Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen

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Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Spielzeit
2022 /2023
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
I N H A LT

             G RU ß WO RT                                              SEITE 4

             EDITORIAL                                                 SEITE 6

             PREMIEREN                                                 SEITE 8

             ERÖFFNUNG                                                 SEITE 11

             J U N G E S T H E AT E R                                  SEITE 12

             M U S I KT H E AT E R                                     SEITE 15

             EINMISCHEN                                                SEITE 22

             TA N Z                                                    SEITE 58

             SCHAUSPIEL                                                SEITE 61

             KO N Z E R T E                                            SEITE 70

             EXTRAS                                                    S E I T E 74

             J U N G E S T H E AT E R Z U M M I T M AC H E N           SEITE 78

             INFO UND TICKETS                                          SEITE 82

             V E R E I N D E R F R E U N D E D E S T H E AT E RS       SEITE 86

             WIR                                                       SEITE 92

             UNSERE GÄSTE                                              SEITE 95

             LEGENDE                                                   SEITE 96

             IMPRESSUM                                                 SEITE 99

Willkommen
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
GRUßWORT

                                                                 Mit der kommenden Spielzeit unter neuer Intendanz wird
                                                                 das Scheinwerferlicht auf das Neue, das Kommende ge-
                                                                 richtet sein. Es sollen Neugier und Erwartungen geweckt
                                                                 werden. Die Frage was da kommt ist aufs engste verbun-
                                                                 den mit der Frage, wer da kommt. Gießen begrüßt die
                                                                 neue künstlerische Leitung: Simone Sterr, Ann-Christine
                                                                 Mecke, Constantin Hochkeppel, Mathilde Lehmann und
                                                                 Andreas Schüller. Mit ihren Namen wird sich zukünftig
                                                                 verbinden, was sich auf den Bühnen und im Orchester-
                                                                 graben ereignet. Ihnen und allen weiteren im künstleri-
                                                                 schen Team gilt mein herzliches Willkommen in unserer
                                                                 Stadt, das ich als Oberbürgermeister und für den gesam-
                                                                 ten Aufsichtsrat des Theaters aussprechen darf.

Sehr geehrte Theaterinteressierte,                               Sie verkörpern das neue künstlerische Team – und als
                                                                 solches treten sie auch ganz bewusst an. Das lässt auf viel
Übergänge haben ihren ganz eigenen Charakter. In                 spartenübergreifende Kreativität hoffen.
ihnen stecken Abschied und Aufbruch, Rückblick und
Ausblick, Erinnerungen und Zukunftsvisionen. Im Gieße-           Was darf man erwarten von einem guten Theater? Dass
ner Stadttheater geht mit dem Abschied von Intendan-             es berührt, anregt, erfreut, irritiert, schockiert, entspannt,
tin Cathérine Miville eine Ära zu Ende. Sie hat über viele       nachdenklich macht, euphorisiert, Entdeckungen und
Jahre das Theater und damit den Gießener Kulturbetrieb           Ideen schenkt … Dass all dies in Aussicht steht, wird am
mit ihrer Handschrift geprägt. Ihr gelten dafür mein             Spielplan der Saison 2022/2023 deutlich. Für alle Interes-
herzlicher Dank und meine große Anerkennung.                     sierten wird erkennbar werden, wie sehr sich das Stadt-
                                                                 theater in Beziehung setzen will zur gesellschaftlichen
Mit dem Start der neuen Intendanz von Simone Sterr               Wirklichkeit, in der es sich ereignet, und zu den gesell-
zieht nun etwas Neues auf. Für das Stadttheater mit seinen       schaftlichen Debatten, die geführt werden – ohne sich
Sparten Schauspiel, Tanz, Musik- und Junges Theater ist          einfangen zu lassen von dem, was ist. Vielmehr liegt das
das ein hochelektrisierender Moment – voller Erwartung           Versprechen in der Luft, dass Neues gedacht, Utopien
auf das Kommende. Getragen wird dieser Übergang von              gewagt und Alternativen entdeckt werden sollen. Ich
den Mitarbeitenden und dem Ensemble am Theater, bei              ahne elektrisierende Zeiten, spannend und spannungs-
denen ich mich ausdrücklich bedanken möchte – für alles          voll, jedenfalls energiereich.
Engagement und für alle Leidenschaft, die sie an diesem          Geben Sie sich Ihrer Neugier hin und lassen Sie sich vom
Haus demonstrieren.                                              neuen Spielplan inspirieren.

Wir sind in Gießen und im ganzen Landkreis glücklich,            Frank-Tilo Becher
froh und auch stolz, ein so großartiges Theater zu haben.        Oberbürgermeister
Wir wissen es zu schätzen, welche künstlerische Ener-
gie von den Brettern der Bühnen ausgeht, die in unsere
Stadtgesellschaft hineinwirkt und weit über unsere Stadt
hinaus strahlt.

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Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
EDITORIAL                                                                  Darauf, dass die Dinge in ihrer Komplexität erfasst und
                                                                           kommuniziert werden. Da ist das Theater gefragt, und
                                                                           seine Fähigkeit, die Welt nicht zu erklären, sondern zu
                                                                                                                                             sischen Spielplan in allen Sparten gesetzt. Wir vertrauen
                                                                                                                                             den Stimmen der Gegenwart. Und wir glauben an das
                                                                                                                                             Theater als Kunst, die immer bleibt, weil sie sich stets
                                                                           befragen. Dorthin zu blicken, wo etwas nicht in Ordnung           verändert. Das möchten wir auch mit unserem neuen
                                                                           ist, an die Schmerzpunkte der Gesellschaft zu schauen,            Erscheinungsbild zum Ausdruck bringen. Ein Algorith-
                                                                           die Utopie eines wirklich gleichrangigen Miteinanders             mus setzt Begriffe in Grafik um, mit denen der Dreiklang
                                                                           fest im Auge. Das führt zwangsläufig zur Rückeroberung            STADT THEATER GIEßEN immer wieder neu überschrie-
                                                                           von Begriffen wie Revolution und Revolte. Wir möch-               ben wird. Und so entsteht das, was wir für diese Stadt
                                                                           ten uns damit auseinandersetzen, ohne uns gemein zu               sein wollen: Ein Stadttheater, das sich bewegt und für
                                                                           machen mit düsteren Theorien und ihren Akteur:in-                 Bewegung sorgt, das Themen aufnimmt und aussendet,
                                                                           nen. Wir möchten von Freiheit sprechen dürfen, ohne               das zuhört und spricht.
                                                                           dumpfe Lieder zu grölen. Wir möchten uns der Wirk-
                                                                           lichkeit stellen, ohne die Kraft der Poesie zu verlieren          Ich freue mich auf diesen Dialog.
                                                                           und den Mut zur Veränderung. Viele Vorhaben und
                                                                           Vorlagen der Spielzeit 2022/2023 setzen sich mit der              Simone Sterr
                                                                           Spannung auseinander, die die Welt gerade in Stücke               Intendantin
                                                                           reißt: Der zwischen Demokratie und Despotismus. Damit
                                                                           sind wir beim Widerstand als Folge von Wachsamkeit.

                                                                           „Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat“. Es ist
                                                                           keine altlinke Romantik, an dieser Stelle Rosa Luxemburg
                                                                           zu zitieren. Dieser Satz ist schlichtweg noch immer wahr.
                Liebe Gießener:innen, liebes Publikum,                     Für Menschen, die von diktatorischen Despoten regiert
                                                                           werden, ist „sagen, was ist“ eine Gefahr für Leib und
                „Retten wir den Begriff Revolution, der von Plattform-     Leben, das Aussprechen von Wahrheit ein aufständi-
                heinis und Faschisten missbraucht worden ist“, sagt        scher Akt. Wir haben das Privileg, in einer demokratisch
                ein junger Hacker in Sybille Bergs neuestem Roman          verfassten Gesellschaft öffentlich gefördertes Theater
                #RemoteCodeExecution. Er sagt ihn mit wilder Wut           machen zu dürfen. „Sagen, was ist“ ist kein Risiko für uns,
                und im sicheren Bewusstsein, dass diese Welt geändert      es ist uns Verpflichtung. Es ist kein besserwisserisches,
                werden muss.                                               aufklärerisches Theater, was daraus folgen soll. Vielmehr
                                                                           eines, das sich der Wirklichkeit und ihrer Ungereimt-
                Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe haben uns deut-       heiten stellen möchte. Eines, das neugierig ist, kommu-
                lich gemacht, was der Verstand längst wusste und die       nizieren möchte, sucht, forscht, probiert, spielt. Eines,
                innere Stimme uns schon seit Langem sagt: Es gibt kei-     das sich auf den Weg macht, gemeinsam mit seinem
                ne Sicherheiten, die Gefüge sind brüchig, der Boden        Publikum.
                auf dem wir wandeln hat tiefe Risse. Die Erkenntnis ist
                alt. Neu ist, dass nicht mehr versucht wird, sie zu ver-   Ob es ein leichter Spaziergang wird oder eine kräfte-
                drängen, und sie seltener mit markigen Sprüchen und        zehrende Tour? Wir wissen es nicht. Aber die Schuhe
                einfachen Lösungen zu quittieren. Stattdessen schie-       sind gut geschnürt; es kann losgehen. Die Pfade, die
                ben sich Politiker:innen, die den Zweifel kultivieren,     wir betreten, sind oft unbekannt, und viele Wege sind
                an die Spitze der Beliebtheitsskala. Das lässt hoffen.     neu. Denn wir haben auf einen konsequent zeitgenös-

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Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
PREMIEREN                                                                                                           25.03.2023           Tosca G H
                                                                                                                                         Melodramma von Giacomo Puccini | Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica

                                                                                                                    1 9. 0 5 . 2 0 2 3   La clemenza di Tito G H
                                                                                                                                         Dramma serio von Wolfgang Amadeus Mozart | Text von Caterino Mazzolà
                                                                                                                                         nach Pietro Metastasio

                                                                                                                    TA N Z

  ERÖFFNUNG
                                                                                                                    2 1 .1 0. 2 02 2     My body a stranger that protects me that kills me U R A U F F Ü H R U N G | K H
                                                                                                                                         Tanz von Maura Morales
  3 0 . 0 9. 2 0 2 2   Posthuman Journey U R A U F F Ü H R U N G | G H
                       Eine Trilogie von Pat To Yan | Aus dem Englischen von John Birke und Ulrike Syha
                                                                                                                    13.01.2023           where we are (at) U R A U F F Ü H R U N G | G H
                                                                                                                                         Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel

                                                                                                                    08.04.2023           Five Stages of Grief U R A U F F Ü H R U N G | G H
  J U N G E S T H E AT E R
                                                                                                                                         Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel

                                                                                                                    16.06.2023           Ein neues Stück von Paula Rosolen U R A U F F Ü H R U N G | K H
  2 4 . 0 9. 2 0 2 2   Luft nach oben S T Ü C K A U F T R A G | U R A U F F Ü H R U N G | K H | A B 9 J A H R E N
                                                                                                                                         Tanz von Paula Rosolen/Haptic Hide
                       Schauspiel von Fabienne Dür

  0 6 .1 1 . 2 02 2    Ente, Tod und Tulpe K H | A B 5 J A H R E N
                                                                                                                    SCHAUSPIEL
                       Musiktheater von Leopold Dick nach dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch

  1 2 .1 1 . 2 02 2    Das kalte Herz G H | A B 6 J A H R E N
                       Familienstück nach Wilhelm Hauff von Hansjörg Schneider
                                                                                                                    2 0 2 2 /2 0 2 3     Jahr der Erinnerungskultur
                                                                                                                                         Reihe von Ayşe Güvendiren
  11.02.2023           KRIEGERIN K H | A B 1 5 J A H R E N
                       Nach dem Film von David Wnendt | Für die Bühne bearbeitet von Tina Müller
                                                                                                                    0 7. 1 0 . 2 0 2 2   Café Populaire K H
                                                                                                                                         Schauspiel von Nora Abdel-Maksoud
  2 7. 0 5 . 2 0 2 3   Die Lügenziege K H | A B 1 2 J A H R E N
                       Ein vielstimmiges Projekt | Stückentwicklung
                                                                                                                    2 3 .1 0. 2 02 2     Dantons Tod G H
                                                                                                                                         Schauspiel von Georg Büchner

                                                                                                                    0 9.1 2 . 2 0 2 2    Hundepark U R A U F F Ü H R U N G | G H
  M U S I KT H E AT E R
                                                                                                                                         Schauspiel nach dem Roman von Sofi Oksanen

                                                                                                                    1 6 .1 2 . 2 02 2    Mais in Deutschland & anderen Galaxien K H
  0 8 .1 0. 2 02 2     Gefährliche Operette G H
                                                                                                                                         Schauspiel von Olivia Wenzel
                       Operette von Gordon Kampe | mit Texten von Sibylle Berg, Wiglaf Droste,
                       Schorsch Kamerun, Marc-Uwe Kling und weiteren
                                                                                                                    05.03.2023           Mädchenschule G H
                                                                                                                                         Schauspiel von Nona Fernández | Aus dem Spanischen von Friederike von Criegerns
  2 6 .1 1 . 2 02 2    Caterina Cornaro G H
                       Tragedia lirica von Gaetano Donizetti | Text von Giacomo Sacchèro
                                                                                                                    06.04.2023           Last Park Standing K H
                                                                                                                                         Schauspiel von Ebru Nihan Celkan | Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
                       nach einer Vorlage von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges
                                                                                                                    21.04.2023           Der Staat gegen Fritz Bauer U R A U F F Ü H R U N G | G H
  20.01.2023           Prothesen der Autonomie K H
                                                                                                                                         Schauspiel nach dem Film von Lars Kraume
                       Sci-Fi-Oper von Thierry Tidrow | Text von Franziska vom Heede
                                                                                                                    MAI 2023             Demokratietoilette (AT) S T A D T R A U M G I E ß E N
                       Valerie's Voice K H
                                                                                                                                         Stadtspaziergang von Hysterisches Globusgefühl
                       Kammeroper von Christofer Elgh | Nach einem Text von Valerie Solanas

  11.02.2023           Ein Sommernachtstraum G H
                       Oper von Benjamin Britten | Text von Benjamin Britten und Peter Pears
                       nach William Shakespeare                                                                     GH = GROß ES HAUS | K H = K LEINES HAUS

                                                          8                                                                                                              9
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Stadteroberung                                                                                                                                                       Dem okra ti e

                                                                                                                                ERÖFFNUNG
                                                                  Viele Personen und Institutionen erheben Anspruch
                                                                  auf diese Stadt. Kein Wunder, dass Subversion ent-
Ein Aufruf von Mathilde Lehmann                                   steht. Sie beginnt als meist friedliche Anarchie der
                                                                  Jugend, in der Parkplätze zu Parcours, asphaltierte Stra-                          Posthuman Journey
                                                                  ßenzeilen zu Miniaturgärten und Mauern, Unterführun-
                                                                  gen und Stromkästen zu Kunstwerken gestaltet werden.
                                                                                                                                                             Eine Trilogie von Pat To Yan
                                                                  Es ist Zeit, die Räume so wild zu gestalten wie – nicht die                     Aus dem Englischen von John Birke und Ulrike Syha
                                                                  Architektur, sondern – die ansässige Stadtgesellschaft es                                      URAUFFÜHRUNG
                                                                  vorgibt.                                                                              PREMIERE 30. SEPTEMBER 2022
                                                                  Es gilt, viele kleine Gemeinschaften zu bilden. Gemein-                                          GROßES HAUS
                                                                  schaften zu gründen, die dem Individualismus der Stadt
                                                                  folgen und ihn fördern, statt eine Vereinheitlichung des                  „Wie der Kanarienvogel in der Kohlemine oder das Frühwarn-
                                                                  Stadtbildes zu suchen oder eine Ästhetisierung. Viele                     system an einer tsunamigefährdeten Küste senden wir ein Not-
                                                                  kleine Orte der Zusammenkünfte, in denen kommuna-                         rufsignal an den Rest der Welt. Denn Hongkong von heute ist
                                                                  les Leben ermöglicht und auch als solches gefördert und                   das, was übrigbleibt von der Welt von morgen.“ Joshua Wong
                                                                  geschützt wird. Die Bewohner:innen einer Stadt muss                       Allegorische Figuren der Vergangenheit irren durch von den
                                                                  man dazu nicht auffordern, auf Ideen kommen sie schon                     heutigen Kriegen verwüstetes Land. Ein Junge mit schwin-
Am Marktplatz ist es ein nüchterner Morgen. Die Pflanz-           von selbst, man muss ihnen diese Freiheit nur ermögli-                    delerregend hoher Intelligenz aber ohne Gesäß altert so
kübel auf den Gehwegen wurden umgeworfen und                      chen.                                                                     schnell, dass er sogar die Zukunft hinter sich lässt. Ein Liebes-
von wem anders wieder aufgestellt, die Erde liegt noch                                                                                      paar verliert sich und findet sich wieder in ferner Galaxie. In
da, ein trauriges Häuflein. Eine nächtliche Eruption, eine        Urbanität kann man nicht erzwingen, egal wie gut die                      den drei Stücken „Eine kurze Chronik des künftigen China“,
Entladung sorgte dafür, dass eine:r oder viele diese              Stadtarchitekt:innen es meinen. All die Sitzinseln, Bän-                  „Eine posthumane Geschichte“ und „Überall im Universum
Straße abliefen und jeden Kübel, den sie finden                   ke, dekorierten Mülleimer, Pflanzenkübel – es ist eine                    Klang“ schaut der aus Hongkong stammende Autor Pat To Yan
konnten, umwarfen. Stunden später folgt eine Person,              Sisyphos-Arbeit, die gut gemeint ist, aber ihren Zweck                    sehr tief zurück und ganz weit nach vorne, um einen scharfen
vielleicht nicht alleine, derselben Strecke, stellt alle          verfehlt. Damit eine Gesellschaft ihre gemeinschaftli-                    Blick zu werfen auf die globalen Phänomene der Gegenwart.
Kübel wieder auf, setzt die Pflanzen wieder in den                chen Orte entdecken kann, muss sie diese erst erobern.                    Seine Figuren sind Reisende: vom globalen Süden in den
Kübel. Zurück bleiben an diesem Morgen viele kleine               Das bedeutet Subversion gegen den Putz und den                            verheißungsvollen Norden, vom Planet Erde auf neue Terri-
deplatzierte Häuflein Erde, und zeugen von dem Ereig-             Asphalt. So findet Gesellschaft zueinander. In den Parks,                 torien, von diktatorischen Staatssystemen in demokratische
nis in der Nacht.                                                 den Ladenflächen, den Vereinen, den Spielplätzen, auf,                    Utopien. Sie sind immer auf der Flucht und immer auf der Su-
                                                                  unter und neben Brücken, Lost Places, bald dann wieder:                   che. Die Grenze von Bühnen- und Zuschauer:innenraum wird
Die Zeiten haben sich verändert, der Stadtraum ist                Common Spaces.                                                            gänzlich aufgehoben für dieses Eröffnungsprojekt aller Spar-
nicht länger nur der Schrank, in dem die Wohnungen                                                                                          ten, und das Theater wird zum öffentlichen Platz, auf dem die
wie Vorratsgläser eng aneinandergereiht stehen, die                                                                                         Bedingungen für eine freie Gesellschaft verhandelt werden.
Gesellschaft begibt sich hinein und dann macht man
einen Deckel drauf. Der Anspruch an öffentliche Flächen                                                                                              Eine Prod u k tion von collective a rchives
verändert sich im Zeitalter des Hyperindividualismus.
Es treibt die Menschen nach draußen, der öffentliche                                                                                                        Regie & Rau m Thomas Krupa
Platz, der Park, der Spielplatz, sie alle gewinnen eine                                                                                              Kom position Hannes Strobl, Michael Bauer
andere, gewichtige Bedeutung. Die öffentliche Fläche                                                                                                            Kostü me Monika Gora
muss geteilte Erfahrungen ermöglichen, und ein Ort                                                                                                  Choreog ra phie Raphael Moussa Hillebrand
sein, an dem sich kollektive Interessen bündeln. Sie soll                                                                                                  Video & Rau m Stefano Di Buduo
Leben beherbergen, kommunale Räume bieten und                                                                                                                 Chorleitu ng Jan Hoffmann
Gemeinschaft stiften.                                                                                                                                      Dramatu rgie Daniele G. Daude

                                                             10                                                                              11
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Zukunf t                                                 Leben                                                               G i er

JUNGES THEATER                    Luft nach oben                                        Ente, Tod und Tulpe                                                        Das kalte Herz

                                                                                                                                                                   Schauspiel nach Wilhelm Hauff
                                    Schauspiel von Fabienne Dür                                Musiktheater von Leopold Dick                                          von Hansjörg Schneider
                             STÜCKAUFTRAG | URAUFFÜHRUNG                                  Nach dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch                                          FAMILIENSTÜCK
                                PREMIERE 24. SEPTEMBER 2022                                 PREMIERE 6. NOVEMBER 2022                                          PREMIERE 12. NOVEMBER 2022
                                 KLEINES HAUS | AB 9 JAHREN                                  KLEINES HAUS | AB 5 JAHREN                                         GROßES HAUS | AB 6 JAHREN

                      „Und wenn’s nicht ums Gewinnen geht, wieso gibt’s           „Mich lässt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe.                „Musik setzte ein. Die Kinder im Saal lachten mit und tram-
                      dann das Turnier?“ Anke Stelling                            Ist es doch so wie mit der Sonne: Wir sehen sie am Hori-            pelten vor Vergnügen. Der arme Timm saß wie ein Stein
                      Es war einmal im September. So geht für Fri, Sop und Kar    zont untergehen, aber wissen, dass sie ‚drüben‘ weiter              in einem Meer von Lachen.“ James Krüss
                      das Turnier ihres Lebens los. Das Spiel heißt ab sofort:    scheint.“ Johann Wolfgang von Goethe                                Kohlenmunk Peter wäre gern reich, ist es aber nicht. Die
                      Gewinnen oder Verlieren, und dann wird man Gewin-           Eine kleine Ente erwacht eines sonnigen Morgens und                 anderen im Dorf scheinen mehr zu besitzen als er, und
                      ner:in oder Verlierer:in im Leben, sagen Kars Eltern und    freut sich auf einen gemütlichen Tag am Teich. Sie grüßt            gemein sind sie noch dazu. Also sucht Peter einen Wald-
                      dann soll er Hausaufgaben machen. Denn wenn man auf         die Sonne, sie putzt ihr Gefieder, sie prüft die Wasser-            geist auf, das Glasmännlein, damit es ihm hilft. Doch das
                      eine weiterführende Schule soll, geht es um alles: Um       temperatur. Doch heute ist etwas anders als sonst. Die              geht schief und wieder steht er mit leeren Taschen da.
                      die Leistung, Noten, Sozialkompetenzen, um Zukunfts-        Ente fühlt sich beobachtet. Sie nimmt all ihren Mut zu-             Im Tannenwald trifft er schließlich auf den riesigen Hol-
                      pläne. Dabei sind die drei erst in der vierten Klasse und   sammen und spricht ihren Verfolger an: Es ist der Tod               ländermichel, der ihm sein pochendes Herz gegen ein
                      finden den Kampf ganz schön verrückt. Kar will später       persönlich. Aber für die Ente ist das viel zu früh, also er-        steinernes austauscht. So wird Peter zwar ein profitabler
                      mal Gamedesigner werden, und Sop Torhüterin, und Fri        zählt sie dem Tod von ihren Plänen. Der wird neugierig              Geschäftsmann, aber ein missgünstiger, selbstsüchtiger
                      – sie weiß es noch nicht. Aber sie spürt den Druck, sich    – und beschließt, ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen.          Mensch – bis er ins Zweifeln kommt.
                      jetzt schon für eine Zukunft entscheiden zu müssen.         So eilig hat er es nämlich gar nicht.                               Angesiedelt im Schwarzwald handelt Wilhelm Hauffs
                      Wenn Kinder anfangen, sich damit zu beschäftigen, wer       Irgendwann stellt jedes Kind die Frage nach dem Tod.                Erzählung von der Härte des wirtschaftlichen Wandels
                      sie sein wollen, können sie an einer der wichtigsten Ent-   In der Geschichte „Ente, Tod und Tulpe“ ist er ein leicht-          und den Spielregeln des Kapitalismus. Der Autor schrieb
                      scheidungen ihres Bildungswegs kaum teilhaben. Eltern       füßiger Begleiter. Musiktheater, Tanz, Performance,                 das Märchen 1827, nachdem die dortige Kohlewirtschaft
                      und Lehrkräfte sollen bestimmen, welche weiterführen-       Schauspiel – alles kommt zusammen, damit eine kleine                dem Strukturwandel der Industriellen Revolution in Eu-
                      de Schule sie besuchen. Eine gewaltige Herausforde-         Ente lernt, dass der Tod auch nur ein Teil des Lebens ist.          ropa zum Opfer fiel.
                      rung für alle Beteiligten.

                                                                                              Choreog rafie Amelie von Godin                                          Regie Mathilde Lehmann
                                    Regie Yeşim Nela Keim Schaub                            M usikalische Leitu ng Wolfgang Wels                                 Bühne & Kostüme Nanako Oizumi
                                 Bühne, Kostüme & Video Lili Süper                         Bü h ne & Kostü me Kristin Buddenberg                               Musik Elija Kaufmann, Mathilde Lehmann
                                   Dramaturgie Mathilde Lehmann                                Dramatu rgie Caroline Rohmer                                         Dramaturgie Lena Meyerhoff
                                Theaterpädagogik Sebastian Songin                          Theaterpädagogik Sebastian Songin                                   Theaterpädagogik Sebastian Songin

                 12                                                                                                                              13
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Hass                                                                Wahr he it                                                                          A ber wi tz

                                                                                                                                           MUSIKTHEATER
                   KRIEGERIN                                                      Die Lügenziege                                                                   Gefährliche Operette

            Nach dem Film von David Wnendt                                              Ein vielstimmiges Projekt                                                        Eine Operette von Gordon Kampe
         Für die Bühne bearbeitet von Tina Müller                                       STÜCKENTWICKLUNG                                                              Mit Texten von Sibylle Berg, Wiglaf Droste,
            PREMIERE 11. FEBRUAR 2023                                                 P R E M I E R E 2 7. M A I 2 0 2 3                                          Schorsch Kamerun, Marc-Uwe Kling und weiteren
           KLEINES HAUS | AB 15 JAHREN                                           KLEINES HAUS | AB 12 JAHREN                                                        In einer Spielfassung von Ann-Christine Mecke
                                                                                                                                                                          PREMIERE 8. OKTOBER 2022
„Fakt dass Gewalt schön ist weil wir sie im Blut haben die            „Lügenziege werd ich genannt, bin ich erst außer Rand                                                        GROßES HAUS
Schönheit dessen wenn du alles zerschlägst wenn du die                und Band, pfleg' mit den Hufen ich zu grüßen, möcht' al-
Stichflamme siehst die Leute die rennen die Schreie es ist            les auf die Hörner spießen!“ Ukrainisches Volksmärchen                                   „Überlebt und gegenstandslos wäre die Operette erst
ein Augenblick der steigt steigt steigt“ Nanni Balestrini             Was ist richtig, was ist falsch? Ist Wahrheit eigentlich total                           dann, wenn ihre kecken Glücksforderungen eingelöst
Marisa ist rechtsradikal und voller Wut auf alle und alles um         subjektiv? Dieser Tage sitzen Meinung und persönliche                                    und wenn die Objekte ihrer unartigen Angriffe ver-
sich rum. Svenja versucht, ihrer bürgerlichen Erziehung               Wahrheit so nah beieinander, dass sich ihre Haare ver-                                   schwunden wären.“ Volker Klotz
zu entkommen und will sich Marisas Neonazi-Clique                     knoten. Und das war’s dann mit der Objektivität und den                                  Zur seriösen Vorlesung über „Die Operette in Geschich-
anschließen. Als Marisa in einer Übersprungshandlung                  Fakten und der Wahrheit. Das kann ja auch nicht sein, da                                 te und Gegenwart“ hat die Volkshochschule geladen,
eine Gewalttat an einem jugendlichen Asylbewerber                     kommt der Klimawandel, oder eine Pandemie, oder                                          und das am Ort des Geschehens: im Stadttheater. Aber
verübt und sich ihr Gewissen meldet, kommt ihr Welt-                  eine Flut, da kommt ein Krieg, und die Menschen strei-                                   die Operette lässt sich nicht in einen Vortrag einsperren!
bild ins Wanken.                                                      ten sich darüber, ob das nun neu ist oder man das schon                                  Sie ist durchgeknallt, zeitkritisch, sentimental, übertrie-
Es ist die Geschichte zweier junger Frauen: einer, die in             lange wusste, manche finden sogar, dass das gar nicht                                    ben und bösartig, kurz: Sie ist gefährlich! Und so erobert
einem rechtsradikalen Umfeld aufwuchs und nach einer                  echt ist – wie, echt jetzt? Wer hat denn nun Recht? Diese                                der Wahnsinn aus Cancan, Walzer, Marsch und Schnulze
Gewalttat nun die Dinge in einem anderen Licht sieht.                 Zeitung, oder diese? Wer kennt die Wahrheit – die Re-                                    den Vortragssaal.
Und einer zweiten, die währenddessen in die Szene                     gierung? Ja, welche denn? Wer hat Antworten, deine                                       Der Komponist Gordon Kampe hat eine rasante und
einsteigt. Es ist so leicht, reinzukommen – was führt zum             Eltern oder meine, oder am Ende einfach ich?                                             verspielte Revue geschaffen, die den Operetten der
Umdenken und wie kommt man wieder heraus?                                                                                                                      letzten 170 Jahre nachspürt und ihren Aberwitz in die
                                                                                                                                                               Gegenwart überführt. Für die Gießener Fassung hat er
                                                                                  Was hast du zum Thema Wahrheit zu sagen?
                                                                         Willst du mit auf der Bühne stehen und das Stück mitentwickeln?                       drei neue Nummern komponiert.
                      Willst Du auf die Bühne?
                                                                                             Alle sind willkommen!
       Theaterluft schnuppern und bei KRIEGERIN dabei sein?
                                                                         Meld dich unter theaterpaedagogik@stadttheater-giessen.de
  Melde dich unter theaterpaedagogik@stadttheater-giessen.de!
                                                                                                                                                                             Eine Koproduktion mit der
      Empfohlen ist eine Teilnahme an der Produktion für junge
               Menschen zwischen 14 und 18 Jahren.                                                                                                                  Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart JOiN

                  Regie Mathilde Lehmann                                                                                                                                Musikalische Leitung Andreas Schüller
      Bühne & Kostüme Elena Melissa Stranghöner                                              Regie Ralf Siebelt                                                             Regie Elena Tzavara, Sarah Ritter
                    Dramaturgie Tim Kahn                                            Dramaturgie Mathilde Lehmann                                                       Bühne & Kostüme Elisabeth Vogetseder
          Theaterpädagogik Sebastian Songin                                     Theaterpädagogik Sebastian Songin                                                         Dramaturgie Ann-Christine Mecke

                                                                 14                                                                                       15
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Se lb st b est i m m u n g                                         M e ns chlichke it                                                 Na tur                                                           Dikta tu r

                                                                            Prothesen der
         Caterina Cornaro                                                                                                     Ein Sommernachtstraum                                                                   Tosca
                                                                             Autonomie
                                                                            Sci-Fi-Oper von Thierry Tidrow
                                                                              Text von Franziska vom Heede
        Tragedia lirica von Gaetano Donizetti                                                                                               Oper von Benjamin Britten
  Text von Giacomo Sacchèro nach einer Vorlage von                                                                                   Text von Benjamin Britten und Peter Pears                            Melodramma von Giacomo Puccini
         Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges                               Valerie’s Voice                                                   nach William Shakespeare                                   Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica
    In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln                      Kammeroper von Christofer Elgh                         In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln                  In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
          Deutsche szenische Erstaufführung                              Nach einem Text von Valerie Solanas                            PREMIERE 11. FEBRUAR 2023                                            PREMIERE 25. MÄRZ 2023
         PREMIERE 26. NOVEMBER 2023                                        PREMIERE 20. JANUAR 2023                                              GROßES HAUS                                                        GROßES HAUS
                   GROßES HAUS                                                      KLEINES HAUS
                                                                                                                             „Mit der Zeit wurde mir der Wald immer vertrauter. Ich           „‚Tosca‘ zelebriert gleichzeitig die Freiheit und verwei-
„In den Schaueropern des Belcanto ist die Stellung der         – „Jeder hat das Recht auf Sterilität, Purismus und die       speicherte die Erfahrung dieser Verwandlungen, wie               gert ihren Figuren die Autonomie, umarmt den Realismus
Frau als leidendes Opfer zentral.“ Robert Scholes              Überwindung des Zwischenmenschlichen zum Schutz               sich die Natur öffnen, recken, strecken, entblößen und           und stellt dessen Wert in Frage, liefert das liebevollste
Diese Oper mutet ihrer Protagonistin einiges zu: eine          vor psychischen Verletzungen.“ Franziska vom Heede            von innen nach außen kehren kann, wie sie ihre Konsis-           Porträt einer Diva, das je in einer Oper geschaffen wurde,
unter Gewaltandrohung abgesagte Liebesheirat, eine             – „In Wirklichkeit besteht die Aufgabe der Frau darin, zu     tenz ändern kann, weicher wird, nasser, poröser, glatter,        und erfreut sich irgendwie an ihrem Untergang.“
Zwangsehe mit dem König von Zypern, ein kühles Wie-            erforschen, zu entdecken, zu erfinden, Probleme zu            oder eben trockener, brüchiger, knorriger, wie sie sich          Arman Schwarz
dersehen mit dem einstigen Geliebten, einen Krieg und          lösen, Witze zu reißen, Musik zu machen – alles mit Liebe.“   zusammenziehen kann, kleiner oder größer werden.                 Drei junge Menschen in einer Diktatur: Einer hat sich
den gewaltsamen Tod ihres Ehemanns. Doch während               Valerie Solanas                                               Ein lebendes, atmendes, vielsprachiges Wesen.“                   dafür entschieden, von dem System zu profitieren und
die typische Belcanto-Heldin in einer solchen Situation        Zwei Kammeropern der letzten Jahre widmen sich un-            Carolin Emcke                                                    auf Moral zu verzichten. Ein anderer – ein Künstler – ent-
in den Wahnsinn fliehen würde, steht Caterina auf und          terschiedlichen Formen einer futuristischen Frauenherr-       Schon mit den ersten Klängen führt uns Benjamin Britten          scheidet sich für den Widerstand und muss dafür mit sei-
beginnt ihre Zukunft als Königin von Zypern.                   schaft: In Thierry Tidrows „Prothesen der Autonomie“          in den Wald. Aber zu hören sind keine Vogelstimmen,              nem Leben bezahlen. Die Dritte – die gefeierte Sänge-
Inspiriert vom Leben der historischen Caterina Cornaro,        für Mezzosopran und Instrumentalensemble befinden             kein Naturidyll, sondern ein beunruhigendes Eigenle-             rin Tosca – wählte die Kunst und hofft, damit außerhalb
Tochter einer einflussreichen venezianischen Familie,          wir uns in einem „post-utopischen Matriarchat“; Opern         ben des Waldes, in der Partitur mit „leise und geheim-           des Systems bleiben zu können. Erst als ihr Freund ge-
die 1474 Königin von Zypern wurde, schrieb der fran-           werden nur noch von Robotern dargeboten, um                   nisvoll“ überschrieben. Hier herrscht ein zerstrittenes          foltert und sie erpresst wird, wird ihr bewusst, dass auch
zösische Librettist Saint-Georges einen Text, der zur          Sänger:innen vor der emotional belastenden Arbeit             Elfenkönigspaar, ein irrlichternder Dämon stiftet Verwir-        sie einer Entscheidung nicht entkommen kann.
Grundlage mehrerer Opern wurde, darunter auch für              der Einfühlung zu schützen. Und in Christofer Elghs           rung, und Blumen vermögen wundersame Dinge. Vier                 Für die brutale Handlung der „Tosca“ schrieb Puccini
dieses späte Meisterwerk Donizettis.                           „Valerie’s Voice“ für Sopran und 4 E-Gitarren wird            junge Menschen fliehen in diese geheimnisvolle Welt              eine packende Musik, die alle Klangmittel seiner Zeit
                                                               die   „biologische     Katastrophe“       Mann   kurzerhand   und begegnen den Naturkräften in sich, während eine              einsetzt, um feinsinnig jeder Regung der Figuren zu
                                                               abgeschafft.                                                  Gruppe Handwerker eine „höchst traurige Komödie“                 folgen.
                                                                                                                             probt und ihren Hauptdarsteller an das Naturreich ver-
                                                                      Eine Koprod u k tion mit der H ochschule               liert. Oder war das alles nur ein Traum?
                                                                     fü r M usik u nd Da rstellende Ku nst Fra n k fu rt

        Musikalische Leitung Vladimir Yaskorski                                                                                                                                                          Musikalische Leitung Andreas Schüller
                 Regie Anna Drescher                                    Musikalische Leitung Günther Albers                           Musikalische Leitung Andreas Schüller                                     Regie Martin Andersson
   Konzeptionelle Mitarbeit Maximilian Hagemeyer                                 Regie Francesco Rescio                                   Regie Magdalena Fuchsberger                                               Bühne Lukas Noll
          Bühne & Kostüme Tatjana Ivschina                                 Bühne & Kostüme Maik Wendrich                                Bühne & Kostüme Monika Biegler                                         Kostüme Dorothee Joisten
          Dramaturgie Ann-Christine Mecke                                 Dramaturgie Ann-Christine Mecke                      Dramaturgie Ann-Christine Mecke, Daniele G. Daude                           Dramaturgie Ann-Christine Mecke

                                                          16                                                                                                                             17
Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
Verra t

       La clemenza di Tito

    Dramma serio von Wolfgang Amadeus Mozart
    Text von Caterino Mazzolà nach Pietro Metastasio
    In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
              P R E M I E R E 1 9. M A I 2 02 3
                    GROßES HAUS

„Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf
die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind,
eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe
der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten
vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Karl Popper
Am Ende sieht sich Kaiser Titus einem extremen Verrat
gegenüber: Sein bester Freund Sextus hat einen Mord-
anschlag auf ihn verübt – noch dazu hat Titus‘ Braut diesen
Freund dazu gedrängt. Titus begnadigt sie alle, denn es
gehört zu seinem Selbstbild, Großmut zu zeigen: „Will
mich die Welt eines Fehlers beschuldigen, so bezichtige
sie mich des Mitleids, nicht der Strenge.“
Pietro Metastasio schuf sein Libretto, das den aufgeklär-
ten Absolutismus idealisiert, bereits 1734. Es wurde zur
Grundlage von rund 50 Opern. Als sich Mozart zwei
Jahre nach der Französischen Revolution diesem Stoff
zuwandte, hatten sich nicht nur der musikalische Ge-
schmack, sondern auch die gesellschaftlichen Voraus-
setzungen geändert – aus dem einstigen politischen
Lehrstück wurde eine Studie über das menschliche und
politische Scheitern.

        Musikalische Leitung Vladimir Yaskorski
              Regie & Bühne Helena Röhr
                  Kostüme Åsa Gjerstad

                                                              18
Warum
                                                                 „Peter Grimes“ (1945) – bekanntlich sind diese Werke           Denn eines kann Oper wie keine Kunstform sonst: Syn-
                                                                 so zeitgenössisch wie Konrad Adenauer und die Fress-           these. Sie allein vermag die scheinbar diskreten Phäno-

brauchen wir
                                                                 und Dauerwellen der 1950er Jahre. Uraufführungen               mene ihrer Gegenwart zu einem Ganzen zusammen-
                                                                 machten ganze vier Prozent aller Neuproduktionen               zufassen und deren Beziehungen sichtbar, hörbar und

neue Opern?
                                                                 aus. Meistbesucht war Arnulf Hermanns „Der Mieter“ mit         spürbar machen. Und genau das brauchen wir heute:
                                                                 insgesamt 6.129 Zuschauer:innen. „Die Zauberflöte“ (1791)      Synthesen eines Selbstbildes. Synthese (nicht mehr
                                                                 wurde im selben Zeitraum von 277.510 Zuschauer:innen           Dekonstruktion!) ohne Gleichschaltung ist die dialekti-
Ein Essay von Amy Stebbins                                       besucht. In Anbetracht solcher Zahlen kann man sich            sche Notwendigkeit unserer Zeit. Oper ist die Kunstform
                                                                 allerdings, und gerade als Opernschaffende, tatsächlich        unserer Tage.
                                                                 die Frage stellen: Wozu braucht es neue Opern? Schein-
                                                                 bar will die ja keiner hören! Oder doch?                       In seiner neuen Spielzeit legt das Stadttheater Gießen
                                                                                                                                den Schwerpunkt auf die Gegenwart. Nicht weniger
                                                                 Nun, auch die Antwort auf diese Frage liegt in diesen          als vier zeitgenössische Opern werden zu sehen und
                                                                 Zahlen: Das Überangebot an historischen Stoffen auf            hören sein. Eine Ansage, allen Widrigkeiten zum Trotz
                                                                 den Spielplänen ist ein Symptom eines Zeitgeistes,             einen neuen, gemeinsamen Blick in die Gegenwart und
                                                                 der von seiner eigenen Vergangenheit besessen ist.             die Zukunft zu werfen. Wer werden wir sein? Das gilt es
                                                                 Im Internet ist das komplette Kulturgut meiner Eltern,         zu ergründen. Mit neuen Opern. Mit Musik von Jetzt,
                                                                 Großeltern und Urgroßeltern jederzeit abrufbar. Ohne           Stoffen aus unserer Zeit.
                                                                 Aufwand, blitzschnell und oft kostenlos. Die techni-
                                                                 sche Reproduzierbarkeit der Kunst, von der Walter              Amy Stebbins ist Regisseurin und Librettistin und studier-
                                                                 Benjamin schon 1935 gesprochen hat, macht inzwischen           te an der Harvard University Geschichte und Literatur-
                                                                 die Vergangenheit zur Gegenwart. Sie verhilft einst            wissenschaft. Anschließend wirkte sie als Stipendiatin
                                                                 „historischen“ Werken zu „zeitgenössischer“ Präsenz.           der Fulbright Komission u.a. an der Volksbühne Berlin.
                                                                 Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sagt,
                                                                 die Überflutung unserer Gegenwart durch die Vergan-
                                                                 genheit verändere nicht nur unser Verhältnis zum Jetzt,
                                                                 sondern auch unser Verhältnis zur Zukunft. Diese Zukunft
Was für eine Frage! Wozu brauchen wir neue Filme?                nämlich werde, und mit Grund, zunehmend als bedroh-
Wozu neue Bücher? Gedichte? Bilder? Es gibt so viele             lich empfunden. Statt sich ihr zuzuwenden, flüchte man
Romane, dass es viele Menschenalter dauern würde,                sich in die „breite Gegenwart“ historischer Simultani-
sie alle zu lesen. Wozu noch neue schreiben? Keiner an-          täten. Doch damit ist kein Staat zu machen; eine Gesell-
deren Kunstform, nur der Oper wird die Frage nach der            schaft braucht Zukunftsentwürfe. Und damit diese mög-
Notwendigkeit neuer Werke zugemutet. Dabei ist die               lich sind, benötigt sie ein klares Selbstbild: Wer sind wir?
wahre Zumutung doch die Selbstverständlichkeit des               Heute? Jetzt?
sogenannten Repertoirebetriebs. Wozu brauchen wir
einen Spielplan aus alten Opern?                                 Nicht immer waren die Opernbühnen mit den „Greatest
                                                                 Hits“ von vorgestern besetzt. Überraschenderweise
Eine Folge der erdrückenden Dominanz des Alten ist,              waren die heute kanonischen Werke, als sie das Licht
dass der Opernbetrieb kaum noch neue Werke prä-                  der Welt erblickten, zeitgenössisch. „Don Giovanni“
sentiert – zumindest nicht in Deutschland. In der präpan-        entstand für das Publikum seiner Zeit, zu Fragen des Jah-
demischen Spielzeit 2017/18 entfielen gerade einmal              res 1787, einschließlich der ungedachten, unentdeckten
16% der 866 Premieren auf Opern, die nach 1945 ent-              Widersprüche der Epoche. Ob in Parma oder in Wien,
standen sind. An der Spitze standen dabei „The Rake's            neue Opern waren Spiegel ihrer Gegenwart und Pro-
Progress“ (1951), „Dialogues des Carmélites“ (1957) und          ben für die Zukunft.

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EINMISCHEN

                     Amina Eisner
             SCHAUSPIELERIN | PIT`S PINTE
Anne-Elise Minetti             Annika Gerhards
SCHAUSPIELERIN | CAFÉ INSEL   SÄNGERIN | BAHNHOF GIEßEN
Ben Janssen                                               Borys Jaźnicki
S C H AU S P I E L E R | S C H I F F E N B E RG E R TA L   TÄ N Z E R | A LT E U N I V E R S I TÄT S B I B L I OT H E K
Carolin Weber                              Chiara Zincone
SCHAUSPIELERIN |       DÖNERDREIECK"   TÄ N Z E R I N | A LT E K U P F E R S C H M I E D E
                   "
Clarke Ruth             Dascha Ivanova
SÄNGER | SACHSENHÄUSER BRÜCKE   SCHAUSPIELERIN | GRÜNES HAUS
Davíd Gavíria                        Emma Jane Howley
S C H AU S P I E L E R | K I RC H E N P L AT Z    TÄ N Z E R I N | A LT E R F R I E D H O F
Floriado Komino                     Grga Peroš
   TÄ N Z E R | K L Ä RW E R K   SÄ N G E R | W E STSTA DT
Gustavo de Oliveira Leite                                                Izabella Radić
           TÄ N Z E R | S Ü DA N L AG E   S C H AU S P I E L E R I N | S P O RTC A M P U S KU G E L B E RG
Jana Marković                        Jeff Pham
SÄNGERIN | LÖBERSHOF   TÄ N Z E R | N E U STÄ DT E R TO R
Julia Araújo                             Levent Kelleli
S Ä N G E R I N | K i Z – K U LT U R I M Z E N T R U M   SCHAUSPIELER | PHILOSOPHIKUM II
Maja Mirek                   Magdalena Stoyanova
TÄ N Z E R I N | B OTA N I S C H E R GA RT E N   TÄ N Z E R I N | G I E ß E N E R WO C H E N M A R KT
Nils Müller                 Nina Plagens
SCHAUSPIELER |       GUMMIINSEL"   SCHAUSPIELERIN | AUDIMAX
                 "
Pascal Thomas                 Paula Schrötter
SCHAUSPIELER | LAHNUFER   SCHAUSPIELERIN | CENTRAL BAR
Roman Kurtz           Rose Marie Lindstrøm Andersen
SCHAUSPIELER | RODHEIMER STRAßE              S C H AU S P I E L E R I N | T H E AT E R PA R K
Sebastian Songin                         Stephan Hirschpointner
T H E AT E R PÄ DAG O G E | B R A N D P L AT Z     SCHAUSPIELER | PHILOSOPHIKUM I
Tomi Wendt                                   Zelal Kapçık
S Ä N G E R | H E R M A N N - H O F F M A N N -A K A D E M I E   SCHAUSPIELERIN |       ELEFANTENKLO"
                                                                                    "
Symphonie
                                                                                                                     Gedenken bedeutet für mich:                                       Gedenken bedeutet Verantwortung zu tragen, zu
                                                                                                                                                                                       wissen, dass wir nicht nur der Ermordeten gedenken,

der Solidarität
                                                                                                                     Gedenken ist für mich die reinste Form des Erinnerns.             sondern auch an die Überlebenden denken. Weil
                                                                                                                     Für mich bedeutet das, dass ich mich an die Ermorde-              Rassismus weiterhin ein gesamtgesellschaftliches Prob-
                                                                                                                     ten erinnern kann. An Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz, Bahide           lem ist und die Minderheiten immer noch davon betrof-
Wie wir uns ein respektvolles Gedenken vorstellen –                                                                  Arslan.                                                           fen sind.
von İbrahim Arslan
                                                                                                                     An all die schönen Momente mit ihnen, an die gemeinsa-            Gedenken ist Vertrauen. Vertrauen in diejenigen, die
                                                                                                                     men Ausflüge, an die vielen Picknicke, an die gemeinsa-           das Gedenken mit dir gemeinsam einfordern.
                                                                                                                     men fröhlichen, aber auch traurigen Lebens-situationen,
                                                                                                                     an die gemeinsamen Kämpfe, an die Verluste und an die             Für mich bedeutet Gedenken:
                                                                                                                     Erfolge, an das davor. Aber leider nicht mehr an das da-          „Mit uns, aber nie wieder ohne uns.“
                                                                                                                     nach. Für mich bedeutet Gedenken, daran zu denken,
                                                                                                                     dass sie nicht mehr bei uns sind, aber dennoch mit uns.           Gedenken bedeutet für uns, das Gedenken im
                                                                                                                                                                                       Sinne der Überlebenden, Betroffenen, Angehörigen,
                                                                                                                     Gedenken ist unser alltäglicher Begleiter, es ist qua-            Freund:innen und Verbündeten zu gestalten. Selbstbe-
                                                                                                                     si ein Bestandteil unseres Lebens, es bestimmt für mich           stimmt, selbstorganisiert, solidarisch und empowernd.
                                                                                                                     Raum und Zeit. Dennoch gibt es für das Gedenken keine             Aber was bedeutet das? Welche Veränderungen
                                                                                                                     Amtszeit, sodass wir es ersetzen oder absetzen können.            braucht es?
                                                                                                                     Das Gedenken bestimmt unseren zeitlichen Geist, mal
                                                                                                                     tut es uns weh, mal ist es befreiend, es ist Wut, Trauer,         Gedenken bedeutet für uns, die Vielstimmigkeit der
                                                                                                                     Widerstand, aber es ist auch Ruhe und Gelassenheit.               Verletzlichkeiten zu verbinden und zu verstärken. Aber
                                                                                                                                                                                       wie können wir uns noch mehr verbinden? Welche
                                                                                                                     Gedenken ist, sich nicht zu beugen, trotz fehlender               Stimmen verstärken? Und welche überhören wir noch?
                                                           Wir gedenken jeden Tag unseren Ermordeten Ayşe,           Staatsbürgerschaft, ohne gleiche Rechte, ohne Aner-
                                                           Yeliz und Bahide. Doch was bedeutet es, zu gedenken?      kennung, ohne Privilegien, Gedenken ist trotz alldem              Gedenken bedeutet für uns, dass Betroffene ihre
                                                           Dieser Frage wollen der Freundeskreis im Gedenken         zu kämpfen, für Gerechtigkeit und Freiheit.                       Geschichten erzählen und ihnen zugehört wird, weil
                                                           an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, die                                                                     eure/unsere Geschichten so viel verändern und be-
                                                           Familien Arslan und Yılmaz und unsere Verbündeten         Gedenken ist für mich Solidarität mit Betroffenen auf             reits beginnen zu beschreiben, wie Gerechtigkeiten
                                                           weiter nachgehen. Eine Frage, die wir uns und ande-       Augenhöhe, es ist ein politischer Prozess mit der Gesell-         aussehen könnten. Wer erzählt? Wer hört zu? Wie kann
                                                           ren in den vergangenen Jahren immer wieder gestellt       schaft, aber auch mit uns selbst. Es bedeutet, die Betrof-        es mehr Platz für diese Geschichten geben? Und wie
                                                           haben. Und die wir als Teil einer Auseinandersetzung      fenen und Angehörigen anzuerkennen. Es bedeutet                   sehen Gerechtigkeiten aus?
                                                           ansehen, die andauert. Zu unseren Gedanken und            heute über das Vergangene zu sprechen, das Gegen-
                                                           Fragen möchten wir Sie einladen. Und zu einer Sympho-     wärtige in den Vordergrund zu holen und die Zukunft               Gedenken bedeutet für uns, sich auf einen Prozess
                                                           nie der Solidarität, die wir mit euch anstimmen wollen.   einzufordern.                                                     einzulassen und nicht an Vorstellungen und Plänen
                                                                                                                                                                                       festzuhalten. Zu akzeptieren, dass Trauer und Schmerz
                                                           In einer Symphonie wird aus vielen einzelnen Stimmen      Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten, viele Ver-             Zeit brauchen und Raum. Wie können wir das schaffen?
                                                           ein neuer gemeinsamer Klang. Und so wollen wir die        letzungen, viele Wünsche und Bedürfnisse, viele Per-              Und euch und uns Zeit lassen? Gedenken bedeutet für
                                                           vielen Stimmen hörbar machen und zusammenbringen.         spektiven. Gedenken bedeutet, sie zu hören, aus der               uns, nicht davon auszugehen, dass alle Betroffenen das
                                                           Wir wollen die Betroffenenperspektive in den Vorder-      Vereinzelung zusammenzubringen, zu vernetzen und                  Gleiche fühlen und wünschen, sondern zu lernen, dass
                                                           grund rücken und zu einer Vervielfältigung von selbst-    so Erinnerungspolitiken herauszufordern.                          die Formen des Gedenkens, der Trauer, des Erinnerns
                                                           organisierten, selbstbestimmten, solidarischen und                                                                          sich unterscheiden und widersprechen können und
                                                           empowernden Gedenkpraxen für eine gerechtere                                                                                dennoch Gemeinsames möglich ist. Wie können wider-
                                                           Gesellschaft aufrufen.                                                                                                      sprüchliche Bedürfnisse Raum bekommen? Wie können

                                                      54                                                                                                                          55
wir auch in den Unterschieden verbunden sein? Wie                Gedenken bedeutet für uns, sich verbunden zu füh-        Betroffenen und Angehörigen. Wie können wir pers-               Gedenken bedeutet daher sooo viel und noch viel
können Gemeinsames und Unterschiedliches zusam-                  len: mit den Verstorbenen und den Lebenden. Ihnen        pektivisch bewirken, dass unsere kraftvolle Solidarität         mehr. Für uns ist es wichtig, die Erinnerung zurückzu-
men sichtbar sein?                                               zuzuhören, Lebens-Geschichten und Verletzlichkeiten      untereinander in noch mehr gesellschaftliche Wirkungs-          erkämpfen – und uns an die zu erinnern, die wir durch
                                                                 über Zeit und Raum hinweg zu verbinden. Wie kann so      räume überschwappt, sodass unser Verständnis vom                Rassismus und Antisemitismus verloren haben, an das
Gedenken bedeutet für uns, den Stimmen von Über-                 eine Verbindung aussehen?                                selbstbestimmten, partizipativen Gedenken nachhalti-            Geschehene, an das Vergessene, an das Verschwiege-
lebenden, Betroffenen und Angehörigen Raum zu                                                                             ge Akzeptanz erlangen kann?                                     ne, an das unter den Teppich Gekehrte, an die Ursache
geben und ihren Stimmen zuzuhören. Es gibt Erinner-              Gedenken bedeutet für uns ganz viel Dankbarkeit.                                                                         und die Folgen, an das Davor und das Danach.
ungen, die sich in unsere Herzen eingebrannt haben,              Dankbarkeit, dass Betroffene und Angehörige ihre         Gedenken bedeutet für uns, kollektive Prozesse
die wir vor unseren Augen sehen. Und dann gibt es                Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen mit uns        zu gestalten und Gemeinsamkeiten zu schaffen. Wie               Indem wir die Erinnerung lebendig halten, rücken
jene, die uns Trost und Zuversicht geben. Die Familie,           teilen und wir zusammen über Vergangenes und Jetzi-      können wir diese Erfahrungen auf weitere Kämpfe                 wir die Perspektive der Betroffenen in den Vorder-
die wir bekommen, die Familie, die wir verloren haben            ges weinen können, zusammen wütend sein können,          übertragen?                                                     grund: Gedenken ist die reinste Form des Erinnerns.
und die Familie, die wir finden.                                 aber auch zusammen über so vieles lachen können.                                                                         Bis heute versuchen Andere zu bestimmen, wie an das
                                                                 Gedenken bedeutet für uns auch, dass wir zusam-          Gedenken bedeutet für uns, wahrnehmbar öffentli-                Geschehene gedacht wird. Bis heute versuchen An-
Gedenken bedeutet für uns, nicht ohne uns über uns               men Essen und Gedenken, dass wir zusammen an den         che Räume umzugestalten, anders zu besetzen und zu              dere zu vereinnahmen, wie über das Geschehene
zu sprechen, zu planen, zu handeln. Wer übersetzt die-           Gedenktagen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solin-       beschreiben. Wie können wir Orte der Solidarität, des           gesprochen wird. Sie diffamieren damit die Opfer und
ses Prinzip wirklich in die eigene künstlerische, politi-        gen Halle, Hanau … in der Kälte, unter der brütenden     Austausches, der Trauer, der Wut und der Ermutigung             ihre Geschichten.
sche, kulturelle Praxis?                                         Sonne oder im Regen und Schnee stehen, aber unser        gestalten? Wie können wir viele dieser Orte schaffen?
                                                                 Zusammensein und unsere Solidarität uns wärmt.                                                                           Die Vorstellung der Betroffenen und Angehörigen von
Gedenken bedeutet für uns, uns Vereinnahmungen                                                                            Gedenken bedeutet für uns, sich mit den gesellschaft-           Erinnerung sollen Maßstab für das Gedenken sein.
von verschiedenen Seiten entgegenzustellen. Wie                  Gedenken bedeutet für uns, mitzufühlen, Gefühle zu-      lichen Bedingungen und Kontinuitäten auseinanderzu-
sehen diese Vereinnahmungen aus? Wie erkennen wir                zulassen und sie zu teilen. Wie können wir Gefühle als   setzen, die zu den Taten führen. Wie kann sich diese            Sie sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des
sie? Wie können wir ihnen entgegentreten?                        Teil der politischen Praxis begreifen?                   Auseinandersetzung im Alltag widerspiegeln?                     Geschehenen.

Gedenken bedeutet für uns, sich mit Überlebenden                 Gedenken bedeutet für uns ein ständiger Weckruf,         Gedenken bedeutet für uns Gesellschaftskritik. Die              İbrahim Arslan ist Opfer und Überlebender der rassisti-
und Betroffenen zu verbünden. Die Zeug:innenschaf-               die Vergangenheit in eine solidarische und gerechtere    dringenden Fragen nach Gerechtigkeit, nach ausge-               schen Brandanschläge von Mölln 1992, Bildungsaktivist
ten für die erfahrene Gewalt zu vervielfältigen. Wie             Gegenwart und Zukunft zu übersetzen und Zeit gleich-     grenzten Geschichten und nach der Gewalt unserer                und mitwirkende Person beim Freundeskreis im Ge-
kann das praktisch aussehen? Und wer wird als Zeug:in            zeitig zu denken. Was bedeutet das für unsere Vorstel-   gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen. Wem hören wir            denken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln
anerkannt?                                                       lungen von Zeit?                                         zu? Was stellen wir der strukturellen Gewalt entgegen?          1992, Botschafter für Demokratie und Toleranz.
                                                                                                                          Und welche Gerechtigkeiten brauchen wir heute?
Gedenken bedeutet für uns, dem Schweigen auf den                 Gedenken bedeutet für uns mehr als bloßes Erinnern,
Grund zu gehen. Wer schweigt und warum? Wann wird                es bedeutet, die Vergangenheit im Heute zu betrach-      Gedenken bedeutet für uns, etablierte Erinnerungs-
Schweigen akzeptiert? Und wem ist es möglich, das                ten. Welche Aufgaben übergibt uns das Geschehene?        diskurse herauszufordern, die oft ohne Betroffene
Schweigen zu durchbrechen?                                       Welche Verantwortung erwächst daraus? Und was heißt      entstanden sind und eher staatstragenden Zwecken
                                                                 das für die Zukunft?                                     dienen. Welche Erzählungen gilt es zu verändern? Wie
Gedenken bedeutet für uns den Versuch, das Unsag-                                                                         können wir darin beharrlich bleiben?
bare auszudrücken. Wie können wir noch mehr zu die-              Gedenken bedeutet für uns, „wir werden immer wie-
sen Versuchen ermutigen? Welche Sprachen/Formen/                 der da sein“, wie Faruk Arslan sagt. Aber was bedeutet   Gedenken bedeutet für uns, Zuschreibungen zu hin-
Ausdrucksweisen können wir voneinander lernen?                   dieses Da-Sein? Wer mit wem und wann und wie lange?      terfragen und Begriffe mit neuen Bedeutungen zu fül-
                                                                                                                          len. Was bedeutet es, „ein Opfer“ zu sein? Was bedeu-
Gedenken bedeutet für uns, gemeinsam die Trauer                  Gedenken bedeutet für uns, Haltung zu zeigen,            tet es, eine Familie zu sein? Was bedeutet es, betroffen
zu halten und auszuhalten. Was bedeutet es, Trauer zu            indem Verantwortung für die Vergangenheit übernom-       zu sein?
halten? Wie können wir selbstbestimmte und stärkende             men wird, um eine solidarische Zukunft zu gestalten.
Trauerrituale gestalten?                                         Gelingen kann das nur mit respektvollem Einbezug der

                                                            56                                                                                                                       57
Le ib e s kräf te                                           G egenwa rt                                                         G ra m

TANZ         My body a stranger that
             protects me that kills me
                                                                                where we are (at)                                              Five Stages of Grief
                                                                                                                                                         Tanz / Physical Theatre
                                                                                                                                                    von Constantin Hochkeppel und
                             Tanz von Maura Morales                      Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel                         dem Philharmonischen Orchester
                               URAUFFÜHRUNG                                 STÜCKENTWICKLUNG | URAUFFÜHRUNG                                 STÜCKENTWICKLUNG | URAUFFÜHRUNG
                      PREMIERE 21. OKTOBER 2022                                     PREMIERE 13. JANUAR 2023                                          PREMIERE 8. APRIL 2023
                                 KLEINES HAUS                                               GROßES HAUS                                                     GROßES HAUS

            „Der Körper ist ein Gefängnis oder ein Gott. Es gibt kei-   „Die Ruine ist ein utopischer Ort, in dem Vergangenheit         „Wenn man ohne jemanden leben kann, den man ge-
            ne Mitte. Oder aber: die Mitte ist Gehacktes, Anatomie,     und Zukunft in eins fallen.“ Judith Schalansky                  liebt hat, bedeutet das, dass man ihn weniger geliebt
            Geschältes, doch nichts von alldem macht einen Körper       Die 4. Frage im Fragebogen II der legendären Samm-              hat, als man glaubte…?" Roland Barthes
            aus. Der Körper ist ein Leichnam oder er ist glorreich.“    lung des Autors Max Frisch mag zunächst nur eine ja/            Leugnung – Wut – Verhandlung – Depression – Akzep-
            Jean-Luc Nancy                                              nein-Antwort erfordern – „Kennen Sie Versöhnungen,              tanz. Die verschiedenen Phasen der Trauer lösen eine
            Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper steht          die keine Narben hinterlassen?“. Doch stellen wir sie in        Welle an Emotionen aus, die Körper und Geist des ein-
            unter einer permanenten Spannung: Ich bin mein Kör-         Bezug auf unseren gesellschaftlichen Zustand dauer-             zelnen Menschen wie auch die Gefüge von Gemein-
            per und ich habe einen Körper. Im Körper-Sein spüren        hafter Krisenerfahrung, wiegt diese Frage um einiges            schaften erschüttern. Trauer wirft uns sprichwörtlich um,
            wir unseren lebendigen Leib in der Welt – und sind ihm      schwerer. Dabei sind Krisen immer der beste Zeitpunkt           reißt uns den Boden unter den Füßen weg und das Herz
            darin existenziell durch seine Sterblichkeit ausgelie-      für gegenseitige Selbstbefragung: Wo stehen wir als             auf und löst einen psychischen und physischen Prozess
            fert. Im Körper-Haben verfügen wir zugleich über ihn        Individuen, als Gemeinschaft, psychisch wie physisch,           der Arbeit und Verarbeitung aus. Nur durch das Prinzip
            als Medium, als Werkzeug und Bild – das sich aber auch      mit welchem Erbe und welcher möglichen Zukunft? Wie             Hoffnung können wir die Vergänglichkeit ertragen.
            von uns entfremden kann. Ausgehend von diesen Ge-           gehen wir damit um, wenn uns die Antworten darauf               Die fünf Phasen (engl. stages) der Trauer wörtlich neh-
            gensätzen untersucht die kubanische Choreographin           nicht gefallen oder sie gar verweigert werden? Und              mend, kreieren Constantin Hochkeppel und das Tanz-
            Maura Morales die unaufhebbare Zweiheit des Körpers         mit welchen neuen Narben dürfen wir uns in Zukunft              ensemble gemeinsam mit dem Künstler Philipp Basener
            in ihren Grenzerfahrungen und ihre Bedeutung für die        schmücken? Zusammen mit dem Gießener Tanzen-                    und dem Philharmonischen Orchester eine rauschende
            Begegnung mit Anderen: Wenn der schöne body mit             semble wagt ihr neuer künstlerischer Leiter Constantin          Prozession auf fünf unterschiedlichen Bühnen des Thea-
            selfcare geformt und gepflegt wird, um dann als Objekt      Hochkeppel eine kritische wie humorvolle Bestands-              ters. Sie untersucht die Existenzialität wie Banalität einer
            kapitalisiert und enteignet zu werden. Wenn der sinn-       aufnahme.                                                       allzu alltäglichen individuellen wie gesellschaftlichen Er-
            liche Zustand der Lust und Liebe durch Verletzungen                                                                         fahrung und fragt kritisch danach, was darüber entschei-
            gestört wird, oder sich ein Mensch gar in außerkörperli-                                                                    det, welche Verluste betrauernswert erscheinen.
            chen Erfahrungen plötzlich wie von oben zu betrachten
            scheint. Wenn der Mensch als lebendiger Leib gebo-
            ren, aber durch den Zerfall des eigenen Körpers umge-
            bracht wird.

                  Konzept & Choreographie Maura Morales                        Konzept & Regie Constantin Hochkeppel
                           Komposition Michio Woirgardt                                 Musik Laura N. Junghanns                               Konzept & Regie Constantin Hochkeppel
                  Bühne & Kostüme Maura Morales, Lukas Noll                               Bühne Nicolas Rauch                                    Musikalische Leitung Andreas Schüller
                           Dramaturgie Caroline Rohmer                               Kostüme Sophie Lichtenberg                                    Bühne & Kostüme Philipp Basener
                              Outside Eye René Linke                                 Dramaturgie Caroline Rohmer                                      Dramaturgie Caroline Rohmer

       58                                                                                                                          59
Hea rt b ea t                                                          S elbstermäc h ti gu n g

                                                            SCHAUSPIEL
         Ein neues Stück
                                                                          Jahr der Erinnerungskultur
        von Paula Rosolen

       Tanz von Paula Rosolen und Haptic Hide
                  URAUFFÜHRUNG
              PREMIERE 16. JUNI 2023                                                  R E I H E V O N AY Ş E G Ü V E N D I R E N
                    KLEINES HAUS                                                            S P I E L Z E I T 2 02 2 /2 02 3

Die argentinische Choreographin Paula Rosolen ent-                       „Opfer und Überlebende sind keine Statist:innen, sie sind die
wickelt mit dem Gießener Tanzensemble ein neues                          Hauptzeug:innen der Geschehnisse.“ İbrahim Arslan
Stück. In ihren Choreografien arbeitet sie im Grenz-                     Mölln, 23. November 1992. Solingen, 29. Mai 1993. Hanau, 19.
bereich von Tanz, Performance, Musik und Theater                         Februar 2020. Die Historie dieses Landes trägt viele Narben.
und beschäftigt sich mit tänzerischen Strukturen in                      Doch es sind die Leiber der „Anderen“ die seither bluten.
alltäglichen Situationen und in der Populärkultur.                       Sie markieren irreversibel die bundesrepublikanische Land-
                                                                         karte, wir hingegen beziffern lediglich ihre Körper. Wir nen-
                                                                         nen die Orte. Wir kennen die Städte. Doch wir können sie
                                                                         uns nicht merken. Es sind zu viele; Einzelfall, für Einzelfall, für
                                                                         Einzelfall. Menschenleben werden zu Zahlen, Individuen zur
                                                                         anonymen Masse. Wir studieren Statistiken, doch kennen ihre
                                                                         Gesichter nicht. Wir wissen um die Opfer, doch kennen ihre
                                                                         Geschichten nicht. Unsere ungeübten Zungen verknoten
                                                                         sich bereits beim Versuch der korrekten Aussprache ihrer
                                                                         Namen.
                                                                         Mit dem „Jahr der Erinnerungskultur“ in der Spielzeit
                                                                         2022/2023 schauen wir auf diese gegenwärtigen Schmerz-
                                                                         punkte innerhalb unserer Gesellschaft. Wir möchten ge-
                                                                         denken. An die Mordopfer. Wir möchten erinnern. Mit den
                                                                         Opferfamilien. Unter der Leitung von Ayşe Güvendiren wol-
                                                                         len wir uns mit Performances, Lesungen, Interventionen und
                                                                         Podiumsgesprächen als Gießener Stadttheater über die ge-
                                                                         samte Spielzeit hinweg daran erproben, Theater als wider-
                                                                         ständige Erinnerungsarbeit zu etablieren. Umtrieben von der
                                                                         Sehnsucht nach einer solchen künstlerischen Erinnerungspra-
                                                                         xis werden wir uns u.a. mit einem mobilen Teegarten, einem
                                                                         Çay Bahçesi, in den Gießener Stadtraum begeben und damit
                                                                         den Versuch unternehmen, erinnerungskulturelle Narrative
                                                                         in die Stadtgesellschaft zu tragen.
   Konzept, Choreographie & Regie Paula Rosolen
              Bühne & Kostüme Lukas Noll
             Dramaturgie Caroline Rohmer

                                                       60                 61
Klassismus                                                     Id e o lo g ie                                                   Ka pita l                                                       A nerken n u n g

                                                                                                                                                                                                        Mais in Deutschland &
             Café Populaire                                                     Dantons Tod                                                    Hundepark
                                                                                                                                                                                                         anderen Galaxien
                                                                                                                                   Schauspiel nach dem Roman von Sofi Oksanen
                                                                                                                                        Aus dem Finnischen von Angela Plöger
        Schauspiel von Nora Abdel-Maksoud                                      Schauspiel von Georg Büchner                                       URAUFFÜHRUNG                                                   Schauspiel von Olivia Wenzel
             P R E M I E R E 7. O K TO B E R 2 0 2 2                          PREMIERE 23. OKTOBER 2022                                   P R E M I E R E 9. D E Z E M B E R 2 02 2                           PREMIERE 16. DEZEMBER 2022
                      KLEINES HAUS                                                   GROßES HAUS                                                    GROßES HAUS                                                         KLEINES HAUS

„wann shamend man die ganzen kunsthipster dafür                  „Revolutionäres Handeln ist keine Form der Selbstaufop-       „Und plötzlich gibt es eine Antwort auf die Frage                    „Ich sah eine Mutter und einen Vater, vertieft in ihre
wie sie immer so ghetto proleten cosplay mit jogging-            ferung, keine erbitterte Hingabe und Bereitschaft, alles      des ehemaligen amerikanischen Außenministers Mike                    Unterhaltung, während ihre Söhne mit ihren Dreirä-
hose, häfntattoos und bomberjacke machen und dann                zu tun, was nötig ist, um eine zukünftige Welt der Freiheit   Pompeo, der 2020 im Zusammenhang mit der Trump-                      dern ganze Gehsteige beherrschten. Die Galaxie ge-
am 24.12. sieht man immer kurz fotos auf insta mit papa          herbeizuführen. Es ist vielmehr das trotzige Beharren         Selenski-Affäre die Journalistin Mary Louise Kelly anbrüll-          hörte ihnen, und während unseren Kindern Schrecken
hans-friedrich und mutter gerda unterm 2m weihnachts-            darauf, so zu handeln, als sei man bereits frei.“             te, ob sie allen Ernstes glaube, irgendwer «gives a f***             eingeimpft wurde, war es bei ihnen Überlegenheit.“
baum im klavierzimmer.“ Stefanie Sargnagel                       Maggie Nelson                                                 about Ukraine».“ Sasha Marianna Salzmann                             Ta-Nehisi Coates
Svenja ist ein guter Mensch – und das, obwohl sie aus            In Zeiten zunehmender politischer Erschütterungen             Es ist 2016, Olenka sitzt auf einer Parkbank in Helsinki. Das        Susannes Plan die DDR zu verlassen, scheitert mit der
einer kleinbürgerlichen Familie stammt. Nach dem Stu-            finden diejenigen Orientierung, die sich dem Drama            Buch in ihrem Schoß ist bloß Requisit, ihr Blick liegt auf           Geburt ihres Sohnes Noah und fesselt sie fester an die
dium an der Kunsthochschule kehrt sie zurück ins heimi-          Georg Büchners zuwenden. Das Scheitern politischer            dem kleinen Hund und den beiden spielenden Kin-                      Enge dieser Welt, in der sie nicht glücklich ist. Während
sche Nest Blinden, um als Clown im städtischen Hospiz            Ideologien wird hier ebenso deutlich wie der Drang            dern. Als sich Daria unvermittelt neben sie setzt, kommt             sie dagegen rebelliert, wächst Noah mit dem Gefühl
zu arbeiten. Als Püppi, Älteste im Hospiz und um keinen          Antwort zu geben auf die Frage, was Freiheit ist. Wäh-        die Panik zurück. Nach dem Verschwinden „eines der                   auf, unerwünscht zu sein. So beginnt seine Odyssee
Sponti-Spruch verlegen, eine neue Besitzer:in für ihre           rend   die    Schreckensherrschaft      Robespierres   zum    besten Mädchen der Agentur“ verließ Olenka die                       des Erwachsenwerdens zwischen ostdeutschem Punk
Kneipe sucht, sieht Svenja ihre Chance: Die "Goldene             scheinbaren Wohl des Volkes immer mehr Opfer for-             Ukraine von heute auf morgen und war seither über-                   und Nachwendetristesse. Strauchelnd flüchtet er in die
Möwe" soll mit ihrem Einsatz das diskriminierungsfreieste        dert, spaziert Danton müde durch die Trümmer der              zeugt, sicher untergetaucht zu sein.                                 Galaxien seiner Comics, in denen es keinen Zwang zur
aller Stand-up-Programme bekommen. Ihr klassistischer            Revolution, sein Vertrauen in das Uhrwerk Welt bereits        Als Krimi konzipiert erzählt Sofi Oksanen in ihrem jüngs-            Rechtfertigung gibt und wo er seine Mutter am liebsten
Persönlichkeitsanteil Don schreibt derweil an anderen            verloren. Entsetzen, Gewalt und Vernichtung beherr-           ten Roman die Geschichte zweier junger Frauen im                     auf den Mond schießen würde. Olivia Wenzels Theater-
Pointen und will um jeden Preis verhindern, dass Dienst-         schen diesen Text, aber auch der unerlässliche Mut, de-       Donbass, die dort in die Strukturen einer Agentur für Ei-            text erzählt von einer Mutter-Kind-Beziehung, der das
leistungs-Proletarier Aram der neuer Pächter wird –              mokratische Ideale dagegen zu verteidigen. Wie mit            zellenspenden gelangen – eine Branche, die den ge-                   Entscheidende fehlt: die bedingungslose Liebe. Das
denn was hat ein Mensch, der nicht weiß was                      dem politischen und menschlichen Scheitern umgehen,           bärfähigen Körper für Geschäfte mit dem Westen zu                    Einzige, was Susanne und Noah verbindet, ist ihre Sehn-
„Heteronormativität" bedeutet, Blinden schon kulturell           das in eine Welt des Despotismus, der Demagogie und           nutzen weiß.                                                         sucht nach Anerkennung, in einer Welt, die nicht fähig ist,
zu bieten?                                                       des Nationalismus führt?                                                                                                           Andersartigkeiten wertzuschätzen.

                   Regie Franziska Autzen                                          Regie Caner Akdeniz
                     Bühne Eylien König                                   Bühne & Kostüme Valentina Pino Reyes                                     Regie Simone Sterr
                    Kostüme Naomi Kean                                              Musik Giovanni Berg                                    Bühne & Kostüme Sabina Moncys
                      Musik Chris Lüers                                             Video Justin Urbach                                              Musik Jojo Büld                                                 Regie Sarah Claire Wray
               Dramaturgie Lena Meyerhoff                                          Dramaturgie Tim Kahn                                       Dramaturgie Lena Meyerhoff                                              Dramaturgie Tim Kahn

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