Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb

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Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
» Nr. 144
Entgelt bezahlt bei Postamt 1 / 40210 Düsseldorf / Vertriebskennzeichen G 13904 / ISSN Nr. 1611-678X

                                                                                                                     Smart City
                                                                                                          Die nächste Stufe der Evolution?

                                                                                                         „Jede Stadt muss ihren eigenen Weg finden“ 08

                                                                                                       Gemeinsam weiterkommen: Mentoring im bdvb 37

                                                                                                                            Der MBA für Neumacher 40
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                                 W i l l ko m men zu
                                 I n s p i rat io n ,
                                 B egeg nun g un d
                                 I n n ovat io n .

                                 Als bdvb-Mitglied steht Ihnen die ganze Welt des WirtschaftsWoche
                                 Clubs zur Verfügung.

                                   Im Netzwerk sind Sie hautnah am Mittelstand, treffen die
                                   Redaktion und können sich mit anderen Leserinnen und              Dr. Wladimir Klitschko
                                   Lesern vernetzen.                                                 Boxlegende und Initiator des
                                                                                                     Challenge Managements
                                   Als Neudenker lassen Sie sich faszinieren von Themen und
                                   Ideen, die unsere Gegenwart bereichern und unsere Zukunft
                                   prägen werden.
                                   Investment und wie man mehr aus dem eigenen Vermögen
                                   macht: Profitieren Sie persönlich vom Finanzwissen unserer
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                                   unentdeckte Weinregionen und mit unserem Reiseservice gleich
                                   die ganze Welt. Mit Best-Price-Garantie.

Beat Balzli
Chefredakteur WirtschaftsWoche
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Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
EDITORIAL

Liebe Mitglieder und Freunde
des bdvb,

        » Die Digitalisierung
         spielt immer eine Rolle. «

die Digitalisierung gehört zu den größten Her­      wir uns für ein Gründerklima einsetzen, das
ausforderungen, denen sich unsere Gesell­           Start-ups keine Steine in den Weg legt. Dass
schaft zu stellen hat. Sie verlangt von uns al­     wir uns für eine Gesetzgebung engagieren,
len Willen zur Anpassung. Sei es im Privaten        die unseren innovativen Mittelstand entfes­
oder am Arbeitsplatz, sei es in unserer Rolle       selt. Und dass wir nicht müde werden, die
als Arbeitnehmer oder als Unternehmens­             nötigen Anstrengungen des Bundes in puncto
lenker.                                             digitale Infrastruktur einzufordern.

Wie sehr das Thema bereits alle Bereiche des        An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen:
Lebens durchdringt, lässt sich sogar am bdvb        Die digitale Welt verlangt von ihren Bürgern
aktuell ablesen. Wir haben über die Digitali­       wirtschaftliche Kompetenzen. Auch deshalb
sierung selbst berichtet und über einzelne Fa­      haben wir uns frühzeitig für die Einführung
cetten wie Mobilität oder Industrie 4.0. Und        des Schulfachs Wirtschaft in Nordrhein-West­
selbst bei Recherchen zu eigentlich anders          falen eingesetzt und begleiten die Landespoli­
gelagerten Themenkomplexen wie Weihnach­            tik bei seiner Einführung konstruktiv und kri­
ten, Tourismus, Gründung oder Familienunter­        tisch. Falls Sie unser gemeinsam mit vielen
nehmen mussten wir feststellen: Die Digitali­       anderen Verbänden und Institutionen entwi­
sierung spielt immer eine Rolle.                    ckeltes Positionspapier zum Schulfach Wirt­
                                                    schaft in NRW noch nicht gelesen haben, sei
Nun fügen wir dem Mosaik ein weiteres               es Ihnen hiermit sehr ans Herz gelegt!
Steinchen hinzu: Ausgabe 144 widmet sich
der Smart City. Noch scheint die intelligente,      Nun aber wünsche ich Ihnen eine anregende
vernetzte Stadt vielen als reines Zukunftssze­      Lektüre dieser neuen Ausgabe des bdvb aktu­
nario. Doch wenn man sich anschaut, wie ra­         ell!
send schnell sich Technologien entwickeln
und wie weit Vorzeigestädte wie Singapur            Herzlichst,
sind, wird klar: So weit entfernt ist die Zukunft
nicht – ein Befund, den die Beiträge unserer
Fachautoren ebenso stützen wie die Inter­           Ihr
views, die unsere Redaktion führen konnte.          Malcolm Schauf

Aus bdvb-Perspektive betrachtet gewinnt die
Digitalisierung zusätzliche Relevanz. Denn als
Sprachrohr von tausenden Ökonomen ist es
unsere Aufgabe, dazu beizutragen, dass wir
die Chancen der Digitalisierung nutzen. Dass        Präsident

                                                                                                     » bdvb aktuell Nr. 144 «   3
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
Nr. 144
INHALT                  Editorial3

                        Interview
                        Jede Stadt muss ihren eigenen Weg finden                                                  8

                        In Zukunft werden Gebäude autonome Entscheidungen treffen                               12

                        Wir bleiben soziale, emotionale und empathische Wesen                                   14

                        Aus Wirtschaft und Gesellschaft
                        Keine Smart City ohne digitale Fitness der Stakeholder                                    6

                        Morgenstadt-Initiative: Den Wandel in die richtige Richtung lenken10

                        Mitmachen ist Vorsprung – auch bei der Smart City                                       16

                        Smart City Berlin                                                                       17

                        Digitalstadt Darmstadt                                                                  17

                       6                                   8                                  10
                           Impressum
                            bdvb aktuell
                            Ausgabe 144
                            April bis Juni 2019
                            ISSN 1611-678X

                            Herausgeber
                            Bundesverband Deutscher
                            Volks- und Betriebswirte e.V.
                            Florastraße 29, D-40217 Düsseldorf
                            Tel. +49 211 371022, Fax +49 211 379468            Der Bezugspreis von 7,50 Euro ist im
                            www.bdvb.de, info@bdvb.de                          Mitgliedsbeitrag enthalten.
                                                                               Nachdruck – auch auszugsweise – nur in
                            Redaktionelle Mitarbeit in dieser Ausgabe          Absprache mit dem Herausgeber gestattet.
                            Dr. Matthias Meyer-Schwarzenberger (V.i.S.d.P.),
                            Birgit Schoerke-Zitz, Florian Ries                 Für den Inhalt der Artikel sind die jeweiligen
                                                                               Autoren verantwortlich.
                            Anzeigen, Layout, Herstellung, Druck
                            Köllen Druck + Verlag GmbH
                            Ernst-Robert-Curtius-Str. 14                       Bildnachweise
                            53117 Bonn-Buschdorf                               Titel: 123rf/ Teoh Chin Leong
                            Tel. +49 228 989820, Fax +49 228 9898255           Inhalt: Soweit nicht anders gekennzeichnet,
                            verlag@koellen.de                                  alle Bilder/Grafiken © 123rf.com

 4   » bdvb aktuell Nr. 144 «
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
Die Rolle von Augmented Reality in der Stadt der Zukunft     18

Brexit – Jahrhundertschritt mit Megafolgen                   21

Das Präsidentengespräch mit Prof. Dr. Michael Hüther         24

                                                                           28
Wie werden Security Tokens                                   28
die Unternehmensfinanzierung verändern?

Warum wir bereit sind, Steuern zu zahlen                     30

Studium und Karriere
Wissenswerke32

Eine Schule für Korase                                       34

                                                                           34
Gelesen und notiert                                          36

Mentoring im bdvb                                            37

Arbeiten im Schlafanzug – Home Office wird immer beliebter   38

Der MBA für Neumacher                                        40

Digitale Kompetenz – Mehr als Skills für Führungskräfte      42

Verbandsleben

                                                                           47
Schulfach Wirtschaft:                                        44
„Ökonomische Bildung fachkundig vermitteln“
Inkubator der Digitalisierung im Gesundheitswesen            45
Aus den Fachgruppen                                          46
Bezirks- und Hochschulgruppen                                48
Unsere Kontakte                                              52
Veranstaltungshighlights53
Wir gratulieren herzlich                                     56

Das Mitglied hat das letzte Wort                             58
                                                                            58

                                                                   » bdvb aktuell Nr. 144 «   5
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

    „Jede Stadt muss ihren
           eigenen Weg finden“
    Im Juni 2018 veröffentlichte das McKinsey Global Institute eine Studie über die Lebensbedingun-
    gen in der Smart City. Unter dem Titel „Smart cities: Digital solutions for a more livable future“
    nahm sie 50 Städte unter die Lupe und fand heraus: In der Smart City lässt es sich gesünder und
    sicherer leben und schneller zur Arbeit kommen – wenn alle nötigen Faktoren zusammenkommen.
    bdvb aktuell sprach mit Co-Autor Gernot Strube.

    bdvb aktuell: Herr Strube, war-        Es gibt zwei wichtige Ergebnisse.       Verspätungen viele Umstiegsbezie­       Das entlastet doch sicherlich
    um hat das MGI diese Studie            Zum einen haben wir eine Struktur       hungen, das zieht die Wegezeiten        auch die öffentlichen Kassen …
    eigentlich durchgeführt?               erarbeitet, mit der man sich dem        unnötig in die Länge. Auch im Indivi­   Auf jeden Fall, zumal vor allem in
    Gernot Strube: Das McKinsey            Thema Smart City aus planerischer       dualverkehr gibt es Potenziale. Mit     diesem Bereich eigentlich keine
    Global Institute beschäftigt sich      Sicht nähern kann. Im Grunde geht       Hilfe von „Smart Lanes“ etwa kann       riesigen Investitionen nötig sind.
    seit vielen Jahren mit den Themen      es dabei um drei Punkte: erstens        man mehrspurige Straßen flexibel        Gerade in den entwickelten Län­
    Urbanisierung und Technologie. Be­     die technische Basis mit allen Lei­     nutzen und mehr Spuren in Richtung      dern, denn hier sind die benötigten
    völkerungswachstum findet heute        tungen, Portalen oder Sensoren,         des Stoßverkehrs freigeben. Und         Sensoren bereits im Markt verfüg­
    in den Städten statt. 60 % der         die eine Stadt braucht; zweitens        dann gibt es natürlich noch komple­     bar und finden schon Anwendung.
    Menschen leben in Städten, wobei       die Frage, wie man die beispiels­       xeres Traffic Management und Na­        Allerdings sind gerade hier viele
    das größte Wachstum in den Ent­        weise durch Sensoren gesammel­          vigationssysteme, die individuelle      Anwender skeptisch – es geht bei
    wicklungsländern stattfindet. Doch     ten Informationen für Anwendun­         Routen zukünftig mit Hilfe von Echt­    Gesundheitsdaten ja auch um be­
    auch Städte wie Hamburg, Berlin        gen bereitstellt. Und drittens gibt     zeitdaten aus WLAN-Sensoren und         sonders persönliche Informatio­
    oder München werden in den kom­        es da noch die tatsächliche Nut­        Kameras an die aktuelle Verkehrssi­     nen.
    menden Jahren signifikantes Ein­       zung durch die Bürger. Denn selbst      tuation anpassen können. Schließ­
    wohnerwachstum verbuchen. Die          die beste Infrastruktur mit den         lich ist das Thema Parken extrem        Sie schreiben in Ihrer Studie,
    Frage ist also: Wie gestaltet man      tollsten Apps bringt mir nichts,        wichtig. Ein großer Teil des Innen­     dass die Smart City zu 15 %
    eine Stadt, die ein gutes, gesundes    wenn die Bürger das Angebot nicht       stadtverkehrs geht auf das Konto        weniger CO2-Emissionen, 30 %
    Umfeld, ordentliche Arbeitsplätze      annehmen. Dieser Dreiklang aus          der Parkplatzsuche. Auch hier kann      weniger Wasserverbrauch
    und Mobilität gleichermaßen be­        Infrastruktur, Anwendung und Ak­        die Smart City punkten.                 und 20 % weniger Abfall bei-
    reitstellt? Mit unseren Studien wol­   zeptanz ist absolut erfolgskritisch.                                            trägt. Wie das?
    len wir einen Beitrag leisten, die     Die zweite wichtige Erkenntnis lau­     Weniger Verkehr bedeutet ge-            70 % der weltweiten Treibhausga­
    Antwort auf diese Frage zu finden.     tet: Selbst die am weitesten entwi­     ringere Umweltbelastung und             se werden in Städten generiert.
                                           ckelten Smart Cities, Städte wie        wirkt sich positiv auf die Ge-          Umgekehrt kann man hier natürlich
    Für Ihren Report haben Sie             San Francisco und Singapur, ste­        sundheit aus …                          viele Einsparungen erzielen. Den
    sich 50 Städte genau angese-           hen noch am Anfang.                     Ja, und nicht nur das. Generell pro­    größten Effekt realisiert man mit
    hen. Nach welchen Kriterien                                                    gnostiziert unsere Studie, dass sich    einem entsprechenden Gebäude­
    haben Sie diese ausgewählt?            Ihre Studie hat die Lebensqua-          die Krankheitslast in den Städten       management. Mehr als die Hälfe
    Die Städte, die Sie in der Studie      lität in der Smart City in den          um 15 % reduzieren könnte. Zum          der CO2-Emissionen entstehen im
    finden, stehen im Ruf, in Sachen       Fokus gerückt. Was haben Sie            einen, weil sich aufgrund der be­       Haus – etwa für das Heizen oder
    Smart City fortschrittlich unter­      herausgefunden?                         reits angesprochenen Mobilitäts­        Kühlen. Mit einer effektiven Steue­
    wegs zu sein. Sie haben das Thema      Wichtig ist, dass wir uns auf An­       themen die Zeit, bis ein Rettungs­      rung und frühzeitigen Planung lässt
    auf ihrer Agenda und ein Interesse     wendungen fokussiert haben, die         wagen am Zielort eintrifft, um bis zu   sich wesentlich effizienter heizen
    daran, dieses Thema voranzubrin­       zumindest im Pilotstadium bereits       35 % verringern kann – ein massi­       oder kühlen, denn man kann die
    gen. Außerdem haben wir darauf         existieren. Und dabei haben wir un­     ver Effekt vor allem in den Schwel­     Wärmespeicherkapazität der Ge­
    geachtet, dass wir einen guten         ter anderem herausgefunden, dass        lenländern. Zum anderen, weil es        bäude nutzen. Ähnlich ist es mit
    geografischen Mix abbilden, statt      sich die Pendelzeiten durch die Digi­   Anwendungen gibt, die Menschen          dem Licht. Wenn ich weiß, wie und
    nur Nordamerika und Asien im Fo­       talisierung um bis zu 20 % verkürzen    helfen, ihren Gesundheitsstatus         wann Gebäude und Räume genutzt
    kus zu haben. Und nicht zuletzt ha­    könnten. Mehrere Faktoren spielen       besser einzuschätzen und im Zwei­       werden, muss ich nicht alles dauer­
    ben wir Wert darauf gelegt, eine       hier eine Rolle. Beispielsweise im      felsfall Hilfe zu rufen. Ebenso denk­   haft beleuchten. Eine weitere An­
    Mischung aus Megastädten und           Öffentlichen Personennahverkehr,        bar ist, Menschen gezielt Gesund­       wendung im Umweltbereich be­
    normalen Städten zu analysieren.       wo Sensoren eine vorausschauende        heitsinformationen zu schicken, die     trifft den Komplex Abfall, Abfall­
                                           Instandhaltung ermöglichen, was         zu ihrer Lebenssituation passen –       trennung und Recycling. Hier lassen
    Wenn Sie die Ergebnisse der            sich positiv auf Einsatzbereitschaft,   eine junge Mutter etwa könnte man       sich Abfahrrouten an den tatsächli­
    Studie in wenigen Worten zu-           Pünktlichkeit und folgerichtig die      über wichtige Vorsorgeuntersu­          chen Bedarf anpassen, statt stupi­
    sammenfassen müssten – wie             Attraktivität des ÖPNV auswirkt.        chungen und Gesundheitsangebote         de immer die gleiche Route abzu­
    würden Sie das tun?                    Heute stören einzelne Ausfälle oder     auf dem Laufenden halten.               klappern. Viele Städte nutzen heu­

8     » bdvb aktuell Nr. 144 «
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
                                                                                                                                  Interview

te schon Sensoren in Mülltonnen.       Man muss die Möglichkeiten ver­          Das ist ein gutes Beispiel für vor­
Hier wird nach Gewicht abgerech­       stehen, Bürger und Industrie ein­        ausschauende Planung.
net. Außerdem gewinnt man Da­          binden. Ein Bürgermeister, mit dem
ten, mit denen man zyklisch planen     ich gesprochen haben, hat gesagt,        Gibt es solche Beispiele auch
kann. In den Sommerferien etwa         dass es für ihn das Wichtigste ist,      im deutschsprachigen Raum?
muss nicht zwingend jede Woche         auf die Bürger zuzugehen, sie mit­       Wien ist eine Stadt, die sich sehr
die Müllabfuhr kommen, vielleicht      entscheiden zu lassen. Aber dann         aktiv mit solchen Fragen befasst. In
reicht es jede zweite Woche.           geht es auch um ganz pragmati­           Deutschland stehen wir vor einer
                                       sche Dinge. Wenn man überlegt,           besonderen Situation: Zwar ist viel
Kommen wir zur Frage nach              wie viele Sensoren in der Zukunft        Geld für die Entwicklung der Infra­
der Kriminalität. Worauf ha-           gebraucht werden – WLAN, Traffic         struktur eingeplant, die Mittel sind
ben Sie hier genau geachtet?           Lights, Verkehrsleitsysteme –            also prinzipiell vorhanden. Aber
Der wesentliche Begriff lautet         wenn wir da für jede Anwendung           wenn wir auf die drei Dimensionen
„Smart Policing“. Also voraus­         die Straßen und Gehwege separat          schauen, über die wir eingangs ge­
schauender Polizeieinsatz bzw. vo­     aufgraben, haben wir in den              sprochen haben – technische Ba­
rausschauende Polizeipräsenz. Wir      nächsten 50 Jahren viel zu tun. Die      sis, Anwendungen, Akzeptanz –
konnten mit unserer Studie zeigen,     Städte brauchen einen Master­            dann tun wir uns doch wahnsinnig
dass datenbasierte Kriminalitäts­      plan, um diese Veränderungen um­         schwer damit, offene Datenplatt­
vorhersagen und Sicherheitssyste­      zusetzen.                                formen zu schaffen. Das liegt unter
me in Wohnhäusern die Kriminali­                                                anderem daran, dass wir wesent­
tätsrate um 30 bis 40 % verringern     Rechnet sich dieser Aufwand              lich technologieskeptischer sind.
können. Hier geht es unter ande­       denn überhaupt?                          Die Angst, dass etwas missbraucht      DER INTERVIEWPARTNER
rem um das Erfassen potenziell         Ja, durchaus. Ein weiteres Ergeb­        werden kann, schwingt immer mit.
gefährlicher Menschenansamm­           nis unserer Studie lautet: Viele         Wir investieren also in Infrastruk­
lungen oder die Ermittlung von         Smart-City-Anwendungen machen            tur und haben Anwendungen am           Gernot Strube ist Seniorpartner im
Wahrscheinlichkeiten, wann wo          sich sogar privatwirtschaftlich be­      Start. Aber in puncto Akzeptanz        Münchener Büro der Unterneh-
ein Verbrechen begangen wird.          zahlt. Für eine Stadt oder den Bund      sind wir deutlich schlechter als die   mensberatung McKinsey &
Man kann Bürgern auch Bescheid         gilt es also, ein Umfeld für privat­     anderen europäischen Städte in         Company. Er berät Klienten im
geben, wenn diese einen Bereich        wirtschaftliches Engagement zu           der Studie.                            Infrastruktur-, Luft- und Raumfahrt-,
aufgrund eines Einsatzes meiden        schaffen, damit die Kosten niedrig                                              Eisenbahn- und Maschinenbau-
sollen. Zu diesem Thema gehört         gehalten werden können. Nehmen           Von welchen Städten können             sektor zu digitalen Transformati-
auch, dass Polizisten Körperkame­      Sie beispielsweise die bereits an­       wir lernen?                            onen, operativen Strategien und
ras tragen, um Vorgänge aufzu­         gesprochene Smart Policing Soft­         Singapur ist eine Stadt, die viele     Leistungssteigerungen.
zeichnen. Bereits das Vorhanden­       ware in New York. Sie wurde von          Anregungen bietet. Aber dort gibt      Er leitet die Capital Projects &
sein solcher Kameras führt zu we­      einem großen Softwareanbieter            es natürlich ein anderes Regie­        Infrastructure Practice in West­
niger Straftaten.                      gemeinsam mit der Stadt entwi­           rungssystem. Über Jahrzehnte           europa und ist einer der Leiter der
                                       ckelt und New York erhält als Dank       wurde hier geplant vorgegangen,        Operations Practice.
Viele wittern spätestens an            für sein Engagement einen Teil des       mit Fokus auf den Nutzen für die
dieser Stelle den Überwa-              Umsatzes, den das Unternehmen            Bürger, aber kontroversen Diskus­      Die vollständige Studie des MGI
chungsstaat …                          mit der Lösung in anderen Städten        sonen. Auch China treibt das The­      steht auf www.mckinsey.com zum
Ja, das ist ein äußerst sensibles      macht. Umgekehrt ist wichtig, die        ma in Städten wie Peking, Shang­       Download bereit.
Thema, nicht nur bei uns in            kritische Distanz zu wahren. Es gibt     hai und Shenzhen massiv voran.
Deutschland. Aber man kann diese       Städte, in denen viel Geld dafür         Aber auch hier haben wir eine
Gratwanderung schaffen. New            ausgegeben wird, dass überall            komplett andere politische Kultur,
York beispielsweise hat sehr posi­     WLAN bereitsteht. Das ist an sich        und die Menschen wissen, dass
tive Erfahrungen mit dem Thema         nicht falsch, doch für sich alleine      der Staat ohnehin alles über sie
Smart Policing gemacht. Dort hat       hilft es nicht viel, wenn gleichzeitig   weiß. Deshalb macht man sich we­
man sich aber bewusst gegen Ge­        die Anwendungen vernachlässigt           sentlich weniger Sorgen über Da­
sichtserkennung entschieden. Man       werden. Industriepartner sind häu­       tensicherheit. Ansonsten lohnt
nutzt andere Sensoren. China da­       fig mehr am Verkauf etwa von             sich immer ein Blick nach New York
gegen wendet die Gesichtserken­        Hotspots interessiert als daran, die     und San Francisco. Aber noch ein­
nung intensiv an.                      optimale, ganzheitliche Lösung für       mal: Das Wichtigste, was wir von
                                       die Stadt zu finden.                     all diesen Städten lernen können
Was müsste passieren, damit                                                     – das hat unsere Studie gezeigt –
all diese Potenziale, über die         Man muss also möglichst weit             ist: Es kommt darauf an, seine ei­
wir gerade gesprochen haben,           und vorausschauend denken?               gene Lösung zu finden. Eine Lö­
wirklich ausgeschöpft wer-             Genau. Nehmen Sie beispielsweise         sung, die zur Stadt passt. Und man
den?                                   Tel Aviv. Dort wird eine neue Metro      muss die Bürger auf dem Weg
Wichtig ist: Jede Stadt ist verant­    geplant. Mit ihr sollen gleichzeitig     mitnehmen und für breite Akzep­
wortlich für ihre Bürger, ihr Klima,   Schacht- und Tunnelsysteme einge­        tanz sorgen.
ihre Industrie. Aber keine Stadt       richtet werden, in denen später
kann all das auf einmal realisieren.   Leitungen für eine Smart-City-Infra­     Herr Strube, vielen Dank für
Man muss sich Prioritäten setzen       struktur gelegt werden können.           dieses Interview!           «
und Schwerpunktthemen definie­         Schließlich läuft die Metro entlang
ren, die man genau analysiert:         lebenswichtiger Adern der Stadt.

                                                                                                                           » bdvb aktuell Nr. 144 «   9
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
Interview

               Im Gespräch mit
               Prof. Dr. Klaus Mainzer

                                  „Wir bleiben
                                  soziale, emotionale
                                  und empathische
                                  Wesen“
                                  In der Smart City ist alles vernetzt und die
                                  Menschen geben viele Aufgaben an Maschinen
                                  und Algorithmen ab. Wird das die Menschen
                                  verändern? Werden wir unser Leben noch in die
                                  eigene Hand nehmen können? Das wollten wir
                                  von Prof. Dr. Klaus Mainzer wissen.

                                  bdvb aktuell: Herr Mainzer,            Interaktion stattfand. Heute sind
                                  was verbinden Sie mit der              wir global vernetzt und leben bald
                                  Smart City?                            in intelligenten Städten. Trotzdem
                                  Klaus Mainzer: Das Internet wird       bleiben wir soziale, emotionale,
                                  universell und ubiquitär. Denn das     empathische Wesen, die den Aus­
                                  Konzept Smart City ist nichts ande­    tausch mit anderen suchen. Das ist
                                  res als das Konzept des Internets      eine anthropologische Konstante.
                                  der Dinge, angewendet auf die ur­      Die sozialen Medien haben es ent­
                                  bane Infrastruktur. Das Internet der   gegen negativer Vorhersagen nicht
                                  Dinge bedeutet im Gegensatz zum        geschafft, dass wir nur noch über
                                  gewöhnlichen Internet: Es kommu­       das Netz kommunizieren. Wir brau­
                                  nizieren nicht mehr nur Menschen       chen die soziale Berührung, deshalb
                                  miteinander, sondern Dinge, etwa       gehen wir nach wie vor in Kneipen
                                  Sensoren, technische Anlagen,          und auf Konzerte oder schauen uns
                                  Maschinen, Gebäude und vieles          Fußballspiele im Stadion an. Doch
                                  mehr. Außerdem kommunizieren           natürlich wird es massive Verände­
                                  Menschen mit Maschinen, bei­           rungen geben, aber eher auf dem
                                  spielsweise mit Bots.                  Feld der Verantwortung.

                                  Was bedeutet das für die               Wie ist das zu verstehen?
                                  Kommunikation von Mensch               Es entfallen immer mehr zwischen­
                                  zu Mensch?                             gelagerte Institutionen, insbeson­
                                  Es verändert die Kommunikation in      dere im kommunalen Sektor und in
                                  dem Sinne, dass Menschen über          der Dienstleistung. Das ist keine
                                  neue Medien miteinander kommu­         neue Entwicklung: Die hohen Bank­
                                  nizieren. Früher gab es die Familie,   gebühren zwingen viele Menschen
                                  die Dorfgemeinschaft, das Stadt­       bereits heute dazu, ihre Bankge­
                                  viertel, in denen die meiste soziale   schäfte online zu führen – ohne
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
                                                                                                                                Interview

Bankfiliale und den Berater am         technologischen Möglichkeiten          Mensch in eine künstliche Intelli­
Schalter, dem man vertraut, der ei­    entstehen neue Wünsche. Etwa           genz verliebt. Wir sind aber noch
nen berät und der im Zweifelsfall      eine effiziente Verwaltung mit ei­     lange nicht so weit, dass Men­
dafür verantwortlich ist, wenn et­     nem Online-Angebot oder eine in­       schen Bots bei einer Unterhaltung
was schiefläuft. An seine Stelle       telligente Mobilität. Dazu gehört      nicht als solche erkennen. Wenn
treten Algorithmen, die Prozesse       übrigens auch, dass sich Unmut         ich einen Dialog führen oder ver­
automatisieren und Bankkunden          über soziale Medien viel schneller     trauliche Dinge besprechen will,
Produkte anbieten. Wie so oft hat      artikuliert. Und, dass die Nutzer      stoße ich recht schnell an die Gren­
eine solche Entwicklung zwei Sei­      gnadenlos ablehnen, was nicht          zen der künstlichen Intelligenz.
ten: Auf der einen Seite sehen wir     nach Wunsch funktioniert.              Aber Bots können heute schon bei
den Vorteil in puncto Komfort, auf                                            der Verbreitung falscher Informati­
der anderen Seite tragen wir als       Sind sich die Menschen be-             onen unbemerkt tätig sein.

                                                                                                                     Udo Keller Stiftung (Hamburg)
Nutzer mehr Verantwortung. Die         wusst, wie viel sie in der
Verantwortlichkeit wird für Normal­    Smart City von sich preisge-           Warum brauchen wir die Digi-
bürger komplizierter und kleinteili­   ben – Stichwort Daten?                 talisierung und die Smart City
ger und wir dürfen uns Algorithmen     Das ist tatsächlich ein kritischer     überhaupt?
nicht blind anvertrauen. Letztlich     Punkt. Die Antwort fällt für unter­    Unser Leben ist zu komplex und
sind auch sie von Menschen ge­         schiedliche Generationen unter­        unsere Wirtschaft zu vernetzt. Die
macht und fehleranfällig. Deshalb      schiedlich aus. Auch Herkunft und      klassischen intermediären Institu­
müssen wir etwa unserer Bank er­       Kulturen spielen da eine Rolle.        tionen können das alles nicht mehr
hebliches Vertrauen entgegenbrin­      Jüngere Altersgruppen gehen viel       managen. Deshalb brauchen wir
gen, dass sie schon alles richtig      freizügiger und offener mit ihren      die Hilfe von Maschinen und Algo­                                      DER INTERVIEWPARTNER
macht. Ähnliche Entwicklungen          Daten um. Die Digital Natives wis­     rithmen, die schneller und effekti­
sind im Kommunalwesen und in vie­      sen zwar, dass sie mit Daten für       ver sind als wir, die größere Daten­
len anderen Bereichen zu erwarten.     Dienste bezahlen, es ist ihnen am      mengen überblicken können. Die                                         Prof. Dr. Klaus Mainzer (Jahrgang
                                       Ende aber auch egal. Deshalb hal­      logistischen Ketten in der Wirt­                                       1947) forscht als Wissenschaftsphi-
Sie haben eben gesagt, das             te ich die Vermittlung von Medien­     schaft können heute auch nicht                                         losoph über Grundlagen und
Internet ist ubiquitär. Aber           kompetenz beinahe für wichtiger        mehr von einer Kaufmannsbörse in                                       Zukunftsperspektiven von Wissen-
nicht jede City muss Smart             als die Vermittlung der Technik.       Hamburg organisiert werden. Da­                                        schaft und Technik. Er studierte
werden, oder?                                                                 her werden sie in Zukunft auf den                                      Mathematik, Physik und Philoso-
Doch, meiner Ansicht nach schon.       Die Datensicherheit ist eine           Algorithmen von Blockchain abge­                                       phie an der Universität Münster,
Wir haben in Deutschland zwar          Sache. Wie steht es um die             bildet. Oder ein anderes Beispiel:                                     promovierte dort über Philosophie
erhebliche Probleme mit unserer        allgemeine Sicherheit in der           Die Verkehrsflüsse in einer Mega­                                      und Grundlagen der Mathematik
IT- und TK-Infrastruktur und sind im   Smart City?                            city zu regeln, übersteigt menschli­                                   und habilitierte sich in Philosophie.
Vergleich mit anderen europäi­         Da muss man differenzieren. Tat­       che Fähigkeiten, deshalb ist die                                       An der Universität Konstanz wirkte
schen Ländern – etwa Estland –         sächlich sehe ich einen Gewinn an      Mobilität eines der wichtigsten                                        er als Professor und Prorektor, an
Mittelmaß. Und wir erinnern uns        Sicherheit etwa durch Predictive       Themen in der Smart City. Ich bin                                      der Universität Augsburg als Lehr-
an die unglückliche Formulierung       Analytics oder Pre-Criming. Mit der    überzeugt, in 50 Jahren wird man                                       stuhlinhaber für Philosophie und
einer Bundesministerin, dass die       gleichen Technologie, die Amazon       sich darüber wundern, dass Men­                                        Wissenschaftstheorie und Grün-
IT-Versorgung ja nicht bei jeder       erlaubt, heute schon zu wissen,        schen trotz ihrer begrenzten kogni­                                    dungsdirektor des Instituts für Inter-
Milchkanne ankommen müsse.             was ich morgen kaufen möchte,          tiven Fähigkeiten und trotz der vie­                                   disziplinäre Informatik, bis er 2008
Dem würde ich entschieden wider­       lässt sich die Versorgungssicher­      len Verkehrstoten einmal PS-strot­                                     auf den Lehrstuhl für Philosophie
sprechen. Das Internet muss an         heit erhöhen oder die Sicherheit       zenden Maschinen selber gelenkt                                        und Wissenschaftstheorie an der
jeder Milchkanne ankommen, al­         etwa von Fortbewegungsmitteln,         haben. Die übernächste Generati­                                       Technischen Universität München
lein schon, um die Lebensmittel­       weil diese effizienter gewartet        on wird den Verkehr automatisiert                                      (TUM) berufen wurde und Direktor
qualität und die komplexe Lebens­      werden können. In Großstädten          haben und darauf nicht mehr ver­                                       der Carl von Linde-Akademie
mittellogistik zu verbessern. Oder     können Sie den Wahrscheinlich­         zichten wollen.                                                        wurde. Er war Gründungsdirektor
ein anderes Beispiel: Warum soll       keitsgrad von Einbruchsdiebstäh­                                                                              des Munich Center for Technology
man nicht von zuhause aus den          len vorhersagen. Alles, was Sie        Professor Mainzer, vielen                                              in Society (MCTS) und ist seit 2016
Pass oder Führerschein beantra­        dafür brauchen, sind genug Daten.      Dank für dieses Interview! «                                          TUM Emeritus of Excellence, seit
gen können? Das sind Dinge, die        Aber umgekehrt fallen in der Smart                                                                            2019 Seniorprofessor an der Eber-
andere Länder bereits praktizieren.    City auch extrem viele Daten an,                                                                              hard Karls Universität Tübingen.
In diesem Sinne: Nicht nur Metro­      die geschützt werden müssen.
polen wie Frankfurt oder München
müssen smarter werden, sondern         Wie kompatibel sind Mensch
auch die hintersten Regionen im        und Maschine? Wird es auf
Bayerischen Wald.                      Dauer so kommen, dass wir
                                       mit Maschinen kommunizie-
Steigt die Anspruchshaltung            ren, ohne es zu merken?
der Bürger gegenüber ihrer             Wir sind bereits auf dem Weg.
Stadt?                                 Alexa ist weit verbreitet, und viele
Ja, das tut sie – das lässt sich so­   Menschen nutzen Apps, mit denen
gar empirisch belegen. So etwas        sie sich unterhalten können. Am
beobachten wir aber bei allen Zivi­    Ende steht dann die Vision des Ki­
lisationsschüben. Mit steigenden       nofilms „Her“, in dem sich ein

                                                                                                                                                         » bdvb aktuell Nr. 144 «   15
Smart City - " Nr. 144 - Die nächste Stufe der Evolution? - Der bdvb
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

     Die Rolle von Augmented
     Reality in der Stadt der Zukunft

     “AR is going to take a while, because
     there are some really hard technology
     challenges there. But it will happen,
     it will happen in a big way, and we
     will wonder when it does, how we ever
     lived without it. Like we wonder how we
     lived without our phone today.” – Tim Cook

     Die Digitalisierung zieht in all un­   Sensoren verbaut,
     sere Lebensbereiche ein – Social       z.B. Tiefenkameras,
     Media, smarte Leuchtmittel, Navi­      mit welchen die
     gationssysteme, WhatsApp, Ale­         Umwelt in Echtzeit
     xa und Co. sind nur einige der         aufgezeichnet und
     Beispiele, die uns im täglichen        mittels Algorith­
     Privatleben begegnen. Auch Un­         men interpretiert
     ternehmen und Kommunen wer­            wird. Dies ermög­
     den mit den Anforderungen an die       licht die realitäts­
     Digitalisierung konfrontiert. Insbe­   nahe Integration
     sondere im urbanen Umfeld bie­         virtueller Elemente
     ten die Digitalinnovationen enor­      in die wahr­
     mes Potenzial, um Städte effizien­     genomme­
     ter, umweltfreundlicher, sozialer      ne Realität.
     und schöner zu gestalten und so­       Ein Beispiel
     mit in „Smart Cities“ zu verwan­       aus dem priva­
     deln. Hierzu werden neue Techno­       ten Umfeld verdeutlicht dies:
     logien in verschiedensten Berei­       Mittels der IKEA Place-App kön­       Augmented Reality
     chen eingesetzt; beispielsweise in     nen Konsumenten bereits Mö­           und Smart Cities
     der Mobilität (Share Economy),         belstücke virtuell zu Hause aus­      In unseren Forschungsarbeiten ha­
     der Verwaltung (smarte Bürgerbe­       probieren. Ein einmal virtuell        ben wir zahlreiche Use Cases von
     teiligungen) oder auch im Bereich      platziertes Element ist noch Jah­     AR in smarten Städten identifiziert.
     Umwelt (smarte Mülleimer). An          re später am selben Ort. Das Ziel     Exemplarisch stellen wir sieben        Smarter
     der Universität der Bundeswehr         neuster Entwicklungen ist es,         dieser Szenarien hier vor. Zudem       Architekt
     forschen wir interdisziplinär an       diese digitalen Objekte so le­        präsentieren wir Ergebnisse einer      Vor dem Start des ei­
     diesen Entwicklungen.                  bensecht wie möglich zu gestal­       Onlinebefragung innerhalb der Uni­     genen      Bauvorhabens
                                            ten und für eine Vielzahl an Men­     versität der Bundeswehr München        bietet eine AR-App die
     Für smarte Cities bietet Augmen­       schen über AR-Clouds sichtbar         (N = 125, überwiegend Studieren­       Möglichkeit, sich als Bauherr
     ted Reality enormes Einsatzpo­         zu machen. Daraus ergeben sich        de; Frühjahr 2019), in welcher Pro­    oder Architekt das Endprodukt
     tenzial. Darunter wird die com­        zahlreiche Potenziale für das         banden gebeten wurden, die Sze­        (z.B. das fertige Haus) oder wei­
     putergestützte Anreicherung der        Management smarter Städte.            narien anhand verschiedener Krite­     terführende Ideen (z.B. andere
     Realität durch Darstellung von         Ziel dieses Beitrags ist es, einige   rien (z.B. Nutzungsabsicht oder        Fassadengestaltung) visualisieren
     virtuell eingeblendeten Informa­       AR Use Cases für smarte Städte        Zahlungsbereitschaft) auf 7er-Ska­     zu lassen. Der Nutzer sieht also
     tionen verstanden. AR-Brillen          exemplarisch vorzustellen und         len zu bewerten. In der Abbildung      virtuell, wie das fertige Produkt
     (z.B. Google Glass oder Micro­         Einblicke zu geben, welche Ent­       werden die Prozentwerte der vol­       aussehen soll. Dieses Anwen­
     soft Hololens) und AR-fähige           wicklungen auf uns zukommen           len Zustimmung (d.h. Skalenwert =      dungsszenario erfuhr unter unse­
     Smartphones haben zahlreiche           können.                               6 bzw. 7; Top2-Boxes) dargestellt.     ren Befragten die meiste Zustim­

18     » bdvb aktuell Nr. 144 «
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

                                     Hausverwalter könnten diese          44 % der Befragten für eine sol­
                                     Problemstellen durch eine AR-        che App interessieren. Bei gro­
                                     App sehen. Sie könnten – meta­       ßen Bauprojekten, welche „auf
                                     phorisch beschrieben – „in die       der grünen Wiese“ realisiert
                                     Wand schauen“. Dies würde es         werden, ist meist enorme Vor­
                                     auch Laien ermöglichen, mittels      stellungskraft gefragt, um die
                                     handelsüblichen Technologien         Ausmaße des fertigen Gebäudes
                                     im wahrsten Sinne des Wortes         zu erahnen. Hier kann durch eine
                                     Einblicke in ihre Wände zu erhal­    AR-App Abhilfe geschaffen wer­
                                     ten. Die sehr hohe alltägliche       den. Die öffentliche Hand kann
                                     Relevanz dieses Szenarios für        in Zusammenarbeit mit dem Ar­
                                        unsere Befragten wird bei der     chitekturbüro die Möglichkeit
                                         potenziellen Nutzungsrate        anbieten, mit Hilfe dieser App
                                         deutlich. Über 77 % der Be­      das fertige Gebäude realitäts­
                                         fragten würden eine solche       nah auf der Wiese zu betrach­
                                       App nutzen. Der höchste in         ten. Hierzu wird das Gebäude
                                     der Befragung gemessene Wert         auf den Bildschirm eines Tablets
                                     an Bereitschaft, dafür Geld aus­     oder Smartphones in die reale
                                     zugeben, nämlich über 50 %,          Umgebung eingebunden und
                                     verdeutlicht dies.                   projiziert. Damit gewinnen Nut­
                                                                          zer vor Baubeginn einen Ein­
                                     Tourismus                            druck über die Ausmaße des
                                     Stadtverwaltungen könnten eine       Bauprojektes.
                                     AR-App anbieten mit deren Hilfe
                                          Nutzer sich Informationen       Hochwasser
                                          zu öffentlichen Gebäuden        Eine AR-App kann – unter Zuhil­
                                          (z.B. Bauart, Baujahr, Histo­   fenahme entsprechender öffentli­
                                          rie) anzeigen lassen. Die       cher Datenbanken – notwendige
                                          Nutzer      schauen     dazu    Informationen über die Beschaf­
                                          „durch“ ihr Smartphone          fenheit eines Baugrundes direkt
                                          oder Tablet auf ein existie­    im Sichtfeld projizieren. Bei­
                                          rendes Gebäude; die AR-         spielsweise können das vorherr­
                                             App zeigt ihnen dann In­     schende hypothetische Hochwas­
                                                   formationen zum        serniveau (d.h. bis wohin bei
                                                   Gebäude oder be­       Hochwasser das Wasser stehen
                                               stimmten Gebäudetei­       würde), Bodendenkmal­daten (wie
                                           len. Erste Städte testen       nah liegt die Baustelle am nächs­
          mung (über 78 %). Mit      diese Ansätze bereits und sto­       ten schützenswerten Bodendenk­
      über 45 % war auch die Be­     ßen auf hohes Interesse. Hier        mal) oder auch die Entfernung
    reitschaft, für einen solchen    zeigt sich deutlich, dass solche     zum nächsten Naturschutzgebiet
  Service zu zahlen, relativ groß.   Angebote von Touristinnen und        angezeigt werden. Dieses sehr
Ein Anwendungsbereich von AR,        Touristen mit zunehmender Ver­       spezielle Szenario zeigt, wie spe­
welcher höchstwahrscheinlich         breitung wohl vorausgesetzt          zifisch Anwendungsbereiche von
Einzug in das tägliche Geschäft      werden würden. Eine sehr gerin­      AR sein können. Wenn man sich
 von städtischen Bauplanern, Ar­     ge Zahlungsbereitschaft mit          für Themen wie Umwelt- oder
  chitekten, Bauzeichnern und        10,4 % unterstreicht dies (bei ei­   Denkmalschutz interessiert, er­
   Bauträgern halten wird.           ner Nutzungstendenz von 46,4 %).     höht sich dadurch wahrscheinlich
                                                                          die Bereitschaft eine solche App
      Röntgenblick mittels AR        Grüne Wiese                          zu nutzen (43,4 % der Befragten).
       Bei klassischen Heim­         Ein ähnliches Bild wie im voran­     Jedoch wären nur 20 % der Um­
       werkerarbeiten kommt          gegangenen Szenario zeichnen         frageteilnehmer bereit, hierfür zu
        es gelegentlich vor,         die Befragen auch hinsichtlich       bezahlen.
        dass man in eine Lei­        der Möglichkeit, mit AR-Apps
        tung oder ein Rohr           noch nicht entstandene Gebäu­        Rathaus
        bohrt. Viele dieser In­      de zu visualisieren. Lediglich       Bei bereits begonnenen Baustel­
         formationen liegen bei      14,4 % der Befragten wären           len der öffentlichen Hand (z.B.
           modernen Bauten be­       hierfür bereit zu bezahlen. Je­      bei Verwaltungsgebäuden), bei
           reits digital vor.        doch würden sich immerhin            denen beispielsweise bisher le­

                                                                                   » bdvb aktuell Nr. 144 «    19
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

AUTOREN

                        Architekt                       Architekt                                            45,60%                               45,60%
                                                                                                                                                                     78,40%                           78,40%

                        Röntgen                         Röntgen                                                       50,40%                               50,40%
                                                                                                                                                                    77,60%                           77,60%

                       Tourismus                  10,40%
                                                       Tourismus                       10,40%
                                                                                                              46,40%                                46,40%

                    Gruene Wiese                       14,40%
                                                   Gruene Wiese                              14,40%
                                                                                                          44,00%                                44,00%

                     Hochwasser                      Hochwasser 20,00%                                 20,00%
                                                                                                        43,20%                                43,20%

                         Rathaus                  10,40%Rathaus                        10,40%
                                                                                            36,00%                                36,00%

                        Wallame                   10,40%Wallame                        10,40%
                                                                                           35,20%                                35,20%

                                    0%      10%              20%0%            30%10%            40%20%           50%30%          60%40%           70%50%            80%60%         90%70%            80%       90%

                                          Ich wäre bereit, für eine solche App sogar
                                                                                Ich wäre
                                                                                     einen
                                                                                         bereit,
                                                                                           (kleinen)
                                                                                                 für eine
                                                                                                      Betrag
                                                                                                          solche
                                                                                                              zu bezahlen
                                                                                                                  App sogar einen (kleinen)
                                                                                                                                    Ich würde
                                                                                                                                            Betrag
                                                                                                                                              so etwas
                                                                                                                                                   zu bezahlen
                                                                                                                                                        nutzen.         Ich würde so etwas nutzen.

Prof. Dr. Thomas Braml, Professor für
Massivbau an der Universität der
Bundeswehr München
                                                   diglich der erste Stock von mehreren Etagen fertig                                in Bau- und Städteentwicklungsprojekte stärker in­
                                                   gebaut ist, können Bürgerinnen und Bürger einen                                   tegriert werden. Wobei dies auch mehr mündige
                                                   Eindruck über das finale Aussehen des Baus gewin­                                 Bürger und höhere Kommunikationsanstrengungen
                                                   nen. Beispielsweise lässt sich so erahnen, wie sich                               erfordern könnte. Auch für den einzelnen Bürger
                                                   das fertige Gebäude mit seinen finalen Ausmaßen                                   bietet AR enormes Potenzial, z.B. bei der Planung
                                                   in das Stadtbild einbringt. Hierfür wird der bereits                              der eigenen vier Wände. Der private Bauherr ge­
                                                   gefertigte Teil des Gebäudes mit den bisher nur di­                               winnt durch AR-Apps an Mündigkeit, da es ihm
                                                   gital vorhandenen restlichen Bauabschnitten zu­                                   leichter fällt, Fehler zu erkennen und zu beseitigen.
                                                   sammen in die reale Umgebung eingebunden und
                                                   auf den Bildschirm des Tablets bzw. des Smartpho­                                 Die Herausforderung besteht daher darin, Städte
                                                   nes projiziert. Diese Anwendung bietet enorme                                     komplett digital zu planen. Alle dargestellten Use
                                                   Möglichkeiten im Bereich der Bürgerbeteiligung bei                                Cases basieren auf der Annahme, dass alle rele­
                                                   Bauprojekten. Ein aus unserer Sicht überraschen­                                  vanten Informationen digital vorliegen, verfügbar
bdvb-Mitglied Prof. Dr. Philipp A.
Rauschnabel, Professor für Digitales               der vorletzter Platz im Ranking, sollte doch die                                  sind und entsprechenden physischen Orten zuge­
Marketing und Medieninnovation an der              Möglichkeit, sich bei öffentlichen Bauprojekten ak­                               ordnet werden können. Die Anforderungen an das
Universität der Bundeswehr München                 tiv einbringen zu können, für eine gewisse Attrakti­                              Tracking der Umwelt sind daher enorm. Technologi­
                                                   vität der App sorgen. Lediglich etwas mehr als ein                                en von morgen müssen anhand aller verfügbaren
                                                   Drittel (36 %) der Umfrageteilnehmer würden eine                                  Informationen Objekte in kürzester Zeit erkennen,
                                                   solche App nutzen wollen. Weniger überraschend:                                   verstehen und zuordnen können. 5G, neue Positio­
                                                   Nur jeder zehnte Befragte würde für diese App et­                                 nierungsalgorithmen der Satellitennavigation,
                                                   was bezahlen.                                                                     selbstlernende Objekterkennungsalgorithmen und
                                                                                                                                     zusätzliche Sensoren an Geräten werden diese He­
                                                   Virtuelle Städteverschönerung mit AR                                              rausforderungen angehen können. Im Umkehr­
                                                   Das Schlusslicht aus Sicht der Befragten stellt eine                              schluss bedeutet dies nicht nur enorme infrastruk­
                                                   virtuelle Städteverschönerung dar. Nur rund jeder                                 turelle Investitionen von Städten und neue Anfor­
                                                   Dritte kann sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor­                                 derungen an die Städteplaner von morgen. Auch für
                                                   stellen, eine solche App zu nutzen – und nur jeder                                die Bürger bedeutet dies, Überwachung im öffentli­
                                                   Zehnte würde dafür bezahlen. Ein Kernnutzen von                                   chen Raum und damit Einschränkung der Privat­
M.Sc. Martin Rochi, wissenschaftlicher
                                                   Augmented Reality ist das Potenzial, die Wahrneh­                                 sphäre.                                         «
Mitarbeiter und Doktorand an der                   mung der Realität zu „verbessern“. In der Forschung
Universität der Bundeswehr München                 nennen wir dieses Potenzial „Desired Enhancement
                                                   of Reality“. In Bezug auf Smart Cities könnten Nut­
                                                   zer beispielsweise Kommentare und Bilder an jedes
                                                   beliebige Gebäude „schreiben“ – ähnlich wie Gra­
                                                   fittis. Unliebsame (Hass-)Kommentare oder
                                                   „AR-Shitstorms“ könnten die Folgen sein. Funkti­
                                                   onsfähige Apps mit einer starken Anzahl an Early
                                                   Adopters gibt es noch nicht. Die kostenlose App
                                                   Wallame zeigt aber, wohin die Reise gehen könnte.

                                                   Fazit und Ausblick
                                                   Augmented Reality wird die Welt enorm verändern.
                                                   Auch die Baubranche und das Management smar­
                                                   ter Städte werden um diese Entwicklung nicht her­
M.Sc. Michael Kraus, wissenschaftlicher
Mitarbeiter und Doktorand an der                   umkommen. Städte der Zukunft können individuell
Universität der Bundeswehr München                 auf den Nutzer angepasst werden, Bürger können

20        » bdvb aktuell Nr. 144 «
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

BREXIT
Jahrhundertschritt
mit Megafolgen

In Sachen BREXIT sind sinnvolle Analyseperspektiven zu wählen. Auch im Februar 2019, Wochen
vor dem Plan-Austrittsdatum 29.3. war noch unklar, ob es einen harten No-Deal-BREXIT, also Aus-
tritt ohne Vertrag gegeben würde, oder gar ein zweites Referendum – womöglich mit Pro-EU-Mehr-
heit. Harter BREXIT hieße, dass UK als WTO-Mitglied die üblichen Zollsätze an die EU zu entrichten
hätte.

Grundsätzlich entstehen Handels-, Direktinvestitions- und Einkom­        Premierministerin May meint mit ihrem Hinweis BREXIT means BREXIT,
mens- sowie Leistungsbilanzeffekte. 45 % der britischen Exporte          dass die Volksbefragung von 2016 mit ihrer 51,9 %-Mehrheit einen
gehen in die EU, während die EU-Importe aus UK etwa 4 % der Ge­          klaren Wählerauftrag bedeutet, dass UK aus der EU austreten soll. Das
samtimporte der EU ausmachen. Die britischen Importe aus der EU          kann man aber auch als Fehlwahrnehmung sehen, da informationssei­
stehen für etwa 60 % der UK-Importe. Folgt man den Simulationser­        tig – mit Blick auf die Info-Broschüre der Cameron-Regierung – gar kein
gebnissen der Bank of England vom Dezember 2018, dann wird das           ordnungsgemäßes Referendum durchgeführt wurde: Während beim
UK-Realeinkommen binnen fünf Jahren nach BREXIT bis zu 10,5 % –          Schottland-Unabhängigkeitsreferendum 2014 die Cameron-Regierung
im Fall eines No Deals – geringer ausfallen als sonst. Die Investitio­   in einer Info-Broschüre vorrechnete, dass jeder Schotte 1.400 Pfund
nen in UK fielen schon Ende 2018 erheblich, das Pfund steht vor einer    Einkommensverlust im Fall einer Schottland-Unabhängigkeit erleiden
starken BREXIT-bedingten Abwertung. Die Bank von England erwar­          werde und für jeden gelte, dass er bzw. sie alle EU-Mitgliedschaftsvor­
tet bei einem BREXIT einen deutlichen Anstieg der Inflationsrate und     teile verliere, gab es in der Cameron-Broschüre von 2016 beim EU-Re­
auch der Arbeitslosenquote.                                              ferendum keinerlei entsprechende Info: Obwohl doch ein Gutachten

                                                                                                                       » bdvb aktuell Nr. 144 «    21
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

     des Finanzministeriums vorlag, das besagte, dass im BREXIT-Fall mit      sektoralen Risikoprämien im Bankensektor und einigen Industriesek­
     Verhandlungseinigung UK–EU etwa 10 % Einkommensdämpfungsef­              toren in UK beiträgt, wobei diese Prämie als Unterschied zwischen
     fekt kommen (zu Details: Welfens, P., BREXIT aus Versehen, 2. A).        dem Unternehmensanleihezins und dem Staatsanleihezins definiert
                                                                              ist. Im Übrigen: Ein Anstieg des UK-Zinssatzes um 0,3 % erhöhte die
     Welches Referendumsergebnis hätte sich ergeben, wenn die Wähler­         staatlichen Zinsausgaben so, dass die Zusatzbelastung dem EU-Net­
     schaft die Info über einen zu erwartenden 10 %-Einkommensrückgang        tobeitrag von UK entspricht. Ein Anstieg der Risikoprämie im Banken­
     gehabt hätte? Ein Blick auf eine Standard-UK-Popularitätsfunktion, die   sektor erhöht die Kapitalkosten der Banken und trägt daher zu einer
     den Zusammenhang von realem Einkommenswachstum und Regie­                Zinserhöhung bei Unternehmenskrediten bei, was wiederum Investi­
     rungspopularität abbildet, ergibt das „Normalergebnis“ 52,1 % pro EU.    tionen und Wachstum dämpft. UK hat also ein vermindertes Wachs­
                                                                              tum zu erwarten, auf eine May-Regierung wohl mit einer Minderung
     In Sachen Fakten gab es schon im Referendums-Wahlkampf im Früh­          der Körperschaftssteuersätze und einer Banken-Deregulierungswelle
     jahr 2016 erhebliche Probleme, da eine häufige Behauptung von            reagieren dürfte. Damit gäbe es eine UK-Parallelpolitik zu den USA
     BREXIT-Befürwortern hieß: Nach dem EU-Austritt werde man den             unter Präsident Trump.
     britischen Wochenbeitrag von 350 Millionen Pfund an die EU dem­
     nächst ins Nationale Gesundheitssystem NHS stecken. Die Zahl ist         UK will, dem May-Vorschlag eines Projektes Global Britain folgend,
     jedoch grob falsch, da ja nur der weniger als halb so große Nettobei­    auch vermehrte Verhandlungen mit anderen Ländern zwecks Ab­
     trag für das NHS verfügbar wäre. Denn jede britische Regierung wird      schluss neuer Freihandelsabkommen durchführen. Allerdings wird
     ja aus der nationalen Regierungskasse künftig, nach dem EU-Aus­          dies, vom wohl einfachen UK-USA-Fall abgesehen, schwierig wer­
     tritt, die bisherigen EU-Zahlungen an britische arme Regionen, be­       den, da im Fall von Konfliktfällen eine funktionsfähige Welthandels­
     stimmte Universitäten und forschende Unternehmen ersetzen. Der           organisation WTO benötigt wird – denn wie sollte etwa ein Handels­
     Chef des Statistikamtes, Sir David Norgrove, schrieb in dieser Sache     konflikt UK–China gegebenenfalls sonst vernünftig gelöst werden.
     einen kritischen offenen Brief an Außenminister Johnson am 17.           Aber die USA unter Trump sind darauf aus, den Multilateralismus und
     September 2017, nachdem Johnson die falsche Zahl von 350 Millio­         die Rolle internationaler Organisationen zu schwächen.
     nen in einem Zeitungsbeitrag wiederholt hatte.
                                                                              Hat UK besondere Reformoptionen? Zu den BREXIT-Analysen beige­
     Zu den großen Impulsthemen beim EU-Referendum gehörten Fragen            tragen hat hier auch Felbermayr, der im Ifo-CGE-Modell unter ande­
     der Zuwanderung. May selbst schrieb als Premierministerin im White       rem die Wirkung eines Importzollsatzes 0 für UK untersucht und den
     Paper zum BREXIT in 2017, dass die EU-Zuwanderung eine langfristi­       sich ergebenden britischen Konsumrückgang von nur 0.5 % für die­
     ge Bürde für UK gewesen sei. OECD-Analysen zeigen das klare Ge­          sen Fall als günstige Option bei einem No-Deal-BREXIT einstuft
     genteil: hoher positiver Netto-Budgeteffekt für UK.                      („hard but smart“). Der Rückgang des Konsums in der EU wird für den
                                                                              Fall einer solchen britischen Politik mit 0,6 % angegeben, so dass der
     Aus Europäisches Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen      BREXIT für UK und die EU etwa gleich schlecht wirkt – anders als in
     (EIIW)-Analysen geht hervor, dass der BREXIT zu einem Anstieg der        vielen Standard-Analysen, wo etwa der reale Einkommensrückgang

22     » bdvb aktuell Nr. 144 «
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

                                                                           „In Sachen Fakten
                                                                     gab es schon im Referendums-
                                                                    Wahlkampf erhebliche Probleme“

                                                       eren nachteilig: etwa Staus in beide Handelsrich­
                                                       tungen, auch Vorprodukte für den Export in die EU
                                                       betreffend. BREXIT-bedingt steigende Risikoprämi­
                                                       en in einigen Sektoren der britischen Wirtschaft
                                                       wirken als Kostenerhöhung, was die Exporte
                                                       dämpft. Demgegenüber wäre eine Null-Importzoll­
                                                       politik in UK ein Dämpfungseffekt beim Preisniveau,
                                                       allerdings auch ein Schock für den Strukturwandel.

                                                       Die EU27 bzw. die Eurozone hat einen Leistungs­
                                                       bilanzüberschuss gegenüber UK, während UK nur in
                                                       der Dienstleistungs-Bilanz einen Überschuss gegen­
                                                       über der EU hat. Da der Zugang britischer Banken
                                                       zum EU-Markt sich aber bei jeder Art von BREXIT
                                                       verschlechtert, wird sich der britische Dienstleis­
                                                       tungsbilanzüberschuss nach dem BREXIT vermin­            AUTOR
                                                       dern, die Leistungsbilanzposition von UK gegebenen­
                                                                                                                Prof. Dr. Paul J. J. Welfens
                                                       falls verschlechtern. UK hatte 2017/18 ein Handels-      Vorsitzender des bdvb Forschungsinstituts
                                                       und Leistungsbilanzdefizit und wird nach dem BREXIT      und Präsident des EIIW/Universität
                                                       daher – und erst recht bei einer Null-Zollsatz-Politik   Wuppertal, Lehrstuhl Makroökonomik und
                                                       – ein erhöhtes Leistungsbilanzdefizit haben.             Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische
                                                                                                                Integration

                                                       Negative Einkommens- und Wohlfahrtseffekte des
                                                       BREXIT sind in mehreren Modellierungen für UK
                                                       berechnet worden. Die EU27-Wirtschaft hätte auch
                                                       einen Dämpfungseffekt. Da die EU 1/5 des ökono­
in UK stets deutlich größer ausfällt als für die EU.   mischen Gewichtes durch den BREXIT verliert und
Die Ifo-Zahlen basieren allerdings auf einem Mo­       da hier überhaupt erstmalig ein EU-Austritt erfolgt,
dell mit gegebenem Einsatz an Kapital und Arbeit in    ist die Europäische Union gut beraten, ein durch­
UK, was gerade für die ersten Jahre nach BREXIT        dachtes Reformprogramm zu entwickeln. Das sollte
sehr unplausibel ist: Wenn die Arbeitslosenquote       u.a. durch ein Mehr an Mitgliedernutzen durch eine
deutlich ansteigt, sinkt der gesamtwirtschaftliche     bessere Aufgaben-Verteilung sowie eine erhöhte
Konsum um weit mehr als 0,5 %, und es besteht          Intensität des politischen Wettbewerbs zu errei­
kein Zweifel, dass der BREXIT kein kleiner, margi­     chen sein. Ein eigenes Eurozonen-Budget wäre
naler Schock für Angebots- und Nachfrageseite          nützlich, besonders wenn hier ein Teil der Infra­
wäre. Ein UK-Importzollsatz 0 heißt zudem für UK       struktur- und Verteidigungsausgaben finanziert
massiven Strukturwandel, der sicherlich auch keine     würde – dann wäre die EU für Wähler sichtbarer,
Vollbeschäftigungswelt wäre.                           der politische EU-Wettbewerb stärker; und die Nei­
                                                       gung zum Wählen kleiner radikaler Parteien gerin­
Das Ifo-CGE-Modell erlaubt keine belastbaren BRE­      ger, worauf die Forschungsgruppe Wahlen hin­
XIT-Schlussfolgerungen. Null-Import-Zoll für UK bei    weist. Ein intensivierter Politikwettbewerb heißt
einem No-Deal-BREXIT ist technisch und von den         höhere Politikeffizienz in Brüssel, was im Sinn ei­
WTO-Regeln her möglich, aber da die UK-Exporte zu      nes dynamischen Subsidiaritätsprinzips ist. Die
45 % in die EU gehen und dort ab 2020/2021 bis auf     Stärkung des politischen Wettbewerbs in der Mitte
Weiteres Importzölle zu zahlen sind, dürfte sich ein   ist zudem in Zeiten des Populismus ein stabilisie­
hohes UK-Leistungsbilanzdefizit ergeben. Zudem         render Pluspunkt. Zu viel EU zu früh, etwa bei einer
sind für UK-Exporteure Richtung EU Nicht-Zollbarri­    EU-Einlagensicherung, wäre wiederum unklug. «

                                                                                                                      » bdvb aktuell Nr. 144 «   23
AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
GESPRÄCH

     „Ökonomen müssen
     wieder mutiger werden“

     Wie geht es der deutschen Wirtschaft und welche Rolle müssen Ökonomen in der heutigen
     Gesellschaft spielen? Was bringt der Brexit, wie ist Deutschland in Europa vertreten und was
     ist von einem „KI-Airbus“ zu halten? Themen gab es zur Genüge, als sich bdvb-Präsident
     Malcolm Schauf und Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, in Köln zum
     Meinungsaustausch trafen.

     bdvb aktuell: Es gibt vieles, worüber Ökonomen dieser Tage                  te, weil die Aufträge überhaupt nicht mehr abgearbeitet werden können.
     sprechen können. Aber vielleicht beginnen wir einfach mit einer             Den Brexit sehe ich kritisch, er ist ein unkalkulierbares Risiko und könnte
     Einschätzung der wirtschaftlichen Lage?                                     uns in die Rezession führen. Ich fürchte manchmal, die Menschen haben
     Michael Hüther: Zum Jahreswechsel 2017 auf 2018 hatten alle Vorlauf­        nur deshalb noch Vertrauen in die Lage, weil ihnen nicht bewusst ist, wie
     indikatoren den Höhepunkt erreicht. Seitdem beobachten wir eine Ni­         ernst es ist. Man mag sich nicht vorstellen, was im Falle einer Rezession
     veaurückbildung im Einkaufsmanagerindex, im Geschäftsklima, in den          passieren würde – denn die Mittel der Geldpolitik sind ausgereizt.
     Auftragseingängen und im Konsumentenvertrauen. Das äußert sich in ei­
     ner geringeren konjunkturellen Dynamik. Erstaunlich ist, dass der Konsum    Michael Hüther: Sicherlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Rezession
     den schwächelnden Faktor darstellt – und das trotz einer stabilen Be­       gestiegen. Doch die schlechte Stimmung ist von den tatsächlichen Fakten
     schäftigungslage und einem durchschnittlichen Reallohnwachstum von          entkoppelt. Das Geschäftsklima ist im Vorjahresvergleich stark abgesun­
     zwei Prozent in den letzten drei Jahren. Wir gehen aber nicht von einer     ken, während Investitions- und Beschäftigungsabsichten sich nach wie
     Rezession aus, auch wenn Donald Trump und der Brexit zusätzliche Unsi­      vor auf einem hohen Level bewegen. Meine These ist, dass Unternehmen
     cherheitsfaktoren darstellen.                                               Investitionen im Zuge der digitalen Transformation nicht aufschieben kön­
                                                                                 nen, weil sie sonst ins Hintertreffen geraten. Und die Beschäftigung
     Malcolm Schauf: Wir dürfen aber nicht übersehen, dass sich Rahmen­          bleibt stabil wegen des Fachkräftemangels. Ergo: Die Gefahr einer Rezes­
     bedingungen verändern. Ich weiß von Unternehmen, die quasi jeden ein­       sion ist gegeben, aber die schlechte Stimmung kann sich wieder verflüch­
     stellen, der einigermaßen auf das Stellenprofil passt, und zur Not diesen   tigen. Und auf den Brexit sind die großen Unternehmen bereits gut vorbe­
     eben nachqualifizieren. Handwerker unterbreiten bereits Abwehrangebo­       reitet.

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