ein helles Blau oder ein helles Grün. Die Verfasserinnen der          Wirkung der rosa Farbe ein Rätsel. Auch neuste Studien kom-
Evaluation kommen zum wenig überraschenden Schluss, dass              men zu widersprüchlichen Ergebnissen. Während das Nachlas-
die Wirkung von Farben auf Menschen sehr individuell sei.             sen der Muskelkraft in weiteren Studien bestätigt wurde, konnte
                                                                      keine Evidenz für andere Effekte auf die Physiologie, den Blut-
Keinen Kommentar gab es zur geschlechterspezifischen Akzep-           druck oder den Puls festgestellt werden. Auch fand sich nie eine
tanz des Cool Down Pink. Die positiven Rückmeldungen, von             allen wissenschaftlichen Ansprüchen standhaltende Erklärung
denen Späth berichtet, scheinen aber darauf hinzuweisen, dass         für den Effekt.
Assoziationen mit «homosexuell» und «Mädchen» von den In-
sassen einer solchen Zelle entweder nicht vorkamen oder nicht         Jüngst wurde in einer Studie der Universität Ulm der Hautleit-
auf sich bezogen wurden. Diese Erkenntnis entspricht auch einer       wert von Probanden untersucht, die Baker-Miller-Rosa ausge-
Aussage von Daniela Späth. In ihrem Paper schreibt sie, dass die      setzt wurden. Es konnte keine Wirkung auf physiologische oder
Zuschreibung von Rosa oder Pink als Mädchenfarbe aus dem              kognitive Prozesse nachgewiesen werden. Und doch gab es Hin-
gesellschaftlichen Bewusstsein verschwinden wird.                     weise, dass subjektive Unterschiede in der Wahrnehmung von
                                                                      weissem Licht und solchem in Baker-Miller-Pink vorkommen.
                                                                      So erlebten mehr Frauen als Männer das rosa Licht angeneh-
                                                                      mer als das weisse. Schliesslich musste aber auch diese Studie
                                                                      aus dem Jahr 2017 vor einer wissenschaftlichen Erklärung der
                                                                      Effekte kapitulieren.
    LETZTLICH BLEIBT
 DER WISSENSCHAFTLICHE
     GRUND FÜR DIE
 BERUHIGENDE WIRKUNG
    DER ROSA FARBE
       EIN RÄTSEL.
medico JOURNAL – MENSCHEN                                                                                  60

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Pfäffikoner Gefängnis wählt helle Farbe

Noch dazu scheint der Nutzen dieser aggressionsmindernden
Effekte auch von denjenigen unterschiedlich wahrgenommen
zu werden, die sie beruflich nutzen sollten. Der neue Gefängnis-
leiter Simon Miethlich in Pfäffikon entschied kürzlich, dass die
bisherige pinkfarbene Sicherheitszelle mit einer hellen, freund-
lichen Farbe zu versehen ist. Es sei wissenschaftlich nie belegt
worden, dass der genannte Farbton eine beruhigende Wirkung
auf Insassen haben könnte, sagt Miethlich. Auch sei von Exper-
ten gesagt worden, dass der Farbton Pink bei psychisch auffälli-
gen Insassen eher das Gegenteil von einer Beruhigung bewirke.

Vielleicht führte diese Unsicherheit in der Evidenz dazu, dass
sich ein anderes Feld, das weniger wissenschaftlich mit den kör-
                                                                                          OB PINK IN
perlichen und geistigen Erregungszuständen des Menschen um-
geht, für Cool Down Pink zu interessieren beginnt: Die Kunst.                        DER KUNST ODER ALS
                                                                                        BERUHIGUNGS-
So haben Schüler des Kölner Berufskollegs Kartäuserwall im
Rahmen eines künstlerischen Projektes zum Thema Gefängnis

                                                                                         MASSNAHME
eine Gefängniszelle im Massstab 1:1 nachgebaut und mit Cool
Down Pink ausgemalt. Die Zelle war an der Folkwang Univer-
sität der Künste in Essen im Jahr 2018 zu besichtigen. Das Pro-
jekt sollte einen gesellschaftlichen Diskurs darüber ermöglichen,
«welche ethischen Massstäbe die Gesellschaft heute im Umgang
                                                                                    ANGEWANDT WIRD, FAKT
mit Straftäter/innen ansetzen möchten, und welche Ziele durch
den Entzug von Freiheit erreicht werden können und sollen.»
                                                                                         IST: FARBEN
                                                                                        HABEN IMMER
                                                                                      EINE WIRKUNG AUF
Publikum soll Farbe bekennen

                                                                                          MENSCHEN.
Einen anderen Ansatzpunkt wählten Eva Wandeler und Frances
Belser im Jahr 2016. Im Rahmen einer Performance in Zürich
malten sie mit riesigen Pinseln aus Farbbändern einen Boden in
Cool Down Pink aus. Teil des Werks waren die Reaktionen des
Publikums, die durch das sich wandelnde Raumlicht Änderun-
gen in ihrer Wahrnehmung und emotionalen Reaktion erfuhren
(siehe Interview).

Ob Pink in der Kunst oder als Beruhigungsmassnahme ange-
wandt wird, Fakt ist: Farben haben immer eine Wirkung auf
Menschen. Dass bei Pink die abschliessende wissenschaftliche
Evidenz für eine Wirkung fehlt, macht es für die Kunst interes-
sant. Und dass auch heute noch über die Farbe und ihre Effekte
geforscht wird, zeigt, dass die Wissenschaft den Einsatz von
Rosa zur Beruhigung von Menschen weiterhin ernst nimmt.

rechts: Performance tool#41 – ritual *deal done – cool down pink von Eva Wandeler
in Kollaboration mit Frances Belser, sihlquai55 i n s p a c e visarte zürich,
ZWISCHENRÄUME, Performance-Art-Reihe. Künstlerische Leitung: Monica Klingler
und Christine Bänninger. © Christine Bänninger
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