SOLIDARISCHE ALTERSVORSORGE UND DEMOKRATISCHE VERTEILUNG - Hans-Böckler-Stiftung

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SOLIDARISCHE ALTERSVORSORGE UND DEMOKRATISCHE VERTEILUNG - Hans-Böckler-Stiftung
DOSSIER
Nr. 4, Januar 2020

SOLIDARISCHE
ALTERSVORSORGE UND
DEMOKRATISCHE VERTEILUNG
Hilmar Höhn

FEHLENDE SICHERHEIT FÜR ZU VIELE                        Weitere Säulen der Alterssicherung korrigieren
                                                        diese Verteilung kaum. Besserung bringen sie vor
                                                        allem „rentenreichen” Senioren: Im Westen der
Unter welchen Umständen gelingt den Vielen in einer     Republik konzentrieren sich die Alterseinkommen
Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben? Wann hört      in einem Bereich zwischen 900 und 1700 Euro, im
das Gute Leben auf, für sie ein abstraktes Konzept zu   Osten zwischen 1300 und 1500 Euro (BMAS 2). In
sein?                                                   Großstädten ist davon schlecht leben (Höhn,
   2011 versuchte die Soziologin Petra Böhnke nach      2019).
sorgfältiger Analyse eine Antwort: Voraussetzung sei       Bei Vermögen sieht es wenig besser aus. „Zwi-
der freie Zugang zu Bildung, eine möglichst gleiche     schen 2011 und 2015 betrug das nominale Wachs-
Verteilung der Einkommen und die umfassende Teil-       tum” privater Vermögen „fast zwei Billionen” und
habe aller am gesellschaftlichen Leben. Viele Fakto-    erreichte ein Volumen von 4,8 Billionen Euro. Der
ren entscheiden darüber, ob eine Gesellschaft den       unteren Hälfte der Bevölkerung gehörte und ge-
„Anspruch an ein selbstbestimmtes Leben” einlösen       hört nichts, den oberen zehn Prozent mehr als die
könne (Böhnke, 2011).                                   Hälfte der Privatvermögen (Bundesregierung
   Wie gut und glaubwürdig ist das Versprechen auf      2018).
Sicherung des Lebensstandards im Alter organisiert?        Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien rin-
   Die groben Befunde: Die mittlere Rente von Män-      gen seit Jahrzehnten um eine Alterssicherung mit
nern betrug 2018 etwas mehr als 1100 Euro im Mo-        Zukunft. Vor Armut soll sie die einen schützen, in
nat, Frauen kamen nur auf 716,39 Euro (BMAS 1,          Zeiten millionenfach gezahlter Armutslöhne keine
2018). Lediglich einem Viertel der Neuzugänge unter     Petitesse. Den anderen den Lebensstandard be-
den Rentnern stehen monatlich mehr als 1500 Euro        wahren. Dieses Dossier untersucht den Stand von
aus der Rentenkasse zur Verfügung, bei Rentnerin-       Renten und Vermögen, arbeitet die Verbindung
nen ist die soziale Schieflage noch deutlicher: Keine   der beiden Themen heraus und skizziert die Kon-
sieben Prozent liegen jenseits der Schwelle von 1500    zepte, die öffentlich diskutiert werden. Sind sie
Euro (IAQ 1, 2019). Selbstbestimmung braucht eine       Bausteine für eine Gesellschaft, die wieder in ihrer
materielle Grundlage. Die ist im Alter für zu viele     Mitte zusammenwächst? Oder sind sie geeignet,
nicht gegeben.                                          das Demokratische weiter zu untergraben?
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INHALT

                        Fehlende Sicherheit für zu viele              1    Kapitel 3:
                                                                           Reformen für eine starke Gesellschaft        26
                        Kapitel 1                                          3.1 Sind Renten Vermögen?                    26
                        Weiter so reicht nicht                        3    3.2 Veteranen der Debatte bestimmen noch
                        1.1 „Die Menschen vertrauen                        immer die Diskussion über die Zukunft
                        dieser Versicherung“                           3   des Rentensystems                            27
                        1.2 „Die Arbeit macht die Leute kaputt“        4   3.3 Abkehr von einer rein ökonomischen
                        1.3. Rente muss für ein Gutes Leben reichen    4   Betrachtung des Rentensystems                28
                        1.4 Die Grundrente schützt nicht vor                    Renten aus Übersee                      29
                        Armut aber die Ärmsten der Armen vor                 		 „Es braucht Sicherheit im Alter“        30
                        dem Gang zum Amt                               5   3.4 Ein öffentlich-rechtliches Angebot für
                        1.5 Betriebliche Altersvorsorge:                   zusätzliche betriebliche Altersvorsorge?     34
                        Ein unterentwickeltes System                   6   3.5 Grüne setzen auf öffentliche Fonds, um
                        1.6 Die doppelte Rentengarantie schafft            Betriebsrenten zum Durchbruch zu verhelfen 35
                        lediglich Zeitgewinn                           7   3.6 Linke legt Fokus allein auf die Stärkung
                              Felix Austria                            8   der gesetzlichen Rente                       35
                        1.7 Heutige Voraussagen spiegeln                   3.7 FDP für wirkungsvolle Tarifverträge      36
                        arbeitsmarkt- und sozialpolitische                 3.8 AfD ohne Rentenkonzept, dafür heillos
                        Fehler der Vergangenheit wider                10   zerstritten		                                36
                        1.9 Jenseits der drei Rentensäulen geht            3.9 Die Parteien der Koalition im Bund
                        es im Alter noch ungleicher zu                11   vertagen Grundsatzentscheidungen             37
                        1.10 Vermögen sind extrem ungleich v               3.10 Gewerkschaften und DGB positionieren
                        erteilt – in jedem Lebensalter                12   sich für Debatte, Arbeitgeberverbände sind
                        1.11 Betriebsrenten sichern Lebensstandard         reserviert		                                 37
                        aber vertiefen ungleiche Verteilung           13        Früher raus ohne Abschläge              41
                        1.12 Tarifliche Sozialpolitik:
                        Ein neues Arbeitsfeld für Gewerkschaften      13   Schlussbemerkung:
                        1.13 Verpflichtung zu Betriebsrenten               Eine solidarische Altersvorsorge und
                        nicht mehr ausgeschlossen -                        mehr Gleichheit in der Verteilung sind
                        Metallrente im Aufwind                        14   eine Bedingung für die Demokratie           42
                        1.14 Die Deutschen haben Angst vor
                        dem Altern - wissen aber nicht so recht,           Bibliographie                               45
                        wie es um ihre Altersvorsorge steht           17
                              Unternehmen legen Geld auf die               Ausgewählte Begriffe für die
                        hohe Kante		                                  18   Rentendiskussion                            48

                        Kapitel 2                                          Über den Autor                              50
                        Verlorene Jahrzehnte                          19
                        2.1 „Quantensprung“ im Rentensystem           19
                        2.2 Reform-Dauerbaustelle Rente               20
                        2.3 Der Bundeszuschuss zur
                        Rentenversicherung ist zu niedrig             21
                        2.4 Wenige können viel zurücklegen            22
                             Goldene Jahre voraus?                    25

Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 2
SOLIDARISCHE ALTERSVORSORGE UND DEMOKRATISCHE VERTEILUNG - Hans-Böckler-Stiftung
Kapitel 1
WEITER SO REICHT NICHT
Die Entwicklung der Rente spiegelt mit der Zeitverzögerung von Jahrzehnten die Entwick-
lung von Arbeitsmarkt und Gesellschaft wider: Waren die Einkommen solide, sind es auch
die Renten. Steigt der Anteil der Alten, muss mehr Geld ins System fließen oder die Ren-
tenversicherung gerät unter Druck. Steigen hingegen die Einkommen und wächst auch die
Zahl der Beschäftigten, stabilisiert dies das Rentensystem und gleicht zunächst die Alte-
rung aus. Viele Beschäftigte sorgen über die Beiträge zur „Gesetzlichen“ hinaus für das Al-
ter vor: Wohneigentum oder Genossenschaftsanteile als Schutz vor steigenden Mieten im
Alter, eine langjährig geführte Lebensversicherung und ein Konto bei der Bank können das
Gefühl von Sicherheit verstärken. Weil die Gesellschaft jedoch immer weiter in eine Hälfte
zerfällt, die wenig bis nichts hat, und eine Oberschicht, an deren Spitze sich die Vermögen
bündeln, geht es gerade im Alter besonders ungerecht zu: Niedrige Renten und geringe
Rücklagen treffen meist die gleichen Personen. Das ist eines von diesen vielen Details der
Skizze eines reichen Landes, dem die soziale Balance zusehends abhandenkommt.

1.1 „Die Menschen vertrauen                           ser” nannten, ist heute im Ruhestand. Wie man so
dieser Versicherung“                                  sagt. Der 65jährige Mann aber ruht nicht. Er enga-
                                                      giert sich weiter für die sozialen Rechte von Bürge-
48 Jahre lang ist Helmfried Hauch nun schon Ge-       rinnen und Bürgern. Vor allem die Älteren hat er im
werkschaftsmitglied. Der gelernte Industriekauf-      Blick. 2006 war es, da seien Kollegen von der Ver-
mann hat zuletzt bei der Berliner Stadtreinigung      einten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit der
gearbeitet. Dort war er Personalrat. Vor allem je-    Bitte an ihn herangetreten, er möge als Versicher-
doch hat er sich als Schwerbehindertenvertreter       tenberater in der Deutschen Rentenversicherung
um die Belange der Leute gekümmert, deren Leis-       (DRV) tätig werden. Ehrenamtlich.
tungsfähigkeit aus irgendeinem Grund einge-              Hauch ist inzwischen selbst Rentner. In seinem
schränkt war.                                         Haus am Rande von Berlin berät er, wer im Um-
   Nach Jahrzehnten auf dem Müllfahrzeug oder         kreis von 20 Kilometern wohnt und Fragen zu sei-
mit dem Besen auf dem Gehweg „sind viele ein-         ner Rente hat. Oder wer Hilfe beim Ausfüllen des
fach fertig“, sagt der gebürtige Saarländer. Hauch,   Antrags auf Rente benötigt. Helmfried Hauch un-
den sie wegen seines Bürojobs einen „Sesselpup-       terstützt außerdem Kolleginnen und Kollegen aus

                                                                                                    Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 3
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seiner Gewerkschaft bei Rentenanträgen. So ist er      CDU, CSU und FDP – damals in der Opposition –
                        für viele die Deutsche Rentenversicherung, deren       ging der Einschnitt nicht weit genug. Viele, vor al-
                        Beschäftigte oder Gebäude die Versicherten kaum        lem arbeitgebernahe Politiker, wünschten sich da-
                        je zu Gesicht bekommen.                                mals einen Kulturbruch. Warum eine gesetzliche
                            „Die Menschen vertrauen dieser Versicherung”,      Rente, wenn die Börsen der Welt boomen?
                        sagt Hauch. Und das obwohl die durchschnittli-
                        chen Rentenbescheide später Summen zwischen
                        1100 und 1300 Euro ausweisen. „Nicht viel Geld,        1.2 „Die Arbeit macht die Leute kaputt“
                        nicht?”, sagt Hauch. Doch viele Versicherte hätten
                        noch schlechtere Erfahrungen bei dem Versuch           Versichertenberater Hauch sitzt in seinem Home­
                        gemacht, mit Hilfe sogenannter Riester-Rentenver-      office, die Regale voll mit Beratungsliteratur, For-
                        sicherungen ein kleines Polster aufzubauen. Bei        mulare hat er jederzeit griffbereit. „Die Arbeit macht
                        vielen war außer Spesen nichts gewesen.                die Leute kaputt.” Sagt er. 99 von 100 Müllwerkern
                            Entsprechend entwickelt sich das Geschäft mit      erreichten das reguläre Alter für den Eintritt in die
                        diesen Policen: Erst ein paar Jahre auf dem Markt,     Rente nicht. In diesem Jahr liege es bei 65 Jahren
                        brach in Folge der geringen Attraktivität des Ange-    und acht Monaten. „Mit 60, bei wenigen auch erst
                        botes das Geschäft mit ihnen ein. Von 2007 auf         mit 63 ist das Ende der Arbeitsfähigkeit erreicht.”
                        2008 um minus 24,1 Prozent, von 2008 auf 2009             Wer auf dem Müllauto fährt, muss die Müllton-
                        ging es noch einmal um 26,1 Prozent abwärts. Und       nen holen. So ist das in Berlin. „Die stehen hier
                        so weiter. Wurden 2008 dennoch 1,5 Millionen           nicht an der Straße.” Manchmal laufen die Kollegen
                        neue Verträge an die Frauen und Männer mit dem         durch drei Hinterhöfe, bis sie die schweren Tonnen
                        Versprechen gebracht, sie könnten auf diese Wei-       aus einem Keller hoch und dann zur Straße ziehen.
                        se ihre Rentenlücken schließen, waren es 2017          „In einigen Teilen der Stadt wird noch viel mit Koh-
                        noch 284.000. Ein Rückgang gegenüber 2016              le geheizt. Dort sind die im Winter besonders
                        nochmals um 17,9 Prozent. (GDV 2019)                   schwer.”
                            Das Neugeschäft kann die Flucht aus den zwar          In der Regel sei es die Wirbelsäule, die nicht
                        staatlich geförderten, dank hoher Verwaltungskos-      mehr mitmache. Das gelte auch für jene seiner Kol-
                        ten und niedriger Verzinsung jedoch wenig attrak-      legen, die die Gehwege sauber fegten. „Ein Stra-
                        tiven Produkten kaum ausgleichen. 2017 lag der         ßenkehrer muss pro Schicht 4,5 Kilometer Kanten-
                        Bestand an Policen bei 10,6 Millionen, 2016 bei        länge fegen.” In Berlin sind die Bürgersteige breit,
                        10,7 und lange Jahre bei etwas mehr als 10,8 Milli-    drei, manchmal viermal laufen die Männer und
                        onen Verträgen im Bestand, wie der Gesamtver-          manchmal auch Frauen die Strecke auf und ab. 20
                        band der Versicherungswirtschaft (GDV) feststellt.     Kilometer und länger auf hartem Asphalt. „Das hält
                        Noch steigen die eingezahlten Beiträge. Aber vom       doch kein Mensch bis 65 durch.”
                        Boom der früheren Jahre ist wenig übrig. 2008 lag         Nicht alle müssen Abschläge in Kauf nehmen.
                        das Beitragsniveau mit 4,6 Milliarden Euro noch        Viele haben sehr früh angefangen zu arbeiten und
                        38,8 Prozent über dem Vorjahr. Aber das war auch       „haben mit 61, 62 ihre 45 Versicherungsjahre auf
                        das Ende der großen Bonanza. 2017 lagen die Bei-       dem Buckel”. Oder sie müssen schon früher, als
                        träge nur 0,4 Prozent über dem Level von 2016. Die     Versehrte der Arbeit, in die Erwerbsminderungs-
                        Einnahmen stagnieren seit Jahren bei etwas mehr        rente gehen.
                        als 5,6 Milliarden Euro.                                  Was seit 1. Januar 2019 nicht mehr zu so hohen
                            Kaum besser sehen die Zahlen des Wirtschafts-      finanziellen Einbußen bei der Rente führt, wie Jahre
                        verbandes der Versicherungswirtschaft für die so-      zuvor. Denn, sagt Helmfried Hauch, jetzt wird die
                        genannte Basisrente aus, die sich an Höherverdie-      Erwerbsminderungsrente so berechnet, als hätte
                        ner richtet. Schmackhaft wollten die einstigen Mi-     ein Versicherter bis zum regulären Renteneintritt
                        nister Hans Eichel und Walter Riester die Beiträge     bezahlt.
                        machen, indem sie das zu versteuernde Einkom-             Für 1,8 Millionen Rentnerinnen und Rentner, die
                        men kürzen sollten. Doch auch die Basisrente ist       schon vor diesem Stichtag raus mussten aus der
                        kein lohnendes Geschäft mehr. Verträge und Bei-        Arbeit, weil es einfach nicht mehr ging, kam die Re-
                        tragszahlungen stagnieren weitgehend.                  form von Hubertus Heil zwar zu spät. Aber immer-
                            Helmfried Hauch berät bei diesen Policen nicht.    hin, sagt Hauch, es tut sich was. Doch dazu später.
                        Sind ja keine Sache der „Gesetzlichen“. Ihren Kun-
                        den zu erklären, was schiefgelaufen ist, sei Angele-
                        genheit der Versicherer.                               1.3. Rente muss für ein Gutes Leben reichen
                            Es ist aber eine Angelegenheit der Politik. Denn
                        die steht vor einem Scherbenhaufen. Noch vor           Die Rente und ihre Organisation sind seit Jahrzehn-
                        zwanzig Jahren wollte die damalige rot-grüne Koa-      ten ein Dauerthema in Wahlkämpfen. Verständli-
                        lition die Menschen in private Altersvorsorgever-      cherweise. Bei der Frage, wovon man im Alter le-
                        träge hineinfördern – dazu wurde sogar die Ent-        ben soll, sind die Menschen besonders sensibel.
                        wicklung der gesetzlichen Rente ausgebremst.           Denn anders als bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit

Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 4
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gibt es nach dem Wechsel in die Rente kein Zurück                        Beim Blick in das der Reform zugrunde liegende
mehr in die Arbeit und damit auch keine Möglich-                         Zahlenwerk tut sich mehr als nur eine Kluft zwi-
keit, die materielle Lage noch einmal spürbar und                        schen Arm und Reich auf. Es sind vor allem Frauen,
dauerhaft zu verbessern. Ist der Rentenbescheid da,                      die von Altersarmut betroffen sind: Im aktiven Le-
ist das Einkommen - von den jährlichen Anpassun-                         ben hatten sie keinen vollen Zugang zum Arbeits-
gen abgesehen - bis zum Lebensende vorgezeich-                           markt, wurden abgedrängt in schlecht bezahlte Be-
net. Deswegen muss die Rente auch zu einem Gu-                           rufe, häufig in Teilzeit und arbeiteten mit Unterbre-
ten Leben reichen.                                                       chungen.
    Für zu viele Menschen reicht sie jedoch nicht.                          Im Gesetzentwurf (Stand Mai 2019) hieß es über
Als Bundesarbeitsminister Hubertus Heil anfang                           den Kreis der Bezieher: Nur fünf Prozent aller Män-
2019 ein Modell für die Grundrente entwickeln ließ,                      ner sind von Armut im Alter betroffen. Aber jede
rechnete die Deutsche Rentenversicherung (DRV)                           vierte Frau (BMAS 3, 2019).
für sein Haus aus, wie viele Rentner schon heute                            Dass für mehr als zehn Prozent der rund 24,5
von ihrer Einführung profitieren würden.                                 Millionen Rentnerinnen und Rentner die Rente
    Keine einfache Rechnung. Denn, so der Plan von                       nicht zum Leben in Würde ausreicht, passt nicht zu
Heil, die Grundrente wird individuell berechnet.                         einem modernen Verständnis eines Sozialstaates.
Wer sie beziehen will, muss mindestens 35 Jahre                          „Es geht nicht um Almosen”, so der Bundesar-
lang aus regulärer Arbeit, Kindererziehung oder                          beitsminister im Interview mit der Neuen Osnabrü-
Pflege Rentenpunkte gesammelt haben. Und diese                           cker Zeitung (Heil, 2019). „Die Menschen, die von
sollten dann erhöht werden. Und zwar so, dass                            der Grundrente profitieren sollen, haben sich die
etwa ein Mann, der sich 35 Jahre lang zu schlech-                        Leistung erworben.” Vielleicht hatten sie einen
tem Lohn als Hilfsarbeiter durchs Leben schlagen                         schmalen Lohn. Oder arbeiteten Teilzeit. Aber sie
musste, nun nicht mehr mit einer Rente von 463                           haben dazu beigetragen, dass das Land heute so
Euro zum Sozialamt gehen und aufstocken muss.                            gut entwickelt ist. Auf der faulen Haut lagen sie
Er erhält stattdessen 868 Euro. So rechnet das Bun-                      nicht.
desarbeitsministerium,                                                      Finanziert werden soll die Grundrente durch ei-
    Fast so viel wie eine Angestellte, die zu DDR-Zei-                   nen höheren Zuschuss des Bundes zur Rentenver-
ten einen gut bezahlten Beruf hatte, für die die                         sicherung – also aus Steuermitteln.
Wende jedoch einen wirtschaftlichen Abstieg be-
deutete. Statt 746 Euro Rente wird sie durch Hinzu-
rechnung ergänzender Rentenpunkte 941 Euro im                            1.4 Die Grundrente schützt nicht vor Armut,
Monat bekommen. (BMAS 3)                                                 aber die Ärmsten der Armen vor dem Gang
    Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die Spitzen                     zum Amt
der Koalitionspartner CDU und CSU bereit waren,
den Weg mitzugehen – allerdings hatten sie auf Ab-                       Die Grundrente selbst schützt nicht vor Armut son-
strichen bestanden. Von der nun vereinbarten                             dern die Ärmsten der Armen vor dem Gang zum
Grundrente werden nicht mehr rund 2,9 Millionen                          Sozialamt. Mehr nicht. Denn: Auch über der
Frauen und Männer, sondern 1,2 bis 1,5 Millionen                         Schwelle zur Grundrente geht es bescheiden zu.
profitieren.                                                             Um das zu zeigen, hat das Institut für Arbeit und

Verteilung der Altersrenten im Zugang, Deutschland 2018                                                                  Männer
monatliche Zahlbeträge am Jahresende; Männer und Frauen, Anteil in %                                                     Frauen

25
                              24,2
                                             23,1

20
                                                                      18,7
               18,9
                                                      17,5
                                                             16,8
15
        13,9
                                      13,1                                              13,5

10                     10,9                                                  10,6
                                                                                                     8,3

  5
                                                                                               4,6
                                                                                                           1,5
                                                                                                                 4,1
  0

      unter 300        300-600        600-900        900-1.200      1.200-1.500 1.500-1.800 1.800-2.100 2.100-2.500    >2.500

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Statistikportal, eigene Berechnungen

                                                                                                                         Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 5
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Monatliches Nettoeinkommen im Alter ab 65 Jahren nach Haushaltstyp

                         Haushaltstyp                                            Deutschland                  Alte Länder               Neue Länder
                         Ehepaare                                                      2.543 €                    1.614 €                   1.420 €
                         alleinstehende Männer                                         2.611 €                    1.661 €                   1.431 €
                         alleinstehende Frauen                                         2.260 €                    1.394 €                   1.372 €

                        Quelle: Bundesministerium für Arbeit, Altersicherungsbericht 2016

                        Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ)                       fängt die eigene Alterssicherungsleistung nur aus
                        die Zahlen der Rentenversicherung sozial und nach                        einem System (65 Prozent)”. Das sind 60 Prozent,
                        Geschlechtern abgeschichtet. Danach erhalten                             die ausschließlich von ihrer gesetzlichen Rente le-
                        Frauen aus der gesetzlichen Altersvorsorge derzeit                       ben und fünf Prozent, die eine ungleich höhere Be-
                        im Schnitt Beiträge zwischen 300 und 1200 Euro.                          amtenpension oder Rente von der Knappschaft, ei-
                        Bei Männern verschiebt sich die Kurve etwas. Män-                        nem Versorgungswerk, der Alterssicherung der
                        ner, die derzeit in Rente gehen, haben meistens                          Landwirte oder der Künstlersozialkasse erhalten.
                        noch ein langes Arbeitsleben mit nur wenigen Un-                            Nur 15 Prozent der aktuellen Rentner-Generati-
                        terbrechungen etwa durch Arbeitslosigkeit hinter                         on verfügt über ein zusätzliches Einkommen aus
                                                                                                 einer betrieblichen Altersvorsorge. Weitere zehn
                                                                                                 Prozent profitieren von der Zusatzversorgung des
                                                                                                 Öffentlichen Dienstes.

                                                                                                 1.5 Betriebliche Altersvorsorge:
                                                                                                 Ein unterentwickeltes System

                                                                                                 Auch bei den Alterseinkommen gibt es eine tiefe
                                                                                                 Kluft, die Frauen und Männer, aber auch Ost- und
                                                                                                 Westdeutsche trennt:
                                                                                                    Frauen etwa beziehen nicht nur geringere Ren-
                                                                                                 ten, sie haben auch seltener Zugang zu einer zusätz-
                                                                                                 lichen Alterssicherung. Und in den ostdeutschen
                                                                                                 Bundesländern ist die gesetzliche Rente für drei
„Es geht nicht um                                                                                Viertel der Rentner und die Hälfte der Frauen die
        Almosen.“                                                                                einzige Einkommensquelle. Die betriebliche Alters-
    Hubertus Heil,                                                                               vorsorge ist zwischen Ostsee und Erzgebirge eine
   Bundesminister                                                                                Rarität. Eine der Folgen einer auf Druck ostdeut-
         für Arbeit                                                                              scher Arbeitgeber unterentwickelten Kultur der Ar-
     und Soziales,                                                                               beit: Gerade einmal vier Prozent der Männer und
 stellvertretender                                                                               nur ein Prozent der Frauen im Rentenalter beziehen
       Bundesvor­                                                                                eine Rente aus einer betrieblichen Altersversiche-
sitzender der SPD                                                                                rung.
                                                                                                    Wenn alle Alterseinkommen zusammengerech-
                        sich. Dementsprechend liegen ihre Renten über                            net werden und Haushalte und nicht Rentnerinnen
                        dem Niveau der Frauen: zwischen 900 und 1800                             und Rentner einzeln betrachtet werden, korrigiert
                        Euro im Monat. (IAQ 1, 2019)                                             sich das Bild etwas. Dann liegen die Renten über je-
                           Freilich: Die Zahlen über die „gesetzliche Rente“                     nen Beträgen, welche die gesetzliche Rentenversi-
                        sind nicht mit den tatsächlichen Alterseinkommen                         cherung auszahlt. Ehepaare kommen im Westen
                        zu verwechseln. Ein Teil der Rentnerinnen und                            der Republik im Mittel auf etwas mehr als 2600, im
                        Rentner verfügen neben ihrer gesetzlichen Rente                          Osten auf 2260 Euro.
                        über weitere Einkünfte.                                                     Alleinstehende Männer in Westdeutschland
                           Wie die drei Säulen der Altersvorsorge, gesetzli-                     schaffen es auf 1661, in Ostdeutschland auf 1394
                        che, betriebliche und private Rentensysteme, inei-                       Euro. Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen in
                        nandergreifen, zeigt der alle vier Jahre erscheinen-                     den „Neuen Ländern”, wie sie im amtlichen Deutsch
                        de Alterssicherungsbericht (BMAS 2, 2016). Darin                         auch noch im dritten Jahrzehnt nach der Vereini-
                        heißt es allerdings im Unterschied zum gerne ver-                        gung genannt werden, führt zu monatlichen Ein-
                        breiteten Bild eines dreistufigen Rentensystems:                         kommen von 1372 Euro, im Westen verfügen Frau-
                        „Der größte Teil der 65-Jährigen und Älteren emp-                        en im Durchschnitt über 60 Euro mehr im Monat.

Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 6
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Anteil der GRV-Rente am Bruttoeinkommen nach Rentengrößenklassen

 Haushalte von                  Renten-               Anteil an den jeweiligen     Durchschn.       Durchschn. Haushalts-       Anteil der Rente am
                            größenklassen *)             Rentenbeziehern           Bruttorente        bruttoeinkommen           Gesamteinkommen
                                  Euro                              %                Euro                  Euro                          %
Ehepaare                             unter 250                            2                   159                 4.136                             4
                             250 bis unter 500                            4                   382                 3.689                            10
                             500 bis unter 750                            5                   623                 3.338                            19
                            750 bis unter 1.000                           6                   874                 3.043                            29
                          1.000 bis unter 1.500                          16                 1.266                 2.536                            50
                                      ab 1.500                           67                 2.171                 2.968                            73
                                        Gesamt                          100                 1.765                 2.971                            59
alleinstehende                        unter 250                           4                   153                 2.009                             8
Männer                        250 bis unter 500                           6                   371                 2.038                            18
                              500 bis unter 750                           7                   643                 1.396                            46
                            750 bis unter 1.000                          12                   883                 1.341                            66
                          1.000 bis unter 1.500                          37                 1.249                 1.614                            77
                                       ab 1.500                          34                 1.859                 2.255                            82
                                        Gesamt                          100                 1.278                 1.828                            70
alleinstehende                       unter 250                            3                   168                 1.652                            10
Frauen                       250 bis unter 500                            5                   391                 1.357                            29
                             500 bis unter 750                            8                   634                 1.278                            50
                            750 bis unter 1.000                          16                   877                 1.248                            70
                          1.000 bis unter 1.500                          40                 1.251                 1.537                            81
                                      ab 1.500                           28                 1.781                 2.054                            87
                                        Gesamt                          100                 1.223                 1.611                            76

*) Eigene und/oder abgeleitete Bruttorente der GRV

Quelle: Bundesministerium für Arbeit, Altersicherungsbericht 2016

Der steile Anstieg am Ende der Kurve zeigt, dass es                     sion bestehend aus Experten und Politikern einge-
sehr wenige an Einkommen Reiche im Rentenalter                          setzt. Sie soll einen „verlässlichen Generationen-
gibt. Es waren vor allem Selbstständige, die in ihrer                   vertrag” entwerfen. Er solle, heißt es im 2018 be-
aktiven Zeit reichlich Möglichkeiten hatten, ihr ar-                    schlossenen Koalitionsvertrag, „sich mit den
beitsloses Einkommen im Alter zu organisieren.                          Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung
    Doch nicht alle Selbstständigen waren dazu in                       und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversi-
der Lage. Nicht zuletzt ihretwegen haben Sozialpo-                      cherung und der beiden weiteren Rentensäulen ab
litiker seit Jahrzehnten versucht, sie unter den                        dem Jahr 2025 befassen”.
Schutzschirm der gesetzlichen Rente zu bekom-
men. So sollen Steuerzahler davor bewahrt wer-
den, für die fehlende oder unzureichende Alters-                        1.6 Die doppelte Rentengarantie schafft
vorsorge früherer Selbstständiger einstehen zu                          lediglich Zeitgewinn
müssen.
    Diese Zahlen zeigen: Auch wenn Betriebsrenten                       Bis dahin garantiert die Bundesregierung, …
oder privaten Rentensparpläne eine wichtige Rolle
für die Altersvorsorge spielen, die Hauptsäule der                      1. …dass jemand, der in 45 Arbeitsjahren 45 Ren-
Alterssicherung ist bis heute die gesetzliche Ren-                      tenpunkte erarbeitet hat, nicht weniger als 48 Pro-
tenversicherung.                                                        zent eines durchschnittlichen Arbeitseinkommens
    Um deren Zukunft es besser stehen könnte, wie                       bekommen darf (Rentenniveau).
das Beispiel unseres Nachbarlandes Österreich                           2. … dass die Beiträge zur Rentenversicherung die
zeigt (siehe Kasten Felix Austria). In unserem Nach-                    Marke von 20 Prozent nicht übersteigen und
barland, das sich von der Wirtschaftsstruktur nicht                     3. …dass bis dahin am Eintrittsalter in die Rente
wesentlich von Deutschland unterscheidet, errei-                        nicht gedreht wird.
chen die Renten ein viel höheres Niveau bei gemä-
ßigt höheren Beiträgen.                                                    Die Kommission tagt verschwiegen, nichts
    Um die Zukunft des deutschen Rentensystems                          dringt nach draußen. Immerhin geht es mit der
zu festigen, hat die Bundesregierung eine Kommis-                       Rente um ein volkswirtschaftlich relevantes Sys-

                                                                                                                          Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 7
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FELIX AUSTRIA
                       Österreichs Rentnerinnen und Rentner haben es besser. Wie in Deutschland ist die Hauptsäule
                       der Altersversorgung ein zwischen der beruflich aktiven und passiven Generation umverteilen-
                       des Rentensystem. Mit dem Unterschied, dass die ausgezahlten Renten in Österreich deutlich
                       höher als hierzulande liegen. Warum ist das so?

                        Die Wissenschaftler Florian Blank (WSI) und Rudolf          Dank der höheren Sozialversicherungsbeiträge
                        Zwiener (IMK) verglichen 2017 die beiden Systeme        ist der Staat bei unseren südlichen Nachbarn nicht
                        auf der Basis von Daten aus den Jahren 2012 bis         in der gleichen Höhe involviert wie hierzulande.
                        2015 (Blank/Zwiener, 2017). In diesen Jahren be-        2012 betrugen die Überweisungen aus der Wiener
                        trug die durchschnittliche Altersrente von Neurent-     Staatskasse 22,7 Prozent der Einnahmen der Versi-
                        nerinnen in Deutschland 590 Euro, in Österreich je-     cherung. Zum Vergleich: In Deutschland lagen sie
                        doch 1220 Euro.                                         bei 23,6 Prozent.
                           Bei Männern in der gleichen Situation war die            Außerdem funktioniert die Rente in Österreich
                        Differenz noch größer. Neurentner bezogen 2013          seit 2005 so, wie Gewerkschaften in Deutschland
                        aus der deutschen Sozialversicherung eine Rente         dies auch hierzulande seit Jahren, um nicht zu sa-
                        von 1050 Euro, in Österreich lagen die Renten fast      gen seit Jahrzehnten fordern: Die Rentenkasse ist
                        800 Euro im Monat höher bei 1820 Euro.                  keine reine Arbeiter- und Angestelltenversiche-
                           Die Rentenversicherung unserer Nachbarn er-          rung. Seit 1958 zahlen Gewerbetreibende Beiträge,
                        reichte 2014 ein Leistungsniveau (gerechnet für ei-     seit 1971 die Bauern, seit 1997 Menschen, die auf
                        nen seit 2014 arbeitenden Beschäftigten gemes-          der Basis eines Werks- oder Dienstvertrages arbei-
                        sen an seinem Durchschnittsverdienst nach 45            ten. Seit 1979 sind Freiberufler und sogenannte
                        Jahren) von 92 Prozent, in Deutschland jedoch nur       neue Selbstständige an Bord. Und seit 2005 auch
                        von 50 Prozent.                                         alle neuen Beamten in Österreich.
                           Wie kann das angehen, ohne dass die österrei-            In der deutschen Diskussion wird häufig ange-
                        chische Volkswirtschaft unter der Beitragslast zu-      zweifelt, dass eine Ausdehnung der Sozialversi-
                        sammenbricht? Und dass, obwohl die Österreiche-         cherung auf alle Erwerbstätige eine Entlastung der
                        rinnen und Österreicher noch etwas früher in Ren-       für die Rentenversicherung bringen würde. Der
                        te gehen als ihre nördlichen Nachbarn?                  Blick ins Nachbarland lehrt das Gegenteil. Beson-
                           Einer der Hauptgründe: 2014 lagen die Beiträge       ders die Versicherung der Beamten über die Pensi-
                        mit 22,8 Prozent in Österreich vier Punkte über         onskasse verschafft der öffentlichen Assekuranz
                        dem deutschen Niveau. Wobei die Rentenversi-            Luft.
                        cherungsbeiträge sogar zu mehr als der Hälfte von           In Deutschland wird häufig eingewandt, dass
                        den Arbeitgebern (12,55 Prozent) und zu einem ge-       heutige Beitragszahler später auch zu Rentnern
                        ringeren Teil von den Beschäftigten (10,25 Prozent)     von morgen werden. Stimmt. Dafür „spart“ sich
                        getragen wurden. Zum Vergleich: In Deutschland          der Staat allerdings die Ausgaben für die Beamten-
                        lag im Vergleichsjahr der Beitrag bei 18,8 Prozent -    pensionen.
                        hälftig von den Sozialpartnern finanziert.

                        tem, durch das 2018 rund 306 Milliarden Euro lie-       Zentrum für Altersfragen untersuchte die Konsum–
                        fen. Ein System, das sich zum größten Teil direkt       ausgaben der Rentenbezieher. Ihr Einkommen flie-
                        aus der Lohnsumme speist.                               ßen „in recht unterschiedlichen Anteilen in drei Be-
                           2018 waren das gut 235 Milliarden Euro Beiträ-       reiche: Mehr als 80 Prozent werden für den priva-
                        ge, die Beschäftigte und Arbeitgeber einzahlten,        ten Konsum verbraucht. Etwa zehn Prozent
                        69 Milliarden Euro kamen vom Steuerzahler. Die          benötigen die Haushalte für übrige, nicht­
                        Rentenversicherung ist jedoch mehr als ein volks-       konsumtive Ausgaben wie KFZ- und sonstige Steu-
                        wirtschaftlich relevantes System, das für stetige       ern, Geldspenden, Versicherungs- und Mitglieds-
                        Einkommen eines wachsenden Teils der Bevölke-           beiträge oder Zinsen für Baudarlehen und Konsu-
                        rung sorgt. Mit seinen alljährlichen Milliardentrans-   mentenkredite. Knapp drei Prozent werden für die
                        fers ist so etwas wie das zentrale Nervensystem         Bildung von Sach-­und Geldvermögen gespart.“
                        der Bundesrepublik Deutschland. 2018 traten 33,4        (DZA 2013)
                        Millionen sozial versicherte Beitragszahler dafür
                        ein, dass 21 Millionen Frauen und Männer ein Ein-
                        kommen im Alter haben.                                  Geburtenstarke Jahrgänge:
                           Von ihnen gelangt das Geld wieder zurück in          Aus Beitragszahlern werden Rentner
                        den Wirtschaftskreislauf und vor allem über die
                        Mehrwertsteuer an die Finanzämter. Das Deutsche         Auch wenn ein großer Teil der Renten nach wie vor

Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 8
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bescheiden ausfällt, steigen die Renten nach den      Zeitraum um sechs Millionen Menschen. Die bei-
mageren 0er Jahren.                                   den extremen Varianten gehen allerdings von un-
Anfang des Jahrhunderts brachte die Massenar-         wahrscheinlichen Annahmen aus, wie die Forscher
beitslosigkeit die Entwicklung der Einkommen der      einräumen. Dem Arbeitsmarkt werden in zwanzig
sozial versicherten Beitragszahler in vielen Wirt-    Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich we-
schaftszweigen zum Stillstand, eine massive Kam-      niger - zwischen 500.000 und vier Millionen - Frau-
pagne der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände        en und Männer zur Verfügung stehen. (Brenke,
nahm die Sozialversicherungen selbst ins Visier.      2017)
Darunter litt auch das Rentensystem.                     Die beiden Forscher kommen zu dem Ergebnis:
   Seit sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt nach der     „Eine weitere Erhöhung der Erwerbsquote“ werde
Finanzkrise erholten, stiegen auch die Einkommen      „kaum hinreichend sein, um in der Zukunft einen
sowie die Zahl der sozial versichert Beschäftigten    Rückgang des Arbeitskräftepotenzials zu vermei-
kräftig an. In der Folge legten auch die Renten zu.   den“. Sie empfehlen, „Privilegierungen“, wie die
2011 auf 2012 etwa stiegen sie in Westdeutsch-        beiden Ökonomen das nennen, „wie die Rente mit
land noch um 2,18 Prozent, 2014 auf 2015 um 2,1       63“ oder die „Förderung der Altersteilzeit bei Steu-
Prozent. 2015 auf 2016 kam die Erholung auf dem       ern und Sozialabgaben“ zu beenden.
Arbeitsmarkt bei den Rentnern an: Im Westen der          Entlastung für die Rentenversicherung kommt
Republik stiegen sie um 4,25 Prozent, im Osten so-    nach Ansicht von Brenke und Clemens vom Aus-
gar um 5,95 Prozent - was der schrittweisen           land. Je weniger Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt in
Angleichung der Ost- an die noch höheren We-          Deutschland zur Verfügung stehen, um so eher
strenten geschuldet ist. Und 2018 auf 2019 konn-      steigen die Einkommen. Mit jeder Einkommensstei-
ten die Renten West um knapp 3,2 und die Renten       gerung werde Deutschland als Einwanderungsland
Ost um 3,91 Prozent angehoben werden.                 für entsprechende Fachkräfte attraktiver.
   So wurden – mit Zeitverzögerung - nicht nur           Zudem würden steigende Einkommen „die Un-
Rentnerinnen und Rentner zu Teilhabern des            ternehmen dazu zwingen, ihre Produktivität zu er-
Wachstumsjahrzehnts. Die Rentenversicherung           höhen”. Dafür gebe es „viel Spielraum”, denn: „In
konnte auch ihre „Nachhaltigkeitsrücklage“ wieder     Deutschland haben sich über Jahre Investitionen
auffüllen. Denn 2005 war die Rücklage weitgehend      und Produktivität schwach entwickelt”.
aufgezehrt. Auf 1,7 Milliarden Euro oder 0,11 Mo-
natsausgaben im Jahr 2005 war der Notgroschen
im Jahr größter Massenarbeitslosigkeit zusam-         Die Bevölkerungsforscher erwarten für die in
mengeschmolzen. 2018, eine lange Boomphase            den Jahren 2013/2015 Geborenen, dass sie die
später, erreichte der Stand des Kontos Nachhaltig-    90er Jahre dieses Jahrhunderts noch erleben
keitsrücklage 38,2 Milliarden Euro (Das entspricht    können.
1,79 Monatsausgaben der Rentenversicherung).
   Diese guten aktuellen Zahlen können jedoch            Andere Institute, andere Vorausrechnungen: Das
über eines nicht hinwegtäuschen: Das Rentensys-       Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB1)
tem bleibt in gefährlichem Fahrwasser. Der Grund:     etwa geht davon aus, dass die Zahl der Menschen,
die zunehmende Alterung der Gesellschaft. In den      die älter als 67 Jahre sind, von 16,2 Millionen in
kommenden zehn Jahren wechseln die sogenann-          2020 über 19 Millionen in 2030 auf 21,4 Millionen in
ten „geburtenstarken Jahrgänge“ von der Seite der     2040 ansteigen wird. Auf diesem Level werde es
Beitragszahler auf die der Rentenbezieher.            sich in den darauffolgenden Jahrzehnten halten.
   Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung        Zwei Faktoren sind für diese Entwicklung verant-
(DIW) warnt zwar davor, Prognosen über die Ent-       wortlich: Die seit Ende der 60er Jahre kräftig ge-
wicklung der Erwerbstätigkeit abzugeben. Schließ-     sunkene Geburtenrate und die gleichzeitig gestie-
lich hätten sich die Annahmen, welche der letzten     gene Lebenserwartung. In Industrie und Handwerk
großen Rentenreform 2001 zu Grunde gelegt wur-        wird heute nicht mehr so auf Verschleiß gearbeitet,
den, so nicht bewahrheitet.                           wie vor vierzig oder fünfzig Jahren. Die überwie-
   Einige Jahre später verschätzte sich auch die      gende Zahl der neuen Dienstleistungsjobs ist dies
Rentenkommission unter dem Vorsitz von Bert           ebenfalls nicht.
Rürup, um mehrere hunderttausend Beiträge zah-           Was früher nur Mitgliedern privilegierter Ober-
lende Menschen - für die Betrachtung der Rente-       schichten vergönnt war, ist in der Bundesrepublik
nentwicklung nicht unerheblich (Rürup 2003).          Deutschland zusehends Standard: Die Menschen
   Die DIW-Forscher Karl Brenke und Marius Cle-       werden heute im Durchschnitt rund 80 Jahre alt.
mens entwickelten daher verschiedene Szenarien,          Männer, die 1980 das 65. Lebensjahr erreicht
die auf unterschiedlichen Annahmen, etwa mit und      hatten, konnten damals damit rechnen, noch knapp
ohne Zuwanderung, mit weiterem Anstieg der Er-        13 Jahre zu leben, Frauen mehr als 16 Jahre. Die
werbsquote oder nicht basieren. Die Bandbreite        heute 65-jährigen haben eine Lebenserwartung
reicht von einer unveränderten Zahl von Erwerbstä-    noch von weiteren 17,8 (Männer) und 21 Jahren
tigen bis 2040 bis hin zu einem Absturz im gleichen   (Frauen) (BIB 1).

                                                                                                    Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 9
SOLIDARISCHE ALTERSVORSORGE UND DEMOKRATISCHE VERTEILUNG - Hans-Böckler-Stiftung
Schrumpfen wird die Generation im Erwerbsalter.        scheide auszufüllen, dann frage ich mich: Wie le-
                        Je nachdem, welche Zuwanderung unterstellt wird,       ben die?“ In den letzten Jahren tauchten bei ihm in
                        werden 2030 der aktiven Generation (20 bis 67 Jah-     der Beratung immer häufiger Selbstständige auf.
                        re) nicht mehr fast 52 Millionen Menschen angehö-      „Die hatten nicht mal eine Krankenkasse, nichts.“
                        ren, sondern nur noch 48,4 Millionen. Bis 2040 soll    Wenn die krank würden, gingen sie nicht zum Arzt.
                        es dann nach Rechnung des BiB noch einmal ab-          „Unfassbar“, sagt Hauch. „In einem reichen Land.“
                        wärts gehen auf 44,8 Millionen.                           2017 rechnete der WSI-Forscher Florian Blank
                           Die Sicherheit, die der Bund mit seiner Garantie    aus, dass jemand, der 45 Jahre zum damaligen
                        von Rentenhöhe und Rentenbeitragssätzen bis            Mindestlohn in der Pflege gearbeitet hätte, bei
                        2025 gewährt, ist keine Lösung der Probleme der        knapp 48 Prozent Rentenniveau nur mit 614,99
                        Rentenversicherung. Es geht um den Gewinn von          Euro Rente im Monat rechnen kann (Blank, 2017).
                        Zeit.                                                  Bei einem Niveau von 46,4 Prozent wären es noch
                                                                               598,23 und bei 42,7 Prozent - das entspräche nach
                                                                               Rechnung 2017 in etwa den Prognosen für 2040 -
                        1.7 Heutige Voraussagen spiegeln                       wären es gerade noch 555,53 Euro.
                        arbeitsmarkt- und sozialpolitische Fehler der             Nun ist es unwahrscheinlich, dass jemand 45
                        Vergangenheit wider                                    Jahre auf dem Niveau des Mindestlohnes arbeitet,
                                                                               doch auch für Arbeitnehmer wären die Einbußen
                        Die gegenwärtigen Prospektionen der Altersvorsor-      beträchtlich. Bei einer Erzieherin geht es um 1300
                        ge sind auch das Eingeständnis, dass frühere Ren-      statt 1456 Euro, ein Anlagenelektroniker in der Me-
                        tenreformen wie auch die auf ein niedrigeres Ni-       tall- und Elektroindustrie würde 200 Euro monat-
                        veau abgebügelte Kultur der Arbeit zu sozial inak-     lich einbüßen, wenn die Rente nicht befestigt wird.
                        zeptablen Ergebnissen geführt haben und noch           Für ihn geht es nach der Rechnung von Blank um
                        weiter führen werden.                                  1697 statt 1896 Euro.
                           Wie der Sand durch eine Sanduhr rieselt,
                        schwindet zusehends die Schwankungsreserve
                        der Rentenversicherung. Geschaffen wurde sie,          Die heute Geborenen werden das Ende des
                        um die im Jahres- und Konjunkturverlauf schwan-        Jahrhunderts erleben
                        kende Liquidität der Rentenkasse zu sichern. Im
                        Juni 2019 war das Konto mit 40,1 Milliarden Euro       Insbesondere für ehemalige Geringverdiener - per
                        gefüllt - 2025 werden davon nach Rechnung der          31. Dezember 2016 waren das knapp 3,7 Millionen
                        Deutschen Rentenversicherung gerade noch 6,8           Menschen - bedeutet der Wechsel in die Rente
                        Milliarden übrig sein.                                 schon heute, dass sie beim Sozialamt Grundsiche-
                           Expertinnen wie Jutta Kerschbaumer, Abtei-          rung beantragen müssen, um irgendwie über die
                        lungsleiterin Sozialpolitik in der Vereinten Dienst-   Runden zu kommen. Doch um diese Grundsiche-
                        leistungsgewerkschaft (ver.di) gehen davon aus,        rung im Alter zu beziehen, müssen sie ihr Eigentum
                        dass im letzten Jahr der zweifachen Bundesrenten-      auflisten. Erst wenn sie auch ihr Auto verkauft ha-
                        garantie gerade noch Geld für einen viertel Monat      ben, stockt das Sozialamt die Hilfe auf. Das ist noch
                        Rentenzahlungen auf der hohen Kante liegen wer-        der Stand der Rentenpolitik. Die Koalition hat verein-
                        den. Das wäre nahezu das Niveau von 2005 – dem         bart, statt des entwürdigenden Formularkriegs eine
                        Jahr der großen Krise.                                 Grundrente einzuführen. Der Koalitionskompromiss
                           Die Konsequenz: Die Leistungen müssten sin-         sieht nun eine eingeschränkte Bedürftigkeitsprüfung
                        ken. Oder die Einnahmen der Rentenkasse müss-          vor. Finanzämter und Rentenkasse sollen einen Da-
                        ten steigen, sei es durch einen höheren Zuschuss       tenabgleich über Einkommen der künftigen Rentner-
                        aus Steuermitteln oder höhere Beiträge der Versi-      innen und Rentner vornehmen und so automatisch
                        cherten.                                               herausfinden, ob eine Rente aufgestockt werden
                           Jeder Eingriff in das Rentenrecht wird von den      muss. Andere Einkünfte, etwa aus vermieteten Im-
                        Bürgerinnen und Bürgern mit Argusaugen verfolgt.       mobilien oder Wertpapierdepots, werden dabei er-
                        Dafür gibt es gute Gründe. Die bislang letzten gro-    fasst.
                        ßen Reformen verkürzten den Anstieg der Renten            Höchste Zeit, dass die Grundrente auch vom
                        (Riesterfaktor) und führten zu erheblich längeren      Bundestag beschlossen und verkündet wird. Denn
                        Lebensarbeitszeiten.                                   die Zukunft sieht weitaus düsterer aus. In den 20er
                        Die Rentenschätzer sehen es so: Ohne Reformen          Jahren gehen die ersten Jahrgänge in den Ruhe-
                        müssten Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Jahr           stand, durch deren Arbeitsleben sich Arbeit und Ar-
                        2030 21,9 Prozent Beiträge vom Einkommen be-           beitslosigkeit, prekäre und Gute Arbeit sowie befris-
                        zahlen. Das Rentenniveau jenes Jahres würde von        tete und unbefristete Verträge abwechselten. Men-
                        48 auf 45,4 Prozent abgestürzt sein.                   schen, deren Arbeitgeber in die Insolvenz gingen,
                           Doch je tiefer das Rentenniveau sinkt, um so        die von Massenentlassungen betroffen waren und
                        mehr Menschen sind im Alter arm. Helmfried             die anschließend den Weg zurück in ihren Beruf
                        Hauch: „Wenn ich manchen Leuten helfe, ihre Be-        oder eine vergleichbare Tätigkeit nicht mehr fanden.

Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 10
Im Rahmen einer Fragestunde des Deutschen Bun-         erreichten Lebensalter. „Die Ergebnisse für das
destages wollte die Abgeordnete Sabine Zimmer-         Jahr 2017 zeigen, dass die Vermögen der privaten
mann (Linke) von der Vertreterin des Bundesminis-      Haushalte zwischen 2014 und 2017 auf breiter Ba-
ters für Arbeit wissen, wie viele Menschen abseh-      sis zunahmen. Sowohl das durchschnittliche Net-
bar als Rentnerinnen und Rentner Kunden beim           tovermögen als auch der Median „sind deutlich an-
Sozialamt werden könnten. Antwort: In Ost-             gestiegen” (Bundesbank, 2019). Während die Bank
deutschland verdient jede und jeder dritte Beschäf-    sowie konservative Wirtschaftskreise die Null-
tigte weniger als 2000 Euro brutto im Monat, im        Zins­politik der gegenwärtigen EZB-Führung kräftig
Westen der Republik sind es immer noch zwischen        kritisieren, zeigt die Studie einen positiven Effekt
12,4 (Baden-Württemberg) und 18,1 Prozent (Nie-        auf: Das gesunkene Zinsniveau entlastet private
dersachsen) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-       Haushalte mit Schulden.
mer. (BMAS 5)                                             Dass die Vermögen sich insgesamt nach oben
                                                       bewegt haben, hat jedoch an ihrer höchst unge-
                                                       rechten Verteilung wenig geändert. Im Schnitt ver-
1.9 Jenseits der drei Rentensäulen geht es im          fügten alle Haushalte über ein Bruttovermögen von
Alter noch ungleicher zu                               262.500 Euro. Nach Abzug von Schulden verblei-
                                                       ben 232.800 Euro. Die Medianwerte, die anzeigen,
Viele Menschen versuchen zusätzlich auf eigene         bei welchen Vermögen die Grenze zwischen den
Faust ihren Lebensstandard im Alter zu sichern.        oberen und den unteren 50 Prozent der Gesell-
Genaue Statistiken gibt es darüber nicht. Unklar       schaft verläuft, fallen weit niedriger aus - ein Zei-
bleibt schließlich, mit welchem Ziel Vermögen ge-      chen für ein massives Ungleichgewicht in der Ver-
bildet wird.                                           teilung: Der Median in der PHF-Studie liegt bei
   Besondere Bedeutung für den Lebensstandrard         70.800 Euro Vermögen nach Abzug von Schulden.
im Alter kommt dabei dem Eigentum an einer             Der Abstand von Mittelwert und Median um mehr
selbst genutzten Wohnung oder an einem eigenen         als den Faktor drei verweist auf eine enorme Ver-
Haus zu. Die Finanzierung lässt sich (die großen       mögenskonzentration am oberen Ende der Skala.
Städte Deutschlands gegenwärtig ausgenommen)              Der Gini-Koeffizient ist das wohl bekannteste In-
für Bezieher mittlerer oder hoher Einkommen im         strument zur Messung der Ungleichheit in einer
Laufe des Erwerbslebens schaffen. Der Vorteil:         Gesellschaft. Seine Skala reicht von Null bis eins,
Wer im Alter keine Miete bezahlen muss, spart          oder null bis 100. Erreicht er den Spitzenwert, ge-
sich einen erheblichen Kostenblock, der Rentnerin-     hörte das komplette Vermögen einem einzigen
nen oder Rentner, die zur Miete leben, häufig fak-     Menschen. Umgekehrt wäre die Verteilung bei ei-
tisch arm machen.                                      nem Koeffizienten von 0 absolut gleichmäßig über
   Insbesondere in den deutschen Großstädten ha-       die Mitglieder einer Gesellschaft verteilt.
ben die Mieten ein Niveau erreicht, dass Rentnerin-
nen und Rentner häufig 40 Prozent ihres Einkom-
mens und mehr für ihre Wohnung ausgeben müs-           Konsumsicherung (in Jahren) durch Vermögen nach Höhe des Einkommens
sen.                                                   und Vermögens
   Seniorinnen und Senioren leben zwar häufiger
                                                                              Medien        Durchschnitt              Medien         Durchschnitt
als der Bundesdurchschnitt in eigenen vier Wän-
den. Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht geht                                            Nach Einkommen                           Nach Vermögen
von einem Anteil von 58 Prozent aus (Bundesregie-            1. Dezil                0          2 J. 10 M.                    0                   0
rung 2018).
                                                             2. Dezil            4 M.            5 J. 8 M.                    0                1 M.
   Allerdings ist auch hier die Verteilung sehr un-
gleich. „Nur sieben Prozent“ der Rentnerinnen und            3. Dezil            9 M.            4 J. 4 M.                1 M.                 2 M.
Rentner im eigenen Heim seien „armutsgefähr-                 4. Dezil        1 J. 4 M.           4 J. 8 M.                6 M.                 7 M.
det“.                                                        5. Dezil        2 J. 2 M.          5 J. 11 M.           1 J. 4 M.            2 J. 1 M.
   In regelmäßigen Abständen interessiert sich die
                                                             6. Dezil        2 J. 4 M.           5 J. 6 M.          2 J. 11 M.            4 J. 9 M.
Bundesbank für die Vermögensverteilung der
Deutschen. Ihr Interesse gilt freilich weniger den           7. Dezil        2 J. 7 M.           6 J. 1 M.           4 J. 7 M.            6 J. 7 M.
Lebenslagen der Frauen und Männer. Die Banker                8. Dezil        3 J. 2 M.           7 J. 7 M.           6 J. 9 M.            9 J. 5 M.
erheben die Zahlen, weil sie wissen wollen, wie              9. Dezil             4 J.           8 J. 6 M.           8 J. 7 M.          12 J. 9 M.
groß etwa die privaten Polster sind, die in Krisen-
                                                            10. Dezil      4 J. 10 M.                10 J.          16 J. 5 M.          24 J. 5 M.
zeiten mobilisiert werden können. Zugleich zählt
die alle drei Jahre stattfindende Befragung von fast
5000 Haushalten zu den großen Erhebungen mit           Erklärung: Die Haushalte sind von unten nach oben nach der Höhe ihres Einkommens bzw.
                                                       Vermögens geordnet. Sie sind eingeteilt in Gruppen, denen jeweils zehn Prozent der Haushalte
Aussagekraft über die Verteilung von Armut und         entsprechen. Die Jahre und Monate repräsentieren die durchschnittliche bzw. die mittlere Kon­
Reichtum.                                              sumsicherung der jeweiligen Gruppe.
   Die Statistik der Notenbanker gibt vor allem
                                                       Quelle: WSI-Verteilungsbericht (2017).
Auskunft über die Vermögen in Abhängigkeit vom

                                                                                                                      Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 11
1.10 Vermögen sind extrem ungleich verteilt –          Älteren sogar fast 80.000 Euro. Obwohl die niedri-
                        in jedem Lebensalter                                   ge Quote an der Gesamtbevölkerung schon an-
                                                                               zeigt, dass sich die Depot-Besitzer von der Masse
                        Dieser Gini-Koeffizient bestätigt, was der hohe Ab-    abheben, gibt es unter den Eigentümern von Wert-
                        stand zwischen Mittelwert und Median schon ver-        papieren eine soziale Schichtung. Und die ist er-
                        muten lässt. Die Bundesbanker schreiben: „...der       heblich, denn der Median liegt um den Faktor drei
                        Gini-Koeffizient deutet mit einem Wert von 74 Pro-     bis vier (je nach Altersgruppe) unter dem statisti-
                        zent im Jahr 2017 auf eine weiterhin hohe Un-          schen Mittel.
                        gleichverteilung hin”.                                    Explizit für das Alter sorgen im Laufe ihres Le-
                           Kein Wunder: Den reichsten zehn Prozent der         bens laut Bundesbank-Studie zwei Drittel der der-
                        Deutschen gehört 55 Prozent des Nettovermö-            zeit aktiven Generation vor. Zwischen 45 und 55
                        gens.                                                  Jahren haben 63 Prozent der Deutschen irgendei-
                           Immobilien sind im Portfolio der Deutschen die      ne Form von privater Altersversicherung. Wobei
                        wichtigste Größe. „Der Median des Nettovermö-          die angesparten Summen übersichtlich sind. Der
                        gens für Eigentümerhaushalte lag im Jahr 2017 bei      Durchschnitt liegt bei 40.000 Euro, der Median bei
                        277.000 Euro.” Mieterhaushalte zum Vergleich wei-      26.000 Euro.
                        sen lediglich ein Vermögen von 10.400 aus.                Von den jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
                           Einschränkend wird in der Verteilungsdebatte        nehmer übt sich ein Drittel in Konsumverzicht, um
                        darauf verwiesen, dass die junge Generation in der     für das Alter Geld zurückzulegen.
                        Regel über geringe Vermögen verfügt und damit             Ein Drittel dieser Gruppe nutzt dazu Riesterpro-
                        das Gesamtbild zur Vermögenslage nicht wirklich        dukte, so die PHF-Studie. Die Altersrücklagen der
                        aussagekräftig ist.                                    16- bis 24-jährigen sind noch übersichtlich (Mittel:
                           Die Bundesbank hat mit 5000 Befragten eine          3400 Euro; Median: 1900 Euro).
                        ausreichend große Gruppe im Fokus, sodass sich            Doch selbst wenn Rücklagen vorhanden sind,
                        Aussagen über einzelne Altersgruppen treffen las-      bedeutet das für viele Frauen und Männer keines-
                        sen. Tatsächlich verfügen etwa 25 - 34jährige im       wegs, dass sie aus ihrem Vermögen ihre Rente
                        Mittel „nur“ über ein Gesamtvermögen von 64.500        dauerhaft spürbar aufstocken können. 40.000
                        Euro. Der deutlich niedrigere Medianwert von           Euro auf dem Sparbuch ist je nach Perspektive
                        13.600 Euro zeigt wieder eine stark ungleiche Ver-     eine ordentliche Summe. Wer sich davon im Alter
                        teilung zwischen unten und oben an. Frauen und         500 Euro im Monat auszahlt, der hat nach sieben
                        Männer im Jahrzehnt vor ihrer Rente (55 - 64) ver-     Jahren nichts mehr in der Rücklage.
                        fügen statistisch über ein Vermögen von 317.100
                        Euro - der Median liegt nun nicht mehr um den
                        Faktor 5 sondern nicht einmal um den Faktor zwei       WSI-Verteilungsbericht zeigt: Von ihren
                        (180.900 Euro) darunter, die Extreme verlieren         Vermögen können die meisten Deutschen
                        dank eines stärker gewordenen Mittelfelds etwas        nicht leben
                        an Bedeutung.
                           Mit dem Wechsel in die Rente nehmen die Ver-        Der WSI-Verteilungsbericht 2017 schlüsselt die
                        mögen ab. Sie werden aufgezehrt oder „mit war-         Vermögen der Deutschen nach Altersgruppen auf.
                        mer Hand“ vererbt.                                     Dreißig Prozent der Seniorinnen und Senioren kä-
                           Immobilien spielen auch bei den Vermögen der        men mit ihrem Vermögen nicht weit. Zwanzig Pro-
                        reiferen Jahrgänge eine erhebliche Rolle. Jeder        zent der 55- bis 64-jährigen haben nicht einmal
                        Zweite in der Rentnergeneration ist Eigentümer ei-     Geld, um ihre Lebenshaltung auch nur für einen
                        ner selbst genutzten Wohnung oder eines Hauses.        Monat aufrecht zu erhalten. Weitere zehn Prozent
                           Vergleichsweise viel Geld haben Seniorinnen         kämen gerade einmal ein halbes Jahr über die
                        und Senioren auf Sparkonten zurückgelegt. Dass         Runden.
                        sie keine Zinsen erwirtschaften, obwohl die Teue-         Am anderen Ende der Vermögensskala sieht es
                        rung weiterläuft, scheint nicht zu stören. Im Durch-   bei den Älteren vollkommen anders aus. Die obe-
                        schnitt liegt auf den Sparkonten ein Barvermögen       ren fünf Prozent könnten fast 25 Jahre ihr ohnehin
                        von 36.000 Euro. Der Median bei 18.000 Euro zeigt      höheres Konsumniveau halten. Je mehr Vermögen
                        auch hier an, dass es eine deutliche Konzentration     in einem Haushalt vorhanden ist, umso geringer
                        der Barschaften im oberen Bereich gibt.                ist die Bedeutung privater und gesetzlicher Ren-
                           Fonds, Aktien und andere Wertpapiere hütet da-      tenversicherungen (Tiefensee, 2017).
                        gegen nur eine Minderheit von knapp zwanzig Pro-          Wenig überraschend aber dank der Erhebun-
                        zent der Befragten zwischen 55 und 75 in ihren De-     gen von Anita Tiefensee sichtbar ist der Zusam-
                        pots. Die Quote fällt bei den noch älteren auf zehn    menhang zwischen hohen Einkommen und hohen
                        Prozent zurück.                                        Vermögen. Die an ihrem Einkommen gemessen
                           So vorhanden, sind diese Depots jedoch statt-       oberen zehn Prozent der Gesellschaft haben auch
                        lich gefüllt: Die 55- bis 75-jährigen hatten 2017      überdurchschnittlich viel auf der hohen Kante: für
                        Werte um die 50.000 Euro in ihrem Bestand, die         zehn Jahre und länger.

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Aus ökonomischer Sicht wäre es rational, wenn be-          Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ha-
sonders Bezieher geringer und mittlerer Einkom-         ben in den vergangenen Jahren immer wieder ver-
men, die demnach auch geringe oder einfache Ren-        sucht, der Entwicklung gegenzusteuern. Das Stich-
ten erwarten, besonders vorsorgen würden.               wort heißt tarifliche Sozialpolitik. Die wurde zum
   Die Wirklichkeit sieht anders aus. „Insgesamt        Thema, als die Bundesregierung im Zuge der Ren-
sorgen gerade Bezieher geringer Einkommen zu            tenreform von 2001 das Rentenniveau absenkte
wenig zusätzlich für das Alter vor. Während über        und den Bürgerinnen und Bürgern empfahl, geför-
alle Einkommensklassen hinweg rd. 30 Prozent der        dert von der öffentlichen Hand in Systemen mit Ka-
Befragten angaben, über keine Altersvorsorge zu         pitaldeckung vorzusorgen.
verfügen, sind es bei den Geringverdienern mit ei-         Wer vier Prozent seines Entgeltes privat in eine
nem Bruttolohn von weniger als 1500 Euro pro            Riester- oder Basisrente abzweigte, sollte dafür je
Monat knapp 47 Prozent.” (BMAS, 2016) Millionen         nach Einkommen, mehr oder weniger kräftige För-
sind ohne weiteren Schutz. Allein in der Gruppe         derung erhalten. Wer per Entgeltumwandlung sein
unter 1500 Euro Bruttoverdienst sind es 1,9 Millio-     Alterskonto in einer betrieblichen Altersversor-
nen Menschen. Zusammen gerechnet wartet eine            gung mehrte, sollte sich die Beiträge zur Sozialver-
ganze Großstadt Älterer auf den Gang zum Sozial-        sicherung und Steuern zu den Sozialversicherun-
amt.                                                    gen sparen können. Am besten sollten die Bürge-
   Gutverdiener dagegen verfügen zu 80 Prozent          rinnen und Bürger beides tun.
über eine Form privater Altersvorsorge.
   Wer dagegen sein Leben auf ein Bruttoeinkom-
men von 4000 Euro und mehr im Monat baut, hat           1.12 Tarifliche Sozialpolitik: Ein neues Arbeits-
nicht nur eine solide gesetzliche Rente in Aussicht.    feld für Gewerkschaften
Mehr als die Hälfte der Frauen und Männer in die-
ser Altersklasse kann auch noch zusätzlich zu einer     Hier tat sich für Tarifpolitiker ein neues Arbeitsfeld
ordentlichen „Gesetzlichen“ auf eine Betriebsrente      auf. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften
zählen.                                                 gründeten gemeinsame Unternehmungen wie
                                                        etwa die Metall- oder die Chemierente. Mit ihrer
                                                        Hilfe sollten Beschäftigte ganzer Branchen gewon-
1.11 Betriebsrenten sichern Lebensstandard              nen werden, die bislang noch keine entsprechende
aber vertiefen ungleiche Verteilung                     Vereinbarung unterzeichnet hatten.
                                                           Bis 2000 war die Landschaft der von den Sozial-
So tut sich im Alter die Kluft zwischen Arm und         partnern per Tarifvertrag organisierten Altersvor-
Reich noch weiter auf als schon zu Beschäftigungs-      sorgeeinrichtungen noch übersichtlich. In einer
zeiten. Die Gesetzliche ist keine Garantie auf den      Aufstellung über Modelle „Tariflicher Altersvorsor-
Erhalt des Lebensstandards, die Absenkung des           ge“ aus dem Jahr 2001 listete WSI-Forscher Rein-
Leistungsniveaus von mehr als 50 auf nunmehr 48         hard Bispinck zahlreiche Beispiele auf, die zeigten,
Prozent hatte die Lage der Älteren verschärft. Des-     dass die Altersvorsorge sehr stark an lange Zuge-
wegen spielen Vermögen und zusätzliche Einkom-          hörigkeiten zu einem Betrieb oder einer Branche
men aus Betriebsrenten und Versorgungswerken            gebunden waren. Im Bauhauptgewerbe betrug
eine erhebliche Rolle.                                  etwa die Wartezeit, bis die Versicherung griff, 220
   Dem über Jahrzehnte von wechselnden Bun-             Monate – mehr als 18 Jahre. 60 Monate davon
desregierungen empfohlenen idealen Mix aus ge-          mussten in den neun Jahren vor dem Wechsel in
setzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsor-    die Rente liegen. Sonst verfielen die Beiträge. (Bi-
ge folgt trotz vielfach gerührter Werbetrommel          spinck, 2001)
und von interessierter Seite initiierten Kampagnen         Im Bäckerhandwerk, das immer wieder Gesel-
gegen die gesetzliche Rente nur ein übersichtlicher     len an die Industrie verlor, mussten zehn Jahre un-
Teil der Deutschen.                                     unterbrochener Zugehörigkeit in einem Betrieb ge-
   Versichertenberater Helmfried Hauch hat auf-         leistet werden, ehe aus Einzahlungen ein Anspruch
grund seines Engagements auch für ver.di-Kolle-         auf Rente erwuchs. Die Telekom war schon ein
ginnen und -Kollegen viel mit Beschäftigten des         Stück moderner. Sie hatte einen Tarifvertrag ge-
Öffentlichen Dienstes zu tun, die in den Ruhestand      schlossen, in dem die Beiträge zum Alterswerk des
gehen wollen. „Ohne die Zusatzversicherung des          Unternehmens einseitig vom Arbeitgeber geleistet
Öffentlichen Dienstes kämen viele von ihnen nicht       wurden - Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
über die Runden.” Nach seiner überschlägigen            konnten zusätzlich freiwillig einzahlen.
Rechnung bringt allein die ergänzende Altersvor-           Weiter führte Bispinck Regelungen im Finanzge-
sorge ein Viertel bis ein Drittel dessen, was die ge-   werbe, der Chemie, der Eisen- und Stahlindustrie
setzliche Rente leistet. Zusammen genommen sei-         oder Volkswagen auf. Sie hatten alle eines gemein-
en das dann zwischen 1400 und 1600 Euro. „Damit         sam: dass sie kaum etwas miteinander gemeinsam
kann man keine Party feiern”, sagt Hauch. „Aber         hatten. Ein Branchenwechsel etwa bedeutete, in
es reicht zum Leben.”                                   der Altersvorsorge von vorne anzufangen.

                                                                                                       Dossier Nr. 4, 01.2020 · Seite 13
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