17 Richtig oder falsch? Über die Frage, was in der Stadtentwicklung ein guter Weg ist - BBSR
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17 Juli 2020 Stadtentwicklungspolitik zu den Pilotprojekten der Nationalen M AGA ZI N Über die Frage, was in der Stadtentwicklung ein guter Weg ist. Richtig oder falsch?
Editorial Inhaltsverzeichnis 04 S TA DT U N D K R I S E Corona hat eine neue Debatte über das urbane Leben befeuert 06 GRENZERFAHRUNGEN Wie das Projekt Borderline Cities die Corona-Krise für sich genutzt hat 08 Seit rund zehn Jahren berichtet der stadt:pilot G U T E F E H L E R K U LT U R über die innovativen Pilotprojekte der Natio- Interview mit Staatssekretärin Anne Katrin Bohle nalen Stadtentwicklungspolitik. Da schien es 11 uns an der Zeit, auch das Magazin selbst zu N EU E L EI PZI G - C H A R TA Wie soll die europäische Stadt der erneuern. Seit Anfang 2020 wird die Redaktion Zukunft aussehen? im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raum- 12 BESSER ÜBERDACHT forschung (BBSR) deshalb durch den DUMMY Konzeptwettbewerbe auch für Flüchtlingsunterkünfte Verlag unterstützt. Die erste gemeinsame Aus- gabe handelt von der Herausforderung, in der 14 MASTERPLÄNE Stadtentwicklung Entscheidungen zu treffen und Überhaupt noch zeitgemäß? Nur wenn flexibler gestaltet wird dabei Richtig und Falsch auseinanderzuhalten. 16 Zugleich geht es um den Mut der Pilotprojekt-Ak- Q UA R T I E R U1 In Nürnberg wird Kreativität teure zur Experimentierfreude – um aus Fehlern auf ganzer Linie gefördert lernen zu können. Auch Staatssekretärin Anne 19 KOLUMNE Katrin Bohle spricht im Interview darüber, wie Stephan Willinger fragt: eine konstruktive Fehlerkultur in der Stadtent- Was ist eigentlich das Problem? wicklung aussehen kann und was für sie richti- 20 WUNSCHWEGE ges Handeln ausmacht: dass es das Gemeinwohl Wenn Planung eindeutig an Bürgerbedürfnissen vorbei geht in den Mittelpunkt stellt. Die übergeordnete 22 Debatte, welches neue Bild von Stadt unser zu- STECKBRIEFE Wie in Pilotprojekten Fehler künftiges Handeln prägen wird, erfuhr derweil produktiv genutzt werden durch die Corona-Pandemie eine verstärkte 24 NICHT VERKEHRT HIER Dynamik. Überhaupt stand die ganze Produktion Kreative dürfen in Görlitz des Heftes im Zeichen dieser Krise und ihrer einen Monat zur Probe wohnen Auswirkungen auf das städtische Leben. Die 26 IMPRESSUM folgenden Seiten spiegeln das wider. Kurzum: Es wäre ein Fehler, jetzt nicht weiterzublättern. 02
Titel: Jan-Dirk van der Burg | Foto: Jean-Luc Raymond. Werk: Dispatchwork, Jan Vormann, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 So viel vorab: Wer in der Stadtentwicklung unbedingt jeden Fehler vermeiden will, macht auch irgendwas falsch. Damit eine Mut zur Stadtgesellschaft prosperieren kann, muss dort herumprobiert werden dürfen. Und manchmal sind es dann gerade die Fehler oder auch Krisen, aus denen Kreativität entsteht – sodass die Stadt deutlich bunter wird. Lücke
Für die Städte war Corona eine harte Bewährungsprobe. Doch es gibt auch positive Effekte – etwa das verstärk- te Nachdenken darüber, wie wir in Zukunft leben wollen. Schlaglich- ter auf eine Debatte Belastung macht stark Auch ältere Debattenbeiträge kann man in Corona-Zeiten mit neuem Gewinn lesen, etwa die Theorie der „Antifragilität“ von Nassim Nicholas Taleb. Der schrieb in seinem gleich- namigen Buch 2014: „Alles, was von zufälligen Ereig- nissen oder Erschütterungen mehr pro- fitiert, als dass es darunter leidet, ist antifragil; das Umgekehrte ist fragil.“ Fo to : M a rc u s G l a h n Anders gesagt: Etwas sehr Starres wie eine Teetasse geht unter großer Belastung zu Bruch. Etwas Organisches wie der menschliche Kör- per hingegen wird durch Belastung bis zu einem gewissen Grad stärker. Corona Aber was heißt das für Stadtplanung? Der amerikanische Podcast „Strong Towns“ hat darauf in der Folge „Anti- fragile City“ Antworten gefunden. Durch Belastung schwächer werden demnach Städte, die alles präzise steuern wollen und sich gegen das Un- vorhergesehene abschotten. Stärker hingegen werden Städte, die sich als Stadt komplexe organische Systeme ver- stehen und zufällige Ereignisse als Gelegenheit zum Lernen erkennen. Sie gestehen ihren Akteuren zu, im kleinen Maßstab immer wieder auch und Krise zu scheitern, damit das große Gan- ze kontinuierlich belastbarer wird. Statt nach simplen Erfolgsformeln top-down Pläne zu implementieren, schaffen sie Raum für Bottom-up-Dy- 04
namik: für Bastler und Tüftler, die das Rückzugsmöglichkeiten gefragt sind? Stadtplanung erneut in die Pflicht ge- Erfahrungsspektrum erweitern und Werden in Zeiten von Kontaktsperren nommen, sich mit der Hygiene in den die städtische Gemeinschaft so für das Sharing-Konzepte leiden und wie- Städten Europas auseinanderzusetzen. Unvorhergesehene wappnen. der im Vorteil sein, wer über eigene Heute nicht mehr primär im Zeichen Wobei Taleb in einem Inter- Ressourcen verfügt? Infrage stellten des Slums oder der ‚Wohnungsfrage‘, view mit Bloomberg TV jüngst betont die Autoren auch, wie viel Zukunft sondern der ‚Risikogesellschaft‘ und hat, die Corona-Krise sei keineswegs das Nachverdichten hat, seitdem damit eines neuartigen urbanen ‚Expe- unvorhersehbar gewesen. Tatsächlich Social Distancing ein Begriff ist und rimentalismus‘, welcher langfristig mit hat er selbst in seinem Bestseller „The viele Bürger die Erfahrung wohltuend Unwägbarkeiten zu rechnen hat.“ Black Swan“ 2007 auf die Gefahr einer ruhiger Straßen gemacht haben. Eine weltweiten Pandemie hingewiesen. neue Flucht in die Vorstadt und ins Und mehr Hätten wir also besser vorbereitet sein Umland ist demnach denkbar. Auch große Fragen können? die neuen Homeoffice-Routinen legen das näher, als es für manch einen bis- Viola Schulze Diekhoff (TU Dortmund) Nordische her denkbar war. Wobei mit Blick auf und Christian Lamker von der Univer- Dynamik digitale Technologien auch gewarnt sität Groningen thematisieren in ih- wird, Überwachung und Kontrolle rem Aufsatz „Reinventing a growth-in- War man aber vielerorts nicht. Den- könnten salonfähig werden: dependent planning in times of crisis“, noch haben einige Städte durch einen wie Stadtplanung sinnvoll an Konzep- erfinderischen Umgang mit der Krise „Es ist kein Zufall, dass ausge- te einer Postwachstums-Ökonomie von sich reden gemacht. Als eines von rechnet jene Länder als positive Beispie- anknüpfen kann. Über diese Idee ei- vielen Beispielen sei hier Rostock ge- le im Kampf gegen die Corona-Pande- ner radikal nachhaltigen Wirtschafts- nannt, allerdings lag dort eher eine mie gelten, deren Städte besonders stark ordnung wird angesichts der globalen Top-down-Dynamik vor. Denn es war digital durchdrungen sind. Südkorea ökologischen Krise ja schon länger Oberbürgermeister Claus Ruhe Mad- oder Singapur nutzen die Smart-City- debattiert, und Schulze Diekhoff und sen selbst, der aktiv wurde. Frühzeitig Technologien, um die Kontakte von In- Lamker plädieren dafür, gerade in der hat er eine Vielzahl von öffentlichen fizierten nachzuverfolgen.“ Krise und mit Blick auf Raumplanung Bediensteten auf Corona testen lassen diese demokratische Debatte weiter- und war überhaupt offen für Neues. Comeback zuführen. Aus einem Interview mit „brand eins“: der Hygiene Ähnliche Überlegungen zu ge- „Was haben Sie während der In der „Neuen Zürcher Zeitung“ er- samtgesellschaftlichen Lerneffekten, Corona-Pandemie gelernt? innert Sascha Roesler, Professor für zu denen es durch Corona kommen Dass wir stellenweise noch im Gestern Architekturtheorie, daran, welche könnte, wurden von öffentlichen In- stecken und auf viele Dinge nicht vor- Probleme Infektionskrankheiten in tellektuellen wie Harald Welzer und bereitet sind. Ein Großteil der Verwal- vorindustriellen Städten aufwarfen Richard David Precht ja schon früh- tungsmitarbeiter hätte nicht zu Hause und was daraus folgte: zeitig nach Ausbruch der Pandemie arbeiten können, hätten wir ihnen nicht angestellt. Was den Philosophen Mar- Laptops aus unseren Schulen zur Ver- „Bekanntermaßen hat die moder cus Quent zu einer scharfen Kritik im fügung gestellt. Das wird nicht noch ne Architektur und Stadtplanung ent- „Berliner Tagesspiegel“ bewog: einmal passieren.“ scheidend zur Herausbildung eines hygienischen Selbstverständnisses in „Es ist erstaunlich, wie schnell Ar- Künftig sollen 500 der 2.400 Europa (…) beigetragen. Die Reduktion tikel und Essays aus dem Hut gezaubert Mitarbeiter so ausgestattet sein, dass der Belegungsdichten von Wohnräumen, worden sind, die bereits in den ersten sie dauerhaft mobil arbeiten können. die Festlegung der Distanzen zwischen Tagen der Einschränkungen davon han- Das spare Bürofläche und sei wegen Gebäuden, die Verankerung alltägli- delten, was man alles aus dieser Krise des reduzierten Pendlerverkehrs oh- cher Hygienemaßnahmen in Küche und lerne oder gelernt haben werde, wie uns nehin ökologischer. Dazu passen auch Bad – all dies hat unser Verständnis von die Pandemie als Menschen nachhaltig Madsens neue Überlegungen, eine modernem Wohnen und Leben maß- verändern werde und so fort. Von allen Schnellstraße in einen Radschnellweg gebend geprägt und die Herausbildung wird die Rede über das vermeintlich umzubauen. des Neuen Bauens befeuert.“ Erlernte viel schneller eingeübt als der Lernprozess selbst.“ Dichte und Epidemiologie und Stadtpla- Distancing nung hätten eine lange gemeinsame Da wir aber alle noch mitten Geschichte – und Zukunft: Derzeiti- in der Corona-Krise stecken und der Die „FAZ“ erkennt der Corona-Kri- ge Diskussionen rund um Smart City weitere Verlauf unbekannt ist, ist eine se gar so viel Wirkmacht zu, dass es und zivilgesellschaftliche Living Labs gewisse Behutsamkeit bei weitrei- dadurch zu größeren Neuordnungen ließen vermuten, dass sich die Pla- chenden Schlussfolgerungen sicher in Architektur und Stadtentwicklung nungskultur in Europa grundlegend anzuraten. Dennoch: Offen geführte kommen könnte: Werden die Apo- verändert: Debatten können nur gut sein, und logeten offener Grundrisse Oberwas- Krisen sind oft Katalysatoren für In- ser behalten, wenn das Zuhause zum „Mit der Ausbreitung des Coro- novation. Wir jedenfalls freuen uns Hauptaufenthaltsort wird und wieder navirus sehen sich Architektur und auf lebendige Diskussionen.
Grenzerfahrungen In Kürze wird es einen neuen Projektaufruf zum Thema „Stadtentwicklung nach Corona“ geben. Auf: nationale-stadtent wicklungspolitik.de Corona Dass Krisen Katalysatoren für Innovation und Erkenntnis sein können, ist schon zum Allgemeinplatz geworden. In dem Projekt „Borderline Cities“ hat diese Feststellung jedoch konkrete Gestalt angenommen 06
Vor Corona gab es da einen Plan. Im Rahmen und Themen für eine widerstandsfähige Stadt des Programms „Young Professionals Shape offengelegt“, sagt Koordinator Felix Bentlin. the Future“ sollten angehende Stadtplaner, Und Professorin Angela Million ergänzt: „Ins- Architekten und Urbanisten von über 19 euro- gesamt erfordern die Herausforderungen in päischen Universitäten, die sich bereits seit ei- den Bereichen Mobilität, Wirtschaft, Umwelt niger Zeit mit dem Thema Stadt und Grenze be- und Infrastruktur nach Ansicht der jungen fassen, im Frühjahr 2020 zu einer einwöchigen Generation einen Wertewandel in der Planung Summer School in Berlin zusammenkommen. und der Gestaltung von Städten. Besonders In der Stadt der historischen Grenzüberwin- wichtig war dem fachlichen Nachwuchs das dung wollte man gemeinsam vertiefen, wie Querschnittsthema Raumgerechtigkeit, etwa Planer und Quartiersmanager mit der heute zu bei der Umverteilung des öffentlichen Raums beobachtenden eigentümlichen Gleichzeitig- zugunsten der Fußgänger und Radfahrer.“ keit von Ab- und Entgrenzungstendenzen in Die Corona-Krise als Brennglas für The- Städten umgehen können – dem urbanen Ne- men der Stadtentwicklung und urbane Grenz- beneinander von Isolationismus (etwa in Mili- erfahrung. Die Online Summer School hat das eus, Filterblasen und Gated Communities) und herausgearbeitet und möchte dadurch noch der großen globalen Zirkulation von Wissen mehr zeitgemäße Antworten formulieren und Technologie, für die Städte Knotenpunkte auf die zentrale Frage: Wie kann heute eine sind. Eine gemeinsame Publikation war auch gesamteuropäische Stadt- und Regionalpolitik vorgesehen. Mit ihrer jungen Perspektive woll- aussehen, in der statt Grenzen das Verbinden- ten die Nachwuchsforscher einen Beitrag zur de zum Tragen kommt? Foto: epa/picture-alliance. Werk: OASE NR 7, Haus-Rucker Co*, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Neuformulierung der Leipzig-Charta leisten Wie ursprünglich geplant sollen die Er- (siehe auch S. 11). gebnisse nun in einer gemeinsamen Publika- Doch dann gab es da ein Problem, dem tion zusammengeführt und in den Prozess der in diesem Zusammenhang eine gewisse Iro- Leipzig-Charta eingespeist werden – sozusagen nie innelag: Plötzlich war Pandemie und alle als aktuellste Messung am Puls der Stadtent- europäischen Grenzen dicht. Das Projekt zum wicklung. Bentlin betont, wie beeindruckend Thema Stadt und Grenze drohte zu platzen für ihn diese transeuropäische Zusammen- wegen eines Virus, das keine Grenzen kennt. arbeit war, an der auch Studierende aus ganz Das BMI und das BBSR als Initiatoren fassten anderen Kontinenten beteiligt waren. Das jedoch zusammen mit der TU Berlin als Aus- war wie eine Antithese zu den europäischen richter schnell den Entschluss: Jetzt erst recht Grenzen, die zwischenzeitlich wieder so viel – hier liegt eine große Chance. Immerhin Bedeutung beanspruchten. Digital hat man stand da eine Forschungsgemeinschaft aus sie spielend überwunden. Aufschlussreich über 80 Dozenten und Studierenden bereits in war, so räumt Bentlin ein, nebenbei auch eine den Startlöchern. Nun brauchte es nur noch neue Dynamik zwischen Dozierenden und eine kleine Perspektivverschiebung: Wie ge- Studierenden: Die Unbefangenheit des aka- hen die Städte mit der Krise um? Das war jetzt demischen Nachwuchses bei Online-Arbeit, die Frage, und nachzugehen wäre ihr statt in Online-Research, Online-Kommunikation sei einer Summer School dann eben in einer On- nicht zu übersehen gewesen. line Summer School. „Die Moderation der großen Ab- Das Format „Fachlicher Nachwuchs ent- schluss-Zoom-Konferenz war schon eine wirft Zukunft – Sommerschulen der Nationalen Herausforderung“, sagt Felix Bentlin, der Stadtentwicklungspolitik“ wird seit zehn Jahren Projektkoordinator von der Berliner Fakultät jährlich von einer anderen deutschen Hoch- für Planen, Bauen und Umwelt. „Aber es war schule ausgerichtet. Es besteht aus parallelen auch aufregend, und es hat uns überrascht, Seminaren und Entwurfswerkstätten und einer wie kons truktiv das schlussendlich ablief.“ anschließenden gemeinsamen Sommerschule, in Über zehn Tage war in Tandems aus je einer der alle Studierenden zusammentreffen. Dieses deutschen und einer anderen europäischen Jahr wurde das Format anlässlich der deutschen Uni gearbeitet worden; präsentieren durf- EU-Ratspräsidentschaft und der Neuformulie- ten die Sparringspartner ihre Ergebnisse in rung der Leipzig-Charta im europäischen Maß- einem Format ihrer Wahl. stab durchgeführt. Auf der Grundlage von Analysen, Sze- narien und Ad-hoc-Entwürfen haben die Teilnehmer der Online-Sommerschule gezeigt, In der Quarantäne wie vielfältige, lebendige, zugängliche und wurden manche belastbare Räume in vielen Städten Europas Privilegien besonders etabliert werden können. Was kam konkret spürbar – etwa einen heraus? „Die eigene Betroffenheit hat bei den Balkon oder etwas Studierenden vor allem Diskussionen zur Grün hinterm Haus Entwicklung von Öffentlichkeit und Privat- zu haben heit sowie Dichte und Funktionalität beflügelt
Wird durch Corona besonders deutlich, wo in der Stadtentwicklung dergrund rücken, dann läuft Stadtentwicklung richtig gehandelt wurde? Und wie in eine gefährliche Richtung. Im Zusammen- hang mit der Pandemie gibt es allerdings auch sähe generell eine konstruktive erfreuliche Entwicklungen. Fehlerkultur aus, die Städten An welche denken Sie? Nachbarschaft zum Beispiel. Ich bin zugutekommt? Darüber haben wir keine Sozialromantikerin, aber es gibt da eine Wiederentdeckung von Werten der Gemein- mit Staatssekretärin Anne Katrin schaftlichkeit. Darüber hinaus entstehen innovative sozialorientierte Gründerideen für Bohle gesprochen. Nachbarschaftshilfe und Selbstorganisation im Stadtteil. Das gilt es auszubauen. Auch der Bund kann diese Entwicklungen positiv beein- flussen, indem er – wie etwa mit der Nationa- Von Natascha Roshan i len Stadtentwicklungspolitik – Plattformen für & Oliver Geyer den Austausch und die Weiterentwicklung der Strategien und Methoden aufbaut. Besteht das Risiko, dass aufgrund der mona Wird es durch die Corona-Krise zu grundsätz- telangen Krise dringende Projekte der Stadtent- lichen Richtungsänderungen in der Stadtent- wicklung vernachlässigt oder sogar vergessen wicklung kommen? Nachverdichtung und Social werden? Distancing scheinen sich zu widersprechen. Nein, im Gegenteil. Die Corona-Krise Und offenbar haben viele Großstädter in der Zeit bestätigt nur ein weiteres Mal, wie wichtig der Kontaktsperre die Ruhe schätzen gelernt, starke, gemeinwohlorientierte und resiliente sodass vielleicht mehr Leute mit einem Umzug Städte sind. Das ist in der Stadtentwicklung ins Umland liebäugeln. kein neuer Aspekt, und insofern wird zurzeit Dichte lässt sich durchaus auch mit auch nichts Grundsätzliches vergessen. Die Rückzugsorten kombinieren. Es muss ja nicht Krise unterstreicht vielmehr, wie wichtig es immer alles auf ebener Erde stattfinden. Den- ist, unser Ziel der nachhaltigen, integrierten ken Sie an Dachterrassen oder Verbindungen Stadtentwicklung, die soziale und ökonomi- innerhalb eines Quartiers. Das kann spannen- sche Handlungsfelder verbindet und alle rele- de Architektur sein. In der Tat stellt sich in vanten Interessen und Akteure berücksichtigt, der Pandemie aber verstärkt die Frage, was in konsequent weiterzuverfolgen. So entstehen Zukunft eine gesunde städtische Architektur geeignete Resilienzstrategien – auch gegen ausmacht. Wer einen Balkon oder Garten hatte, eine Pandemie. Natürlich hat Corona weit- konnte sich glücklich schätzen. Interessant reichende Folgen, etwa für die öffentlichen werden da wieder die Konzepte der Garten- Haushalte. Die enormen finanziellen Aufwen- städte aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, dungen, die die Kommunen jetzt stemmen die Licht und Luft zum Prinzip erklärten. Das müssen, dürfen nicht dazu führen, dass Stadt- sind intelligent strukturierte Wohneinheiten entwicklung als freiwillige Daseinsvorsorge mit viel Frischluft und Aufenthaltsqualität. ins Hintertreffen gerät. Aber meine Erfahrung mit Wohnungsbau- unternehmen ist, dass viele ohnehin zu diesen Unser Heftthema ist diesmal „Richtig oder Prinzipien zurückkehren. Auch von einem Foto: Franz Grünewald falsch?“. Zeigt sich in der Krise besonders deut- vernunftbegabten Sozialwohnungsbau er- lich, wer als Stadt richtig gehandelt hat? warte ich bei Quadratmeterpreisen von 2.400 Ich würde nicht von richtig oder falsch bis 2.800 Euro intelligente Konzeptionen, die sprechen. Die Krise führt allerdings gewisse Wohnqualitäten für Familien bieten. Wenn Missstände, etwa soziale Ungleichheiten, vor Dichte hingegen schlecht umgesetzt wird, Augen. Umso wichtiger wird es zukünftig wer- kann sie zu sozialen Spannungen führen. den, die Komplexität der Herausforderungen ernst zu nehmen und sich ohne Eitelkeit zu fra- Tatsächlich herrscht in vielen deutschen gen: Wo wollen wir hin angesichts des demo- Städten aber Wohnungsknappheit. Welche Fehler Fragil und auf grafischen Wandels, der Digitalisierung, des sind gemacht worden, und was können wir Sand gebaut: wenn Klimawandels? Was ist unser Bild von Stadt? daraus lernen? Stadtentwicklung Denn integrierte Stadtentwicklungspolitik Dass Wohnungspolitik Kontinuität nur Partikular macht Zusammenhänge bewusst, verdeutlicht braucht, um den Akteuren Planungssicherheit interessen verfolgt die oft gegensätzlichen Interessen und sucht zu geben. Kommunen tun gut daran, dass sie den Ausgleich. Aber richtig oder falsch, wer die Entwicklungen insbesondere im Geschoss- mag sich da ein endgültiges Urteil anmaßen? wohnungsbereich stark unter ihre Fittiche Feststellen lässt sich nur: Wenn Partikularinte- nehmen. Schauen Sie sich eine Stadt wie Ulm ressen gegenüber dem Gemeinwohl in den Vor- an, die schon seit Jahrzehnten eine gute Be- 09
„Stadtplanung ist ein ständiger vorratungspolitik betreibt. Das halte ich für Lernprozess. Es geht darum, uner vernünftig. Aktuell sehe ich, dass die Wohn- raumoffensive gute Voraussetzungen schafft wartete Situationen zu bewältigen – mit einem umfassenden Maßnahmenpaket für mehr bezahlbaren Wohnraum, das neben und den Mut zu besitzen, auch investiven Impulsen für Wohnungsbau auch Maßnahmen zur Baukostensenkung und zur ohne hundertprozentige Erfolgs Sicherung der Bezahlbarkeit des Wohnens ent- hält. Aber: Ein Patentrezept für alle Kommu- garantie zu agieren“ nen gibt es nicht, schließlich wachsen auch nicht alle Städte. Nicht überall wurde gehandelt wie in Ulm. Existiert in der deutschen Stadtplanung eine destehen. Alle Personen und Institutionen, die Fehlerkultur, die transparent und konstruktiv an Planungsprozessen beteiligt sind, müssen mit Fehlern umgeht? kontinuierlich dazulernen und Verantwortung Ich persönlich erfahre Stadtentwicklung übernehmen, damit sich eine Stadt positiv – in Nordrhein-Westfalen und jetzt auch beim entwickelt. Bund – als Prozess, zu dem Fehler gehören. Stadtplanung ist ein ständiger Lernprozess. Ist die Angst, Fehler zu machen, auf kommu- Nicht nur in der gegenwärtigen Krise, sondern naler Ebene besonders ausgeprägt? Für viele immerzu geht es darum, unerwartete Situa- Bürger ist das der politische Nahbereich, in dem tionen zu bewältigen und den Mut zu besitzen, Fehler besonders deutlich und spürbar werden. auch ohne hundertprozentige Erfolgsgarantie Mancherorts scheint es auch eine Art Volkssport zu agieren. Gerade bei uns in Deutschland zu sein, die Stadtoberen für ihre „Verfehlungen“ wird das allerdings noch nicht überall verstan- anzuprangern. den. Insgesamt scheint es mir aber eine positi- Verbreiteter als die Angst, Fehler zu ma- ve Tendenz zu geben: Die Bereitschaft, Fehler chen, ist meines Erachtens die Sucht zu gefal- zu machen und offen damit umzugehen, ist in len. Wenn Sie alle vier oder fünf Jahre gewählt den letzten Jahren gestiegen. werden wollen, ist es nicht immer einfach, sich davon zu befreien und ein Klima unabhängiger Wie geht man produktiv mit Fehlern um? Beratung zu implementieren. Grundsätzlich Man sollte Fehler nicht immer direkt erlebe ich die kommunale Ebene aber als er- mit Schwäche gleichsetzen. Auch Vertuschen frischend pragmatisch. bringt nichts, Sie können Fehler dadurch nicht minimieren. Stattdessen muss es eine offene Zuletzt noch eine Frage zur Leipzig-Charta, die Diskussion geben: Wie ist das passiert, wie zurzeit neu formuliert wird und Ende des Jahres können wir das korrigieren, wie unsere Metho- unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ver- den und Konzepte optimieren? Auf keinen Fall abschiedet werden soll: Wird darin die jüngste Foto: B M I sollte man diejenigen, die innovativ denken, Krisenerfahrung eine Rolle spielen? bei Fehlern abstrafen. So wird mutiges Agieren Außer auf dem allerletzten Arbeitstref- verhindert – das Gegenteil von dem, was wir fen ist das Wort „Pandemie“ meines Wissens mit der Nationalen Stadtentwicklungspolitik bisher nicht gefallen. Aber viele Themen, die Anne Katrin Bohle erreichen wollen. Sonst wird das alte Prinzip bei der Bekämpfung der Krise eine Rolle spie- ist Staatssekretärin aufrechterhalten: Wer nichts tut, der macht len, sind in der Neuen Leipzig-Charta bereits im Bundesministerium auch nichts falsch. angelegt, etwa Fragen der Digitalisierung. des Innern, für Bau und Dadurch, dass Resilienz einer unserer Haupt- Heimat. Sie ist dort Aber man kann es ja auch nicht zum Prinzip punkte ist, waren wir der Krise sozusagen für die Themen Bauen, erheben, lustig einen Fehler nach dem anderen schon ein Stück voraus. Das knüpft an den Wohnen und Stadtent- zu machen. Wie umgeht man Fehler am besten? Beginn unseres Gesprächs an: Eine integrierte, wicklung zuständig. Fehler vermeidet man nicht dadurch, am Gemeinwohl orientierte Stadtentwicklung dass man Menschen dafür anschwärzt, son- macht eine Stadt auch widerstandsfähig. Der dern indem man sinnvolle Beteiligungs- und Gedanke des Gemeinwohls muss immer ein- Denkstrukturen in den Organisationen auf- bezogen werden, egal ob wir über die Planung baut: Eine Gruppe denkt besser als ein Ein- von Infrastrukturen reden, Klimaanpassungen zelner. Je weniger Egoismen es gibt, umso oder andere Dinge. Gefordert ist eine Stadt, größer die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine die sich Herausforderungen nicht nur im Bau gute Qualität und ein tragfähiges Ergebnis stellt, sondern vor allen Dingen bereit zur offe- erzielen. Ich versuche das in meiner Arbeit nen Diskussion ist. Das sollte auch in die Neue vorzuleben. Wir arbeiten in Gruppen, und es Leipzig-Charta einfließen, die in ihrer bishe- gibt keine Hierarchie der „richtigen Meinung“. rigen Fassung noch stark geprägt ist durch die Allerdings eine der Verantwortung. Das heißt: Ingenieurs- und Architekturperspektive und Wenn etwas schiefläuft, muss ich dafür gera den Fortschrittsgedanken.
Und was ist unser Konzept der Stadt von morgen? die europäische Stadt Neue Ziele für Foto: Getty Images Auf Hochtouren wird derzeit an der Neuformu- Leipzig-Charta lierung der Leipzig-Charta gearbeitet. Ende 2020 soll sie im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsi- dentschaft verabschiedet werden. Kann eine Charta für integrierte Stadt- entwicklung für alle Zeiten gelten? Eigentlich liegt es doch in der Natur der Sache, dass sie selbst nicht stehen bleiben darf, will sie auch tiken hinaus, Mehrebenenkoordination, Bür- in Zukunft Orientierung und Impulse geben. gerbeteiligung und Gemeinwohlorientierung Für die Leipzig-Charta wird das gerade sehr – aber mit einem geschärften Blick auf die neu- konkret: Ende November 2020 soll auf einem en Großthemen und neue Akteure, vor allem Informellen Ministertreffen, am selben Ort aus der Zivilgesellschaft. Die Entwicklungen wie vor 13 Jahren, die „Neue Leipzig-Charta“ und Differenzierungen, die es dort gegeben verabschiedet werden. hat, sollen in der neuen Charta nachvollzogen Die erste Charta, die im Jahr 2007 unter werden – aber trotzdem universell genug abge- deutscher EU-Ratspräsidentschaft verabschie- fasst, dass sie als Zukunftskompass für Städte det wurde, hat eine Menge bewirkt. Nicht in ganz Europa handhabbar bleibt. zuletzt ist ihr zu verdanken, dass hierzulande Das ist keine kleine Aufgabe. An die Nationale Stadtentwicklungspolitik als Ge- Deutschland, das im Rahmen seiner EU-Rats- meinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und präsidentschaft Gastgeber des Leipziger Tref- Gemeinden auf den Weg gekommen ist. Viele fens ist, richten sich dabei hohe Erwartungen. zentrale Prinzipien der Leipzig-Charta haben Schon 2018 hat die Bundesregierung mit einem bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt. umfangreichen Prozess für die Neufassung der Und doch ist die Welt im Jahre 2020 eine Charta begonnen. Dialoge in der Fachcommu- andere geworden. Viele dynamische Ent- nity und mit allen europäischen Mitgliedstaa- wicklungen haben die Herausforderungen an ten sind längst in vollem Gange. Wird die Neue Stadtentwicklung ebenso rasant steigen lassen: Leipzig-Charta ein Erfolg, so wäre das nicht Digitalisierung, Klimawandel, Migration und nur der nächste Meilenstein für eine europäi- Integration – all das gilt es heute mit neuer sche Stadtentwicklung, es wäre auch ein star- Dringlichkeit mitzudenken, wenn Städte zu- kes Symbol für die bindende Kraft der euro- kunftsfähig gemacht werden sollen. päischen Idee als ganze. Wie wichtig Städte Es geht also darum, an bewährte Grund- dafür sind, soll die neue Charta unter Beweis sätze anzuknüpfen, jedoch auf zeitgemäße Art stellen. Eines ihrer Ziele lautet: die Merkmale und mit gestiegenem Problembewusstsein für der europäischen Stadt als verbindendes kul- Nachhaltigkeit und Resilienz. Sprich: Auch in turelles Element der europäischen Identität zu Zukunft braucht es Kooperation über Fachpoli- verdeutlichen. 11
Konzeptverfahren Besser überdacht Lena zupft an Aram Othmans Hosen- Bau. Sie gründeten eine GbR (Gesell- bein. Seine einjährige Tochter will auf schaft bürgerlichen Rechts) und be- seinen Schoß. Arams Frau Chiman gannen zu planen. steht am Herd und rührt in einem Zwei Monate später reichte Topf. Die zwei großen Fenster sind die Baugruppe bei der Stadt ihr Pro mit Jalousien abgedunkelt, sie werfen jekt Passerelle ein. Der Garten, die Schatten in die geräumige Küche. Die Holzwerkstatt und das gemeinschaft- Terrassentür im Schlafzimmer steht liche Leben von Deutschen und Zu Foto: Aram Othman offen, man hört Kinderlachen vom gewanderten überzeugte – sie er- Spielplatz im Hinterhof. Seit einem hielten den Zuschlag, und aus dem Jahr wohnt die Familie Othman nun Planungspapier wurde ein richtiges in der Wohnung im Tübinger Projekt- Haus. Neun Flüchtlingsfamilien und bau „Passerelle“ am Hechinger Eck. drei weitere Parteien zogen im Früh- 2015 floh Aram mit seiner Frau jahr 2019 ein, darunter Aram, Chiman stellte sind abwechselnd als Ansprech- und seinen Kindern aus dem Nordirak. und ihre Kinder. partner vor Ort. Und auch die drei Die Flucht endete in einer Tübinger Jedes der GbR-Mitglieder in- Parteien im Haus, die keinen Flucht- Turnhalle. Vier Monate mussten sie vestierte in eine der zwölf Wohnun- hintergrund haben, unterstützen die dort ausharren. Dann wurde die Fami- gen, einige von ihnen nahmen sogar Neu-Tübinger. lie in einen Containerbau verlegt, von einen Kredit auf. Profit schlagen sie Aram nimmt diese Unterstüt- dort in eine Einzimmerwohnung und als private Investoren daraus aber zung gerne an – vor allem bei bürokra- noch mal weiter in eine andere Ein- kaum, so Projektsteurerin Jung. Auch tischen und finanziellen Fragen, aber zimmerwohnung. Immer in der Hoff- wenn Geld in Immobilien immer gut auch um die Kultur besser kennenzu- nung, endlich irgendwo anzukommen. angelegt sei, stehe bei Konzeptver- lernen und sein Deutsch zu verbessern. Als die Architektin Claudia Jung fahren der gesellschaftliche Mehr- Wertvoll sei außerdem der Standort im April 2016 erfuhr, dass in Tübingen wert im Vordergrund. Neun Euro pro des Projekthauses, sagt er. Durch die Anschlussunterkünfte für Flüchtlinge Quadratmeter kostet die Miete, und gute Anbindung an die Tübinger In- benötigt werden und deutschlandweit davon fließt noch ein kleiner Teil in nenstadt können seine älteren Kinder erstmalig in einem Konzeptverfahren das Sozialmanagement der Passerel- selbstständig unterwegs sein. ausgeschrieben sind, machte sie sich le. Hier sieht Jung auch die besondere Das Modell des Konzeptverfah- sofort auf die Suche nach Mitstreitern. Stärke des Projekts: Im Gegensatz zu rens entstand in den 1990er-Jahren Nach kurzer Zeit fanden sich zwölf anderen Anschlussunterkünften für in Tübingen im Zusammenhang mit Bürger aus der Nachbarschaft zusam- Flüchtlinge werden die Bewohner in der Vergabe von Grundstücken an men, viele von ihnen Laien in Sachen der Passerelle eng betreut. Zwei Ange- gemeinschaftliche Wohnprojekte, ob nun genossenschaftlich oder in Form von Baugruppen. Diese wurden als be- Warum nicht auch Flüchtlings sonders engagierte und innovations- orientierte Entwickler angesehen und unterkünfte über Konzeptwettbewerbe sollten deshalb durch erleichterten Zugang zu Grundstücken gefördert realisieren? Würde man so nicht werden. Außerdem sind Konzeptver- fahren spannende Prozesse, bei denen frühere Fehler vermeiden, bessere über Stadt nicht im Sinne eines Spe- zialistenthemas, sondern als wesent- Wohnverhältnisse schaffen und liche Grundlage für die Lebensquali- tät der Bevölkerung nachgedacht und Integration fördern? In Tübingen hat verhandelt wird. Die erfolgreiche und schnelle Umsetzung des Konzeptver- man das ausprobiert. Von Katharina Reckers fahrens in Tübingen sorgte in einigen anderen Kommunen für Aufsehen. 12
„Das Ergebnis: vielfältiges, quartiers bezogenes und preiswertes Wohnen mitten in der Stadt.“ nis: vielfältiges, quartiersbezogenes und preiswertes Wohnen mitten in der Stadt – allerdings auf recht engem Foto: Jeannette Wilhelm Raum. Familie Othman lebt zu siebt in nur drei Zimmern. Womöglich war es ein Fehler, nicht zu bedenken, dass solche Familiengrößen in vielen Krisenregionen durchaus normal sind, und auch geräumigere Wohneinheiten vorzusehen. Aber genau darum geht Die Passerelle ist Doch Bürger aktiv in Konzeptver- es bei Konzeptwettbewerben eben gut an die Innenstadt gaben oder in Baugruppenmodelle auch: aus Fehlern lernen, um es beim angebunden. Das miteinzubeziehen, galt lange als be- nächsten Mal noch besser zu machen. macht es der Familie ratungsintensiv und aufwendig für Insgesamt gilt die Passerelle als Othman leicht, in die zuständigen Fachverwaltungen. Erfolg. Doch für andere Kommunen Tübingen anzukommen Qualitätsziele zu definieren, statt Bau- wäre eine effektive Umsetzung eines grenzen abzustecken, mit Bürgern zu solchen Verfahrens unter Zeitdruck verhandeln statt mit Investoren – all fast undenkbar, sagt Gütschow. Es Für die fünfköpfige das ist ungeübt und erfordert ein neu- sei auch nicht anzuraten, sich das Familie aus dem es Verständnis von Planung. Wissen, das Tübingen in 25 Jahren Er- Nordirak hat die Flucht Geduld bei der Umsetzung sei fahrungen mit dieser Art von Grund- ein glückliches Ende daher das oberste Gebot, so der Tü- stücksvergaben aufgebaut hat, über- genommen binger Architekt Matthias Gütschow. hastet anzueignen. Zu diesem Wissen Er berät jetzt auch verstärkt andere gehört, dass man die Anforderungen Kommunen, die in Zukunft Konzept- besser langsam hochschraubt. Um verfahren realisieren wollen. Nach bürgerschaftliche Akteure zum Zuge dem Flüchtlingszustrom von 2015 war kommen zu lassen, müssen die dafür Eine Werkstatt: die Herausforderung für viele Städte vorgesehenen Bauflächen besonders zum Bauen mit ähnlich: Sie mussten Wohnraum für intensiv ausgewählt und vorbereitet Holz und auch für das die Anschlussunterbringung zur Ver- werden. Ein größerer Teil der Arbeit, Zusammenleben fügung stellen. Aufgrund der hohen der sonst bei den Bauträgern liegt, Mieten und der Wohnungsnot wurden verlagert sich auf die Stadt. Ämter- Zugewanderte oftmals in entlegenen übergreifende Zusammenarbeit ist Foto: Projekt Passerelle oder strukturschwachen Bezirken nötig. Aber die Arbeit zahle sich lang- untergebracht. Eben da, wo sonst nie- fristig aus, so Gütschow. „Wer seine mand hinwill und Integration kaum Grundstücke nicht verantwortungs- möglich ist. voll vergibt, wird sich Probleme schaf- Nur die Stadt Tübingen löste das fen. Durch Konzeptverfahren gene- Problem im Konzeptverfahren und riert man zufriedene Bürger, die sich wurde dafür zum Pilotprojekt der Na- mit ihrer Stadt identifizieren können.“ tionalen Stadtentwicklungspolitik. Die An diesem Abend geht Chiman Mindestanforderungen blieben nied- zu ihrem Kräuterbeet im Garten. Dort rigschwellig, es gab keine Auswahlkri- hat sie Knoblauch, Gurke und Peter- terien, sondern es wurde vergleichend silie gepflanzt und wartet ungeduldig bewertet, sodass auch Bürger ohne auf die ersten Sprossen. Aram steht Bauerfahrungen Konzepte einreichen im Hinterhof und plaudert mit der konnten. Aus rund 120 Bewerbungen Nachbarin, die auf ihrer Terrasse sitzt. von 50 potenziellen Projektträgern Tübingen ist für Familie Othman eine konnte die Bewertungskommission Heimat geworden, die Passerelle ihr schließlich auswählen. Das Ergeb- Zuhause.
Masterplan – das hört sich nach Meister- schaft und weiser Voraussicht an. Und so war es früher vielleicht auch ge meint. Ein gottgleicher Architekt ent warf visionäre Lösungen, die für alle Menschen und alle Zeiten gelten sollten. Deshalb gab es noch vor einigen Jahren große Diskussionen, ob solche Pläne überhaupt noch zeitgemäß sind – oder zu unflexibel und fehleranfällig ange- sichts einer ungewissen Zukunft. Klar ist: Heute sehen sie ganz anders aus. Von Felix Denk Illustration: Renke Brandt Mönchengladbach — MG3.0 Viele Hände wirkten an dem Mas- terplan MG3.0 mit, der die Teil- städte Mönchengladbach, Rheydt und Wickrath zusammenführen soll. Eine Initiative von Bürgern, Unternehmen und Vertretern der Stadt hat zusammen mit dem Architekten Nicholas Grimshaw eine „Charta für urbanes Leben“ entwickelt und übergeordnete Zielvorstellungen zu den Berei- chen Wirtschaft, Verkehr, Identi- tät und Vielfalt ausgearbeitet. Der Masterplan wurde 2012 be- schlossen und ist jetzt in der Um- setzungsphase. Finanziert wurde Heidelberg — MG3.0 durch Sponsorengelder Patrick-Henry-Village von Unternehmen und Bürgern. 2013 erlangte MG3.0 den Status Eine Wissensstadt von morgen „Pilotprojekt der Nationalen soll aus der US-amerikanischen Stadtentwicklungspolitik“ und Wohnsiedlung aus den 1950er bekam Fördermittel vom Bund. Jahren werden. Für diesen Trans- formationsprozess im Rahmen Berlin — der Internationalen Bauausstel- Dragoner Areal lung gibt ein Masterplan Quali- tätskriterien vor. Er ist jedoch Schon die Erarbeitung des Plans für das keine starre Hülle, sondern Quartier in Kreuzberg war fehlerfreund- dynamisch angelegt: In den ein- lich: Drei Büros tauschten sich mit Bür- zelnen Entwicklungsschritten gern und Initiativen über deren Wünsche Ma kann auf sich verändernde Be- aus, bevor sie als konkurrierende Vor- dürfnisse reagiert werden. Das schläge aufs Papier gebracht wurden. soll einen kooperativen Prozess Geplant ist nun ein Hochhaus mit 16 Ge- zwischen Stadtplanern und Bür- schossen am Rand, ein großer Marktplatz gern fördern. im Zentrum, 525 günstige Wohnungen und Gärten für deren Mieter. Das Kreuz- berger Rathaus und das Finanzamt sollen einen Anbau bekommen. Dazu kommt ein Klub und eine Werkstatt. Die „grüne Fuge“ im Zentrum soll das Quartier mit der Um- gebung vernetzen. Der Masterplan soll bis Herbst 2021 beschlossen sein.
Big Picture Brasília — Planstadt von Oscar Niemeyer Nach nur vier Jahren Bauzeit wurde Brasília 1960 die neue Hauptstadt Brasi- liens. Sie sollte für Aufbruch und sozialen Fortschritt stehen, mit breiten Boulevards und Wohnblöcken, Aufzügen und Tief garagen. Das machte die Apartments so teuer, dass nur Angehörige der Ver waltung im Zentrum wohnen konnten, die Arbeiter mussten in Satelliten städten unterkommen. Niemeyer bewertete sein Experiment im Nach hinein als nicht erfolgreich. Kopenhagen — Ströget Die Ströget war bei ihrer Verkehrs beruhigung 1962 die längste Fußgänger- zone in Europa. Sie steht für die Abkehr Paris — von dem Gedanken, dass Städte vor Melun Sénart allem Autos glücklich machen sollen. Ihr Planer, der Däne Jan Gehl, gilt heute als Melun-Sénart ist eine Ville nou- einer der prominentesten Masterplaner. velle, eine neue Stadt, im Süden Für seine Projekte untersucht er das der Île-de-France. Der Master- Verhalten der Menschen und ihre Inter- plan von 1987 vom Büro OMA aktion mit dem öffentlichen Raum. Die unter Leitung von Rem Koolhaas Ergebnisse stellt er ins Zentrum seiner stellt das übliche stadtplaneri- Planungen und schafft Raum für ein sche Vorgehen auf den Kopf. Im buntes Stadtleben. Zentrum steht nicht die Bebau- ung, sondern die sogenannten Voids: bewusst frei gelassene Flächen, die von der Planung und Stadtentwicklung ausgeschlos- sen werden. Um sie herum kön- nen sich die Häuser gruppieren, die im Modell durch wild zusam- mengeschobene Holzklötzchen dargestellt wurden. asterpläne
Linie Von Oliver Geyer Fotos: Sebastian Lock 1 5 Pilotprojekt Wie in der Stadtentwicklung mehr richtig laufen könnte? Wenn man nicht ständig bemüht wäre, bloß nichts falsch zu machen. Das ist es, was das Nürnberger Pilotprojekt „Quartier U1“ antreibt. Und es bewegt sich da eine Menge – entlang der U-Bahn-Linie 1 16
In einem Projekt, das eine Menge verschiede- he von partizipativen ner Teilprojekte betreut und die freie Akteurs Projekten zu fördern szene seiner Stadt im großen Stil stärken will, könnte verhindern, herrscht naturgemäß kein Mangel an Heraus- dass sich hauptsäch- forderungen und Problemen. Womit Sebastian lich wieder Leute aus Schnellbögl, einer der Initiatoren des „Quar- der Mittelschicht ein- tier U1“, aber ganz sicher kein Problem hat: bringen. Stattdessen Fehler zuzugeben. „Es war sicher falsch, ein wäre die U-Bahn wie Projekt mit Fokus auf die U-Bahn zu machen, ein Transmissionsrie- ohne das im Vorfeld mit den Verkehrsbetrie- men, der mehr Men- ben genauer abzuklären“, sagt er freiheraus. schen verschiedener Schnellbögl sitzt in den Räumen des Ur- Herkunft aktiviert. ban Lab im Z-Bau, einer ehemaligen Kaserne Alle gemeinsam würden sie urbane Möglich- nahe der U-Bahn-Station Frankenstraße. Das keitsräume eröffnen, die nicht der Geldlo- Gebäude ist längst umgenutzt, es beherbergt gik gehorchen, sondern an Gemeinwohl und Ateliers, Räume für Kulturveranstaltungen, Nachhaltigkeit orientiert sind. Eine enkeltaug- Werkstätten. Wo einmal Zucht und Gehor- liche Zukunft schaffen, lautete die Formel. Das sam über allem standen, herrscht heute viel war alles so plausibel, so inspirierend, dass kreatives Gewusel. Schnellbögl selbst – freier man den frühzeitigen Realitätscheck mit den Designer mit Bart, Hornbrille und cooler Jacke Leuten von der Verkehrs-Aktiengesellschaft – verkörpert die Figur des jungen urbanen Ak- Nürnberg (VAG) schon mal vergessen konnte. tivisten. „Tüftelstube“ steht in selbst gebastel- Der erste Aufprall auf dem Boden der ten Lettern aus Schrott über dem Eingang zum Realität war entsprechend hart, zumal der in Urban Lab. Mit Blick auf die Räumlichkeiten, diesem Fall einige Meter unter der Oberflä- in denen sich Werkzeuge stapeln und vor lauter che liegt. U-Bahn-Flächen sind eine versiche- Plakaten und Post-its kaum noch Wand durch- WEISSER TURM rungstechnisch hochregulierte und zum Teil schimmert, hat er bereits eingeräumt: „Die- intransparente Zone. Auch wenn es dort viel ses Nerdige, das haben wir schon sehr drin.“ Leerstand gibt – daraus Möglichkeitsräume Das Urban Lab, das Schnellbögl mit ein paar zu machen, in denen Aktivierung, Kunst und Freunden betreibt, will Menschen ermäch- Kommunikation stattfinden, bedeutet erst mal: tigen, Stadt selbst zu gestalten – im Kleinen, Paragrafen wälzen und sich mit Leuten ins mit Lötkolben und 3-D-Drucker, ebenso wie Benehmen setzen, die oft ganz anders denken im größeren Maßstab. Im Grunde träumten als man selbst. Schnellbögl gibt offen zu: „Wir Schnellbögl und seine Freunde immer schon FÜRTH HBF waren am Anfang ähnlich unbedarft wie die davon, die ganze Stadt in eine Tüftelstube zu PLÄRRER Akteure, die wir mündig machen wollen.“ verwandeln. Deshalb waren sie dann auch mit Doch nun ist es ebendieser holprige Erst- Feuereifer dabei, als sich Ende 2018 die Gele- kontakt mit der Verwaltung, was das Quartier genheit zum Projekt Quartier U1 bot. Angst vor U 1 im weiteren Projektverlauf sehr produktiv Fehlern ist ihnen als urbanen Bastlern ohne- werden lässt. Weil diese Erfahrung bei den hin fremd. Und einen haben sie dann auch erst Initiatoren selbst noch frisch ist, sie aber im mal gemacht. Eilverfahren dazugelernt haben und sich mit Die Idee von Quartier U1 ist es, alle In- den Verantwortlichen in den Büros und Amts- nenstadtstationen der Nürnberger U-Bahn-Li- stuben doch noch gut verdrahten konnten, nie 1 und ihr Umfeld als ein einziges zusam- sind sie nun umso besser in der Lage, auch die menhängendes Quartier zu verstehen – weil Bewerber anzuleiten. Denn die müssen mit Sehr ersprießlich: man innerhalb kürzester Zeit von A nach B ihren Projektideen ja denselben Weg nehmen. Das Projekt „Essbare und weiter nach C kommt. Entlang dieser Ver- Schnellbögl erzählt von einem jungen Fri- Stadt“ lässt auf einer kehrsachse, an der sehr unterschiedliche so- days-for-Future-Aktivisten, der vorhatte, in ehemaligen Brach ziale Realitäten existieren, nun eine ganze Rei- einem U-Bahn-Waggon einen mobilen Markt fläche Salat und mit Lebensmitteln aus der Region einzurich- bürgerschaftliches ten. Dem mussten sie vorsichtig beibringen, Engagement gedeihen dass die juristischen Hürden für eine schnel- le Verwirklichung seiner schönen Idee leider zu hoch sind. Andere Projekte hingegen sind schon weit gediehen. Viele spielen sich ja auch Für die Leute vom außerhalb der U-Bahn in den Straßen rund Urban Lab ist das um die Stationen ab. Projekt „Quartier U1“ Kleiner Rundblick, was sich schon so ein Glücksfall. So alles tut: Am Jakobsplatz nahe der Station verwandeln sie größere Plärrer lässt das Urban-Gardening-Pro- Teile der Stadt in eine jekt „Essbare Stadt“ auf einer ehemaligen „Tüftelstube“
wöchentlichen Ideensprechstunde bei Sebas- Brachfläche seit ein tian Schnellbögl und seinem Kollegen Chris paar Wochen Toma- Herrmann vorstellig werden und mit etwas ten, Salatköpfe und Glück eine Anschubfinanzierung von 400 Euro bürgerschaftliches bekommen. Da geht es manchmal nur um eine Engagement gedeihen. Kampagne zum Wässern von Straßenbäumen Man will den Stadt- im Sommer, auch so was lässt den öffentli- menschen wieder ein chen Raum erblühen. „Amt für Ideen“ nennen Gefühl für Lebensmit- Schnellbögl und Herrmann ihre Sprechstunde tel geben, und nicht und deuten damit leicht ironisch an, dass der wenige Anwohner erste administrative Realitätscheck hier gleich gärtnern schon mit. mit inbegriffen ist. Am Rand der Beete Im Prinzip, so Schnellbögl, versteht steht das „ÖPNV-Gewächshaus“ – eine Abkür- sich das Urban Lab als ein Scharnier zwi- zung für „ÖffentlicherPflanzenNahVerzehr“. schen Zivilgesellschaft und Verwaltung. Zwei Die kleine Plexiglaskonstruktion war bis März Seiten, die oft etwas fremdeln und mit dem auf einer Fernwärmeleitung platziert, wo man Quartier U1 zu einem besseren Zusammenwir- anhand von schmackhaftem Gartengemüse ken gebracht werden sollen. Die Leute in den im tiefsten Winter demonstrieren konnte, wie Amtsstuben mögen doch bitte etwas flexibler viel wertvolle Energie in der Stadt verschwen- werden, wenn es darum geht, Initiativen der det wird. Darüber ließe sich zum Beispiel mal Bevölkerung zu ermöglichen. Aber die Bürger, im Rahmen des Projekts „Shengo“ diskutieren. die Initiative ergreifen, sollen bitte auch etwas Die Künstlerin Anja Schöller will zusammen mehr Realitätssinn und ein besseres Verständ- mit dem äthiopischen Kulturverein die in nis für die Komplexität der Rahmenbedingun- Äthiopien üblichen dörflichen Bürgerräte auch gen entwickeln. Damit regelmäßig gemeinsam in Nürnberg abhalten. Dazu werden eigens Neues entwickelt werden und langfristig ein gebastelte Recyclinghocker an verschiedenen stärkeres Gemeinwesen heranwachsen kann, LORENZKIRCHE Stellen kreisförmig aufgestellt und Passanten muss dieses Scharnier zwischen Akteuren eingeladen mitzureden – über dieses und jenes und Experten gut geölt werden. In der Tüftel- und die übergeordnete Frage: Wie kommt das stube des Urban Lab gibt es dafür die nötigen Glück in die Stadt? Eine Street-Art-Galerie Schmiermittel. Das Urban Lab, das nicht nur HAUPTBAHNHOF auf Stromkästen ist auch in Planung, und im finanziert, sondern allen Gestaltungswilligen wahrsten Sinne angerollt ist bereits das Projekt auch tatkräftig mit vielen Tipps zur Seite steht, „(K)Einkaufswagen“. 25 ausrangierte Einkaufs- ist ein Amt, wie man es sich erträumt. Ein Amt wagen eines Biosupermarktes wurden in Wag- für Ideen und deren Ermöglichung. gons der U1 in eine Werkstatt transportiert, wo Dass wegen der Corona-Krise einige sie derzeit umgebaut werden – zu einer mobi- Projekte zeitlich zurückgeworfen wurden, len Fahrradwerkstadt, einer Minigalerie, einer war schade. Aber für vieles haben sich auch Minibühne und vielem mehr. Unter dem Motto schnell andere Formate gefunden, in denen sie „Einfach mal keinkaufen gehen“ sollen sie die trotzdem stattfinden oder schon mal erprobt Nürnberger inspirieren, was jenseits des Kon- werden konnten. Statt mit einer Vernissage sums in ihrer Stadt noch möglich ist. kann man eine Street-Art-Galerie etwa auch Ein offenes Wort an Basti Schnellbögl: mit einer geführten Online-Begehung eröffnen. Das ist ja alles sehr sympathisch, aber kreiert Überhaupt wurde die Krise hier als gute Ge- man mit umgebauten Einkaufswagen wirk- legenheit betrachtet, direkt mal zu zeigen, wie lich die enkeltaugliche Zukunft? Können Laien ein kreatives Umfeld eine Stadt für unerwar- Stadtentwicklung tatsächlich besser? Er lächelt tete Herausforderungen fit macht. Die Plakate „Atelier Extra“ macht und sagt: „Das ist das soziokulturelle Ele- des gerade abgeschlossenen Wahlkampfs be- eine Kommode zur ment. Wir sind schließlich ein Pilotprojekt der klebte das Urban Lab kurzerhand mit Coro- mobilen Plattform Nationalen Stadtentwicklungspolitik, und da na-Infos. für künstlerische ist Scheitern zu einem gewissen Grad auch er- Interventionen – für laubt. Es sollen Dinge ausprobiert werden.“ alle, die mitgestalten Worum es gehe: Verwaltung sagt oft re- möchten flexhaft Nein, ist Bedenkenträger, bewegt sich in engen Bahnen. Initiativen aus der Zivilge- sellschaft hingegen mögen manchmal etwas verspielt sein. Aber sie legen genau die Ex- Guter Rat: „Shengo“ perimentierfreude an den Tag, die eine Stadt will die in Äthiopien braucht, um sich langfristig zu stärken. Wer üblichen dörflichen aus Fehlern lernen will, muss erst mal welche Bürgerräte auch in machen dürfen. Nürnberg abhalten – Das dürfen inzwischen 19 Initiativen, die auf selbst gebastelt en eine größere Finanzierung erhalten. Und hin- Recyclinghockern zu kommen viele Einzelakteure, die in einer 18
Was ist eigentlich das Problem? Kolumne das als Abwägungsfehler, der gericht- lich geprüft werden könnte … wenn er nicht so schlecht sichtbar wäre.) In meiner Heimatstadt Bonn wurde jüngst von einem renommierten Städtebaubüro ein Rahmenplan für ein Die größten und wirksams- Stadtviertel erstellt. Und jetzt disku- ten Fehler – davon bin ich tiert ganz Bonn über die Standorte von überzeugt – spielen sich Hochhäusern. Ich stelle mir die Szene vor Beginn des Planungs- etwa so vor: prozesses ab, sozusagen in der Dämmerung der Pla- Bürger: Warum wurde denn der nung. Hier, ganz am Anfang Rahmenplan überhaupt be von allem, bleiben diese auftragt? Planungsfehler jedoch zu- Stadtverwaltung (irritiert): Na, nächst unsichtbar, weil es wir sollten doch das Gebiet nicht die alten Bekannten entwickeln. sind, an die wir uns schon Foto: Victoria Jung Bürger: Ja, aber das war doch vorher gewöhnt haben: Bauzeit- auch ganz schön. verzögerungen, eklatante Stadtverwaltung (trotzig): Aber richtig Preissteigerungen oder entwickelt war es eben nicht! gefällte Bäume. Bürger (beschwichtigend): Okay, Das Problem ist, dass die Pläne sind ja auch wirk- man sich gar nicht darüber lich nett anzusehen. Aber einigt, was überhaupt das viele Wohnungen gibt es nicht, Wenn in der Stadtplanung etwas falsch Problem ist. Viele Planungstheoreti- oder? Und die Straßen sind läuft, sind die „Schuldigen“ immer ker haben klargemacht, dass dies der auch ziemlich breit … schnell benannt. Dabei sind das selten eigentliche Fehler ist, durch den man Stadtverwaltung: Das hat uns jetzt die wahren Verursacher. In Stephan sich die wirklich bösen Probleme ein- auch ein bisschen überrascht, Willingers Kolumne geht es diesmal da- handelt. Es müsste eine offene Diskus- dass da so viele Büros hin- rum, dass die wirklich bösen Fehler im sion geben: Sind zu wenig Parkplätze in passen und kaum Wohnungen. Verborgenen entstehen. der Innenstadt das Problem? Grillen im Aber wenn die Experten das Park? Insolvente Kaufhausketten? Das so sehen … Warum gibt es Stadtplanung? Warum passiert aber nur selten. Stattdessen wünschen wir uns eine integrierte sagt ein Politiker „Das muss jetzt aber Meine These ist: Die dümmsten Fehler Sichtweise auf die Stadt? Weil städ- anders werden!“. Er nennt etwas „Miss- werden in dem komplexen Handlungs- tische Herausforderungen immer mit stand“, impliziert dessen Ursache nur feld Stadtentwicklung gar nicht als komplexen, den sogenannten bösen und schafft damit die Grundlage des solche erkannt. Weil man versäumt hat, Problemen zu tun haben. Und die gesamten nachfolgenden Verfahrens. über Werte und Wünsche zu reden, weil lassen sich nicht so einfach lösen, Dieser Fehler zieht sich dann Alternativen nicht zur Debatte standen, wie sich das Politiker, Bürger und Me- durch den gesamten Planungsprozess: weil man den Planer einfach planen dienvertreter oftmals vorstellen. Für Politik und Bürger diskutieren über ließ. Es werden Gebäude und Straßen simple Probleme kann ein Ingenieur das, was ihnen die Planer vorlegen gezeichnet, und dann diskutieren eben kurzerhand eine technische Lösung – zumeist mehr oder weniger fach- auch alle nur über Gebäude und Stra- finden. Städtische Probleme sind männisch aussehende Pläne –, anstatt ßen – anstatt über ein gutes Leben in aber nicht simpel – und deshalb mit über Dinge, die ihnen nicht gezeigt der Stadt. technischen Lösungen nicht zu bewäl- werden, die aber wichtiger wären, zum tigen. Wer aus der Haustür tritt, etwas Beispiel über grundlegende Werte und Ungewohntes sieht und vorwurfsvoll Ziele der Planung, oder über interes- Stephan Willinger sagt „Was haben die denn da schon sante Lösungen aus anderen Städten. wieder gemacht?“, der hat zwar einen Man nennt das availability bias, eine ist Projektleiter der Nationalen Schuldigen gefunden, aber selten den Verzerrung, verursacht durch die Stadtentwicklungspolitik im Bundes wirklichen Verursacher der Situation (schlechte) Verfügbarkeit von Infor- institut für Bau-, Stadt- und Raum erkannt. mationen. (Das Planungsrecht sieht forschung (BBSR). 19
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