Deutsche aus Russland gestern und heute - Volk auf dem Weg Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.
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Deutsche aus Russland gestern und heute Volk auf dem Weg Bundesministerium Landsmannschaft des Innern der Deutschen aus Russland e.V.
3 Deutsche aus Russland gestern und heute Grußworte D ie Russlanddeutschen haben wäh- Integration wird umso erfolgreicher gelingen, wenn die als rend und nach dem Zweiten Spätaussiedler zu uns kommenden Russlanddeutschen und die Weltkrieg großes Leid durch Ge- einheimische Bevölkerung gemeinsam das Einleben in die neue walt und Diskriminierung, insbesondere Heimat aktiv gestalten und im Wege des Dialogs und der ge- aber durch Deportation erfahren. Der genseitigen Akzeptanz miteinander umgehen. Weg der Deportation und Zwangsarbeit Dr. Christoph Bergner MdB führte sie nach Sibirien und in entlegene Parlamentarischer Staatssekretär Gebiete im asiatischen Teil der ehemali- Beauftragter der Bundesregierung gen Sowjetunion. Angst, Zurückweisung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und Benachteiligung begleiteten lange Zeit ihr Leben. Nach Auflösung der UdSSR machten Dank der Unterstützung des Bundesmi- Dr. Christoph Bergner sich viele, die dort keine hinreichende nisteriums des Innern und des Aussied- Existenz gefunden hatten, auf den Weg lerbeauftragten der Bundesregierung, zurück in die ferne alte Heimat Deutschland, die ihre Vorfahren Herrn Dr. Bergner, ist es uns gelungen, vor 250 Jahren verlassen hatten. die siebte Auflage der Geschichts- und Die russlanddeutschen Familien, die in den vergangenen Jahren Integrationsbroschüre der Landsmann- nach Deutschland gekommen sind, haben das Problem, sich schaft der Deutschen aus Russland in der hier zunächst fremd und häufig unverstanden zu fühlen, da sie von Ihnen gewohnten Qualität zusam- russische oder mittelasiatische Gewohnheiten mitbringen, von menzustellen. denen sie geprägt wurden. Dies erschwert es ihnen, sich in Sie wird unseren Mitstreitern in den Deutschland zurechtzufinden und sich am neuen Wohnort aktiv nächsten Jahren eine wertvolle Hilfe bei in das gesellschaftliche Leben einzugliedern. ihrer Informations- und Aufklärungsar- Wir als Aufnahmegesellschaft müssen deshalb verstärkt für Adolf Fetsch beit sein. Wir setzen damit die Politik Aufgeschlossenheit sorgen. Diese Broschüre will einen Beitrag der Landsmannschaft fort, Unkenntnis dazu leisten, dass den russlanddeutschen Zuwanderern mit und Vorurteilen in der Bevölkerung über die Geschichte und mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaft Gegenwart der Deutschen aus Russland bzw. der Sowjetunion begegnet wird. und ihren Nachfolgestaaten fundierte Informationen entgegen- Die Bundesregierung sieht sich in der Verantwortung, den zustellen. Deutschen aus Russland, die große Opfer bringen mussten, zu Uns selbst aber, den Nachkommen der Deutschen, die vor rund helfen. Die Aussiedlerpolitik der Bundesregierung ist sichtbarer zwei Jahrhunderten in verschiedenen Zügen nach Russland auf- Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung für eine gemein- brachen, um dort für sich und ihre Familien eine Zukunft zu same Vergangenheit, für nationale Solidarität und für einen finden, soll die Broschüre Grundlage des eigenen Geschichts- gemeinsamen Weg in die Zukunft in einem Deutschland, das verständnisses sein. seine Teilung überwunden hat. Mit ihrem Hilfenprogramm un- Nur mit diesem Wissen über ihre Geschichte wird es den Deut- terstützt die Bundesregierung daher die Angehörigen der deut- schen aus Russland nach den Jahrzehnten der Diskriminierung schen Minderheiten, die sich in den Nachfolgestaaten der ehe- gelingen, ihre kulturelle Identität wieder zu finden. maligen Sowjetunion eine Lebensgrundlage geschaffen haben Adolf Fetsch und dort bleiben wollen. Sie hilft aber auch denjenigen, die Bundesvorsitzender der Landsmannschaft nach Deutschland gekommen sind, sich hier in der neuen Hei- der Deutschen aus Russland mat zu integrieren. Für sie steht ein vielfältiges Integrationsprogramm des Bundes, Impressum. aber auch der Länder und Kommunen bereit. Zu den aussiedler- “Deutsche aus Russland gestern und heute”, 7. Auflage 2006 spezifischen Hilfen des Bundes zählen z.B. der pauschale Aus- Verfasser: gleich für die Kosten der Rückführung sowie ein Betreuungs- Dr. Viktor Krieger geld nach Eintreffen in der Erstaufnahmeeinrichtung des Bun- Hans Kampen, Nina Paulsen des, soziale Betreuung und Beratung durch Migrationserst- Mitarbeit: beratung und Jugendmigrationsdienste, Sprachförderung durch Dr. Ludmila Kopp, Josef Schleicher, Johann Kampen Integrationskurse, berufliche Fördermaßnahmen oder die Pro- jektarbeit zur Eingliederung von Spätaussiedlern in das Wohn- Herausgeber: umfeld, insbesondere durch sportliche Aktivitäten. Aber Integ- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. ration ist nicht nur eine staatliche, sondern auch eine gesamtge- Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart sellschaftliche Aufgabe. Gefördert vom Bundesministerium des Innern
4 Vielvölkerstaat Russland D as Vielvölkerreich Russland entstand infolge einer trieb auch eine planmäßige Kolonisation: Festungen und Städte territorialen Ausdehnung, die sich über Jahrhunder- wurden gegründet, Kosaken und andere Dienstgruppen der Be- te erstreckte. Um 1300 betrug die Fläche des damals völkerung in die neuen Territorien verlegt; man baute Betriebe noch kleinen Moskauer Teilfürstentums etwa 28.000 qkm, und versorgte sie mit leibeigenen Bauern. was etwa der Größe des heutigen Albanien entspricht. 1460 Wo Russland Land mit sesshaften bzw. kulturell “gleichwerti- hatte das inzwischen zum Großfürstentum erhobene Gebiet gen” Bewohnern erobert hatte (Baltikum, Polen, Kaukasus, bereits eine Fläche von 430.000 qkm erreicht und war da- Turkestan), war der Strom der russischen Kolonisten gering. Im mit ein gutes Stück größer als Deutschland. Noch 52mal Zarenreich spielten vor allem ständische und konfessionelle größer war jedoch der Raum, den die Sowjetunion im 20. Unterschiede eine stark trennende Rolle. Ehen zwischen Ange- Jahrhundert umfasste. Mit 22.400.000 qkm war es das weit- hörigen unterschiedlicher Konfessionen waren die Ausnahme; aus größte Land dieser Erde. Kinder aus Mischehen mit Russen mussten orthodox getauft Russland zeichnete sich durch eine große ethnische, konfessio- und erzogen werden. Eine große Seltenheit waren in Russland nelle, soziale und kulturelle Vielfalt aus. Durch zahlreiche Er- auch Ehen zwischen Deutschen katholischen und protestanti- oberungskriege, aber auch auf dem Wege friedlicher Eingliede- schen Glaubens. rung mehrerer Grenzgebiete wurden die unterschiedlichsten Erst in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts begann der Staat Völker Teil des Russischen Reiches: eine vereinheitlichende Politik zu verfolgen Dabei schreckte man auch nicht vor gewaltsamer Russifizierung und kultureller " christliche Georgier und Armenier im Transkaukasus; Unterdrückung zurück. Das betraf in erster Linie Ukrainer und " katholische und protestantische Polen, Finnen und Litauer Weißrussen, die offiziell als Teil der “großrussischen Nationa- bzw. Baltendeutsche im Westen des Landes; liät” galten, ferner Polen, Finnen, Georgier oder Baltendeutsche " sesshafte orientalistische Völker wie Tataren bzw. Tadschi- bzw. deutsche Siedler. Nicht zuletzt auf diese Politik der Dis- ken; kriminierung lassen sich die nach 1917 entstandenen nationalen " zahlreiche nomadisierende und Naturvölker. Bewegungen der Nichtrussen zurückführen. Ziel war jedoch nicht die Angleichung an die staatsbildenden Deutsche und andere Europäer Russen; als oberste Gebote galten vielmehr Reichspatriotismus wandern nach Russland aus und Untertanentreue. Es dauerte mehrere Jahrhunderte, bis die eroberten und zum Mit der radikalen Öffnung zum Westen durch Peter den Großen Teil fast unbewohnten Gebiete durch Russen und in geringerem begann bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die Anwerbung Maße durch Ukrainer besiedelt waren. von Fachleuten für Wirtschaft und Militärwesen. Diese Aktio- Die ersten russischen Bewohner kamen erst nach der Eroberung nen waren allerdings meistens auf das städtische Element be- der Chanate Kazan (1552) und Astrachan an die Untere Wolga; schränkt. Gemäß dem Vorbild der anderen europäischen Mäch- dort wurde 1589 Zarizyn (das spätere Stalingrad bzw. Wolgo- te (Österreich, Preußen) entschlossen sich die späteren russi- grad) gegründet und 1590, als Festung, Saratow. schen Herrscher, die Besiedlung von mehr oder weniger men- Die Frage der dauerhaften Besiedlung der eroberten und befrie- schenleeren Gegenden mit ausländischen Kolonisten in Angriff deten Gebiete und somit der festen Anbindung an das Reich zu nehmen. war eine ständige Herausforderung. Zum einen erfolgte eine Ergebnis dieser Bestrebungen waren einige Erlasse; der be- natürliche Bewegung von Tausenden entlaufenen Bauern und kannteste wurde am 22. Juli 1763 von der russischen Zarin Ka- Abenteurern in die neu eroberten Gebiete. Doch der Staat be- tharina II. unterzeichnet, in mehrere Sprachen übersetzt und in ganz Europa verteilt. Ein durchschlagender Erfolg zeigte sich vor allem in den deutschen Kleinstaaten und freien Reichsstädten, die u.a. zu schwach wa- ren, das Werben der russischen Agenten wirksam zu unterbinden. Bis 1774 folgten 30.623 Ausländer den Verspre- chungen der russischen Zarin. Mehrere hundert Per- sonen verteilte man auf Siedlungen unweit der Hauptstadt St. Petersburg, in Livland, im Gouverne- ment Woronesch und in Kleinrussland (u.a. Jam- burg) sowie auf einige Städte. Die meisten Einwanderer, 26.676 Personen, muss- ten den beschwerlichen Weg entlang der Wolga nehmen. In dieser Zahl sind die 167 Personen ent- halten, die die Herrnhuterkolonie Sarepta in der Nähe von Zarizyn gründeten. Unterwegs starben mehr als 3.000 Menschen. Die verbliebenen 23.216 Kolonisten wurden in der Gegend um Saratow auf beiden Seiten der Wolga angesiedelt. Streng ge- trennt nach konfessioneller Zugehörigkeit, entstan- Ansicht einer Kolonie ausländischen Siedler um Saratow, Fragment einer Karte. den so 66 evangelische und 38 katholische Dörfer. Aquarell von J. Oboldujew, 1767. Quelle: Sergej Terjochin: Deutsche Architektur an der Wolga. Berlin/Bonn 1993, S. 15. Die gesamte Besiedlung vollzog sich bis ins kleins-
5 te Detail unter staatlicher Regie. Die Regierung schickte Ver- messungsingenieure, Protokollanten und Kopisten; Beamte be- stimmten nicht nur die Standorte der künftigen Dörfer und ihre Gemarkungen, sondern erstellten auch die Musterpläne für Ko- lonien und einzelne Familienhöfe samt Wohnhaus und Scheu- nen. Bis Ende 1767 wurden insgesamt 3.453 Häuser gebaut; zeitweise befanden sich bis zu 5.500 russische Zimmer- und 1.700 Fuhrleute neben 350 Ziegelbrennern und Schmieden im Einsatz - für damalige Verhältnisse eine großartige Leistung! Jeder Familie wies man anfänglich ein Darlehen in Höhe von 200 Rubeln und ca. 30 ha Land zu. Katharina II. wollte mit ihrem Erlass vom 22. Juli 1763 eine möglichst große Anzahl von Siedlern ins Land holen. Die Be- werber wurden deshalb nicht auf ihre Eignung für die vorgese- hene Aufgabe geprüft, so dass nur 55 Prozent der Kolonisten Bauern waren; die anderen gingen etwa 150 verschiedenen Be- rufen nach. Die ersten Jahrzehnte nach der Einwanderung Die russische Regierung hatte den Einwanderern zahlreiche Vergünstigungen versprochen: Katharina die Große. Originalgemälde von Carl Ludwig Christineck. Quelle: Bildende Kunst der Rußlanddeutschen im 18.-20. Jahrhun- dert. Moskau 1997, S. 35. " Fahrt zum gewählten Wohnort auf Staatskosten; " Zuteilung von Land; " freie Steuerjahre; " weitgehende Selbstverwaltung; " Befreiung vom Militärdienst; " Berufs- und Religionsfreiheit. Die Wirklichkeit sah jedoch etwas anders aus: Die Einwanderer wurden bereits bei ihrer Ankunft in St. Petersburg regelrecht gezwungen, sich auf eine Ansiedlung im Unteren Wolgagebiet festzulegen. Nur eine winzige Minderheit durfte sich in den Städten niederlassen. Die größte deutsche Siedlung Katharinenstadt war anfänglich als städtisches Zentrum mit handwerklichen und kulturellen Funktionen geplant; von den 235 dort angesiedelten Familien waren nur sechs in der alten Heimat Bauern gewesen. Offen- sichtlich ließ man diesen Plan wenig später fallen, und die meisten Neusiedler mussten ihren Lebensunterhalt als Bauern bestreiten. Neben diesem Umstand trugen auch weitere Ursachen zur schleppenden Entwicklung der Siedlungen bei: " die oft schmerzhafte Anpassung an das raue Steppenklima und die ungewohnte Bodenbeschaffenheit; " zahlreiche Überfälle räuberischer Banden und kriegerischer Nomaden; " fehlende Infrastruktur; " Unzulänglichkeiten der Behörden. Trotzdem: Gegenüber den leibeigenen russischen Bauern waren die ausländischen, meist deutschen Bauern mit erheblichen Das Manifest Katharinas II. Vorrechten ausgestattet. Für einen Silberschmied oder Kunst-
6 Größte ethnische Gruppen im Russischen Reich nach der Volkszählung von 1897 absolut in % total 125.640.000 100 davon Russen 55.667.500 44,3 Ukrainer 22.380.600 17,8 Polen 7.931.300 6,3 Weißrussen 5.885.600 4,7 Juden 5.063.200 4,0 Kasachen 3.881.800 3,1 Wolgatataren 1.834.200 1,5 Karte der deutschen Ansiedlungen in Südrussland, gezeichnet von Usbeken 1.800.000 1,4 J. Wiebe aus Tiege. Deutsche 1.790.500 1,4 Litauer 1.659.100 1,3 maler allerdings, der hier gezwungen war, Landwirtschaft zu Aserbeidschaner 1.440.000 1,2 betreiben, bedeutete die neue Lage eine einschneidende Degra- dierung. Letten 1.435.300 1,2 Die Anwerbung der Kolonisten setzte sich in den ersten Jahr- Georgier 1.352.500 1,1 zehnten des 19. Jahrhunderts fort. Diesmal legte man den Baschkiren 1.321.400 1,1 Schwerpunkt auf die Erschließung von Neu- bzw. Kleinruss- Armenier 1.173.100 0,9 land. Von Gebieten also, die seit den 1770er Jahren - nach den erfolgreichen Kriegen mit der Türkei und der Unterwerfung der Krimtataren - nicht nur von ausländischen Kolonisten, sondern Die deutschen Auswanderer stammten diesmal überwiegend vor allem mit russischen und ukrainischen Bauern besiedelt aus Westpreußen (Mennoniten) und Württemberg, aber auch wurden. Nach den Erfahrungen, die man bei der Ansiedlung an aus Baden, dem Elsass und der Pfalz. Insgesamt wurden 181 der Wolga gemacht hatte, legte die Regierung diesmal strenge Mutterkolonien gegründet. Im Gegensatz zum geschlossenen Auswahlkriterien an: Laut einem Erlass Alexanders I. vom 20. Ansiedlungsgebiet der Wolgadeutschen – in einer fast men- Februar 1804 sollten in erster Linie erfahrene und vermögende schenleeren Gegend – kam es im Schwarzmeergebiet zur Bil- Landwirte einreisen dürfen. dung mehrerer Kolonistenbezirke und der Anlegung einzelner Siedlungen, die sich verstreut in der heutigen Südukraine, auf der Krim, in Bessarabien und im Transkaukasus befanden. Johann Cornies 1819 beendete die Regierung offiziell die Ansiedlung. Zwar zo- geb. 1789 bei Danzig gen auch danach noch Einwanderer ins Land, doch mussten gest. 1848 in Orloff, Schwarzmeergebiet diese grundsätzlich ohne staatliche Unterstützung auskommen. In dieser Periode der ausländischen Kolonisation wander- Mennonitischer Kolonist, wander- ten zwischen 50.000 und 55.000 Personen in das Russische te nach Russland aus und ließ sich Reich ein. 1806 in der Ortschaft Orloff, Mo- Die Regierung hob die ausländischen Siedler von der übrigen lotschnaer Kolonistenbezirk, nie- Bauernbevölkerung ab und schuf dadurch einen neuen Kolonis- der. Er gilt als die bedeutendste tenstand. Diese Siedler wurden einer eigens dafür geschaffenen Gestalt des russländischen Men- Vormundschaftskanzlei in St. Petersburg mit (Fürsorge)Kon- nonitentums. Auf seinem Muster- toren in Saratow und Odessa unterstellt. Durch die Einführung gut beschäftigte er sich intensiv des Deutschen als Amtssprache wurde das Erlernen der russi- mit Pferde- und Schafzucht, schen Sprache gehemmt, wodurch u.a. die Beeinflussung der Wald- und Gartenbau. russischen Bauern durch den Protestantismus und Katholizis- Mit 28 Jahren wurde er zum Be- mus verhindert werden sollte. Die strenge Verwaltung der Ge- vollmächtigen für die mennoniti- meinden durch die Beamten des Fürsorgekontors führte nicht Johann Cornies. sche Siedlungstätigkeit gewählt. selten zu Amtsmissbrauch und kleinlicher Bevormundung der Quelle: Horst Gerlach: Die Russlandmennoniten. Er gab entscheidende Impulse zur Kolonisten. Ein Volk unterwegs. Verbesserung der Landwirtschaft In den Kolonien wurden alle wichtigen Fragen von der Ge- Kirchheimbolanden 1992, und der Viehzucht. Bereits 1830 meindeversammlung beraten und gelöst. Dieses Dorfparlament, S. 29. gründete er einen „Landwirt- das die Vertreter aller Bauernhöfe umfasste, wählte das ständi- schaftlichen Verein“, der wesentlich zur Förderung von ge Organ der örtlichen Selbstverwaltung, das Gemeindeamt, Ackerbau, Viehzucht, Garten- und Gemüsebau, des Forstwe- von den Siedlern auch Kolonieamt oder Schulzenamt genannt. sens und der Anlage von Weinbergen in den Mennonitenko- Dieses bestand aus dem Vorsteher bzw. Schulzen, zwei oder lonien Südrusslands beitrug. Außerdem leitete Cornies Maß- mehreren Beisitzern, dem ständigen Ortsschreiber und dem Bo- nahmen zum Aufbau einer Lehrerausbildung ein. Aufgrund ten bzw. Büttel. Mehrere zusammenliegende Dörfer bildeten ei- seiner Aktivitäten entstand bei den russlanddeutschen Men- nen Landkreis (wolost) mit einem ebenfalls gewählten Ober- noniten eine einheitliche Schulverwaltung. schulzen bzw. -vorsteher an der Spitze.
7 Wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung D ie Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 stand am Angang großer Reformen in Russland. In August Lonsinger deren Verlauf wurde die staatliche Sonderverwal- geb. 1881, gest. 1953 tung der ausländischen Siedler 1871 endgültig aufgehoben, und man gliederte sie in die allgemeine Verwaltung ein Wolgadeutscher Schriftsteller, Publi- Seither bildete die deutsche Landbevölkerung als „Siedler-Ei- zist, Pädagoge und Volkskundler. gentümer“ einen Teil des russischen Bauernstandes. Und wenn Geboren in Mühlberg, verbrachte der Schriftverkehr mit den Behörden auf Bezirks- und Gouver- seine Jugend in Grimm an der Wol- nementsebene nun in russischer Sprache verlief, behielten den- ga, wo er die Zentralschule mit Aus- noch die deutschen Dörfer und Landkreise einen hohen Grad an zeichnung abschloss. Bis 1910 lebte örtlicher Selbstverwaltung. er in Zarizyn, dann in Saratow. Verfasste unter dem Pseudonym Das Schulwesen Kol’nijer zahlreiche Reportagen, Skizzen und Erzählungen, die in der Das Schulwesen war stark konfessionell geprägt; die Dorfschu- „Saratower Deutschen Zeitung“ ver- len bereiteten die Jugendlichen in erster Linie auf die Konfir- August Lonsinger öffentlicht wurden. Autor des ersten mation beziehungsweise Firmung vor. Bei allen Unzulänglich- Romans aus dem Leben der Wol- keiten konnten diese Kirchschulen den meisten Schülern das gadeutschen „Nor net lopper g’gewa!“ (1911). 1922-1927 Lesen beibringen; von den Knaben wurden Schreib- und Re- Lehrer an der Deutschen Schule in Saratow, Lektor an der chenfähigkeiten erwartet. Saratower Universität und Inspektor des Volkskommissariats Dadurch hoben sich die Siedler anfangs deutlich von den be- für Bildungswesen der Wolgadeutschen Republik. nachbarten leibeigenen und Staatsbauern ab, die in der Regel 1935 verhaftet und nach Kasachstan verbannt, durfte er 1938 Analphabeten waren. Allerdings führte die rege Tätigkeit der wieder an die Wolga zurückkehren. Nach der erneuten örtlichen Selbstverwaltungsorgane ab den 1860er Jahren dazu, Zwangsaussiedlung 1941 war er in der Buchhaltung einer dass das Schulwesen einen Aufschwung nahm. Das führte vor Kolchose tätig und starb in Ushur, Region Krasnojarsk. allem in den Städten dazu, dass die Anzahl der Analphabeten unter den russischen und ukrainischen Jugendlichen rasch ab- nahm. In der Lesefähigkeit holten sie ihre deutschen Altersge- Die Auswirkungen des Besuches höherer Bildungsanstalten auf nossen beinahe ein. die geistige Entwicklung der Siedler darf nicht unterschätzt Die Regierungspolitik spielte in der nationalen Schulfrage eine werden. Wer sie auch nur einige Jahre besucht hatte, galt als hemmende Rolle: Ab 1891 mussten sich die Kolonistenschulen gebildet und bestritt nicht selten seinen Lebensunterhalt als überwiegend auf Russisch als Unterrichtssprache umstellen. Amtsschreiber oder im Handel. Diese Form des Unterrichts, die zum Teil mit drastischen Maß- Immer mehr wissbegierigen Jugendlichen in den Dörfern dien- nahmen durchgesetzt wurde, wurde jedoch weitgehend abge- ten diese Zentralschulen als Sprungbrett für den Besuch von lehnt. Realschulen, Gymnasien und Universitäten. Drei prominente Wo die Siedler engere Kontakte zu ihren russischen oder ukrai- Beispiele seien genannt: nischen Nachbarn hatten, gab es geringere Widerstände. Das war im Schwarzmeergebiet der Fall. Bezeichnend in diesem " der wolgadeutsche Schriftsteller August Lonsinger (1881- Zusammenhang die folgenden Angaben zur russischen Lesefä- 1953), der mehrere Jahre am Gymnasium in Zarizyn Deutsch higkeit deutscher Jugendlichen zwischen zehn und 19 Jahren unterrichtete; Ende des 19. Jahrhunderts in drei verschiedenen Gebieten: " der Sprachforscher Prof. Georg Dinges (1891-1932) aus Wolgagebiet: 18% dem Dorf Blumenfeld, Absolvent der Moskauer Universität; Bessarabien: 44 % " der Regierungschef der Wolgadeutschen Republik in den Taurisches Gouvernement: 75% Jahren 1924-1930, Johannes Schwab (1888-1938) Erst nach der Revolution von 1905 traten positive Veränderun- gen ein: Änderungen in der Verfassung führten zu einer spürba- Pastor Jakob Stach, Kolonistensohn und Absolvent der Basler ren Demokratisierung und Liberalisierung der russischen Ge- Missionsanstalt, schwebte sogar eine “Schulkolonie” mit einer sellschaft. Beispielsweise wurde wieder erlaubt, in den Volks- Realschule, einem Gymnasium, einer landwirtschaftlichen und schulen in der deutschen Muttersprache zu unterrichten. Gartenschule, einem pädagogischen Seminar und einer deut- Der Reformgeist erfasste auch die schmale Schicht der deut- schen Universität vor. Von diesen ehrgeizigen Plänen ließ sich schen Intelligenz, die sich vor allem aus Volksschullehrern zu- 1907 immerhin die Gründung einer Ackerbau-Fachschule in sammensetzte. Diese Entwicklung hielt bis in die 1920er Jahre Eugenfeld, Taurien, verwirklichen. Dazu vermerkte Pastor an. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten dabei die Stach: Kreis- oder Zentralschulen, die zur Ausbildung von Lehrkräften „Die Schule wurde nach den Plänen des Ackerbauministeriums und Schreibern mit guten Russischkenntnissen bestimmt waren. allen Forderungen entsprechend angelegt und ausgebaut. Sie Solche Bildungsstätten gab es in Grimm und Katharinenstadt kostete mit allen Nebengebäuden, wie Lehrerwohnungen, Inter- an der Wolga sowie in Sarata, Prischib, Orloff, Halbstadt und nate, Stallungen usw., etwa 500 000 Rubel. Alles Geld gaben Chortiza im Schwarzmeergebiet. Allein die Grimmer Zentral- die Mitglieder aus den Kolonien des ganzen Schwarzmeerge- schule nahm im Laufe ihres Bestehens - von 1868 bis 1916 - bietes, deren Zahl auf 1000 anwuchs. Die erforderlichen land- 3.427 Schüler auf, von denen allerdings nur 368 einen Ab- wirtschaftlichen Maschinen spendeten reiche Fabrikanten, schluss machten. Dampfmühlenbesitzer und Großgrundbesitzer.“
8 Unter den deutschen Bauern waren im wesentlichen zwei Ei- Friedrich von Falz-Fein gentumsformen verbreitet: geb. 1863, gest. 1920 Eigentumsrecht im Schwarzmeergebiet Nachkomme württembergischer Die im Süden, im Schwarzmeergebiet angesiedelten Bauern be- Siedler. Studierte in Dorpat Medi- hielten das erbliche Eigentumsrecht: Das zugewiesene Grund- zin (1882-1889). Sein Urgroßva- stück von 50, 60 bzw. 65 Desjatinen (russisches Flächenmaß, 1 ter war bereits in den 1860er Jah- Desj.= 1,09 ha) ging nur an einen Erben, in der Regel an den ren einer der landreichsten Guts- jüngsten Sohn über und durfte nicht geteilt werden. besitzer Russlands. Die durch dieses Erbrecht zwangsläufig entstandene breite Bau- Friedrich von Falz-Fein verwan- ernschicht ohne Land sah sich gezwungen, neues Land zu er- delte das Gut „Askania Nowa“ in werben oder zu pachten. Das setzte für gewöhnlich einen Um- einen der größten Naturschutz- zug voraus. Wer dazu nicht bereit war, musste den Beruf wech- parks der Welt. 52 Säugetierarten seln. und 208 Vogelarten aus nahezu Unter diesen Bedingungen konnte kein großes zusammenhän- der ganzen Welt wurden dort kurz gendes Siedlungsgebiet entstehen. Es bildeten sich vielmehr vor dem I. Weltkrieg gehalten. Friedrich von Falz-Fein Ende des 19. Jahrhunderts organi- weit voneinander getrennte Kolonistenbezirke mit verstreut lie- genden Tochterkolonien oder gar Einzel- bzw. Gutshöfen. sierte Friedrich von Falz-Fein Diese Agrarverfassung brachte in Neurussland eine breite un- mehrere Fangexpeditionen nach wilden Przewalskipferden in ternehmerische Schicht hervor. So beschäftigte die Firma Jo- der Wüste Gobi. In Askania Nowa wurden auch wissen- hann Höhn 1916 fast 1.400 Arbeiter und war die größte Pflug- schaftliche Beobachtungen und Kreuzungsversuche durch- fabrik des Zarenreiches. Das Handelshaus Lepp und Wallmann geführt. Diese Tätigkeit wurde bis heute fortgesetzt. 1890 entstand um 1850 in Chortitza, Gouvernement Taurien, Süd- gründete Friedrich von Falz-Fein ein naturwissenschaftliches ukraine. Es ging auf den Gründer Peter Heinrich Lepp (1817- Museum. 1871) aus dem Dorf Einlage zurück. Schon 1889 wurden dort Im April 1914 besuchte der russische Zar Askania-Nowa. In 1.200 Getreidemähmaschinen, 200 Grasmähmaschinen und 500 Anerkennung ihrer Verdienste verlieh er der Familie von Windfegen hergestellt. Zwischen 1882 und 1890 errang das Falz-Fein den erblichen Adelstitel. Unternehmen fünf Medaillen auf Landwirtschaftsausstellungen. Die Familie floh 1919 nach Deutschland. Friedrich von Falz- Fein starb in Bad Kissingen und wurde auf dem Evangeli- schen Alten Friedhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde Tempel- hof-Schöneberg begraben. Eigentumsrecht im Wolgagebiet Im Gegensatz dazu verhinderte die im Wolgagebiet herrschen- de Feldgemeinschaftsordnung ein zweckmäßiges und marktori- entiertes Wirtschaften. Nach russischem Muster gab es hier Ge- meindeeigentum an Grund und Boden, das regelmäßig alle acht bis zwölf Jahre neu aufgeteilt wurde. Dadurch war es nicht nö- tig, für die Söhne neues Land zu erwerben und gegebenenfalls Tochterkolonien zu gründen. Dadurch entwickelten sich wolgadeutsche Ortschaften mit ho- her Bevölkerungszahl. So zählten 1912 Norka 14.236, Grimm 11.788, Katharinenstadt 11.962 und Balzer 11.110 Bewohner. Die beiden letzten Siedlungen wurden 1918 zu Städten erho- ben. Naturgemäß verringerten sich mit wachsender Bevölkerungs- zahl die Landanteile der einzelnen Wirte. Die Bauernfamilien mussten sich deshalb mit Handwerk und Heimarbeit zusätzliche Einkommensquellen sichern. Die wolgadeutschen Siedlungen waren durch eine breite Schicht von Mittel- und Armbauern gekennzeichnet. Diese konnten auf ihrem Land nur geringfügige Überschüsse erzielen und waren zum Teil nur in der Lage, sich selbst zu versorgen. Kapital bildete sich deshalb größtenteils nicht in der Landwirt- schaft, sondern vor allem im Getreidehandel und der Getreide- verarbeitung (Mühlenindustrie) sowie im Textilgewerbe mit seinen Tausenden Heimwebern (Sarpinkaindustrie). Vorwie- gend dort fanden sich die wenigen reichen Unternehmer aus Landmaschinenindustrie im Schwarzmeergebiet im Jahr 1911, auf- geschlüsselt nach Nationalitäten der Fabrikbesitzer. Quelle: Dietmar den Reihen der Wolgadeutschen. Neutatz: Ländliche Unternehmer im Schwarzmeergebiet. Die süd- ukrainische Landmaschinenindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, in: “Landhunger” der Kolonisten Dittmar Dahlmann, Carmen Scheide (Hg): „… Das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor sich hat“. Deutsche Unterneh- Vor dem I. Weltkrieg lebten in Russland um die 2,5 Millionen mer und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Essen 1998, S. 541-574, hier S. 569. Deutsche, die sich wie folgt verteilten:
9 Die Deutschen in den Städten Stadt Zahl der Deutschen in den Großstädten, Zensus 1897 absolut in % der Einwohner St. Petersburg 50.780 4,0 Moskau 17.717 1,7 Odessa 10.248 2,5 Saratow 8.367 6,1 Kiew 4.354 1,8 Tiflis (Tbilissi) 2.902 1,8 Baku 2.460 2,2 Die Kirchen standen zu allen Zeiten im Mittelpunkt des Lebens der Astrachan 1.573 1,4 Kolonisten. Das Bild zeigt den Entwurf für das Bethaus in der Kolo- nie Güldendorf bei Odessa (1832). „staatswidrige“ Tätigkeiten der deutschen Siedler zu wettern. Hatten 559 deutsche Siedlungen 1864 insgesamt über 2,1 Mil- " Untere Wolga: 600.000 lionen Desj. Land verfügt, so wurde der Gesamtbesitz der deut- " Schwarzmeergebiet: 530.000 schen Siedler vor 1914 auf 7,2 bis 8 Millionen Desj. geschätzt. " polnische Provinzen Die Anzahl der deutschen Mutter- und vor allem Tochtersied- (damals Russisches Reich): 550.000 lungen war auf mehr als 3.000 angewachsen. Das mit Argwohn " Wolhynien: ca. 200.000 betrachtete wirtschaftliche und militärische Erstarken des Deut- " Baltikum (Baltendeutsche) 170.000 schen Reiches tat sein Übriges. " St. Petersburg ca. 50.000 In den 1880er Jahren begann eine starke Auswanderungswelle " weitere über das ganze Land verstreut lebende Deutsche aus den schwarzmeerdeutschen und wolgadeutschen Siedlun- gen. Zielgebiete waren der Nordkaukasus, der asiatische Teil Viele brachten es zu großem Wohlstand. Doch es gab auch des Russischen Reiches, die USA, Kanada und lateinamerikani- Arme und Landlose, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt sche Länder, bevorzugt Argentinien und Brasilien. Tochterkolonien gründeten, zunächst in der Ukraine, auf der Warum aber waren diese Siedler nicht zurück nach Deutsch- Krim und in Bessarabien. land gegangen? Die Antwort auf diese naheliegende Frage ist Dieser sprichwörtliche deutsche Landhunger führte zu Span- recht einfach: Die selbstbewussten Bauern von der Wolga oder nungen mit den russischen und ukrainischen Bauern. Er wurde vom Schwarzen Meer hätte dort eine wenig erstrebenswerte von „patriotischen“ Kreisen zum Anlass genommen, gegen Zukunft als Knechte bei einem Junker oder als besitzlose Ar- beiter in einer Fabrik erwartet. Ihr Ziel waren daher vor allem die Überseestaaten, in denen sie billig Land erwerben oder pachten und ihre gewohnte Lebens- weise fortführen konnten. Etwa 45% der 640.000 Einwohner des US-Staates Norddakota sind Nachkommen schwarzmeer- deutscher Auswanderer. Links: Werbeanzeige der Zementfabrik David Seifert aus Wolsk, Gouvernement Saratow. Quelle: Wolgabote. Kalender für die deut- schen Ansiedler an der Wolga. Saratow 1913. Rechs: Werbeanzeige der Pflugfabrik Johann Höhn, Odessa. Ende des 19. Jahrhunderts.
10 Existenzprobe Erster Weltkrieg Z u Beginn des Ersten Weltkrieges betrachtete die rus- Ähnliche Ausschreitungen, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, sische Militärführung nicht nur die Untertanen der gab es auch in anderen russischen Städten und auf dem Land. feindlichen Staaten, sondern auch die meisten der seit mehreren Generation im Zarenreich lebenden Deut- Ungerechtfertigte Vorwürfe schen als mögliche Spione und Verräter. Die patriotisch gestimmte Presse tat das Ihre, um das Gespenst Erste Zwangsaussiedlungen vom „inneren Deutschland“ und der „teutonischen Übermacht“ heraufzubeschwören. Es entstand eine Spionage- und Verdäch- Bereits im September 1914 begann auf Befehl der einzelnen tigungshysterie, die weder den baltendeutschen Adel noch die Divisionsgeneräle und Armeebefehlshaber die Ausweisung von ländlichen Siedler oder die weitgehend assimilierten städti- Deutschen aus den polnischen Gouvernements. Gleichzeitig schen Deutschen verschonte. Die Behörden wurden mit Tau- fand eine massenhafte Aussiedlung von Juden aus dem Einsatz- senden von Anzeigen „wachsamer“ Einwohner überschüttet, gebiet statt, da diese als Sympathisanten des Deutschen Reiches die ihre deutschen Nachbarn verleumdeten. galten. Wie ungerechtfertigt die Vorwürfe waren, verdeutlichen fol- Nach den verheerenden Niederlagen der russischen Streitkräfte gende Tatsachen: Nach zuverlässigen Schätzungen dienten in im Frühling 1915 drängte die Militärführung der Südwest- und der russische Armee um die 300.000 russische Staatsbürger Nordwestfront auf die Verbannung der deutschen Siedler, de- deutscher Herkunft als Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere. nen man Verrat und Zusammenarbeit mit dem Feind vorwarf, So leisteten im Jahr 1917 ca. 15.000 Mennoniten Sanitätsdienst aus den frontnahen Gouvernements. In den Jahren 1914 bis in den Lazaretten und Spitälern der russischen Armee. Etwa 1916 mussten etwa 200.000 Russlanddeutsche aus dem westli- 50.000 Wolgadeutsche waren mehrheitlich im Transkaukasus, chen Teil des Landes, vor allem aus Russisch-Polen und Wo- an der türkisch-russischen Front im Einsatz, u.a. in Transport- lhynien, ihre Wohnorte verlassen. Zuflucht mussten sie in Tur- zügen, Versorgungstruppen und rückwärtigen Baubataillons. kestan und Sibirien sowie in Gebieten an der Wolga und im Die im Dezember 1915 für die südlichen Gouvernements be- Ural suchen. schlossenen und Anfang 1917 fast auf das ganze Reich ausge- In Moskau kam es von 26. bis 29. Mai 1915 zu einem schweren dehnten Zwangsveräußerungen des Landbesitzes und die ins antideutschen Pogrom, der mehrere Menschenleben und Ver- Auge gefasste massenhafte Aussiedlung der deutschen Bauern wundete forderte. Unterschiedlichen Angaben zufolge wurden stießen allerdings nicht überall auf Zustimmung. Eine Konfe- 474 Geschäfte und Fabriken sowie weitere 217 Häuser und renz von Vertretern der Stadtverordnetenversammlungen und Wohnungen zerstört, geplündert oder niedergebrannt. Der ent- der Börsenausschüsse von Saratow und Pokrowsk fasste am 21. standene Schaden belief sich auf über 50 Millionen Goldrubel. Februar 1917 diesen Beschluss: Kurz vor dem I. Weltkrieg (1913) aufgenommen, lässt dieses Bild noch nichts vom heraufziehenden Unheil ahnen. Es zeigt Deutsche in Ka- tharinenfeld, Kaukasus, beim Theaterspiel im Freien.
11 Karl Lindemann geb. 1847 in Nishni Nowgorod gest. 1928 in Orloff Bedeutender Wissenschaftler und herausragender Vertreter russ- landdeutscher Interessen. Neben seiner Tätigkeit als Professor an der Landwirtschaftlichen Akade- mie in Moskau engagierte er sich politisch. Er gründete und leitete ab 1905 die Moskauer deutsche Gruppe des “Verbandes des 17. Oktober” (Oktobristen), einer konservativ-liberalen Partei. Als kompetenter Landwirtschaftsex- perte war er hochgeschätzt unter der Zarenherrschaft und in der Sowjetzeit. Noch vor 1914 trat Lindemann als Verfechter der Rechte der russischen Staatsbürger deutscher Nationalität hervor. Wäh- rend des Krieges protestierte er entschieden gegen die Geset- ze zur Beseitigung des deutschen Landbesitzes in Russland, kritisierte benachteiligende Maßnahmen der Regierung und die antideutsche Stimmungsmache der Presse. Durch persön- liche Kontakte zu einflussreichen Politikern und Schriftstel- lern (z.B. Wladimir Korolenko) versuchte er ebenso wie in mehreren Schriften dem deutschfeindlichen Klima im Land entgegenzuwirken. Nach der bürgerlichen Revolution im Februar 1917 organi- sierte Lindemann im April und August 1917 in Moskau den „Allrussischen Kongress der russischen Bürger deutscher Na- Circa 1914: Jakob Kreick (links) und Heinrich Betz in der Zarenar- tionalität”. Nach der bolschewistischen Machtergreifung un- mee. terstützte er tatkräftig die wirtschaftliche und kulturelle Neu- des deutschen Landbesitzes, insbesondere zum derzeitigen Mo- belebung der Deutschen auf der Krim und in der Ukraine. ment einer allgemeinen landwirtschaftlichen Krise, eine unge- Seine letzten Jahre verbrachte er in der Mennonitensiedlung rechte und verderbliche Maßnahme sowohl für die Kolonisten Orloff, Kreis Melitopol, Ukraine selbst als auch für die ganze Region ist. Sie würde sich auch für ganz Russland als sehr nachteilig erweisen.“ „Die unter uns lebenden deutschen Kolonisten sind ebenso wie Zahlreiche Vertreter der russischen Intelligenz, darunter be- wir russische Staatsbürger. Die Kolonisten in unserem Landes- kannte Schriftsteller, Publizisten und Personen des öffentlichen teil sind unentbehrliche Landwirte. Wir fühlen uns verpflichtet, Lebens wie Wasili Rosanow, Fjodor Sologub, Sergej Gorodez- beharrlich und mit Nachdruck zu erklären, dass die Beseitigung ki, Wladimir Ern u.a., stellten sich in den Dienst der antideut- schen Propaganda. Aber es gab auch andere Stimmen: Der be- kannte Schriftsteller Wladimir Korolenko prangerte die staatliche Willkür und die an- tideutsche Stimmung an. Er war nicht nur ein begabter Literat, sondern auch ein auf- richtiger Kämpfer gegen jegliche Art von staatlicher Willkür, was ihm die verdienst- volle Bezeichnung „Russlands Gewissen“ einbrachte. In seinem Beitrag „Über Ka- pitän Kühnen“, erschienen im November 1916 in dem liberalen Massenblatt der Hauptstadt, „Russkie Wedomosti“, zeigte er teilnahmsvoll und mitfühlend, was damals einem russischen Bürger deutscher Her- kunft widerfahren konnte. Erst die Februarrevolution von 1917 ebnete den Weg zur Wiederherstellung ihrer Rech- te. Das Gesetz über die Gleichheit der Na- tionen und Konfessionen vom 21. März 1917 hob alle bis dahin verordneten Be- schränkungen auf. Die überwiegende Mehr- heit der Russlanddeutschen erwies der bür- Pflichtbewusste und loyale Kolonisten aus Katharinenfeld im Transkaukasus als Soldaten der russischen Armee, 1915. Quelle: Privatarchiv V. Krieger. gerlichen Regierung breite Unterstützung.
12 Machtergreifung der Bolschewiki A ufgrund ihrer wirtschaftlichen, sozialen und geistig- " Behinderungen der nationalen Vereinigungen; religiösen Entwicklung waren die Nachkommen der " Enteignung und Verschickung von so genannten Kulaken im einstigen Kolonisten mit einer breiten Schicht wohl- Zuge der Kollektivierung. habender Bauern für sozialistische Utopien schwer zu ge- winnen. Durch die Gründung von nationalen Dorfsowjets und Landkrei- Berücksichtigt man zudem die folgenden Faktoren, so wird sen, in denen der Unterricht in der Muttersprache abgehalten klar, weshalb die Russlanddeutschen während und nach der und Deutsch als Amtssprache zugelassen wurde, versuchte die Machtergreifung der Bolschewiki nicht zu den tonangebenden, Sowjetmacht unter den Deutschen an Einfluss zu gewinnen. Vor sondern zu den leidtragenden Schichten gehörten: allem aber sollte die Jugend ideologisch beeinflusst werden. " ihre geographische Lage; Autonomierechte für Wolgadeutsche " unzureichende Kenntnisse der russischen Sprache; " Fehlen einer politisch aktiven Intelligenzschicht; Unter der wolgadeutschen Bevölkerung fand das in der „Dekla- " verhältnismäßig hohe Schreib- und Lesekundigkeit; ration der Rechte der Völker Russlands“ vom 2. November " vielfältige Beziehungen zum Ausland, die ihnen einen Ver- 1917 versprochene Selbstbestimmungsrecht eine gewisse Zu- gleich ermöglichten. stimmung. Kein Geringerer als Stalin unterstützte als Volks- kommissar für Nationalitätenfragen maßgeblich diese Bestre- Die tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen bungen zur Gründung eines nationalen Gebietes (allerdings auf Maßnahmen der neuen Machthaber trafen folgerichtig vor al- proletarischer Grundlage). Er stand damit - so seltsam es im lem die landreichen und unternehmerischen Schwarzmeerdeut- Nachhinein auch klingen mag - an der Wiege der wolgadeut- schen. Die Gebietsreform von 1921-23 in der Ukraine ignorier- schen Autonomie. te die Interessen der deutschen Bauern. Geschichtlich und wirt- Für die neuen Machthaber waren die Siedlungsgebiete der Wol- schaftlich gewachsene nationale Landkreise und Gruppen von gadeutschen, in denen große Mengen von Getreide beschafft Siedlungen wurden auseinander gerissen und andersnationalen werden konnten, von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht von un- Dorfräten angegliedert. Daraus ergaben sich die verschiedens- gefähr kamen deshalb die Wolgadeutschen als erste Minderheit ten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Nachteile sowie in den Genuss der verkündeten Autonomierechte: Am 19. Ok- erhebliche Verständigungsprobleme. tober 1918 unterzeichnete Wladimir Lenin als Regierungschef Im Zuge der durch das „Dekret über das Land“ verordneten das Dekret über die Gründung der Arbeitskommune (des auto- Enteignungen musste der Großteil des deutschen Grundbesitzes nomen Gebiets) der Wolgadeutschen. Man wollte die reichhal- an ukrainische Bauern abgetreten werden. tigen Getreidevorräte in erster Linie für die Versorgung der bei- Ständige wirtschaftliche und kulturelle Benachteiligungen der den Revolutionszentren Moskau und Petrograd (ab 1924 Lenin- Schwarzmeerdeutschen führten noch in den Jahren der Neuen grad) verwenden und sie vor örtlichen Gouvernement-Sowjets Ökonomischen Politik zu einer starken Zunahme von Auswan- oder vorbeiziehenden Truppen schützen. derungen. Allein in den Jahren von 1922 bis 1924 wanderten Die wolgadeutschen Bauern lieferten an Lebensmitteln das 8.000 deutsche Bauern aus der Ukraine aus. Mehrfache des landesweit Üblichen ab. Diese rücksichtslose Besonders heftige Formen nahmen die folgenden Benachteili- Ausbeutung war der maßgebliche Grund dafür, dass die Ar- gungen an: beitskommune von der verheerenden Hungersnot der Jahre 1921 und 1922 am härtesten getroffen wurde. " Verfolgung von Gläubigen und Auswanderungswilligen; Allein 1921 verließen mehr als 80.000 deutsche Bewohner das " Entzug des Stimmrechts für wohlhabende Bauern; Wolgagebiet und zogen nach Turkestan, in den Trans- und Nordkaukasus, nach Zentralrussland, in die Uk- raine und bis nach Deutschland. Hinzu kamen 47.777 erfasste Todesfälle, in ihrer Mehrheit Hungeropfer. Das ganze Ausmaß des Bevölkerungsrückgangs geht aus dem folgenden Zahlenvergleich hervor: Vor dem I. Weltkrieg lebten auf dem Gebiet der künftigen autonomen Republik 516.289 Deut- sche, bei der Volkszählung 1926 waren es nur noch 379.630. Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Im ersten Jahrzehnt nach dem Oktoberumsturz waren die Bolschewiki hauptsächlich mit der Aufrechterhaltung und Festigung ihrer Macht be- schäftigt. Das zeigte sich besonders im Frühjahr 1921 beim Übergang zur Neuen Ökonomischen Blick auf Katharinenstadt (das spätere Marxstadt) an der Wolga. Politik (NÖP).
13 Ungeachtet " des blutigen Bürgerkrieges, " der Verstaatlichung der Großindustrie und der mittleren Be- triebe " und der entsetzlichen Hungersnot 1921-22, die Millionen Menschenleben gekostet hatte, herrschten auf dem Land die bäuerliche Einzelwirtschaft und die althergebrachte Lebensweise vor. In dieser Zeit erhoffte sich die Sowjetmacht vom hohen wirt- schaftlichen und kulturellen Stand der deutschen Siedler ent- scheidende Anstöße für den Wiederaufbau des Landes. Nicht zufällig hieß der Titel eines im Jahr 1922 erschienenen Buches „Die Deutsche Kommune an der Wolga und die Wiedergeburt des südöstlichen Russlands“. Als ergiebig und kultiviert galt vor allem die Wirtschaftsweise der Der erste serienmäßig produzierte sowjetische Traktor „Saporo- Deutschen in der Ukraine, in Sibirien und im Transkaukasus. Bei shez“. letzterem Gebiet ist in erster Linie die Winzerkooperative „Konkor- dia“ der Siedlung Helenendorf in Aserbeidschan zu erwähnen. Ne- Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten, die nach dem ben dem weit verzweigten Vertrieb von Weinen in der gesamten Oktoberumsturz nationalisiert wurde. In den Hallen der Fabrik Sowjetunion finanzierte sie wissenschaftliche Untersuchungen zur wurde einer der ersten Versuche unternommen, einen inländi- Züchtung neuer widerstandsfähiger Rebsorten und unterhielt ein in- schen Traktor zu bauen. Und 1926 wurden dort tatsächlich die sektenkundliches Arbeitszimmer. ersten Kleintraktoren mit dem Namen “Karlik” (“Zwerg”) er- 1928 zählten die beiden wichtigsten Vereine der wolgadeut- zeugt. schen Lokalindustrie, der Handwerker- und Gewerbeverein so- In der mennonitischen Kolonie Einlage (heute Gebiet Sapo- wie der Sarpinka-Verein, um die 14.000 Mitglieder. Rund 335 roshje) entwickelten die Ingenieure Leonhard Unger und Ger- Webereien stellten die seit Anfang des 19. Jahrhunderts be- hard (?) Rempel 1921 den ersten sowjetischen Traktor, der in kannte Sarpinka (Baumwollstoff mit beigemischtem Leinen) Serienproduktion kam. Er erhielt den Namen „Saporoshez“ und her, die sich im Russischen Reich bzw. in der UdSSR großer wurde in ca. 800 Exemplaren gefertigt. 1932 erhielten Gerhard Nachfrage erfreute. Epp, Peter Dyck und Cornelius Unruh den Lenin-Orden für die Noch vor dem I. Weltkrieg entstand in Katharinenstadt (ab Entwicklung des „Stalinez“, des ersten Mähdreschers der So- 1919 Marxstadt) eine große Fabrik mit ca. 400 Arbeitern zur wjetunion. 1930er Jahre: Lehrer und Schüler in Marienheim, Ukraine.
14 Der Stalinismus und die Deutschen E nde der 1920er Jahre wandte sich die sowjetische Führung mit Sta- lin an der Spitze vom eingeschla- genen Kurs der allmählichen Entwick- lung im Rahmen der NÖP ab und schlug einen Kurs der radikalen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft ein. Das war eine Reaktion auf die utopische Hoffnung einer Weltrevolution und drückte sich im Übergang zum Grundsatz des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ aus. Die wichtigsten Merkmale der neuen Politik waren: " beschleunigte Industrialisierung; " völlige Kollektivierung der Landwirt- schaft; " Kulturrevolution. Insgesamt bedeutete diese nun eingeschla- gene Entwicklung eine grundlegende Um- formung der sozialen Ordnung. Aus einer Gesellschaft mit gewissen Zugeständnissen Studenten des zweiten Semesters der Fakultät für Sprache und Literatur des Deutschen an die Privatwirtschaft, begrenzter Mei- Staatlichen Pädagogischen Instituts Engels im Mai 1940. In der ersten Reihe sitzend die nungsfreiheit und kultureller Offenheit Hochschullehrer (von links nach rechts, ab der dritten Person): Töws, Bossert, A. Justus, wurde jetzt eine Diktatur unter Stalins Al- Dominik Hollmann. Quelle: Privatarchiv A. Ziebart leinherrschaft. Auf dem Weg zur Bildung der „neuen Gesellschaft“ wurden ganze Gruppen und Bevölke- im Eiltempo zahlreiche pädagogische Hochschulen, Technika rungsschichten rücksichtslos ausgeschaltet oder vernichtet, die und weitere Bildungseinrichtungen errichtet werden. In den eine mögliche Gefahr darstellten. Darunter waren vor allem fünf Jahren ab 1927/28 stieg die Zahl der Hochschulen in der Kleinunternehmer, wohlhabende Bauern, Freiberufler, national UdSSR von 148 auf 832. Die Zahl der Studenten verdreifachte denkende Intellektuelle, „bürgerliche“ Spezialisten und Wis- sich auf 504.400. Ähnlich war das Wachstum im mittleren senschaftler, Geistliche und aktive Mitglieder von Glaubensge- Fachschulwesen. meinschaften. Dieser gesellschaftliche Wandel ergriff auch die deutsche Be- völkerung der Sowjetunion. So existierten Ende der 1930er Jah- Widersprüchliche Kulturpolitik re in der Wolgadeutschen Republik die folgenden Einrichtun- Für die vorgesehenen Ziele war es unabdingbar, in kürzester gen: Zeit eine einheitliche Massenkultur zu schaffen. Dafür sollten " das Deutsche Pädagogische und das Landwirtschaftliche Institut; " 13 mittlere Fachschulen, darunter ein zooveterinäres Technikum und zwei Feldscher- und Hebammenschulen; " vier landwirtschaftliche Fachschu- len; " eine Musikschule. Bei aller berechtigten Kritik an der Art und Weise dieser Kultur- und Massen- bildungspolitik führten die Maßnahmen Ende der 30er Jahre zu einer spürbaren Hebung des allgemeinen und fachtech- nischen Bildungsniveaus. Die Reservie- rung von Studienplätzen erleichterte den Jugendlichen aus der Republik die Aufnahme an führenden Instituten und Universitäten des Landes. Durch Bil- dungsangebote und berufliche Auf- stiegsmöglichkeiten versuchte die Par- tei nicht ohne Erfolg die jüngere Gene- Anfang 1930er Jahre: die deutsche Kolchosbrigade “Neues Leben” in Iwanowka, Kasachstan. ration für ihre Ziele zu gewinnen.
15 Kollektivierung Für die ländliche Bevölkerung dagegen be- deutete diese seit 1928 verfolgte Politik eine vernichtende Zwangskollektivierung der selbständigen Bauernwirtschaften. Die wohlhabende Schicht, die so genannten Ku- laken, waren restloser Enteignung und an- schließender Verbannung aus ihren Heimat- orten ausgesetzt worden. Bei den deutschen Ansiedlern entlud sich der Protest gegen die Enteignungen und re- ligiösen Verfolgungen Ende 1929 u.a. in ei- ner massenhaften Auswanderungsbewe- gung. Damals versammelten sich in Moskau etwa 14.000 Bauern, vornehmlich Mennoni- ten aus Westsibirien: Sie forderten freie Ausreise und wandten sich an die Deutsche „Das Kochen von Arbusenhonig“, ein Bild des Landschaftsmalers Jakob Weber (1870- 1958), verdienter Künstlers der ASSR der Wolgadeutschen. 1937 wurde er repressiert und Botschaft und die ausländische Öffentlich- erst kurz vor seinem Tod befreit. Quelle: Bildende Kunst der Rußlanddeutschen im 18.-20. keit. Insgesamt gelang es 5.671 Personen, Jahrhundert. Moskau 1997, S. 153. nach Deutschland auszureisen. Von dort zo- gen sie später zu ihren Glaubensbrüdern nach Nord- und Südamerika weiter. Die übrigen wurden von der Miliz und der OGPU (Name der Geheimpolizei bis 1934) gewaltsam in ihre Herkunftsorte zurückbefördert. Die so genannte Kolonistenaffäre schadete dem An- sehen der Sowjetunion erheblich und führte zu einer merklichen Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Weitere Hilferufe ins Ausland während der katastrophalen Hungersnot 1932-33 und sämtliche Kontakte mit Ausländern wertete die sowjetische Führung fortan als Verlet- zung der Untertanentreue. Sie forderte die Partei- und Regierungsorgane zum Kampf “gegen die Faschisten und ihre Helfershel- 1933/34: Arbeiterinnen der Strickerei in Großliebental, Odessa. fer” auf und drohte mit harten Maßnahmen. Alexander Frison Jakob Hummel geb. 1873, gest. 1937 geb. 1893, gest. 1946 Katholischer Bischof. Geboren in Einer der Begründer der archäolo- der Kolonie Baden unweit von gischen Wissenschaft in Aserbeid- Odessa. Studierte am Collegium schan. Geboren in der Kolonie Germanicum in Rom. Promovier- Helenendorf, studierte in Tiflis te zum Dr. phil. und Dr. theol. Naturwissenschaft am Lehrerinsti- Am 22. November 1902 Priester- tut. Ab 1921 war er in seinem Hei- weihe. Ab 1905 Professor am ka- matdorf als Lehrer tätig und baute tholischen Priesterseminar in Sa- gleichzeitig das örtliche Heimat- ratow, dem er ab 1910 als Rektor kundemuseum auf. 1923-24 unter- vorstand. Ab 1919 Seelsorger auf nahm er im Auftrag des republika- der Krim. 1926 wurde Alexander nischen Bildungsministeriums Frison zum Bischof von Odessa eine Studienreise nach Deutsch- ernannt; 1929 erhielt er ohne die land. Ab 1930 beschäftigte er sich Zustimmung der sowjetischen Behörden in Moskau die Bi- wissenschaftlich mit der frühen Geschichte Aserbeidschans schofsweihe. und führte umfangreiche Ausgrabungen durch. 1933 Verhaf- Darauf folgten mehrere Verhaftungen und mehrmonatige tung und nach sechsmonatiger Untersuchungshaft wieder auf Einkerkerungen. Im Herbst 1935 verhaftete das NKWD den freiem Fuß. 1936 wurde er zum korrespondierten Mitglied Bischof zusammen mit weiteren 32 Personen und beschul- des Instituts für Kaukasuskunde der Akademie der Wissen- digte ihn der Spionage zugunsten Deutschlands. Im Septem- schaft Aserbeidschans gewählt. Jakob Hummel ist Verfasser ber 1936 verurteilte ihn das Sonderkollegium des Krimer Ge- mehrerer Monographien in russischer und deutscher Sprache. bietsgerichts in einer geschlossenen Sitzung zum Tod durch 1941 wurde er zusammen mit anderen Kaukasusschwaben Erschießen. Das Urteil wurde im Butyrki-Gefängnis in Mos- nach Kasachstan deportiert. Im Gebiet Akmolinsk verstarb er kau am 20. Juni 1937 vollstreckt. nach langer, schwerer Krankheit
16 siedlung von 15 000 polnischen und deutschen Haus- Vom 1. Januar 1936 bis zum 1. Juli 1938 halten aus der Ukrainischen SSR und ihre wirtschaft- in der UdSSR verhaftete liche Einrichtung im Gebiet Karaganda der Kasachi- schen SSR“. Daraufhin wurden 69.283 Personen aus Personen, nach Nationalitäten gelistet den Grenzgebieten der Ukraine verbannt; 75% der Zwangsausgesiedelten waren Polen. Nationalität Zahl der Anteil an der Anteil der Ein Bericht des Innenministeriums NKWD von 1937 Verhafteten, Gesamtzahl d. Nationalität an nennt für die Monate Juni bis August 49 “faschisti- absolut Verhafteten, der Gesamt- sche und aufständische” Organisationen mit ca. 800 in % bevölkerung Mitgliedern, die man unter der deutschen Bevölke- der UdSSR, in % rung des Gebietes Odessa aufgedeckt habe. Die “Agenten des reichsdeutschen Spionagedienstes” be- Russen 657.799 43,6 58,4 absichtigten angeblich, 60 bis 70% der erwachsenden Ukrainer 189.410 13,3 16,5 Odessa-Deutschen in die antisowjetische Bewegung Polen 105.485 7,4 0,4 einzubeziehen. Gemessen an den vier Jahre später Deutsche 75.331 5,3 0,8 durchgeführten Maßnahmen waren die Vorschläge Weißrussen 58.702 4,1 3,1 zur Behebung des “Missstandes” gemäßigt: Bis zu Juden 30.542 2,1 1,8 5.000 “konterrevolutionäre” Familien müssten aus Letten 21.392 1,5 0,1 dem Gebiet ausgesiedelt werden. Der politischen Finnen 10.678 0,7 0,1 Strafjustiz in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre fie- Insgesamt 1.420.711 100 100 len Minderheiten wie Polen, Deutsche oder Finnen in überdurchschnittlichem Ausmaß zum Opfer Verfolgung von Minderheiten Im Zuge der „deutschen“ Operation des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten in den Jahren des „Großen Terrors“ Ab Mitte der 1930er Jahre vollzog sich in der sowjetischen In- 1937-38 wurden in der Ukraine 21.229 Personen verhaftet und nenpolitik eine deutliche Wende. Neben der umfassenden staat- 18.005 von ihnen zum Tode verurteilt. Obwohl der Anteil der lichen Lenkung aller wirtschaftli- Deutschen an der Bevölkerung nur 1,4% betrug, gehörten sie chen, gesellschaftlichen und kul- mit 14,7% (!) der Opfer zu den am stärksten verfolgten nationa- turellen Bereiche machte sich len Gruppen. eine zunehmende Abkapselung Der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Deutschland vom Ausland bemerkbar. Das vom 23. August 1939 führte zu keiner Veränderung der Lage führte u.a. zum Konzept der der Deutschen in der Sowjetunion. Durch die geheime Abspra- “feindlichen Nationalitäten”: Man che der beiden Diktatoren Stalin und Hitler besetzte die Sowjet- argwöhnte, ausländische Staaten union Bessarabien, die Westukraine und Westweißrussland so- könnten durch nationale Minder- wie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Die heiten schädliche Einflüsse ins dort ansässigen deutschen Minderheiten gerieten in eine Zwick- Land bringen. mühle: Blieben sie in ihren Heimatorten, gerieten sie unter die Die Deutschen gehörten zu den Sowjetherrschaft mit Enteignungen, Verbannungen, Verfol- ersten, die aufgrund ihrer nationa- gung der Gläubigen usw. Wollten die dem entgehen, blieb ih- len Zugehörigkeit massenhafte nen nur eine ungewisse Zukunft im Deutschen Reich als Mittel- Verschickungen über sich erge- lose und Entwurzelte. Haftfoto aus dem Jahr 1930 hen lassen mussten. Im April Die meisten der dort beheimateten Deutschen - in den NS-so- von Prof. Georg Dinges. Quelle: Pokrowsk-Engels. 1936 fasste der Rat der Volks- wjetischen Vereinbarungen als Vertragsumsiedler bezeichnet - Seiten der Geschichte. Nr. 5. kommissare der UdSSR den ge- zogen das aus ihrer Sicht geringere Übel vor und entschieden Saratow 2004, S. 15. heimen Beschluss „Über die Aus- sich für Deutschland. Ausweis des Abgeordneten des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen, des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, d.h. Re- gierungschef der Republik, Alexander Heckmann (1908-1994). Er war auch Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR und der Russi- schen Föderation, was die sowjetischen Machthaber jedoch nicht hinderte, ihn nach der Auflösung der Wolgarepublik in ein Zwangsarbeits- lager einzuweisen. Quelle: Staatsarchiv der Administrativen Organe des Gebietes Swerdlowsk.
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