Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...

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Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
E4542

2 – 2011

           Integrationsland Deutschland
           Vielfalt leben und gestalten
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung

                                                       HEFT 2 – 2011, 2. QUARTAL, 37. JAHRGANG

                                                       Inhalt
»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)
herausgegeben.                                         Editorial                                                                                    1
HERAUSGEBER                                            Geleitwort des Ministeriums
Lothar Frick, Direktor                                 für Kultus, Jugend und Sport                                                                 2
CHEFREDAKTEUR                                          Autoren dieses Heftes                                                                        2
Dr. Reinhold Weber
reinhold.weber@lpb.bwl.de
                                                       Unterrichtsvorschläge                                                              3 – 18
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de                 Einleitung                                                                               3
Mandy Hahn, Stuttgart/Berlin
                                                       Baustein A:     Integrationsland Deutschland                                            13
ANSCHRIFT DER REDAKTION
                                                       Baustein B:     Integration in einer Großstadt –
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77                           der »Stuttgarter Weg«                                                   14
REDAKTION                                              Baustein C:     Migration und Integration –
Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin,                                Themen der Zukunft                                                      17
Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule
für Elektrotechnik), Stuttgart                         Literatur- und Medienhinweise                                                           18
Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule,
Ettlingen                                              Texte und Materialien                                                            19 – 54
Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,
Pädagogische Hochschule Heidelberg                     Baustein A:          Integrationsland Deutschland                                       20
Wibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-,
                                                       Baustein B:          Integration in einer Großstadt –
Haupt- und Realschule Illingen
Angelika Schober-Penz, Studienrätin,                                        der »Stuttgarter Weg«                                              34
Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule),           Baustein C:          Migration und Integration –
Kornwestheim
                                                                            Themen der Zukunft                                                 46
GESTALTUNG TITEL
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
www.bertron-schwarz.de

GESTALTUNG INNENTEIL
                                                       Einleitung:          Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun,
Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N.,          Baustein A:          Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun,
www.8421medien.de
                                                                            Dr. Reinhold Weber
VERLAG                                                 Baustein B:          Alice Bischof
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1,                     Baustein C:          Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun
78050 Villingen-Schwenningen
Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger                               Dr. Reinhold Weber
Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50
anzeigen@neckar-verlag.de
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.
                                                       Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
DRUCK
                                                       www.politikundunterricht.de/2_11/integrationsland.htm
PFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39,
71272 Renningen

Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.        Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern
Preis dieser Nummer: 3,20 EUR                          und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label
Jahresbezugspreis: 12,80 EUR                           zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirt-
Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich            schaftung stammen.
mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
unbedingt die Meinung des Herausgebers und der
Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete
Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.                             THEMA IM FOLGEHEFT
Titelfoto: picture-alliance/dpa
Auflage dieses Heftes: 24.000 Exemplare
Redaktionsschluss: 15. Mai 2011
ISSN 0344-3531                                         60 Jahre Baden-Württemberg
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Editorial
Statistisch gesehen ist Deutschland schon lange Einwan-        Im Vordergrund dieser Ausgabe von Politik & Unterricht
derungsland. Offiziell anerkannt wird das jedoch erst seit     stehen positive und erfolgreiche Beispiele für Maßnahmen,
kurzer Zeit. Die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und   mit denen die Integration von Menschen mit Migrations-
Wirtschaft haben mittlerweile die Themen Migration und In-     hintergrund vorangebracht werden konnte. Vielfalt leben
tegration als eine der drängendsten gesellschaftspolitischen   und gestalten – der Untertitel der Ausgabe betont diesen
Gegenwartsfragen des Landes erkannt. Dabei hat sich das        inhaltlichen Schwerpunkt.
Politikfeld Integration in den letzten Jahren dynamisch
entwickelt. Der Nationale Integrationsplan, die nationalen
Integrationsgipfel oder auch die Islamkonferenz stehen bei-
spielhaft für diese Entwicklung. In den Kommunen, dort wo
Integration ganz pragmatisch und im Alltag gelebt wird, hat
man die Bedeutung dieser Frage schon weit früher erkannt.

Mit dem vorliegenden Heft wollen wir keine gesellschaft-
lichen Debatten über eine vermeintlich gelungene oder
misslungene Integration nachzeichnen, sondern den Lehre-
rinnen und Lehrern des Landes eine Fülle von Materialien mit
weiterführenden Arbeitsaufträgen an die Hand geben, um
mit Schülerinnen und Schülern das politische Handlungsfeld
Integration erarbeiten zu können. In einem ersten Baustein     Lothar Frick                 Dr. Reinhold Weber
werden hierzu Daten, Fakten und Definitionen zum Thema         Direktor der LpB             Chefredakteur
Integration geliefert. Im zweiten Baustein steht Stuttgart
als bundesweites Vorbild in Sachen Integration im Mittel-
punkt, während der dritte Baustein den Blick in die Zukunft
richtet und nach dem Zusammenhang von Migration, Inte-
gration und demographischer Entwicklung in Deutschland
fragt.

Neues Redaktionsmitglied: Martin Mai

                                                               Mehrere Jahre hatte Martin Mai einen Lehrauftrag an der
                                                               Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Fach Politikwis-
                                                               senschaft inne. Dort ging es um die Verknüpfung von Theorie
                                                               und Praxis sowie um methodische Fragen auf dem Feld der
                                                               politischen Bildung. Vor dem Schuldienst war er Heimleiter
                                                               im Alfred-Delp-Haus (Katholisches Wohnheim für Studie-
                                                               rende in Mannheim) sowie pastoraler Mitarbeiter der Katho-
                                                               lischen Hochschulgemeinde Mannheim.

                                                               Für die Landeszentrale für politische Bildung war Martin Mai
                                                               bereits zwei Mal als Autor für »Politik & Unterricht« sowie
Im April 2011 hat die Landeszentrale für politische Bildung    als Rezensent für die Zeitschrift »Der Bürger im Staat«
Baden-Württemberg Herrn Martin Mai in die Redaktion von        tätig. Die Redaktion von P&U freut sich auf die kompetente
»Politik & Unterricht« berufen. Der Diplom-Pädagoge Martin     Bereicherung ihrer Arbeit und auf die Zusammenarbeit mit
Mai, geboren 1971, unterrichtet an der Wilhelm-Lorenz-         Herrn Mai.
Realschule Ettlingen den Fächerverbund EWG (Erdkunde –
Wirtschaftslehre – Gemeinschaftskunde) sowie die Fächer        Lothar Frick und Dr. Reinhold Weber
Deutsch, Katholische Religionslehre und Geschichte. Dort
organisiert er auch das Themenorientierte Projekt BORS (Be-
rufsorientierung in der Realschule).

Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                            1
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport
Die immer wieder geführte Diskussion der Frage, ob wir         Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung Baden-
Einwanderungsland sind oder nicht, ist im Grunde ein Streit    Württemberg, dass sie mit der vorliegenden Ausgabe von
um des Kaisers Bart. In Deutschland leben rund 15 Millionen    Politik & Unterricht das wichtige und zukunftsweisende
Menschen mit Migrationshintergrund, davon etwa 6,7 Millio-     Thema Integration aufgreift und die Lehrerinnen und Lehrer
nen ohne deutschen Pass. Eine gelungene Integration findet     des Landes damit unterstützt, aktuellen Unterricht gestalten
hierzulande schon seit Jahrzehnten statt, wenngleich si-       zu können.
cherlich in einigen Bereichen noch Verbesserungen erreicht
werden können. Aber im Getöse der immer wiederkehrenden        Gernot Tauchmann
sogenannten Debatten über Integration oder über den Islam      Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
in Deutschland wird bisweilen vergessen, dass in Deutsch-      Baden-Württemberg
land seit langer Zeit schon Menschen aus zahlreichen unter-
schiedlichen Nationen und aus allen Kulturkreisen der Welt
friedlich zusammenleben. Darin steckt ein großes Potenzial
unseres Landes, das es weiter zu stärken gilt.

In den baden-württembergischen Bildungsstandards ist das
Thema Integration beispielsweise im Gymnasium im Rahmen
des Fachs Gemeinschaftskunde verankert. Die Schülerinnen
und Schüler erwerben unter anderem die Kompetenz, »Mög-
lichkeiten und Probleme der Integration in einer pluralis-
tischen Migrationsgesellschaft dar[zu]stellen fallbezogen
[zu] beurteilen«, oder aber, im vierstündigen Wahlkernfach
in der Kursstufe, »Maßnahmen der Integrationspolitik [zu]
erläutern und in der Kontroverse über Zielsetzung und Reich-
weite von Integrationspolitik Stellung [zu] beziehen«.

                                                                           AUTOREN DIESES HEFTES

                                                                           Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun ist Leiter der
                                                                           Redaktion SWR International und Integrations-
                                                                           beauftragter des Senders. Er ist Honorarpro-
                                                                           fessor am Institut für Politikwissenschaft der
                                                                           Eberhard Karls Universität Tübingen und Stell-
                                                                           vertretender Vorsitzender des Rates für Mig-
                                                                           ration, eines bundesweiten Zusammenschlusses
                                                                           von Migrations- und Integrationsexperten.
                                                                           Alice Bischof ist Studienrätin am Königin-
                                                                           Charlotte-Gymnasium in Stuttgart-Möhringen.
                                                                           Sie unterrichtet dort die Fächer Gemeinschafts-
                                                                           kunde, Geschichte und Deutsch.
                                                                           Dr. Reinhold Weber ist Chefredakteur der Zeit-
                                                                           schrift Politik & Unterricht bei der LpB Baden-
                                                                           Württemberg. Er ist Lehrbeauftragter am Semi-
                                                                           nar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Uni-
                                                                           versität Tübingen.

2                                                                                                      Politik & Unterricht • 2-2011
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Integrationsland Deutschland
                      Vielfalt leben und gestalten

                      ●●●         EINLEITUNG                                         sozialer und politischer Integration. Von einer gleichbe-
                                                                                     rechtigten Teilhabe an Bildung, Erziehung oder Ausbildung
                                                                                     – das belegen zahlreiche Studien unterschiedlicher Proveni-
                                                                                     enz – sind wir aber in Deutschland noch weit entfernt. So
                      Migration und Integration bestimmen seit Jahren die Schlag-    schneiden ausländische Schülerinnen und Schüler im Durch-
                      zeilen in Deutschland. Oft werden diese Begriffe aber ver-     schnitt immer noch deutlich schlechter ab als deutsche
                      wendet, ohne genau zu sagen, was damit eigentlich gemeint      Mädchen und Jungen. Wie aus dem Jahresgutachten 2010
                      ist. Das Wort Migration kommt aus der lateinischen Sprache.    des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integra-
                      »Migratio« heißt übersetzt so viel wie »Wanderung«. Die        tion und Migration hervorgeht, erreichen Schüler »deutscher
                      Menschen verlassen dabei ihre Heimat, weil sie dort keine      Herkunft« zu 32 Prozent die Hoch- oder Fachhochschulreife,
                      Arbeit finden oder aus anderen Gründen fliehen müssen.         bei den ausländischen Schülern sind es nur 12 Prozent. Beim
                      Integration (von lat. integrare = wiederherstellen, Herstel-   Hauptschulabschluss ist der Unterschied noch größer: 21
                      lung eines Ganzen) ist die Zusammenführung des »Verschie-      Prozent der deutschen, aber rund 40 Prozent der auslän-
                      denen«, wobei das Verschiedene als solches kenntlich bleibt.   dischen Schüler haben einen Hauptschulabschluss.
                      In der politischen Diskussion wird dieser Begriff oftmals
                      als Assimilation verstanden, das heißt, als Aufgabe der ei-    Gerade aus der deutschen Aus- und Einwanderungsge-
                      genen kulturellen und sprachlichen Herkunft und im Sinne       schichte lässt sich ablesen, dass Integration Zeit braucht
                      einer vollständigen Anpassung an die deutsche Gesellschaft.    und nicht erzwungen werden kann. Meist dauert es eine
                      Dabei wird in der Regel nicht festgelegt, an welche Normen     Generation und länger, bis sich Migranten angepasst haben.
                      und Werte sich die Einwanderer eigentlich genau anpassen       Ihre kulturellen Wurzeln behalten gerade auch die Deutschen
                      sollen und was letztendlich das Vorbild eines angepassten      im Ausland lange bei und pflegen ihre Traditionen und
                      Ausländers oder eines »integrierten Deutschen« ist.            Feste. So gibt es beispielsweise in den USA eine ausge-
                                                                                     prägte deutsche Kultur, etwa mit Oktoberfesten oder der
                      Integration stellt aber einen wechselseitigen Prozess zwi-     Steuben-Parade als einem der größten Feste im deutsch-
                      schen Zuwanderern und Einheimischen dar. Dabei sollen          amerikanischen Festkalender.
                      die Lebensverhältnisse beider Gruppen angeglichen und
                      Chancengleichheit in wichtigen Bereichen der Gesellschaft      Die Lebenslüge vom »Nicht-Einwanderungsland«
                      erreicht werden. Integration spielt sich in verschiedenen      Deutschland ist kein Einwanderungsland! Dieser Kernsatz
                      Bereichen ab. Man spricht unter anderem von kultureller,       stand bereits in der Verwaltungsvorschrift zum Reichs- und

                                                                                                       Die deutsche Sprache ist eine zentrale
                                                                                                       Voraussetzung für Bildungserfolg und
                                                                                                       soziale Integration in Deutschland.
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                      Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                             3
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Einleitung

                       Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das noch bis 1990            Migranten in die alte Bundesrepublik. Elf Millionen zogen in
                       uneingeschränkt galt »und die Praxis der Einbürgerungs-           diesem Zeitraum wieder weg. So wurde Deutschland in dieser
                       behörden bestimmt hat«, wie Dorothea Koller, die jetzige          frühen Phase schon zum Einwanderungsland.
                       Leiterin des Stuttgarter Amts für öffentliche Ordnung und
                       langjährige Chefin einer der größten Ausländerbehörden in         Erst die Reform des Ausländergesetzes, die am 1. Januar
                       Deutschland, feststellt. Dieses Motto dominierte auch noch        1991 in Kraft trat, markierte eine gewisse Wende in der
                       die Ausländerpolitik der Bundesrepublik in der Zeit der An-       Ausländerpolitik. Zum ersten Mal gab es jetzt einen Rechts-
                       werbung der »Gastarbeiter«, die dringend als Arbeitskräfte        anspruch auf Einbürgerung. Bereits in den frühen »Gast-
                       im Nachkriegsdeutschland gesucht wurden. 1955 wurde das           arbeiterjahren« bemühten sich Kirchen, Gewerkschaften und
                       erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen. 1960             Wohlfahrtsverbände, die Arbeitsmigranten durch Beratungs-
                       folgten Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1964           maßnahmen oder »Eingliederungshilfen« zu unterstützen,
                       Portugal, das damalige Jugoslawien 1968. Bereits 1965 traf        eine staatliche Integrationspolitik gab es jedoch bis vor
                       die Bundesregierung entsprechende Vereinbarungen mit              kurzem nicht. Die Bundesregierung schuf 1978 das Amt
                       Tunesien und Marokko, was weitgehend unbekannt geblie-            eines Ausländerbeauftragten. Von 1979 bis 1980 standen
                       ben ist. Jahrzehntelang ging man in Deutschland davon             sogar Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländer-
                       aus, dass die ausländischen Arbeitskräfte über kurz oder          politik. 1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bun-
                       lang wieder heimkehren würden. Auch die Arbeitsmigranten          desregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein-
                       selbst lebten mit dieser »Rückkehrillusion«.                      Westfalen, Heinz Kühn (SPD), ein Memorandum vor. Kühn
                                                                                         kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von
                       Deutschland ist keinesfalls blind in einen Einwanderungs-         arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden
                       prozess hineingeschlittert, wie oft behauptet wird. Nachdem       sei. Er forderte die Anerkennung der »faktischen Einwan-
                       die Archive jetzt für die Forschung geöffnet wurden, zeigt        derung«, Integrationsmaßnahmen und beispielsweise ein
                       sich, dass die politisch Verantwortlichen in den Ministerien      Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon
                       sich schon in den 1960er Jahren durchaus bewusst waren,           auf den Geburtenrückgang und die Auswirkungen auf den
                       dass Einwanderung stattfindet und damit Integrationsprob-         Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine »Gastarbeiter« mehr, son-
                       leme verbunden sein werden. Allerdings wurde das Thema            dern Einwanderer. 1980 blieb die damalige sozialliberale
                       Integration erst viel zu spät als wichtiges gesamtgesell-         Bundesregierung mit ihren ausländerpolitischen Beschlüs-
                       schaftliches Politikfeld erkannt und die Weichen in Richtung      sen allerdings weit hinter den Forderungen ihres Auslän-
                       Integration gestellt.                                             derbeauftragten zurück und lehnte seine Vorschläge für ein
                                                                                         Ausländerwahlrecht oder für Einbürgerungserleichterungen
                       Die Bundesrepublik nahm lange Zeit mehr Zuwanderer auf als        für ausländische Jugendliche ab.
                       die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusam-
                       men. Nach offizieller Lesart der Politik blieb Deutschland aber   Deutschland wird offiziell zum Einwanderungsland
                       fast ein halbes Jahrhundert lang noch kein Einwanderungs-         Zwanzig Jahre gingen ins Land, bis eine Wende in der Migra-
                       land, obwohl Artikel 73 des Grundgesetzes klar von »Einwan-       tionspolitik einsetzte. Zunächst einmal sollte sich Grundsätz-
                       derung« als Aufgabe des Bundes spricht. Allein von 1955           liches mit einem klaren Bekenntnis zum Einwanderungsland
                       bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 kamen 14 Millionen             ändern. So jedenfalls kündigte es die 1998 neu gewählte

                                                                                                            Zoi Becker sitzt im Februar 2010
                                                                                                            in ihrer Wohnung in Stuttgart vor
                                                                                                            Familienfotos. Sie kam 1961 als
                                                                                                            griechische Gastarbeiterin nach
                                                                                                            Deutschland. Im März 2010 jährte
                                                                                                            sich das deutsch-griechische Anwerbe-
                                                                                                            abkommen zum fünfzigsten Mal.
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                       4                                                                                                          Politik & Unterricht • 2-2011
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Einleitung

                       Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in           schaften, Kirchen, Unternehmerverbänden und anderer ge-
                       ihrem Koalitionsvertrag an. Die schließlich verabschiedeten    sellschaftlich relevanter Gruppen zusammen. Die politischen
                       erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für          Parteien riefen ebenfalls solche Kommissionen ins Leben. Die
                       Ausländerkinder, die am 1. Januar 2000 in Kraft traten,        Unabhängige Kommission »Zuwanderung«, auch Süssmuth-
                       stellten nun tatsächlich einen Wendepunkt in der Auslän-       Kommission genannt, forderte in ihrem Abschlussbericht
                       derpolitik dar. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung     2001 ein integrationspolitisches Gesamtkonzept.
                       damit vom Abstammungsprinzip (ius sanguinis = »Recht
                       des Blutes«) ab, wonach die Staatsangehörigkeit von den        In den Jahren 2001 bis 2004 entwickelte sich eine kontro-
                       Eltern abgeleitet wird. Kern der Reform war die Einbürgerung   verse und bisweilen dramatisch zu nennende Debatte um das
                       durch das Geburtsrecht (ius soli = »Recht des Bodens bzw.      Zuwanderungsgesetz. Mit großer Mehrheit verabschiedete
                       Landes«), wonach die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort        der Bundestag schließlich nach langem Hin und Her am
                       bzw. -land abgeleitet wird. Das Staatsangehörigkeitsrecht      1. Juli 2004 den Zuwanderungskompromiss. Das in der Öf-
                       aus dem Jahr 1913 wurde damit zu Grabe getragen und ein        fentlichkeit kurz als Zuwanderungsgesetz bezeichnete Re-
                       historisch bedeutsamer Kurswechsel in der Migrationspoli-      formwerk stand von Anfang an unter der Überschrift »Gesetz
                       tik vorgenommen. In der 1999 veröffentlichten Broschüre        zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
                       der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht        Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unions-
                       wurde denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bun-      bürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)«. Zur Klar-
                       desrepublik regierungsamtlich festgestellt: »Deutschland ist   stellung wurde im Vermittlungsverfahren auf Wunsch der
                       schon längst zum Einwanderungsland geworden.« Mit der          Unionsparteien im Paragraph 1 (»Zweck des Gesetzes«) die
                       Reform des Staatsangehörigkeitsrechts entstand jedoch eine     Formulierung aufgenommen, dass das Gesetz Zuwanderung
                       Reihe von Problemen. Dazu gehört vor allem das sogenannte      »unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrations-
                       Optionsmodell. Demnach müssen sich in Deutschland gebo-        fähigkeit« ermöglicht und gestaltet. Die ursprüngliche For-
                       rene Kinder ausländischer Eltern, die die deutsche Staats-     derung der Union – »unter Berücksichtigung der nationalen
                       angehörigkeit erhalten haben, mit der Volljährigkeit für die   Interessen und der nationalen Identität« – wurde allerdings
                       deutsche oder die ausländische Staatsangehörigkeit ihrer       nicht im Gesetz verankert. Ob im Ergebnis der langwierigen
                       Eltern entscheiden. Das betrifft vor allem Jugendliche mit     Verhandlungen das von der rot-grünen Regierung und Innen-
                       türkischen Eltern. Junge Menschen aus Spanien, Italien oder    minister Schily angekündigte »modernste Zuwanderungs-
                       Portugal dürfen beide Staatsangehörigkeiten behalten, weil     recht Europas« steht, ist umstritten. Für viele Beobachter
                       diese Länder in der Europäischen Union sind.                   war am Ende des Allparteienkompromisses eher der kleinste
                                                                                      gemeinsame Nenner geblieben, auch wenn das Gesetz immer
                       Das Zuwanderungsgesetz – Licht und Schatten                    noch besser bewertet wird als der frühere Zustand.
                       Im Herbst 2000 setzte Bundesinnenminister Otto Schily
                       (SPD) eine Zuwanderungskommission unter der Leitung der        Auf die Forderung der Unionsparteien hin wurde der Para-
                       früheren Bundestagspräsidentin und Bundesfamilienminis-        graph 20 (»Zuwanderung im Auswahlverfahren«) mit der
                       terin Rita Süssmuth (CDU) ein. Diese Kommission sollte         Möglichkeit der Einwanderung nach einem Punktesystem be-
                       die Situation aufarbeiten und Empfehlungen aussprechen.        reits in den Vermittlungsgesprächen gestrichen. Zum ersten
                       Sie setzte sich unter anderem aus Vertretern von Gewerk-       Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wäre

                                                                                                         Der saarländische Ministerpräsident
                                                                                                         Peter Müller, Bundesinnenminister
                                                                                                         Otto Schily und der bayerische Innen-
                                                                                                         minister Günther Beckstein (v.l.n.r.)
                                                                                                         beantworten am 12. März 2004 bei
                                                                                                         ihrer Ankunft zu einer neuen Verhand-
                                                                                                         lungsrunde der vom Vermittlungs-
                                                                                                         ausschuss eingesetzten Arbeits-
                                                                                                         gruppe zur Zuwanderung in Berlin
                                                                                                         Fragen der Journalisten. Die Unter-
                                                                                                         händler von Regierung und Opposition
                                                                                                         versuchten weiter, einen Kompromiss
                                                                                                         beim Zuwanderungsgesetz zu finden,
                                                                                                         der schließlich nach langem Hin und
                                                                                                         Her zustande kam.
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                       Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                             5
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Einleitung

                      damit aber Zuwanderung durch ein solches Auswahlverfahren        Zum ersten Mal wird durch das Zuwanderungsgesetz ein In-
                      möglich gewesen. Eine genau festgelegte Anzahl von quali-        tegrationsanspruch für Neuzuwanderer eingeführt. Wer nicht
                      fizierten Bewerbern hätte unabhängig von einem konkreten         an den Integrationskursen teilnimmt, muss mit aufenthalts-
                      Arbeitsplatzangebot – ausgerichtet nach den wirtschaftlichen     rechtlichen Sanktionen rechnen. Sogenannte »Bestandsaus-
                      Interessen Deutschlands – ins Land geholt werden können.         länder« – solche also, die schon länger in Deutschland
                      Dies wäre eine historische Neuerung in der deutschen Migra-      leben – können zu Kursen verpflichtet werden, wenn sie das
                      tionspolitik gewesen, angelehnt an die Erfolge klassischer       Arbeitslosengeld II beziehen, besonders integrationsbedürf-
                      Einwanderungsländer wie Kanada, Australien und den USA.          tig sind und Plätze zur Verfügung stehen. Bei Verletzung der
                      In der Praxis hätten Bundestag und Bundesrat einem sol-          Teilnahmepflicht sollen die Sozialleistungen gekürzt werden.
                      chen Verfahren zustimmen müssen, so dass auf keinen Fall –       Die Kosten der Integrationskurse trägt der Bund.
                      wie von den Gegnern der Regelung unterstellt – mit diesem
                      Paragraphen 20 Tür und Tor für eine erhöhte Zuwanderung          Nach den Terroranschlägen in Madrid am 11. März 2004
                      geöffnet worden wäre. Auch eine Null-Zuwanderung wäre aus        wurden im Vermittlungsverfahren umfangreiche Vorschläge
                      arbeitsmarktpolitischen Gründen durchaus möglich gewesen.        der Unionsparteien zu Sicherheitsaspekten aufgenommen.
                                                                                       Zur Verwirklichung der Freizügigkeit in der Europäischen
                      Das Zuwanderungsgesetz enthält eine komplette Novellie-          Union schafft das Gesetz die Aufenthaltserlaubnis für Uni-
                      rung des Ausländerrechts, das – so wurde immer wieder kri-       onsbürgerinnen und Unionsbürger ab. Künftig besteht nur
                      tisiert – selbst von Juristen nicht mehr zu durchschauen war.    noch – wie für Deutsche – eine Meldepflicht bei den Behör-
                      Statt fünf Aufenthaltstiteln gibt es jetzt nur noch zwei: eine   den. Bei Familienangehörigen von Spätaussiedlern wurde
                      (befristete) Aufenthaltserlaubnis und eine (unbefristete)        der Nachweis über Grundkenntnisse der deutschen Sprache
                      Niederlassungserlaubnis. Ein neues Bundesamt für Migra-          als Voraussetzung für die Einbeziehung in den Aufnahme-
                      tion und Flüchtlinge (BAMF) wurde geschaffen, das aus dem        bescheid eingeführt, wodurch die Zugangszahlen in diesem
                      bisherigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer           Bereich weiter verringert werden sollten.
                      Flüchtlinge in Nürnberg hervorging.
                                                                                       Das Ringen um das Zuwanderungsgesetz ist eines der zahl-
                      Gestrichen wurde allerdings der Paragraph 76 (»Sachverstän-      reichen Beispiele für die parteipolitische Politisierung der
                      digenrat für Zuwanderung und Integration«). Dieser vom           Ausländerpolitik. Bereits am 22. März 2002 war in der um-
                      Bundesinnenminister eingerichtete Zuwanderungsrat hatte          strittenen Bundesratssitzung »eine politische Kampfsitua-
                      sich bereits am 26. Mai 2003 unter dem Vorsitz von Rita          tion auf die Spitze getrieben worden«, wie es Bundesprä-
                      Süssmuth konstituiert. Nach dem Gesetzentwurf sollte der         sident Johannes Rau (SPD) kritisierte. Im Hinblick auf die
                      Zuwanderungsrat einen den »Wirtschaftsweisen« vergleich-         anstehenden Bundestagswahlen ging es in erster Linie um
                      baren Stellenwert bekommen. Sang- und klanglos wurde             eine Machtprobe zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder
                      dieses wichtige Gremium allerdings aufgelöst, nachdem            (SPD) und seinem Herausforderer und bayerischen Minis-
                      es seinen ersten Bericht veröffentlicht und vorgeschlagen        terpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), denn schließlich han-
                      hatte, in stark begrenztem Umfang Zuwanderung zuzulassen.        delte es sich um ein Kernstück rot-grüner Politik. Dabei
                      Dadurch war der Expertenkreis beim Bundesinnenminister           hatten die Parteien mit ihren Konzepten gar nicht so weit
                      offensichtlich in Ungnade gefallen.                              auseinandergelegen. Der Gesetzentwurf war bereits ein

                                                                                                          Teilnehmer in einem Integrations-
                                                                                                          kurs »Deutsch als Fremdsprache«
                                                                                                          an der Volkshochschule Leipzig,
                                                                                                          aufgenommen im November 2010.
                                                                                                          Der vom Bundesamt für Migration
                                                                                                          und Flüchtlinge (BAMF) geförderte
                                                                                                          Kurs gehört zu drei Leistungsstufen
                                                                                                          mit insgesamt 645 Stunden, die von
                                                                                                          den ausländischen Teilnehmern inner-
                                                                                                          halb eines Jahres absolviert werden
                                                                                                          können.
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Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Einleitung

                 »rot-grün-schwarzer« Kompromiss. Man hätte sich durch-            unserer Zukunft.« Diese Äußerungen wurden damals kaum
                 aus einigen können, wenn man gewollt hätte, aber alle             kritisiert. Bundespräsident Christian Wulff (CDU) sprach in
                 Parteien setzten die Zuwanderungspolitik zum Machterwerb          seiner Antrittsrede am 2. Juli 2010 von einer »Bunten Re-
                 und Machterhalt ein.                                              publik Deutschland«. Noch als Ministerpräsident von Nie-
                                                                                   dersachsen hatte er die erste türkischstämmige Ministerin
                 Schon immer war Ausländerpolitik eine Art von Symbolpo-           in Deutschland, Aygül Özkan, als Ministerin für Soziales,
                 litik, bei der einer vermeintlich beunruhigten Wählerschaft       Frauen, Familie, Gesundheit und Integration eingesetzt. Als
                 konsequentes Handeln vorgeführt werden sollte; sie war ein        Bundespräsident wiederholte er, was Schäuble gesagt hatte,
                 Mittel, um sich politisch zu profilieren. Die Interessen und      nämlich, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Doch dieses
                 Bedürfnisse der Minderheiten, der früheren »Gastarbeiter«,        Mal löste er damit eine Kontroverse aus.
                 Flüchtlinge, Asylsuchenden oder Spätaussiedler und ihre
                 Integration in die Gesellschaft standen weniger im Mit-           Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU)
                 telpunkt als die »politische Ausschlachtung« des Themas.          distanzierte sich gleich bei seinem Amtsantritt im März 2011
                 Ausländerpolitik ist so bisweilen auch ein Beispiel dafür, wie    von den Worten des Bundespräsidenten und sagte, die in der
                 in einem Bereich Politik gemacht werden kann, ohne auf die        Bundesrepublik lebenden Menschen islamischen Glaubens
                 Betroffenen Rücksicht nehmen zu müssen. Das hat sich in           gehörten natürlich zu Deutschland, »dass aber der Islam zu
                 den letzten Jahren geändert, denn inzwischen geht es um           Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der
                 mehr als eine Million Deutscher ausländischer Herkunft, die       Historie nirgends belegen« ließe. Dies stieß bei den musli-
                 das Wahlrecht haben. Die Parteien haben angefangen, diese         mischen Verbänden auf herbe Kritik und überschattete die
                 Wählergruppen zu entdecken.                                       Deutsche Islam Konferenz (DIK), durch die ein fairer Dialog
                                                                                   mit den Muslimen ins Leben gerufen werden sollte.
                 Integration im Mittelpunkt
                 In den letzten Jahren hat die Politik Selbstkritik in Sachen      Auch wenn vieles im Bereich von Absichtserklärungen blieb
                 Migrationspolitik geübt. Bundespräsident Horst Köhler (CDU)       und im Hinblick auf Medienereignisse gesagt wurde, so
                 kritisierte im April 2006, Deutschland habe die Integration       bekam Deutschland seit dem Jahr 2000 einen kräftigen
                 »verschlafen«. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte          Schub in Richtung Integration. Man kann sogar sagen, dass
                 ein Jahr später: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema      in den letzten zehn Jahren mehr integrationspolitische
                 Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank           Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden als in den vier
                 geschoben.« Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD er-           Jahrzehnten zuvor. Meilensteine waren das Staatsangehö-
                 klärte 2005 das Thema Integration zu einer Schwerpunktauf-        rigkeitsgesetz von 2000, die »Süssmuth-Kommission«, das
                 gabe. Der Posten einer Staatsministerin für Integration und       Zuwanderungsgesetz von 2005, der Nationale Integrations-
                 Migration wurde im Kanzleramt geschaffen und mit Maria            plan (NIP) sowie die Deutsche Islam Konferenz ab 2006.
                 Böhmer (CDU) besetzt. Die CDU/CSU/SPD-Bundesregierung             Außerdem hat die kommunale Integrationspolitik in den
                 steuerte von 2005 bis 2009 eindeutig einen integrations-          letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, auch
                 politischen Kurs. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble           wenn Städte wie Stuttgart bereits seit langem eine Vor-
                 (CDU) stellte 2006 fest: »Der Islam ist Teil Deutschlands         reiterrolle auf diesem Gebiet übernommen haben.
                 und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil
Gerhard Mester

                 Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                               7
Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
Einleitung

»Migrationshintergrund« eingeführt                             sind in der Migrations- und Integrationspolitik verschiedene
Von besonderer Bedeutung war auch, dass seit dem Jahr          Ministerien beteiligt, was zu Kompetenzstreitigkeiten führt
2005 im Rahmen des Mikrozensus, der größten amtlichen          und für viele Beobachter für eine Bündelung aller Maßnah-
Haushaltsbefragung in Deutschland, auch nach dem Migra-        men in einem Bundesintegrationsministerium spricht.
tionshintergrund gefragt wurde. Die Unterscheidung zwi-
schen deutscher und ausländischer Nationalität erwies sich     Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) verabschiedete aus den
immer mehr als unzureichend, weil sich viele Ausländer         Arbeitsgruppen bis 2009 verschiedene Zwischenergebnisse.
eingebürgert haben. Zu den Personen mit Migrationshinter-      Dazu gehören Empfehlungen für die Einführung von isla-
grund zählen:                                                  mischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach, die
1. Alle in Deutschland lebenden Ausländer, das heißt sowohl    Annahme von Empfehlungen zu Bau und Betrieb von Mo-
die Menschen ohne deutschen Pass, die selbst zugewandert       scheen in Deutschland sowie zu islamischen Bestattungen,
sind, als auch die in Deutschland geborenen Ausländer.         Empfehlungen zur Einrichtung islamisch-theologischer Lehr-
2. Deutsche mit Migrationshintergrund. Diese Gruppe der        einrichtungen an deutschen Universitäten sowie Empfeh-
Migranten umfasst auch Personen mit deutscher Staatsbür-       lungen für eine verantwortungsvolle, vorurteilsfreie und dif-
gerschaft, nämlich                                             ferenzierte Berichterstattung über Muslime und den Islam.
◗ Spätaussiedler und Eingebürgerte,
◗ die Kinder von Spätaussiedlern und Eingebürgerten,           Der Allparteienkonsens in der Migrationspolitik blieb lange
◗ die Kinder ausländischer Eltern, die bei der Geburt zu-      Zeit bestehen. Aus den Wahlkämpfen – vor allem aus dem
   sätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben     Bundestagswahlkampf 2009 – wurde das Thema größtenteils
   (nach der »ius soli«-Regelung),                             herausgehalten. In diesem Sinne war die Große Koalition
◗ Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen      ein »Segen« für die Integrationspolitik. Auch die neue Bun-
   also nur ein Elternteil Migrant ist,                        desregierung von CDU, CSU und FDP kündigte 2009 in ihrem
◗ sowie eingebürgerte nicht zugewanderte Ausländer.            Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode bis 2013 eine
Bei der Bestimmung des Migrationshintergrunds wird dabei       konsequente Fortsetzung der Integrationspolitik an.
nur die Zuwanderung ab 1950 berücksichtigt.
                                                               Alles in allem ist die Integration in Deutschland besser als
Nach den Ergebnissen des Mikrozensus lebten in Baden-          ihr Ruf. Zahlreiche Untersuchungen belegen dies, wenngleich
Württemberg im Jahr 2007 rund 2,7 Millionen Menschen mit       diese Tatsache in Politik und Medien oftmals untergeht.
Migrationshintergrund. Mehr als ein Viertel der Baden-Würt-    So belegt beispielsweise eine Studie der Konrad-Adenauer-
temberger gehört somit zu den Migranten. Diese Bevölke-        Stiftung vom März 2011, dass Muslime der deutschen Gesell-
rungsgruppe besteht aus 1,4 Millionen Personen mit deut-       schaftsordnung und den demokratischen Institutionen weit
scher Staatsangehörigkeit und etwa 1,3 Millionen Ausländern.   überwiegend aufgeschlossen und positiv gegenüberstehen.
Mit gut 25 Prozent liegt in Baden-Württemberg der Anteil
dieser Personengruppe deutlich über dem Bundesdurchschnitt     Die Debatte spitzt sich zu
von etwa 19 Prozent. Insgesamt leben in Deutschland 15         Dass das integrationspolitische Fundament in Deutschland
Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.                  aber noch immer brüchig ist, zeigt die »Sarrazin-Debatte«.
                                                               Mit einer ziemlich einzigartigen Medienkampagne und Vor-
Der NIP und die DIK                                            abdrucken im Magazin DER SPIEGEL und in der BILD-Zeitung
Die Integrationsgipfel sind seit 2006 im Bundeskanzler-        wurde das Buch von Thilo Sarrazin (»Deutschland schafft
amt stattfindende Konferenzen, bei denen Vertreter unter       sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen«), unterstützt
anderem aus Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbän-        von der Islamkritikerin Necla Kelek, am 30. August 2010 in
den, Sportverbänden und Migrantenverbänden Probleme der        Berlin vorgestellt. Der frühere Berliner Finanzsenator, seit
Zuwanderung diskutieren und Lösungsvorschläge vorlegen.        2009 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und SPD-
Daraus wurde der Nationale Integrationsplan (NIP) entwi-       Mitglied, bezeichnet die »Gastarbeitereinwanderung« der
ckelt, der 2007 auf Bundesebene den Stand der Integration      1960er und 70er Jahre als »gigantischen Irrtum«. Analysen,
auf verschiedenen Ebenen beleuchtet und Absichtserklä-         ob die ausländischen Arbeitskräfte und deren Familien über-
rungen sowie Selbstverpflichtungen formuliert. Er enthält      haupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht hätten, gibt es
einen Handlungsrahmen, weniger jedoch eine Finanzierung        seiner Meinung nach nicht. Dabei zeigen Untersuchungen,
und Umsetzung neuer Integrationsmaßnahmen. Nach dem            dass beispielsweise allein zwischen 1960 und 1970 rund
Nationalen Integrationsplan sollen die Integrationskurse       2,3 Millionen Deutsche vor allem wegen der Ausländerbe-
verbessert und eine frühe Sprachförderung auf den Weg          schäftigung mit einem »Fahrstuhleffekt« den Aufstieg von
gebracht werden. Im Jahr 2008 wurde ein erster Fortschritts-   Arbeiter- in Angestelltenpositionen geschafft haben. Nach
bericht zum NIP vorgelegt. Auf der Grundlage des NIP wurde     Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre 1976
ein Aktionsplan erstellt, der auf dem 4. Integrationsgipfel    ermöglichten die ausländischen Arbeitnehmer unter Wahrung
am 3. November 2010 behandelt wurde. Für den NIP ist die       eines starken Wirtschaftswachstums eine deutliche Verringe-
Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer zuständig. Par-     rung der Arbeitszeit der Deutschen. Untersuchungen, Daten
allel dazu besteht ein bundesweites Integrationsprogramm       und Fakten, die nicht in das Horrorszenario des Buches von
des Bundesinnenministeriums mit dem Bundesamt für Mig-         Sarrazin passen, werden an dieser und anderen Stellen igno-
ration und Flüchtlinge. Wie schon in der Vergangenheit,        riert. So braucht man wirtschaftlich gesehen seiner Ansicht

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Einleitung

                       nach die muslimische Migration in Europa nicht. Demogra-         ein: »Es gibt nämlich keine wissenschaftlich zuverlässige
                       phisch stelle »die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Mi-     Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere
                       granten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische   Jahrzehnte verlässlich vorherzusagen.« (Zitat S. 359/360)
                       Gleichgewicht im alternden Europa dar«, so Sarrazin.             Auf der anderen Seite malt er immer wieder ein Schreck-
                                                                                        gespenst an die Wand, wonach die Deutschen durch die
                       Weil Migranten mehr Kinder bekommen, sinke in Deutsch-           Zuwanderung und das Geburtenverhalten der Türken bald in
                       land die durchschnittliche Intelligenz, behauptet Sarrazin.      der Minderheit sein werden.
                       Was wir bräuchten, seien »mehr Kinder von Klugen, bevor es
                       zu spät ist«. Die Deutschen müssten ziemlich rasch und ra-       Der Vorsitzende der rechtsextremen NPD, Udo Voigt, sieht
                       dikal ihr Geburtenverhalten ändern, die Unterschicht müsse       sich und andere Rechtsextreme durch die Thesen von Thilo
                       weniger Kinder bekommen und die Mittel- und Oberschicht          Sarrazin bei künftigen Prozessen wegen Volksverhetzung
                       deutlich mehr als bisher. Akademikerinnen sollten nach An-       geschützt. Gegenüber dem ARD-Politikmagazin »Report
                       sicht des früheren Berliner Finanzsenators eine staatliche       Mainz« sagte Voigt: »Unsere Aussagen werden damit salon-
                       Prämie von 50.000 Euro für jedes Kind bekommen, das vor          fähiger und es ist dann immer schwerer, Volksverhetzungs-
                       Vollendung des 30. Lebensjahrs der Mutter geboren wird.          verurteilungen gegen NPD-Funktionäre anzustreben, wenn
                                                                                        wir uns zur Ausländerpolitik äußern, wenn sich etablierte
                       Verschiedene Datenchecks widerlegten die Behauptungen,           Politiker auch trauen, das zu äußern.« Wellen der Empörung
                       die im Buch von Sarrazin aufgestellt werden. Beispielsweise      löste ein Satz des Bundesbankvorstandes in einem Interview
                       schreibt Sarrazin: »Sichtbares Zeichen für die muslimischen      mit der Welt am Sonntag (29. August 2010) aus, in dem er
                       Parallelgesellschaften ist das Kopftuch. Seine zunehmende        sagte: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben
                       Verbreitung zeigt das Wachsen der Parallelgesellschaften         bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.« Die
                       an.« Eine Untersuchung des Bundesamtes für Migration und         katholische Kirche kritisierte diese Ansicht scharf. »Solche
                       Flüchtlinge zum Thema »Muslimisches Leben in Deutsch-            Formulierungen sind geeignet, latent vorhandenen Rassis-
                       land« stellt dagegen fest, dass in der zweiten Generation        mus mit allen darin enthaltenen Vorurteilen zu bedienen«,
                       die Häufigkeit des Kopftuchtragens signifikant abnimmt.          sagte der Vorsitzende der Migrationskommission der Deut-
                       Über 40 Prozent aus der zweiten und dritten Generation der       schen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle. Das Buch
                       türkischen »Gastarbeiter« verlassen die Schule mit besserem      sei »ein Schritt vom dumpfen Rassismus zum intellektuellen
                       Bildungsabschluss als die Eltern. Auch die Deutschkennt-         Rassismus«, so Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen
                       nisse haben sich verbessert. Die soziale Integration – der       Gemeinde in Deutschland. Die Deutschtürkin Aylin Selçuk,
                       Kontakt mit Nachbarn und Kollegen – hat zugenommen. Die          die Hauptinitiatorin des Vereins »DeuKische Generation«,
                       Höhe der Einwanderung aus der Türkei ist rückläufig, was         einer Interessenvertretung türkischstämmiger Jugendlicher
                       von Sarrazin ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen wird.         in Berlin, verklagte Sarrazin wegen Volksverhetzung.

                       Bereits mit dem Vorabdruck des Buches setzte die Kritik an       Die »Sarrazin-Debatte« schadet der Integration
                       den Aussagen Sarrazins ein. Staatsministerin Maria Böhmer        In der SPD führte der geplante Parteiausschluss von Sarrazin
                       bezeichnete seine Äußerungen als diffamierend und wis-           zu einer Kontroverse. SPD-Chef Sigmar Gabriel legte ihm einen
                       senschaftlich nicht haltbar. In der Tat räumt Sarrazin selbst    Parteiaustritt nahe. Der frühere Hamburger Bürgermeister

                                                                                                           Der damalige Bundesinnenminister
                                                                                                           Wolfgang Schäuble unterhält sich am
                                                                                                           2. Mai 2007 in Berlin vor Beginn der
                                                                                                           zweiten Islamkonferenz mit dem Vor-
                                                                                                           sitzenden des Zentralrats der Muslime
                                                                                                           in Deutschland, Ayyub Köhler. Ziel
                                                                                                           der Konferenz ist eine verbesserte
                                                                                                           religions- und gesellschaftspolitische
                                                                                                           Integration der Muslime in Deutsch-
                                                                                                           land.
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                       Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                                9
Einleitung

Klaus von Dohnanyi sagte jedoch im laufenden Verfahren, er      Die »Sarrazin-Debatte« hinterließ bei den »integrierten Mig-
wolle Sarrazin vor der Schiedskommission verteidigen. Gabriel   ranten« tiefe Spuren. So meldeten sich unter dem Motto »Wir
forderte während der Debatte eine härtere Gangart gegen-        sind auch noch da – ein Aufstand der Integrierten« Wirt-
über Ausländern: »Wer auf Dauer alle Integrationsangebote       schaftsvereinigungen mit Migrationshintergrund zu Wort.
ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie       In Deutschland gebe es seit dem Herbst 2010 eine neue
vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.« Justiz-         Zeitrechnung. Es gebe die Zeit vor der »Sarrazin-Debatte«
ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) wider-      und eine Zeit nach der »Sarrazin-Debatte«, schrieben Un-
sprach solchen Forderungen und wies darauf hin, dass bereits    ternehmer wie Vural Öger, ehemaliger SPD-Abgeordneter des
nach der derzeitigen Rechtslage die Ausweisung krimineller      Europäischen Parlaments, oder Suat Bakir, Geschäftsfüh-
Ausländer möglich sei. Der Grünen-Politiker Volker Beck hielt   rer der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer.
dagegen: »Gabriels Trommeln gegen Migranten ist populis-        Mario Susak, Vorstandsvorsitzender der Kroatischen Wirt-
tische Stammtischpolitik.« Im Frühjahr 2011 wurde das Par-      schaftsvereinigung, und andere Unternehmer sagen: »Die
teiausschlussverfahren gegen Sarrazin eingestellt, nachdem      Debatte, so wie sie geführt wird, beschädigt und verletzt
sich dieser in einer persönlichen Erklärung weiterhin zu den    uns. Sie beschädigt auch die Motivation unserer Kinder,
Grundsätzen der Sozialdemokratie bekannt hatte.                 sich in Deutschland zu integrieren. Wir fordern deshalb von
                                                                der deutschen Politik, dass sie sich endlich zu uns bekennt
Das Buch löste eine bisher einmalige Diskussion um die Integ-   (...).«
rationspolitik in Deutschland aus. »Die Sarrazin-Debatte hat
eine desintegrative Eigendynamik an der Grenze zu Hysterie      Studien widerlegen Vorurteile, bestätigen aber
und Panik entwickelt«, erklärte der Vorsitzende des Sach-       Fremdenfeindlichkeit
verständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und       Im Dezember 2010 erschienen verschiedene Untersuchungen
Migration (SVR), Klaus J. Bade. Nötig sei »mehr politische      im »Integrationsland Deutschland«. Danach bestehen bei den
Führung hin zu einer konzeptorientierten Versachlichung         Themen Familie und Beruf bei Menschen mit und ohne Mig-
der Diskussion« auf der Grundlage einer kritischen Erfolgsbi-   rationshintergrund mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes.
lanz, wie sie der SVR in seinem Jahresgutachten »Einwande-      Das ergab eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.
rungsgesellschaft 2010« vorgelegt habe. Selbst die Grünen       Danach ist die Karriereorientierung von Berufstätigen mit
übten nun Selbstkritik und räumten Versäumnisse bei der         Migrationshintergrund sogar stärker ausgeprägt als bei den
bisherigen Integrationspolitik ein. Auch sie hätten Fehler      deutschstämmigen Befragten. Vor allem junge Migrantinnen
gemacht, so Grünen-Chefin Claudia Roth: »Sicher haben wir       und Migranten sind stark leistungs- und erfolgsorientiert.
Dinge vielleicht beschönigt oder Konflikte oder Widersprü-      Männer mit Migrationshintergrund sind mit 86 Prozent prin-
che oder Herausforderungen nicht immer richtig benannt«,        zipiell stärker am beruflichen Weiterkommen interessiert als
fügte sie hinzu. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-      Männer ohne ausländische Wurzeln. Frauen mit Migrations-
Vorsitzende Horst Seehofer erklärte Multikulti für »tot«, die   hintergrund scheinen nach der Untersuchung sogar noch
Bundeskanzlerin für »gescheitert«. Auch der Konsens, dass       ehrgeiziger zu sein. Auch das Vorurteil vom »Heimchen
wir ein Einwanderungsland sind, geriet ins Wanken. Auf die      am Herd« widerlegt die Studie. Sieben von zehn Befragten
Frage, ob Deutschland Einwanderungsland ist oder nicht,         lehnen die Vorstellung einer dauerhaft nichtberufstätigen
antwortete Bundeskanzlerin Merkel: »Eigentlich war es das       Mutter, die ihre Kinder zu Hause erzieht, ab. Interessanter-
nur zwischen den 1950er Jahren und 1973.«                       weise sind es dabei mehr Menschen mit ausländischen Wur-
                                                                zeln (74 Prozent) als Menschen ohne Migrationshintergrund
Die Bundeskanzlerin, die Staatsministerin für Migration         (70 Prozent). Entgegen gängigen Vorurteilen erteilen auch
und die CDU/CSU insgesamt sprechen seit etwa 2007 vom           Bürger aus muslimisch geprägten Ländern diesem Frauen-
»Integrationsland Deutschland«. Darin schlägt sich der          und Mutterbild eine deutliche Absage (70 Prozent).
Bewusstseinswandel in der Union nieder, die lange Zeit
brauchte, um die Realität im »neuen« Einwanderungsland          Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
Deutschland zu akzeptieren und sich sozusagen an die Spitze     schung (IAB) in Nürnberg räumt ebenfalls mit Klischees auf:
der neuen Migrationspolitik zu stellen. Auf der anderen Seite   Demnach belasten Zuwanderer nicht den Arbeitsmarkt in
wird damit der Begriff »Einwanderungsland« und die damit        Deutschland, sondern nützen vor allem den einheimischen
zusammenhängende Diskussion vermieden.                          Beschäftigten. Das IAB rät zu einer gezielten Steuerung
                                                                der Zuwanderung. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung:
Der Vorstand der Deutschen Bundesbank distanzierte sich         Durch die Zuwanderung verlieren allerdings die bereits in
von den diskriminierenden Äußerungen seines Mitglieds.          Deutschland lebenden Ausländer. Eine wesentliche Ursache
Sarrazin selbst wies Vorwürfe zurück, ihm sei es bei seinem     dafür sieht das IAB darin, dass Ausländer nur unvollkommen
Rückzug nur ums Geld und um seine Pension gegangen. In          mit Einheimischen konkurrieren. Gesamtwirtschaftlich be-
der 14. Auflage seines Buches im November 2010 änderte er       trachtet, profitiere Deutschland aber von der Zuwanderung.
einige Passagen. In dem Buch, das bereits seit Wochen auf       In der Vergangenheit seien die Löhne der Einheimischen
Platz 1 der Bestsellerlisten stand, wurde beispielsweise ein    gestiegen und die Arbeitslosigkeit zurückgegangen.
Abschnitt zu »genetischen Belastungen« bei Migranten aus
dem Nahen Osten komplett gestrichen. Die Kernaussagen           Auf eine wachsende Fremdenfeindlichkeit weist eine Studie
blieben jedoch bestehen.                                        des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor-

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Einleitung

                 schung an der Universität Bielefeld hin. In der Langzeitstudie   derungsgesellschaft. Nach den Worten des SVR-Vorsitzenden
                 »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland«           Klaus J. Bade könnte die »Sarrazin-Debatte« das Image des
                 wird festgestellt, dass Fremdenfeindlichkeit in der Schicht      Einwanderungslandes Deutschland im Ausland beschädigt
                 zunimmt, die sich politisch eher moderat einordnen würde.        haben. Damit würden potenzielle, qualifizierte Zuwanderer
                 Nach der Studie hat die Islamfeindlichkeit zugenommen.           verprellt. Das aber, so Bade, wäre ein »Eigentor«, denn
                 Die Autoren stellen »eine deutliche Vereisung des sozialen       Deutschland sei längst ein »Migrationsverlierer« geworden
                 Klimas« fest und sprechen von einer »zunehmend rohen             und müsse daraus Konsequenzen ziehen.
                 Bürgerlichkeit«. Eine Erhebung des Meinungsforschungs-
                 instituts TNS Emnid im Auftrag des Exzellenzclusters »Re-        Nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang, dass junge
                 ligion und Politik« an der Universität Münster kommt in          Menschen mit türkischem Migrationshintergrund vermehrt
                 einem europaweiten Vergleich zu dem Ergebnis, dass die           aus Deutschland in die Türkei ziehen. Nach Umfragen er-
                 Deutschen viel intoleranter gegenüber dem Islam und an-          wägen bis zu 36 Prozent der Studierenden mit türkischem
                 deren nichtchristlichen Religionen sind als ihre westeuro-       Migrationshintergrund, nach dem Examen in die ihnen meist
                 päischen Nachbarn. Die Frage, ob das eigene Land durch           fremde Heimat der Eltern abzuwandern. Eine Studie zeigt,
                 fremde Kulturen bedroht sei, bejahten in der Umfrage in          dass Hochschulabsolventen mit Migrationshintergrund
                 Westdeutschland 40 Prozent. In Ostdeutschland stimmte die        schlechtere Chancen bei Bewerbungen in Deutschland haben
                 Hälfte der Befragten zu.                                         als deutsche Studenten.

                 Die »Sarrazin-Debatte« hat der Integration auf jeden Fall        Ein positives Zeichen in Richtung beruflicher Integration
                 geschadet. Das geht aus einer Umfrage des Sachverstän-           setzte die Bundesregierung im März 2011 mit dem seit
                 digenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migra-        langem angekündigten Gesetzentwurf zur Anerkennung aus-
                 tion (SVR) hervor. Danach blicken Zuwanderer mit weniger         ländischer Abschlüsse. Das Gesetz soll im Sommer 2011 in
                 Zuversicht auf das Zusammenleben in Deutschland als noch         Kraft treten. In Deutschland leben schätzungsweise eine
                 vor einem Jahr. Bei den Antworten auf die Frage, ob Mehr-        halbe Millionen Ausländer, die unter ihrer Qualifikation ar-
                 heits- und Zuwandererbevölkerung »ungestört miteinander«         beiten, weil ihre Zeugnisse nicht anerkannt werden. Es ging
                 leben, zeigt sich bei Zuwanderern ein deutlicher Unterschied     schon der Witz um: Das Beste, was einem passieren kann,
                 zwischen Herbst 2009 und Jahresende 2010. Dieser Aussage         ist, dass man den Herzinfarkt in einem Taxi bekommt, weil
                 stimmten 2009 noch 21,7 Prozent der Zuwanderer »voll und         der Taxifahrer meistens Arzt ist.
                 ganz« zu. Zum Jahresende 2010, nach der »Sarrazin-De-
                 batte«, bestätigten diese positive Einstellung nur noch 9,1      Integration – die Zukunftsaufgabe für Deutschland
                 Prozent. Umgekehrt hat sich der Anteil der pessimistischen       Deutschland braucht in Zukunft Einwanderer, denn die Be-
                 Einschätzungen unter den Zuwanderern fast verdoppelt.            völkerungsentwicklung lässt sich kurz mit den Begriffen
                 2009 bewerteten nur 3,5 Prozent die Einschätzung eines           weniger, älter und bunter umreißen. Sicher ist, dass durch
                 ungestörten Miteinanders mit »gar nicht«. 2010 stieg ihr         Zuwanderung die Entwicklung zu einer immer älter wer-
                 Anteil auf sechs Prozent. Nach der Befragung überwiegen          denden und zahlenmäßig schrumpfenden Bevölkerung gar
                 aber im Mittelfeld nach wie vor die verhalten positiven, ge-     nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Man müsste
                 lasseneren Einstellungen zum Zusammenleben in der Einwan-        praktisch nur noch Kinder einwandern lassen, was natürlich
Gerhard Mester

                 Politik & Unterricht • 2-2011                                                                                             11
Einleitung

absurd ist. Außerdem verläuft die demographische Entwick-      »Die Schülerinnen und Schüler können
lung in zahlreichen Auswanderungsländern nicht wesentlich      ◗ die Bevölkerungszusammensetzung mithilfe von geeig-
anders als in Deutschland. Zuwanderung kann also kein All-       neten Indikatoren beschreiben;
heilmittel gegen das oft beschworene »Altersheim Deutsch-      ◗ Formen, Ursachen und Folgen der Migration erläutern;
land« sein. Einwanderung, gezielt ausgesucht, kann diesen      ◗ Möglichkeiten und Probleme der Integration in einer plu-
Trend jedoch etwas abfedern und sollte in diesem Sinne ei-       ralistischen Migrationsgesellschaft darstellen und fallbe-
gentlich als Glücksfall begriffen werden. Insbesondere wenn      zogen beurteilen;
man bedenkt, dass schon bald nicht mehr vier Erwerbstätige     ◗ die Grundzüge des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts
einen Rentner sozusagen ernähren müssen, sondern nur ein         darstellen.«
Berufstätiger auf einen Rentner kommt.
                                                               In der vierstündigen Kursstufe Gemeinschaftskunde werden
Integration ist eine »Schicksalsfrage für unser Land«, wie     als Kenntnisse und Kompetenzen genannt:
es Staatsministerin Maria Böhmer ausdrückt. Deutschland        ◗ Beschreibung aktueller Entwicklungen in der Gesell-
bleibt auf Zuwanderung angewiesen, wenn es seinen wirt-           schaft;
schaftlichen Wohlstand halten will. Ein Gutachten der baden-   ◗ Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung und Beurteilung
württembergischen Landesregierung, das im Juli 2010 vor-          deren Implikationen;
gestellt wurde, geht davon aus, dass bis 2020 rund 500.000     ◗ Erfassung von Phänomenen der Migration als besondere
zusätzliche Arbeitsplätze von Ingenieuren, anderen Hoch-          gesellschaftspolitische Aufgabe;
schulabsolventen und Facharbeitern besetzt werden müssen       ◗ Erläutern von Maßnahmen der Integrationspolitik und
und dass dabei Migration eine herausragende Rolle spielt.         Stellung beziehen in der Kontroverse über Zielsetzung
Die Einwohnerzahl Baden-Württembergs geht bis 2060 um             und Reichweite von Integrationspolitik.
1,6 Millionen zurück. Es gibt immer mehr ältere Menschen
und Pflegebedürftige, deren Zahl sich bis 2050 von derzeit     Für die Bildungsstandards der Realschule (Fächerverbund
2,2 Millionen verdoppeln wird. Schon heute gibt es einen       EWG) werden diese Themen im Zusammenhang mit dem
stark zu spürenden Mangel an Fachkräften. Eine erleichterte    Leben in Ballungsräumen (Transmigration, Push- und Pull-
Zuwanderungsregelung und eine zukunftsorientierte Migra-       Faktoren), vor allem aber unter dem Titel »Zusammenle-
tionspolitik sind dringend notwendig, um dieses Problem zu     ben verschiedener Kulturen« genannt (vgl. hierzu Politik &
beseitigen. Aus »Eigennutz« brauchen wir also Zuwanderer.      Unterricht Heft 3 – 2007: »Unterrichten im Fächerverbund
Es geht nicht darum, Migranten »einen Gefallen zu tun«,        EWG«).
sondern um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
                                                               Über all diesen vielfältigen Verflechtungen steht allerdings
Diskussionen wie zuletzt um die »Sarrazin-Thesen« kommen       die zentrale Forderung nach der Aktualität des Unterrichts.
und gehen in Wellen, wie das Buch des Chefs der rechtsextre-   Die Themen Migration und Integration haben sich zu Dau-
men »Republikaner«, Franz Schönhuber, zeigt, in dem er 1989    erbrennern der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten
gängige Vorurteile gegenüber den Türken bediente. Oder das     entwickelt. Phasenweise dominieren sie die öffentliche poli-
sogenannte »Heidelberger Manifest« deutscher Professoren,      tische Debatte und damit auch die Medien. Nicht zuletzt sind
die 1981 vor der »Unterwanderung des deutschen Volkes          sie auch aus dem Lebensalltag der Schülerinnen und Schüler
durch Ausländer, gegen die Überfremdung unserer Sprache,       nicht wegzudenken, wenn man bedenkt, dass in zahlreichen
unserer Kultur und unseres Volkstums« warnten. In Verges-      Schulklassen der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Mig-
senheit geraten ist die fast schon pogromartige Stimmung       rationshintergrund weit über die 50-Prozent-Marke hinaus-
mit Brandstiftungen und gewalttätigen Ausschreitungen ge-      reicht.
genüber Ausländern in Hoyerswerda, Mölln oder in Solingen,
mit insgesamt etwa 100 Toten Anfang der 1990er Jahre in        Das vorliegende Heft kann die ganze Fülle der genannten
Deutschland. Man könnte fast sagen, dass Fremdenfeindlich-     integrativen Themen gar nicht abdecken, sondern bietet
keit und »Sarrazin-Wellen« zur Normalität in Einwanderungs-    einen Ausschnitt mit dem Schwerpunkt auf Integration als
gesellschaften zu gehören scheinen. Das heißt aber nicht,      Politikfeld. Es gliedert sich in drei Bausteine mit den In-
dass wir sie hinnehmen sollten, sondern dass wir sie bekämp-   halten Integration – Definition, Zielvorstellungen, Erfolge,
fen müssen und sie nicht als Teil der politischen Kultur im    Probleme und Diskussionen (Baustein A), mit Stuttgart als
Integrationsland Deutschland akzeptieren dürfen.               weithin anerkanntem positivem Beispiel einer großstäd-
                                                               tischen Integrationspolitik (Baustein B) sowie schließlich
                                                               einem dritten Baustein C, der die Aspekte Demographie
Zur Konzeption des Heftes                                      und Fachkräftemangel aufgreift, um einen Ausblick in die
Die Themen Migration und Integration sind an zahlreichen       Zukunft Deutschlands als Migrations- und Integrationsland
Stellen in den Bildungsplänen des Landes Baden-Württem-        zu ermöglichen.
berg verankert. So heißt es beispielsweise bei den Kompe-
tenzen und Inhalten für Gemeinschaftskunde in Klasse 10
der Gymnasien unter der Überschrift »Gesellschaft der Bun-
desrepublik Deutschland im Wandel: Einwanderung nach
Deutschland«:

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