SCHWEDEN EDINBURGH COOL DOWN PINK BAUHAUS
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2 3 editorial HÄFTLINGE, PINK UND DER DRANG NACH FREIHEIT Geschätzte Leserinnen und Leser Ob eingesperrt in einer Zelle, den Zwängen der Gesellschaft unterworfen oder gefangen in den engen Strukturen des Alltags: Wer seine Freiheit verliert, sucht nach Möglichkeiten, sie zurückzu- gewinnen. In der aktuellen Ausgabe des medico JOURNAL greifen unsere Autorinnen und Auto- ren verschiedene Dimensionen der Gefangenschaft und des Ausbruchs auf. Martin Mühlegg begleitet junge, unkonventionelle Freestyler auf ihrer Suche nach Freiheit und sportlichen Ehren. Felicitas Witte hat einen Ausflug nach Edinburgh unternommen, um dort den Spuren einer Chirurgin nachzugehen: Gertrude Herzfeld. Sie war eine der ersten Frauen, die im 19. Jahrhundert aus den traditionellen Rollenbildern der Medizin ausgebrochen sind. Um den Zwängen des Alltags zu entfliehen, machten sich Nadja Belviso und Fotograf Adrian Vollenweider auf in den hohen Norden, um von Schweden zu berichten. In den Süden gelockt hat es Cornelia Voigt. Sie bricht aus dem grauen Alltag der Schweiz aus und vermittelt ihre vielfältigen Eindrücke von Bali. Eine Gefängniszelle in Pink? Was die untypische Farbe in der Welt hinter Gittern für eine Rolle spielt, erfahren Sie von Gregor Lüthy. Das Aufbrechen von Konventionen ist auch das Thema der Bau- haus-Bewegung, die Gabriela Beck uns näherbringt. Zu guter Letzt kommt in der Reportage von Marco Iezzi ein Häftling zu Sprache, der seinen Alltag im Gefängnis Affoltern am Albis verbringt. Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Marc Schwitter Rolf Ryter Redaktion Verlag
4 5 inhalt 12 REISEN Ausbrechen – Per VW-Bus durch Schweden 28 Bali 38 Edinburgh 82 KUNST 100 Jahre Bauhaus – Versuchslabor für eine neue Gesellschaft 52 MENSCHEN Cool Down Pink 64 Gefängnis – Drinnen, aber draussen 72 Freestyle über den Wolken
medico JOURNAL – REISEN 12 13 Ausbrechen MIT DEM VW-BUS DURCH SCHWEDEN Mit Pippi Langstrumpf hat Schweden der Welt gezeigt, wie es lebt, wer sich nicht im Gefängnis der Konventionen einsperren lässt. Mit dem Jedermannsrecht lässt das Land Einheimischen und Reisenden die Freiheit, sich überall aufzuhalten, wo niemand gestört wird. Und mit seinen vielen Nationalparks erlaubt es der Natur, sich zu entfalten, wie sie will. Der Himmel ist grau, das Meer ist grau und der Asphalt ist grau. Die Scheibenwischer haben längst aufgehört zu quietschen. Ein solider schwedischer Landregen schmiert die Scheiben unseres VW-Busses, seit wir Malmö hinter uns gelassen haben. Schon wieder gleitet ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Loppis an uns vorbei. «Erdbee- ren vielleicht?», nehme ich unser Rätselraten zum x-ten Mal wieder auf. Ich schaue im Reiseführer nach: Nein, Erdbeeren heissen Jordgubbar. Erst viele Tage und Dutzende Schilder später erschliesst sich uns das Phänomen: Loppis bedeutet Flohmarkt und meint hier nicht nur die gut organisierten Trödelmärkte in Städten, sondern auch Privatverkäufe in Garagen, Scheunen und auf Parkplätzen. Sogar Kofferraumflohmärkte gibt es hier, nicht nur an Strassenrändern, sondern ganz offiziell auch in Wörterbüchern: Bagageloppis. Vor allem in ländlichen Regionen bessern viele private Anbieter ihre Haushaltskasse mit dem Verkauf ausgedienter Habseligkeiten auf. Loppis-Schildern zu folgen, lohnt sich: Einerseits besteht die Chan- ce, die kaputte Knoblauchpresse zu einem unschlagbaren Preis zu ersetzen oder ein Moskitonetz zu finden, das engmaschig genug ist, um die in Skandinavien verbreiteten Kriebelmücken fernzuhalten. Andererseits ermöglichen die Besuche privater Flohmärkte authen- tische Einblicke ins schwedische Landleben und Begegnungen mit der Bevölkerung. Anders als in den Städten, wo praktisch alle beinahe perfekt Englisch sprechen, und gerade bei älteren Loppis-Anbietern bedient man sich zur Verständigung oft der Hände und Füsse. links: Wir sind früh aufgestanden, die Sonne noch früher. 5 Uhr morgens irgendwo in Südschweden.
medico JOURNAL – REISEN 14 15 Campingleben leicht gemacht F ür einen Roadtrip im VW-Bus ist Schweden prädestiniert. Aus vielen Gründen. Einer der wichtigsten ist wohl das Allemans- rätten. Das Jedermannsrecht erlaubt Reisenden, sich in der Natur frei zu bewegen, auch auf Privatgrundstücken. Ein weiterer Grund ist die enorme Naturvielfalt: Astrid-Lindgren-Idylle im Süden, ur- sprüngliche Wildheit in Mittelschweden, schroffe Schären an der Westküste und lieblich-grüne im Osten, Berge und Meer, Klippen und Sand, Wälder und Moore. Nicht zuletzt ist das Land von Däne- mark her über die im Jahr 2000 eröffnete Öresundbrücke einfach zu erreichen. Die rund 1500 Kilometer von Zürich nach Malmö bewältigen wir in 15 Stunden, aufgeteilt in zwei Etappen. Als wir ankommen, suchen wir uns einen ersten Übernachtungsplatz und finden ihn auf Anhieb. Ein gekiestes Waldsträsschen führt uns zu einem verlassenen Parkplatz irgendwo im Niemandsland. Dass uns hier draussen ein sauberes Klo in einem Holzhäuschen zur Verfügung steht, erstaunt uns zwar angesichts der Tatsache, dass der Ort kaum frequentiert ist, doch wir sind dankbar. Noch haben wir nicht in den Büssli-Lifestyle gefunden, der als Preis für das Freiheitsgefühl Duschen unter freiem Himmel und Notdurft im Dickicht verlangt (Hinterlassenschaften werden selbstverständlich vergraben, benutztes Klopapier akkurat verbrannt). Bald merken wir aber, dass Wildcampern hier die hygienischen Her- ausforderungen denkbar leicht gemacht werden. Das öffentliche WC am Waldrand ist in der Nähe von Dörfern keine Ausnahme. Duschen lässt sich für wenig Geld in öffentlichen Saunen, und den Frischwas- sertank des Wohnmobils darf man auf Campingplätzen und Tank- stellen meist kostenlos oder gegen eine kleine Gebühr auffüllen. «FÜR EINEN ROADTRIP IM VW-BUS IST SCHWEDEN PRÄDESTINIERT.» rechts: Wildcampen an einsamen Seeufern: Das Jedermannsrecht macht es möglich.
medico JOURNAL – REISEN 16 17 Schwedisch: Hürde und Amüsement U nsere Route ist grob geplant: Die schärenreiche Ostküs- te hoch bis Stockholm, landeinwärts zu den Nationalparks Mittelschwedens, wieder südwärts zum grössten Süsswassersee Die Sprache wird uns auf unserer dreiwöchigen Reise öfter das Ge- fühl geben, weit weg von zu Hause zu sein und uns gleichzeitig die tränenreichsten Lachanfälle der letzten Jahre bescheren. Im her- Europas und dann der Westküste entlang zurück zur Südspitze. zigen Küstenstädtchen Kristianstad nutzen wir einen kurzen Re- Anfangs streifen wir einigermassen ziellos umher. Das Wetter mo- genstopp nicht nur, um durch die einladende Altstadt zu flanieren, tiviert uns kaum, die Pläne in Angriff zu nehmen. So landen wir am sondern auch, um eine Zeitung zu kaufen, die uns die Wetterprog- Strand von Ystad, wo ein Rettungsring als einziger Farbtupfer den nose für die nächsten Tage offenbaren soll. Das väder soll besser Blick gefangen hält. Abgesehen von ein paar melancholischen Bil- werden. Glaube ich zumindest, als ich lese: «Både lördag och sönd- dern gibt dieser Strandmorgen kaum etwas her. ag ska vara soligt och regn fritt» und frei übersetze: «Irgendwas mit Sonne und frittiertem Regen (haha). Sonne kommt jedenfalls drin Wir beschliessen, den Regentag zu nutzen, um die Essensvorräte vor.» Perfekt – wir peilen die Insel Öland an. zu füllen. So kommen wir doch noch in den Genuss eines Abenteu- ers. Denn der erste Einkauf in Schweden entpuppt sich dank unse- rer absoluten Unkenntnis der Sprache als wahre Odyssee. Allein die Suche nach einem Vollrahm kostet uns eine Viertelstunde. Nach intensivem Studium der Verpackungen kommen wir zum Schluss, dass man hier wohl zu grädde greifen muss. Und jetzt? Visp grädde, mellan grädde oder syrad grädde? Wir orientieren uns an der Illus- tration eines Kochtopfs. Erst beim abendlichen Kochen werden wir merken, dass wir besser einem anderen Aufdruck Beachtung ge- schenkt hätten: Laktosfri steht da. Das verstehen sogar wir Anfän- ger, nur mögen tun wir es nicht. links: Auch ganz in der Nähe einer x-beliebigen Landstrasse ist die Natur wild und wunderbar. rechts: Ein Strand bei Regen. Der Rettungsring wird heute wohl hängen bleiben.
medico JOURNAL – REISEN 18 19 Paradies für Botaniker D ort erkunden wir Windmühlen aus dem 19. Jahrhundert, be- suchen den Långe Jan, Schwedens grössten Leuchtturm, und sind begeistert vom Stora Alvaret, einer der letzten Karst- Dass wir uns dagegen entscheiden, erweist sich als nicht allzu schlimm: Schweden ist überall atemberaubend. Selbst was wir zwi- schen den Sehenswürdigkeiten antreffen, haut uns Tag für Tag um. landschaften Europas, die 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO Allein die Übernachtungsplätze in freier Natur; eine Lichtung, auf erklärt wurde. Wirkt die Gegend auf den ersten Blick karg und ein- der wilde Kamille für eine angenehme Duftkulisse sorgt, das Ufer tönig, verändert sich das Bild, sobald man aus dem Bus steigt und eines Waldsees oder die stillgelegte, längst überwachsene Kies- die Augen auf den Boden richtet: Zwar haben wir die Blüte der über grube, deren Seitenhänge uns wie die Zuschauerränge eines Am- 40 Orchideenarten im Mai verpasst, doch immer noch bietet sich phitheaters umgeben. Kein einziges Mal werden wir gestört, kein eine unglaubliche Vielfalt an Pflanzen dar, die sonst nirgendwo auf einziges Mal empfindet uns jemand als störend. So fühlt sich Frei- der Welt wachsen. Dazu kommen unzählige reliktische Arten, die heit an. aus unterschiedlichsten Klimazonen stammen, von mediterran bis arktisch alpin. Ein Paradies nicht nur für Botaniker. Der Schärengarten zwischen Oskarshamn und Västervik ist unser nächstes Ziel. Es zu erreichen, kostet viele Autostunden mehr als gedacht, da an einer derart verwinkelten Küste keine pfeilgeraden «SO FÜHLT SICH und schnell befahrbaren Strassen vorhanden sind. Wir erhaschen einige schöne Blicke auf die bewaldeten Inseln vor der Küste, aber FREIHEIT AN.» uns ist klar, dass uns die richtig beeindruckenden Panoramen, die romantischen kleinen Buchten und die Strandcafés unter Waldbäu- men verwehrt bleiben, wenn wir den Bus nicht zurücklassen, um uns mit einem Boot zu einem B&B auf einer der Inseln fahren zu lassen. unten: Für Ölands Bauern waren die Windmühlen im 19. Jahrhundert ein Statussymbol.
medico JOURNAL – REISEN 20 21 Schwedens schönste Märchen A uf dem Weg in den Norden legen wir einen Zwischenstopp in der Region um Vimmerby ein, der Geburtsstadt Astrid Lindgrens. Wir haben jedoch nicht den Themenpark Astrid Lind- gren Värld im Visier, sondern authentische Landschaften, die eine typische Kinderbuch-Idylle zeigen. Besonders beeindruckt uns die Kvilleken, eine rund 1000 Jahre alte Eiche, deren Stamm einen Um- fang von ungefähr 14 Metern misst. Der Besuch dieses Baumgreises ist die perfekte Einstimmung für die Wanderung im Nationalpark Nora Kvill, wo seit über 150 Jahren kein Baum mehr gefällt wurde. Schon nach wenigen Metern wäh- nen wir uns in einer geheimnisvollen Märchenwelt. Umgestürzte Baumskelette, moosbewachsene Felsbrocken, riesige, bunte Pil- ze, von den Bäumen hängende Bartflechten, verwunschene Seen voller Seerosen. Würde im Dickicht dieses stillen, erdduftenden Urwalds plötzlich ein Troll auftauchen, wir wären nicht verblüfft. Schweden hat uns vollends im Sack. Und wir sind begierig auf wei- tere Naturerlebnisse. rechts: Die 1000-jährige Kvilleken ist die dickste Eiche Schwedens. unten: Der Urwald im Nationalpark Nora Kvill weckt Fantasien über Trolle und Feen.
medico JOURNAL – REISEN 22 23 Höher, älter, wilder M ittelschweden sollte uns diesbezüglich nicht enttäuschen. Hier erwartet uns eine wildere Seite des Landes, die aber in ihrer Rauheit nicht minder berührt. In der Provinz Dalarna wandern wir durch den Nationalpark Fulufjället, um den grössten Wasserfall des Landes, den 93 Meter hohen Njupeskär und den ältesten indi- viduellen Klonbaum der Welt, den 9550-jährigen Old Tjikko zu se- hen. Während Ersterer akustisch und optisch umwerfend ist, wirkt Letzterer geradezu unscheinbar. Das liegt einerseits daran, dass der Stamm «bloss» ein paar Hundert Jahre alt ist, und andererseits, dass Fichten in dieser Klimazone nur sehr langsam wachsen. Mittelschweden bietet aber nicht nur natürliche Sensationen, son- dern auch menschengemachte. In der Nähe des Trollvägen, einer magischen Strasse, auf der das Auto im Leerlauf bergauf zu rollen scheint, befindet sich ein Heer von Steintürmen. Auch wenn sie kaum ein Reiseführer erwähnt, lohnt sich der Besuch dieses lustigen Mo- numents, das sich im fortwährenden Bau befindet. Wer Zeit hat, fügt Türmchen hinzu oder baut ein zusammengefallenes wieder auf. «HIER ERWARTET UNS EINE WILDERE SEITE DES LANDES, DIE ABER IN IHRER RAUHEIT NICHT MINDER BERÜHRT.» links: Mit Stora Alvaret verfügt die Insel Öland über eine der letzten Karstlandschaften Europas und Lebensraum für seltene Pflanzen. rechts: Natürliche Filmkulisse: In der Schlucht Kungsklyftan bei Fjällbacka wurden Teile von Ronja Räubertochter gedreht.
medico JOURNAL – REISEN 24 25 links: Die Schiffsetzung von Anundshög stammt aus dem 6. Jahrhundert. mitte: Die raueren Schären im Westen verfügen über eine eigentümliche Schönheit. oben: Runensteine sind in Schweden weit verbreitet. Über 2800 sind bisher gefunden worden.
medico JOURNAL – REISEN 26 27 Ein Elch aus nächster Nähe W aren wir zur Halbzeit langsam unruhig geworden, weil uns noch kein Elch begegnet war, hat sich dieses Thema inzwi- schen erledigt. Obwohl Elche Einzelgänger sind und die Brunft noch nicht begonnen hat, überqueren eines Morgens direkt vor uns gleich mehrere Exemplare die Strasse. Nicht allzu nah zwar, aber doch so, dass wir sie gut beobachten können. Auf dem Weg an die Westküste brechen wir ein zweites Mal in Jubelschreie aus: Wir entdecken eines dieser imposanten Tiere unmittelbar neben uns gemütlich kauend zwischen brusthohen Jungbäumen am Strassenrand. Als Abschluss unserer Reise wollen wir der Westküste bis zur Öre- sundbrücke folgen. Mit ihren felsigen Schären, den malerischen Fi- scherdörfern und den natürlichen Filmkulissen ist die Küste ein be- liebtes Ferienziel. Inzwischen komplett frei von Erlebnisgier lassen wir uns während unserer letzten Tage in diesem abwechslungsreichen Land einfach treiben und geniessen, dass wir auch ohne Planung immer wieder von natürlichen und menschengemachten Prezio- sen überrascht werden: romantische Badeplätzchen an verlassenen Seen, ein Vogelschutzgebiet, eine Übernachtungsmöglichkeit auf einem bewaldeten Damm. Und sogar noch ein bisschen Astrid Lind- gren finden wir hier: die Schlucht, über die die Räuberkinder in der Verfilmung von Ronja Räubertochter springen, als sie aus der Fehde ihrer Eltern ausbrechen, um ihre Freundschaft in Freiheit zu pflegen. rechts: Am Strand des Vänern, dem grössten Süsswassersee Europas, finden wir die pure Idylle. unten: Eine Terrasse aus Porphyr leisten sich in der Schweiz nur wenige; in Schweden liegt das Gestein tonnenweise herum. Text: Nadja Belviso Bilder: Adrian Vollenweider
medico JOURNAL – REISEN 28 29 Bali ATMEN UND ERLEBEN Die Götterinsel, wie Bali treffenderweise sonst noch genannt wird, hat verschiedene Gesich- ter: Abgesehen von schönen Stränden, die auch massenweise australisches Partyvolk anlocken, bietet dieser hübsche Flecken Erde interessier- ten Menschen spannende Möglichkeiten, tiefer einzutauchen. Religion und Spiritualität geniessen in der balinesischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Die Freundlichkeit der Menschen, die Hilfs- bereitschaft und der Respekt gegenüber anderen, sind in den tägli- chen Begegnungen spürbar. Authentizität ist eine der herausragen- den Eigenschaften, die sich Bali trotz Massentourismus bewahrt hat. Dieser Nährboden, gepaart mit einer ordentlichen Portion Hedonis- mus und Sinnsuche von uns Westlern, gebiert eine Vielzahl an eso- terischen und spirituellen Angeboten. Ausbrechen aus Sinnlosigkeit und rigiden gesellschaftlichen Strukturen – das ist die Motivation zahlreicher Besucher aus Europa, Amerika und Asien. Bali ist unbe- stritten ein guter Ort dafür. Kein Zufall, hat auch Yoga in Bali eine zwei- te Heimat gefunden. Mit wenigen Grundkenntnissen und einer gehörigen Portion Neugier breite ich ein erstes Mal meine Matte aus. Einige Yogis sitzen bereits in stiller Meditation. Zur Einstimmung ertönt sanfte Musik. Die Lehrerin teilt eine kleine Lebensphilosophie mit uns. Über die Atmung sollen wir in uns hineinfühlen und uns mit unserem Körper verbinden. Ein langes, tiefes «Ohm» ertönt aus 36 Kehlen. Ungewohnt, aber stimmungsvoll startete die heutige Yoga-Klasse und damit die Reise zum Selbst. links: Unesco Weltkulturerbe: die Reisterrassen von Jatiluwih.
medico JOURNAL – REISEN 30 31 A ls Nächstes steht die Erkundung von Ubud an, einem exo- tischen und pulsierenden Ort. Ubud ist weit verzweigt und liegt inmitten von leuchtend grünen Reisfeldern. Im Zentrum kann man sich auf holprigen Trottoirs gut zu Fuss bewegen. Nebst den Yoga-Studios laden gemütliche, zum Teil ziemlich trendige Res- taurants und Cafés zum Verweilen ein. Vegan und organic stehen hoch im Kurs. Achtung: «Vegetarisch» wird hierzulande eigenwillig ausgelegt. Poulet und manchmal auch Fisch zählen in Bali zur vege- tarischen Küche. Möchte man sich tatsächlich fleischlos ernähren, erwähnt man dies besser noch einmal explizit. «No Chicken, no Fish, please.» «DIE BEIDEN In Ubud bieten originelle Läden Inspiration und man könnte Tage mit Shopping verbringen. Man findet hier stilvolle Wohnaccessoires, TEMPEL bunte Kleider, Yoga-Artikel und allerlei Schnickschnack. Unzählige Tätowierer bieten ihre Künste an und an fast jeder Strassenecke GUNUNG KAWI gibt es Spa. Die fantastischen Massagen, welche dort für wenig Geld angeboten werden, sind ein echtes Highlight. UND TIRTA EMPUL Die Strassen rund um Ubud sind grundsätzlich zu schmal und zu SIND AUF JEDEN voll. Dank der entspannten Grundeinstellung der Menschen funk- tioniert der Verkehr trotzdem. Sogar E-Bike-Touren durch die von FALL EINEN Reisfeldern geprägte Gegend werden angeboten. BESUCH WERT.» Ich leihe ein fahrtüchtiges Velo aus, um die Landschaft zu erkun- den. Die beiden zwölf Kilometer entfernten Tempel Gunung Kawi und Tirta Empul sind auf jeden Fall einen Besuch wert. Überall am Strassenrand stehen landestypische Häuser. Die dazugehörenden Familientempel sind teilweise von beachtlicher Grösse. Ab und an passiere ich dekorierte Bäume, die ebenfalls verehrt werden. Bali ist sehr dicht besiedelt. Es finden sich kaum offene, unbebaute Flä- chen. Gebäude und Reisfelder prägen die Landschaft. Die Tempelanlage Gunung Kawi liegt in einem hübschen Flusstal. Nachdem man den Eintritt bezahlt und den für Frauen und Männer obligatorischen Sarong um die Hüfte geschlungen hat, steigt man unzählige Stufen hinunter. Der drohende Regen hält die Souvenir- verkäufer zurück und sorgt dafür, dass sie heute nur halbherzig en- gagiert sind. Grosse, aus dem Felsen gehauene Altare, umrahmen das Gelände. Die exotischen Pflanzen und Lianen, die von den Bäu- men hängen, erinnern an die Kulissen von Indiana Jones. In diesem stimmungsvollen Ambiente hält eine Familie ein Ritual ab: Sie bringt «BUNTE SCHAREN VON Opfergaben dar, entzündet Räucherstäbchen und spricht Gebete. BESUCHERN BADEN HIER IM Turbulenter geht es beim Wassertempel Tirta Empul zu, einer von Balis wichtigsten Tempelanlagen. Bunte Scharen von Besuchern ba- HEILIGEN WASSER, UM SICH den hier im heiligen Wasser, um sich von Krankheiten und anderen Problemen zu befreien. Gläubigen, die Stille suchen, steht ein sepa- VON KRANKHEITEN UND rater Platz zur Verfügung. PROBLEMEN ZU BEFREIEN.» links: Üppige Dekoration, wie man sie oft bei Tempeln antrifft. rechts: Wassertempel Tirta Empul.
medico JOURNAL – REISEN 32 33 oben: Ein kunstvoll geschnitzter Penjor. mitte: Festlicher Einzug in den Tempel an Kuningan. rechts: Ein ganzer Berg an Opfergaben im Tempel Tirta Empul.
medico JOURNAL – REISEN 34 35 U m Bali auch kulinarisch zu entdecken, bietet sich ein Kochkurs an. Dieser beinhaltet als Erstes einen Marktbesuch. Unser Reiseleiter erklärt uns die exotischen Gemüsesorten. Dazu gehört die rund ein Meter lange Schlangenbohne, aus der wir zusammen mit Spinat, Sprossen, Kokos, Chili und anderen Gewürzen unseren Salat zubereiten werden. Nebst Papayas, Mangos und Mangosta- nen, sind die grünen Mini-Bananen und die Schlangenhautfrucht weitere Besonderheiten. Letztere sind aufgrund ihrer festen Schale besonders praktisch für unterwegs. Die Vielfalt an Gewürzen ist beeindruckend: Galgant, Kurkuma, verschiedene Ingwer, Koriandersamen und Kafirlimetten machen neugierig auf die Gerichte. Am ausgefallendsten ist die Kerzen- oder Lichtnuss. Eine weitere Bezeichnung ist Kemirinuss. Ihr Kern gleicht einer Maccadamia. Die Kemirinuss findet in der malayischen und indonesischen Küche häufig Verwendung. Vom Verzehr in ro- hem Zustand sei dringend abgeraten: Unbehandelt ist sie giftig und verursacht starke Bauchschmerzen. All diese Zutaten sind essen- zieller Bestandteil der ominösen Basis-Paste. Diese verleiht vielen Gerichten ihr ganz spezielles Aroma. Auf der Weiterfahrt zum Kochstudio erklärt uns Maduk, der Reiseleiter, die Besonderheiten des balinesischen Reises. Nebst der weissen Sor- te mit kleinen runden Körnern, existieren eine rötlich-braune und eine schwarze. Schwarzer Reis wird zusammen mit Kokosmilch zu Black Rice Pudding gekocht, einem äusserst gehaltvollen, süssen Gericht. «DIE AUSWAHL AN GEWÜRZEN IST BEEINDRUCKEND.» oben: Die rund ein Meter lange Schlangenbohne, aus der wir einen leckeren Salat zubereiten. unten: Das Rezept letztendlich ist geheim. Doch hier die wichtigsten Ingredienzien der Basis-Paste.
medico JOURNAL – REISEN 36 37 B ali verfügt über tropisches Klima und ausreichend Wasser, sodass das ganze Jahr über Reis angebaut werden kann. Es gibt keine saisonalen Schwankungen. Der Reisanbau ist mühsam, weil mit viel Handarbeit verbunden. Junge Leute findet man kaum noch auf den Feldern. Es ist zu befürchten, dass Balis weltberühm- te Reisterrassen dereinst verschwinden werden. Die Terrassen von Jatiluwih sind von überwältigender Schönheit und zählen zu den bekanntesten ihrer Art. Spaziergänge von unterschiedlicher Länge sind markiert. Sie zu entdecken, ist eine besondere Art der Meditation: Schritt um Schritt tun, atmen und dieses beruhigende Grün auf sich wirken lassen. «MAN MUSS KEINE Von Schreinen und Familientempeln her verbreiten Räucherstäb- chen ihren Duft. Einsam ist es hier keineswegs. Heute ist Kuningan, WASSERRATTE SEIN, ein Fest, an dem besonders viele Menschen unterwegs sind. UM IN BALI Galungan findet alle 210 Tage statt. Es ist das wichtigste religiöse Fest Balis und endet nach zehn Tagen mit dem Kuningan-Fest. GENUSSVOLLEN UND Die Strassen sind in dieser Zeit mit wunderschönen Penjors ge- schmückt – von Meisterhand gefertigte Bambusfahnen. Im Zen- INTERESSANTEN trum der Feier steht die Schöpfung, der Sieg des Guten über das Böse. Die Balinesen gedenken der Ahnen und huldigen den Göttern. URLAUB ZU Sanyang Widi, die Inkarnation des göttlichen Dreigestirns Shiva, VERBRINGEN.» Vishnu und Brahma, steigt von seinem Berg Gunung Agung herab und besucht die Tempel. Die Geister der Verstorbenen kehren zu- rück in die Häuser. Es ist üblich, sie mit Opfergaben willkommen zu heissen. An Kuningan verlassen die Geister und Götter die Häuser und Tempel wieder. An diesem Tag zieht Barong, der Löwenhund, durch die Strassen. An den bunten Prozessionen kann man sich nur schwer sattsehen. Man muss kein Strandfan und keine Wasserratte sein, um in Bali ge- nussvollen und interessanten Urlaub zu verbringen. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass die Insel auf dem pazifischen Feuerring liegt und somit prädestiniert ist für Erdbeben, Tsunamis und Vulkan- ausbrüche. Der Gunung Agung, der mit gut 3000 Metern höchste Berg der Insel, ist ein aktiver Vulkan. Seine Besteigung böte eine prächtige Alpinwanderung (T4). Aufgrund anhaltender Aktivität ist das Gebiet jedoch seit Ende 2017 gesperrt. Text und Bilder: links: In Tirta Empul gibt es auch ruhige Ecken. Cornelia Voigt rechts: Die Reisterrassen von Jatiluwih, eingebettet in eine Vulkanlandschaft.
medico JOURNAL – REISEN 38 39 Edinburgh TROMMELN, KANONENDONNER UND HERUNTER- FALLENDE KUGELN: «I AM A STAGE FOR YOU TO PLAY UPON, I AM EDINBURGH.» links: Im Fischerdörfchen Leiths kann man übernachten und mit dem Bus in die Stadt pendeln.
medico JOURNAL – REISEN 40 41 Wie gefangen müssen sich die Frauen vorge- kommen sein? Gefangen in den Konventionen, in Traditionen, in einer männerdominierten Welt? Für eine Frau war es lange Zeit undenk- bar, Ärztin zu werden. Die Männer trauten es ihnen nicht zu, erst Recht nicht in chirurgischen Fächern. Gertrude Herzfeld waren die Vorurtei- le offenbar egal. Schon als Fünfjährige soll die Tochter österreichischer Emigranten gewusst haben, dass sie Ärztin werden wollte. «SECHS LEISTEN- Herzfeld, geboren 1890, war die erste praktizierende Chirurgin in Schottland und die zweite Frau, die Mitglied im Royal College of Sur- HERNIEN SOLL geons in Edinburgh werden durfte. Wer an den Hunderten anato- mischen Präparaten vorbeigegangen ist, an den grotesk grossen DIE CHIRURGIN IN Knochentumoren, an den Ungeborenen mit Deformitäten, an den Skeletten mit verkrüppelten Unterschenkelknochen, an dem Phyto- 50 MINUTEN bezoar des kleinen Mädchens – dann sieht man Herzfelds Portrait mit dem gütigen Gesicht. Eine einfühlsame Ärztin, so kommt es einem in OPERIERT HABEN.» den Sinn, mit einem energischen Blick und einer massigen Statur, die sicherlich so manch einem männlichen Kollegen Respekt einflösste. 1920 wurde sie Chirurgin und arbeitete 25 Jahre im Kinderkranken- haus in Edinburgh. «Gertie» wie sie liebevoll genannt wurde, operierte schon ambulant, bevor das zur Routine wurde – einfach weil es nicht genügend Spitalbetten gab. Sechs Leistenhernien soll die Chirur- gin in 50 Minuten operiert haben. Doch nicht nur das Operieren lag ihr am Herzen. Sie lehrte Kinderchirurgie an der Uni in Edinburgh, be- riet Gesellschaften für körperbehinderte Kinder, war Vorsitzende der Britischen Ärztegesellschaft in Edinburgh, nationale Präsidentin der Ärztinnen-Vereinigung und unterstützte junge Kolleginnen bei ihrer Karriere. Als Herzfeld mit 91 Jahren starb, schrieb das British Medical Journal: «A large woman in heart [and] mind.» Die Surgeons' Hall Museums der Schottischen Gesellschaft für Chi- rurgie sind ein Muss für jeden Mediziner in Edinburgh. Die patholo- gisch-anatomische Sammlung ist eine der grössten und ältesten der Welt. Der Besucherin wird wieder bewusst, wie grossartig die Erfin- dung der Anästhesie ist, was für ein Spektakel die Anatomievorlesung damals gewesen sein muss und sie stellt überrascht fest, dass Charles Bell nicht nur ein talentierter Arzt, sondern auch Künstler gewesen ist: Sein Gemälde eines Soldaten zeigt so anschaulich einen Opisthoto- nus durch Tetanus, dass Frank Netter neidisch geworden wäre. links: «Gertie» Gertrude Herzfeld. @ The Royal College of Surgeons of Edinburgh. rechts: Tron Kirk auf der Royal Mile.
medico JOURNAL – REISEN 42 43 V ielleicht liegt es an der Offenheit der Schotten, dass eine Frau damals so eine Karriere machen konnte, obwohl das alles andere als normal war? Vielleicht weil Schottland selbst lan- «Schottland als Reiseziel steht immer im Schatten von England», sagt Anna Campbell Birn, die in Kanada wohnt und gerade ein Se- mester in Edinburgh studiert. «Die Schotten überschlagen sich ge vergeblich kämpfte, um von England unabhängig zu werden? zwar nicht vor Freundlichkeit, aber wenn man sich mit den Leuten Noch 1997 stimmten 4 von 5 Schotten für den Autonomiestatus, etwa im Pub oder im Restaurant etwas unterhält, wird man mit «DAS BALMORAL WURDE 1902 aber 2014 votierten 55,3% ganz knapp gegen eine Unabhängigkeit grossartigen Geschichten, vielen Tipps und Gratis-Drinks belohnt.» Schottlands. Seit dem 15. Jahrhundert ist Edinburgh Hauptstadt Salzig riecht die Luft und ein im Vergleich zum lausekalten Zürich ALS BAHNHOFS-HOTEL GEBAUT...» von Schottland und seit 1999 Sitz des schottischen Parlaments. warmer Wind schlägt einem entgegen, als man die wackelnde Mit knapp 500'000 Einwohnern ist es nach Glasgow die zweitgröss- Gangway am Flughafen heruntersteigt. Das Meer ist nicht weit, 10 te Stadt Schottlands. Kilometer östlich von Edinburgh liegt der «Hausstrand» Portobello, 15 Kilometer nordwestlich überspannt eine rote Eisenbahnbrü- cke – übrigens Weltkulturerbe – den Fjord «Firth», wo der Forth in die Nordsee mündet. Wer «Firth of Forth» auch nach dem dritten Whisky noch problemlos aussprechen kann, dürfte wohl von allen Schotten akzeptiert sein. Der Barmann im «Balmoral Hotel» zieht eine Augenbraue hoch. Ei- nen Whisky wolle die Touristin aus der Schweiz? Ja, aber was denn für einen? «We have more than 550 Single Malt Scottish Whiskies!» Gut, jeder habe ja mal klein angefangen, sagt er und schenkt mir ein Glas ein. Er erinnert an einen Grappa aus dem Holzfass, nur rauchi- ger. Das Zeug schmeckt so gut, dass man die Schotten versteht: Whisky gehört hier zum Alltag, sei es als Feierabendbier, nach dem Shoppen oder «mal eben so» in einem Pub. Vom Balmoral Hotel, gebaut 1902, am Anfang der Princess Street, lassen sich alle Sehenswürdigkeiten zu Fuss erreichen und die sym- pathischen Concierges haben stets persönliche Tipps parat. Hier hat Joanne K. Royling ihren Harry Potter zu Ende geschrieben, ein Zimmer ist ihr gewidmet, was regelmässig von Fans ausgebucht ist. Am nächsten Morgen reibt sich die Touristin verwundert die Au- gen. Ist man in der Fantasie-Welt von Harry Potter gelandet? Oder lag es doch an den zwei Gläsern Whisky? Die Uhr am Uhrturm des Balmoral geht drei Minuten vor! Doch Concierge Andrew Thomson beruhigt: Das sei schon immer so. «Das Balmoral wurde als Bahn- hofs-Hotel gebaut und die Uhr wurde drei Minuten vorgestellt, da- mit Reisende nie ihren Zug verpassen.» «...UND DIE UHR WURDE DREI MINUTEN VORGESTELLT, DAMIT REISENDE NIE links: Vom luxuriösen Balmoral Hotel kann man die Sehenswürdigkeiten gut IHREN ZUG zu Fuss erreichen und sich nachmittags bei high tea oder im Spa erholen. VERPASSEN.»
medico JOURNAL – REISEN 44 45 links: Das Scott Monument ist dem Schriftsteller Sir Walter Scott gewidmet. Die 287 Stufen auf die Spitze lohnen sich für einen Ausblick auf Edinburgh und die Umgebung. mitte: Very british: Häuser am Park «The Meadows». oben: Trotz Handy-Zeitalter: Die roten Telefonzellen gibt es noch.
medico JOURNAL – REISEN 46 47 A rchitekt James Craig liess im 18. Jahrhundert die südliche Seite der Princess Street frei. So blieb Platz, um den Nor Loch trockenzulegen und in einen Park umzuwandeln. Der Loch – um es runterzuspülen.» Sie finde, Haggis schmecke eigentlich ganz lecker, sagt Anwältin Dorothea aus Den Haag, «Mit gerösteten To- maten und Pilzen, gebratenen Eiern, Bohnen und Speck wird das Schottisch für See – muss übel gerochen haben. Leute warfen hier ihre Abfälle hinein, und bis ins 17. Jahrhundert galt er als Hinrich- auch zum Frühstück angeboten – da ist man bis abends satt.» «AUF DEM GROSSEN PLATZ VOR DER BURG, tungsort. Berühmt ist der Tod der 18-jährigen Margaret Wilson und der 63-jährigen Margaret McLachlan. Sie wurden 1685 im See er- Edinburgh habe mehr Restaurants pro Kopf als jede andere Stadt in Grossbritannien – London ausgenommen, erzählt Andrew Thomas, DER ESPLANADE, FINDET JEDEN SOMMER tränkt, angeblich weil sie sich weigerten, den König von Schottland, James VII, als Oberhaupt der Kirche anzusehen. Concierge im Balmoral-Hotel. «Die grosse Auswahl unterschiedli- cher Küchen und verschiedener Restaurant-Stile macht es enorm DAS MILITARY TATTOO STATT, James VII war der letzte katholische Monarch in Grossbritannien. schwierig, den Gästen ein passendes Restaurant zu empfehlen. Ich höre mir deshalb immer genau an, was der Gast sich vorstellt und URSPRÜNGLICH VOR ALLEM MILITÄRMUSIK Wegen seiner prokatholischen und absolutistischen Politik wurde er kurzerhand abgesetzt. Im Königspalast im Schloss bekommt man gebe ihm dann einen Tipp.» Der 29-Jährige, der schon sein gan- zes Leben in Edinburgh lebt, hat die meisten Restaurants und Pubs MIT DUDELSACK UND TROMMELN.» eine ungefähre Vorstellung, wie gebeutelt das Land und die Men- selbst ausprobiert und das richtige Gespür entwickelt: Seine Emp- schen durch die vielen Kämpfe und Intrigen gewesen sein müssen. fehlungen passen perfekt. «Edinburgh Castle ist ein Muss», sagt Justus Becker, Philosophie- und Physikstudent aus Bochum. «Zum einen hat man einen tollen Ausblick auf die Stadt und kann sogar bis zum Forth schauen, zum anderen wird einem die Geschichte richtig nahegebracht.» 1313 kletterten Gefolgsleute des schottischen Königs Robert the Bruce über die steilen Felsen auf den Burgberg und überrumpelten die Engländer – ein Jahr später wurde Schottland unabhängig. Laut hört man die Kämpfer schreien, zwischendurch dramatische Mu- sik und viele geschichtliche Informationen – der Audioguide lohnt sich. Purpurrot mit Gold, Edelsteinen und Hermelinfell liegt sie dann vor einem, gut geschützt hinter Panzerglas: Die schottische Krone. Auch wenn man mit den Royals nichts am Hut hat – so viel Edelstei- ne auf einmal zu sehen, fasziniert schon. Wie schwer wohl so eine Krone ist? Wieder in die Realität aufgetaucht, ertönt Dudelsack- musik, Kanonenschüsse werden abgefeuert. Der Burghof ist abge- sperrt, Touristen müssen an der Seite warten. Ein Staatsereignis? Nein, Prince Charles hat heute Geburtstag, und Edinburgh bringt ihm aus der Ferne ein Ständchen. Im Sommer ist Edinburgh Schauplatz des International Festivals und des Fringe Festivals. «Die Stadt ist voller Leute und Leben – es ist eine tolle Atmosphäre», sagt Dorothea Engel, Anwältin in Den Haag. «Überall Theatervorführungen, Musik, Tanz, Oper und Ballett – die Stadt ist eine einzige grosse Bühne.» Fast zeitgleich findet auf dem grossen Platz vor der Burg, der Esplanade, das Edinburgh Mili- tary Tattoo statt, ursprünglich vor allem Militärmusik mit Dudelsack und Trommeln. «Die Militärmusik höre sich wohl kaum ein Schotte privat zu Hause an, aber hier gehe es um die Mischung von Musik, Marschieren und Artistik. Da bekommt man echt Gänsehaut.» Die kriegen manche Touristen auch, wenn sie an das schottische Na- tionalgericht Haggis denken: Ein Schafmagen wird mit Herz, Leber, Lunge und Nierenfett vom Schaf, mit Zwiebeln und Hafermehl ge- füllt. Die Meinungen darüber gehen allerdings auseinander. «Der ein- zige Weg, Haggis zu essen, ist in Form frittierter Bällchen mit einem Whisky dazu», sagt die Studentin Anna. Penny Howard, Halb-Schot- tin und Kunsthistorikerin aus London, kann ihrem Nationalgericht nichts abgewinnen. «Es wurde damals als billige, nährreiche Mahlzeit erfunden. Ich halte es für das widerlichste Essen, was ich jemals ge- rechts: Das Tattoo-Festival - Militärmusik gessen habe. Sogar die Schotten brauchen danach einen Whisky, mit Dudelsack und Trommeln.
medico JOURNAL – REISEN 48 49 K alt ist es jetzt geworden, dunkle Wolken haben sich vor die Nachmittagssonne geschoben und ein ungemütlicher Wind pfeift um das Hotel. Ob der Gast sich vielleicht bei einem Tee auf- Es gibt noch viel zu erzählen über diese Stadt, und noch mehr zu sehen: Das schottische Nationalmuseum zum Beispiel, das Writers Museum, der gruselige Untergrund mit zugemauerten, vergesse- wärmen wolle, fragt Andrew, oder in der Sauna? «But I would rather nen Gassen und düsteren Gewölbekellern, der «Hausberg» Arthurs suggest buying a nice scarf, that`s far more sustainable.» Den solle Seat, die Princess Street Gardens, die vor Weihnachten in einen man aber bitte nicht auf der Royal Mile erwerben, dort gäbe es nur romantischen Weihnachtsmarkt verwandelt werden... «The city billiges Chinesen-Imitat. Der erstandene Schal bei Hawico auf dem whispers», schreibt der Edinburgher Schriftsteller Alexander McCall Grassmarket – wo bis ins 20. Jahrhundert Vieh- und Pferde gehan- Smith, «come look at me, listen to the beating of my heart, I am the delt wurden – kostet zwar fast so viel wie der Flug nach Edinburgh, place you have seen in dreams, I am a stage for you to play upon, I aber eine Angina hat damit keine Chance. Um wieder auf ein nor- am Edinburgh.» Die Stadt sei so vielseitig und faszinierend, so das males Preisniveau zu kommen, wird nebenan noch ein bisschen Fazit von Student Justus. «Ich hätte nur mehr Schlaf gebraucht.» im Secondhand-Laden gestöbert. Hier gibt es von Abendkleidern über irische Strickpullover und Original 1980er-Rayban-Brillen al- Die Situation der Ärztinnen hat sich inzwischen gebessert: Heute les – auch Kilts. «Manche Touristen amüsieren sich über Männer sind 45 Prozent der Ärzte in Grossbritannien weiblich. Doch in hö- in Röcken», erzählt die Halb-Schottin Penny. «Man sollte sich das heren Positionen und vor allem in chirurgischen Fächern sind Frau- aber verkneifen und sich bewusst machen: Teil der Kilt-Uniform en nach wie vor unterrepräsentiert – das sieht in der Schweiz leider ist ein sgian-dubh, ein scharfes Messer, was verborgen im Strumpf nicht anders aus. Vielleicht braucht es mehr Vorbilder wie Gertrud steckt.» Studentin Anna sieht in Kilts die praktische Seite: «Viele Herzfeld, damit sich Ärztinnen von den männergeprägten Konven- Männer mit Kilt in Edinburgh gehen zu einem Ball oder einer Party. tionen befreien können. Sich am besten dranhängen!» Goldgelb färbt sich der Himmel über der Burg, Zeit für einen Abend- spaziergang. In einer Viertelstunde ist man am Calton Hill, von allen Plätzen mit Aussicht wohl der beste, wie der schottische Schrift- steller Robert Stevenson meinte. Mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde be- schrieb Stevenson auf geniale Weise das, was Psychiater heute dis- soziative Identitätsstörung nennen würden. Hätte es damals Ende des 19. Jahrhunderts schon Tuberkulosemittel gegeben, wäre Ste- venson wohl nicht schon mit 44 Jahren gestorben und hätte uns noch weitere grandiose Werke hinterlassen. «Athen des Nordens» wird Edinburgh wegen des nie vollendeten National Monuments mit den 12 Säulen auf dem Hügel genannt, das an die gefallenen Soldaten vom Napoleon-Krieg erinnert. Auf dem Nelson-Monu- ment, was aussieht wie ein umgedrehtes Fernrohr, weht einem fast die Kamera aus der Hand. Die Säule von 1816 erinnert an Nelsons Sieg und seinen Tod in der Trafalgarschlacht 1805. Den Zeitball auf der Spitze der Säule gibt es seit 1853, er fällt noch heute montags bis samstags pünktlich um 13 Uhr. Gleichzeitig wird von der Burg ein Schuss abgefeuert. Kugel und Donner halfen den Seeleuten im Firth of Forth damals, ihre Uhren zu stellen – Schweizer wären be- geistert gewesen. «HEUTE SIND 45 PROZENT DER ÄRZTE IN oben: Die Feinde im Blick: Kanone auf der Burg. GROSSBRITANNIEN unten: 1313 kletterten Gefolgsleute von Robert the Bruce über die steilen Felsen auf den Burgberg und WEIBLICH.» überrumpelten die Engländer – ein Jahr später wurde Schottland unabhängig.
medico JOURNAL – REISEN 50 51 TIPPS VON TIPPS VON TIPPS VON TIPPS VON DER AUTORIN STUDENTIN ANNA ANWÄLTIN DOROTHEA CONCIERGE ANDREW Übernachten wie die Royals Word of Mouth Cafe High Tea in der Signet Library Essen mit Sternen The Balmoral «Small, cheap and cozy with a «Genussvoll zur Ruhe kommen, Number One https://balmoralhotel.grandluxu- great vibe and delicious food» umgeben von alten Büchern. The Kitchin ryhotels.com/en/hotel/balmo- https://www.facebook.com/ Rechtzeitig reservieren!» ral-hotel?occ=a02 Word-of-Mouth-Cafe- http://www.thesignetlibrary. Einkaufen 227636163937635/ co.uk/colonnades/after- Armstrongs Vintage Sich informieren noon-tea/ «Cool second hand stuff» Pdf mit vielen nützlichen Infos Paradise Palms www.armstrongsvintage.co.uk https://edinburgh.org/ «Great cocktails in a funky cool Mimis Bake House Hawico media/1297024/This-is- bar» www.theparadisepalms. «Etwas robuster, aber nicht «A wonderful shop that sell Edinburgh-Press-Information- com weniger lecker» Frühstück, beautiful, very high quality Pack-2018.pdf Lunch, Afternoon Tea oder Kaf- cashmere pieces» Stramash fee und Kuchen zwischendurch. Ragamuffin Reiseführer «Here I would go for a pint and https://mimisbakehouse.com/ «A stylist boutique Dumont Direkt «Edinburgh», some live music» pages/bakehouse selling lovely knitwears» CHF 19.90 https://stramashedinburgh.com John Lewis Malmaison-Hotel in Leiths «One of the UK̕s top Einfach nur süss: Ting Thai «Man kann gut mit dem Bus in department stores» Fudge kitchen. «A super delicious, inexpensive die Stadt pendeln. Leiths ist ein Romanes & Patersons Karamell-Konfekt aus Zucker, Thai restaurant» http://www. sehr pittoreskes Fischerörtchen «A high quality tourist shop that Butter, Milch und/oder Sahne. tingthai-caravan.com mit Bars und Pubs.» sell traditional tartan pieces» Man kann dem Patissier beim https://www.malmaison.com Zubereiten zuschauen und darf sofort probieren. Oroccopier-Hotel https://fudgekitchen.co.uk/en «Für Romantiker und die, die Weitblick mögen. Unbedingt Keine Lust mehr auf Zimmer mit Aussicht zum schottische Küche? Fierce (=Seeseite) buchen: Locanda de Gusti. Der Napo- Der Ausblick auf die letaner Rosario Sartore kocht beleuchteten Brücken ist wie es ihm Mamma und Tante sensationell.» Oroccopier: beigebracht haben, der Kellner http://www.oroccopier.co.uk singt napolitanische Lieder. http://www.locandadegusti.com Vorgeschmack aufs Tattoo https://www.youtube.com/ watch?v=TxsffsSyFaM Surgeons' Hall Museums https://www.youtube.com/ https://museum.rcsed.ac.uk watch?v=71iGqxV7NhI rechts: UNESCO Weltkulturerbe: Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth. Text: Dr. med. Felicitas Witte Bilder: Dorothea und Michael Engel, Felicitas Witte
medico JOURNAL – MENSCHEN 52 53 PINK HINTER GITTERN WIE EINE FARBE KARRIERE MACHTE Mühelos drückte der Studienleiter die ausgestreck- ten Arme des erstaunten Probanden nach unten. Sekunden zuvor hatte dieser dem Druck noch standhalten können. Was war passiert, in dem Ex- periment, das der Fotobiologe John N. Ott 1978 im kalifornischen Santa Ana durchführte? Zunächst sollte der Proband seine Arme im rechten Winkel von sich strecken. Der Studienleiter versuchte daraufhin, die Arme wieder nach unten zur Hüfte zu drücken. Waren Studienleiter und Proband ähnlich kräftig, konnte der Proband den Druck während drei Sekunden aushalten, ohne ihm nachzugeben. Dann aber wurde ihm ein 60 x 90 cm grosser, rosafarbener Bogen Papier vor die Augen gehalten. Schlagartig liess die Kraft des Probanden nach und der Studienleiter drückte seine Arme nach unten. links: Beruhigungszelle, Kantonspolizei Biel, Switzerland. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN 54 55 BERICHTEN ZUFOLGE GAB ES SOGAR MENSCHEN, DIE SICH DIE FARBE NUR VORSTELLEN MUSSTEN, UM EINEN ERHOLSAMEN EFFEKT ZU VERSPÜREN. Der Sozialbiologe Alexander G. Schauss berichtete ein Jahr spä- ter an einem medizinischen Kongress von diesem Experiment. Der Effekt konnte bei 151 von 153 Studienteilnehmern fest- gestellt werden. Schauss erzählte in der Folge auch von einem Test, den er selbst durchführen wollte. Bei Tierexperimenten sei bereits festgestellt worden, dass sich rosafarbenes Licht auf das Hormonsystem von Mäusen auswirke. Der genaue Grund für den Effekt konnte allerdings nicht geklärt werden. Pink lag plötzlich im Trend Schauss schlug zunächst vor, eine Zelle in einem Gefängnis rosa zu streichen. Diese Zelle sollte dazu dienen, neu eingetroffene Gefangene zu beruhigen. Zur Anwendung kam der Test in einem Gefängnis in Seattle im Bundesstaat Washington. Die Militärs Gene Baker und Ron Miller entschieden, eine ihrer Zellen in ihrem Marine-Gefängnis zu kolorieren. Nach einigen Monaten meldeten sie, dass neu eingetroffene Gefangene nach 15-minüti- gem Aufenthalt in der Zelle beruhigt gewesen seien. Der Effekt halte 30 Minuten lang an. Die rosa Farbe machte unaufhaltsam Karriere in den USA. Sie wurde nach den beiden Militärs Baker-Miller-Pink genannt und in vielen Gefängnissen, Jugendhaftanstalten und psychiatri- schen Kliniken eingesetzt. Immer sollten die kolorierten Räume dazu dienen, die physiologische Erregung der Menschen zu reduzieren, deren Aggressionen abzubauen und sie zu beruhigen. Der Einsatz beschränkte sich nicht auf die USA. Auch weitere Länder auf der ganzen Welt nutzten in den folgenden Jahrzehn- ten das Baker-Miller-Pink. Das Pink, so spätere Berichte, musste nicht einmal bewusst wahrgenommen werden. Es nütze bei Farbenblinden und Skep- tikern. Berichten zufolge gab es sogar Menschen, die sich die Farbe nur vorstellen mussten, um einen erholsamen Effekt zu verspüren. Ein amerikanischer Arzt meinte, er könne mit einem Karton in dieser Farbe seinen eigenen persönlichen Tranquilizer mit sich tragen. Noch dazu einen, der nicht süchtig mache. rechts: Blutdrucksenkend. Beruhigungszelle in Biel. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN 56 57 IN EINER STUDIE HAT SPÄTH DIE WIRKUNG VON ACHT VERSCHIEDENEN FARBEN UNTERSUCHT. ÜBER 700 PROBANDEN HIEL- TEN SICH EINIGE MINUTEN IN VERSCHIEDENFARBIGEN KABINEN AUF. Studie besagt: Pink wirkt auf Blutdruck In der Schweiz begann sich die Farbdesignerin Daniela Späth Anfang des neuen Jahrtausends für das Baker-Miller-Pink und seine Wirkung zu interessieren. Sie hatte sich wissenschaftlich mit dem Farbton befasst und ihn weiterentwickelt. Das neue Produkt liess sie unter dem Namen «Cool Down Pink» marken- rechtlich schützen. In einer Studie hat Späth die Wirkung von acht verschiedenen Farben untersucht. Über 700 Probanden hielten sich einige Minuten in verschiedenfarbigen Kabinen auf. Vor Eintritt und nach Verlassen der Kabine wurden Blutdruck und Puls gemes- sen. Die Studie wurde von einer Forscherin an dem für seine komplementärmedizinische Ausrichtung bekannten Paracel- sus-Spital Richterswil begleitet. Es zeigte sich, dass der Blut- druck durchschnittlich um rund vier mmHG zurückging. «Die massive Reduktion von Aggression und Gewaltbereitschaft steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem blutdrucksenkenden Effekt von Cool Down Pink,» schreibt Späth dazu in einem Paper über die Farbe. Die Einsatzmöglichkeiten sind laut Späth vielfältig: sie reichen vom Justizvollzug über Schulen und medizinische Einrichtun- gen bis hin zu öffentlichen Sicherheitszonen an Flughäfen oder Bahnhöfen. Besonders auffällig sei, dass die Wirkung schon nach wenigen Minuten eintrete. Ein Effekt, den auch schon Schauss bemerkte. In den vergangenen Jahren wurden denn auch Zellen in diversen Schweizer Gefängnissen mit Cool Down Pink gestrichen, so in Biel oder im zürcherischen Pfäffikon. Auch wenn Späth positive Ergebnisse aus den Evaluationen in den Gefängnissen aufzählt, so ist weiterhin unklar, wie der Effekt zustande kommt. links: Farbkabinen für die Studie von Daniela Späth. © Daniela Späth
medico JOURNAL – MENSCHEN 58 59 Farben beeinflussen die Psyche Prinzen trugen früher Rosa Daniela Späth nennt im Paper ihre eigene Hypothese: «Die Die Zuordnung von Rosa zum Weiblichen ist nicht naturge- kurze Reaktionszeit bis zur tatsächlichen Senkung des Blut- geben und in historischer Perspektive ein neues Phänomen. drucks sowie die Blutdrucksenkung grundsätzlich sind Indizien Jahrhundertelang war Rosa die Farbe von Prinzen. Rot galt für einen vegetativen, hormonellen Steuerungsmechanismus, als männliche Farbe, während blau mit Weiblichkeit assoziiert der durch Cool Down Pink aktiviert wird.» Und weiter: «Cool wurde. Herrscher wie Kaiser, Könige und kirchliche Würden- Down Pink senkt primär nachweislich den Blutdruck. Dies ist träger trugen Purpur, die Prinzen, die kleinen Könige, hingegen ein rein körperlicher Effekt, der in der Folge zu einer psychi- das «kleine Purpur», also Rosa. Die Jungfrau Maria hingegen schen Beruhigung führt.» ist auf klassischen Gemälden fast immer in Blau gekleidet. Das US-amerikanische «Ladies’ Home Journal» schrieb noch Der Laie mag sich fragen, ob die Farbe Rosa nicht auch zu ne- 1918: «Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und gativen Reaktionen führe, wenn, wie der Zürcher «Tages-Anzei- Blau für die Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine ger» vor Jahren titelte, «böse Buben» mit pinken Wänden in der entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt, Gefängniszelle konfrontiert werden. Immerhin gilt Rosa heute während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen meist als Farbe für Prinzessinnen oder solche, die es werden hübscher aussieht.» wollen. Das dürfte eher nicht dem Berufsziel derjenigen entspre- chen, die sich in einer Beruhigungszelle wiederfinden. Wie also Erst im 20. Jahrhundert wechselten Rosa und Blau ihr symboli- nehmen die Betroffenen die Farbe wahr? sches Geschlecht. Blau galt durch die Anzüge der Matrosen als starke Farbe; die grassierende Vorliebe, Jungen in Matrosenan- züge zu stecken, tat das Ihrige dazu. Rosa verschwand aber nie Lieber Blau und Grün statt Pink? ganz von der männlichen Farbpalette. Rosa Oberhemden sind weiterhin beliebt und die männlichste aller Zeitungen Südeuro- Eine Evaluation der Psychiatrischen Dienste Bern aus dem pas, die italienische «Gazetta dello sport» erscheint seit mehr als Jahr 2011 kommt in einer Befragung von psychisch kranken einem Jahrhundert auf rosa Papier. Personen zu einem diffusen Ergebnis – wie so viele Studien auf diesem Gebiet. Rund die Hälfte der befragten Patientinnen und Patienten gaben an, dass sie eine pink gestrichene Isolierzelle, in Effekt ohne Erklärung der sie sich aufhalten mussten, einer weissen vorziehen. 41 Pro- zent allerdings würde eine ganz andere Farbe präferieren, etwa Letztlich bleibt der wissenschaftliche Grund für die beruhigende ein helles Blau oder ein helles Grün. Die Verfasserinnen der Wirkung der rosa Farbe ein Rätsel. Auch neuste Studien kom- Evaluation kommen zum wenig überraschenden Schluss, dass men zu widersprüchlichen Ergebnissen. Während das Nachlas- die Wirkung von Farben auf Menschen sehr individuell sei. sen der Muskelkraft in weiteren Studien bestätigt wurde, konnte keine Evidenz für andere Effekte auf die Physiologie, den Blut- Keinen Kommentar gab es zur geschlechterspezifischen Akzep- druck oder den Puls festgestellt werden. Auch fand sich nie eine tanz des Cool Down Pink. Die positiven Rückmeldungen, von allen wissenschaftlichen Ansprüchen standhaltende Erklärung denen Späth berichtet, scheinen aber darauf hinzuweisen, dass für den Effekt. Assoziationen mit «homosexuell» und «Mädchen» von den In- sassen einer solchen Zelle entweder nicht vorkamen oder nicht Jüngst wurde in einer Studie der Universität Ulm der Hautleit- auf sich bezogen wurden. Diese Erkenntnis entspricht auch einer wert von Probanden untersucht, die Baker-Miller-Rosa ausge- Aussage von Daniela Späth. In ihrem Paper schreibt sie, dass die setzt wurden. Es konnte keine Wirkung auf physiologische oder Zuschreibung von Rosa oder Pink als Mädchenfarbe aus dem kognitive Prozesse nachgewiesen werden. Und doch gab es Hin- gesellschaftlichen Bewusstsein verschwinden wird. weise, dass subjektive Unterschiede in der Wahrnehmung von weissem Licht und solchem in Baker-Miller-Pink vorkommen. So erlebten mehr Frauen als Männer das rosa Licht angeneh- mer als das weisse. Schliesslich musste aber auch diese Studie aus dem Jahr 2017 vor einer wissenschaftlichen Erklärung der Effekte kapitulieren. LETZTLICH BLEIBT DER WISSENSCHAFTLICHE GRUND FÜR DIE BERUHIGENDE WIRKUNG DER ROSA FARBE EIN RÄTSEL.
medico JOURNAL – MENSCHEN 60 61 Pfäffikoner Gefängnis wählt helle Farbe Noch dazu scheint der Nutzen dieser aggressionsmindernden Effekte auch von denjenigen unterschiedlich wahrgenommen zu werden, die sie beruflich nutzen sollten. Der neue Gefängnis- leiter Simon Miethlich in Pfäffikon entschied kürzlich, dass die bisherige pinkfarbene Sicherheitszelle mit einer hellen, freund- lichen Farbe zu versehen ist. Es sei wissenschaftlich nie belegt worden, dass der genannte Farbton eine beruhigende Wirkung auf Insassen haben könnte, sagt Miethlich. Auch sei von Exper- ten gesagt worden, dass der Farbton Pink bei psychisch auffälli- gen Insassen eher das Gegenteil von einer Beruhigung bewirke. Vielleicht führte diese Unsicherheit in der Evidenz dazu, dass sich ein anderes Feld, das weniger wissenschaftlich mit den kör- OB PINK IN perlichen und geistigen Erregungszuständen des Menschen um- geht, für Cool Down Pink zu interessieren beginnt: Die Kunst. DER KUNST ODER ALS BERUHIGUNGS- So haben Schüler des Kölner Berufskollegs Kartäuserwall im Rahmen eines künstlerischen Projektes zum Thema Gefängnis MASSNAHME eine Gefängniszelle im Massstab 1:1 nachgebaut und mit Cool Down Pink ausgemalt. Die Zelle war an der Folkwang Univer- sität der Künste in Essen im Jahr 2018 zu besichtigen. Das Pro- jekt sollte einen gesellschaftlichen Diskurs darüber ermöglichen, «welche ethischen Massstäbe die Gesellschaft heute im Umgang ANGEWANDT WIRD, FAKT mit Straftäter/innen ansetzen möchten, und welche Ziele durch den Entzug von Freiheit erreicht werden können und sollen.» IST: FARBEN HABEN IMMER EINE WIRKUNG AUF Publikum soll Farbe bekennen MENSCHEN. Einen anderen Ansatzpunkt wählten Eva Wandeler und Frances Belser im Jahr 2016. Im Rahmen einer Performance in Zürich malten sie mit riesigen Pinseln aus Farbbändern einen Boden in Cool Down Pink aus. Teil des Werks waren die Reaktionen des Publikums, die durch das sich wandelnde Raumlicht Änderun- gen in ihrer Wahrnehmung und emotionalen Reaktion erfuhren (siehe Interview). Ob Pink in der Kunst oder als Beruhigungsmassnahme ange- wandt wird, Fakt ist: Farben haben immer eine Wirkung auf Menschen. Dass bei Pink die abschliessende wissenschaftliche Evidenz für eine Wirkung fehlt, macht es für die Kunst interes- sant. Und dass auch heute noch über die Farbe und ihre Effekte geforscht wird, zeigt, dass die Wissenschaft den Einsatz von Rosa zur Beruhigung von Menschen weiterhin ernst nimmt. rechts: Performance tool#41 – ritual *deal done – cool down pink von Eva Wandeler in Kollaboration mit Frances Belser, sihlquai55 i n s p a c e visarte zürich, ZWISCHENRÄUME, Performance-Art-Reihe. Künstlerische Leitung: Monica Klingler und Christine Bänninger. © Christine Bänninger
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