Spielzeit 2022 /2023 - des Stadttheaters Gießen
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I N H A LT G RU ß WO RT SEITE 4 EDITORIAL SEITE 6 PREMIEREN SEITE 8 ERÖFFNUNG SEITE 11 J U N G E S T H E AT E R SEITE 12 M U S I KT H E AT E R SEITE 15 EINMISCHEN SEITE 22 TA N Z SEITE 58 SCHAUSPIEL SEITE 61 KO N Z E R T E SEITE 70 EXTRAS S E I T E 74 J U N G E S T H E AT E R Z U M M I T M AC H E N SEITE 78 INFO UND TICKETS SEITE 82 V E R E I N D E R F R E U N D E D E S T H E AT E RS SEITE 86 WIR SEITE 92 UNSERE GÄSTE SEITE 95 LEGENDE SEITE 96 IMPRESSUM SEITE 99 Willkommen
GRUßWORT Mit der kommenden Spielzeit unter neuer Intendanz wird das Scheinwerferlicht auf das Neue, das Kommende ge- richtet sein. Es sollen Neugier und Erwartungen geweckt werden. Die Frage was da kommt ist aufs engste verbun- den mit der Frage, wer da kommt. Gießen begrüßt die neue künstlerische Leitung: Simone Sterr, Ann-Christine Mecke, Constantin Hochkeppel, Mathilde Lehmann und Andreas Schüller. Mit ihren Namen wird sich zukünftig verbinden, was sich auf den Bühnen und im Orchester- graben ereignet. Ihnen und allen weiteren im künstleri- schen Team gilt mein herzliches Willkommen in unserer Stadt, das ich als Oberbürgermeister und für den gesam- ten Aufsichtsrat des Theaters aussprechen darf. Sehr geehrte Theaterinteressierte, Sie verkörpern das neue künstlerische Team – und als solches treten sie auch ganz bewusst an. Das lässt auf viel Übergänge haben ihren ganz eigenen Charakter. In spartenübergreifende Kreativität hoffen. ihnen stecken Abschied und Aufbruch, Rückblick und Ausblick, Erinnerungen und Zukunftsvisionen. Im Gieße- Was darf man erwarten von einem guten Theater? Dass ner Stadttheater geht mit dem Abschied von Intendan- es berührt, anregt, erfreut, irritiert, schockiert, entspannt, tin Cathérine Miville eine Ära zu Ende. Sie hat über viele nachdenklich macht, euphorisiert, Entdeckungen und Jahre das Theater und damit den Gießener Kulturbetrieb Ideen schenkt … Dass all dies in Aussicht steht, wird am mit ihrer Handschrift geprägt. Ihr gelten dafür mein Spielplan der Saison 2022/2023 deutlich. Für alle Interes- herzlicher Dank und meine große Anerkennung. sierten wird erkennbar werden, wie sehr sich das Stadt- theater in Beziehung setzen will zur gesellschaftlichen Mit dem Start der neuen Intendanz von Simone Sterr Wirklichkeit, in der es sich ereignet, und zu den gesell- zieht nun etwas Neues auf. Für das Stadttheater mit seinen schaftlichen Debatten, die geführt werden – ohne sich Sparten Schauspiel, Tanz, Musik- und Junges Theater ist einfangen zu lassen von dem, was ist. Vielmehr liegt das das ein hochelektrisierender Moment – voller Erwartung Versprechen in der Luft, dass Neues gedacht, Utopien auf das Kommende. Getragen wird dieser Übergang von gewagt und Alternativen entdeckt werden sollen. Ich den Mitarbeitenden und dem Ensemble am Theater, bei ahne elektrisierende Zeiten, spannend und spannungs- denen ich mich ausdrücklich bedanken möchte – für alles voll, jedenfalls energiereich. Engagement und für alle Leidenschaft, die sie an diesem Geben Sie sich Ihrer Neugier hin und lassen Sie sich vom Haus demonstrieren. neuen Spielplan inspirieren. Wir sind in Gießen und im ganzen Landkreis glücklich, Frank-Tilo Becher froh und auch stolz, ein so großartiges Theater zu haben. Oberbürgermeister Wir wissen es zu schätzen, welche künstlerische Ener- gie von den Brettern der Bühnen ausgeht, die in unsere Stadtgesellschaft hineinwirkt und weit über unsere Stadt hinaus strahlt. 4
EDITORIAL Darauf, dass die Dinge in ihrer Komplexität erfasst und kommuniziert werden. Da ist das Theater gefragt, und seine Fähigkeit, die Welt nicht zu erklären, sondern zu sischen Spielplan in allen Sparten gesetzt. Wir vertrauen den Stimmen der Gegenwart. Und wir glauben an das Theater als Kunst, die immer bleibt, weil sie sich stets befragen. Dorthin zu blicken, wo etwas nicht in Ordnung verändert. Das möchten wir auch mit unserem neuen ist, an die Schmerzpunkte der Gesellschaft zu schauen, Erscheinungsbild zum Ausdruck bringen. Ein Algorith- die Utopie eines wirklich gleichrangigen Miteinanders mus setzt Begriffe in Grafik um, mit denen der Dreiklang fest im Auge. Das führt zwangsläufig zur Rückeroberung STADT THEATER GIEßEN immer wieder neu überschrie- von Begriffen wie Revolution und Revolte. Wir möch- ben wird. Und so entsteht das, was wir für diese Stadt ten uns damit auseinandersetzen, ohne uns gemein zu sein wollen: Ein Stadttheater, das sich bewegt und für machen mit düsteren Theorien und ihren Akteur:in- Bewegung sorgt, das Themen aufnimmt und aussendet, nen. Wir möchten von Freiheit sprechen dürfen, ohne das zuhört und spricht. dumpfe Lieder zu grölen. Wir möchten uns der Wirk- lichkeit stellen, ohne die Kraft der Poesie zu verlieren Ich freue mich auf diesen Dialog. und den Mut zur Veränderung. Viele Vorhaben und Vorlagen der Spielzeit 2022/2023 setzen sich mit der Simone Sterr Spannung auseinander, die die Welt gerade in Stücke Intendantin reißt: Der zwischen Demokratie und Despotismus. Damit sind wir beim Widerstand als Folge von Wachsamkeit. „Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat“. Es ist keine altlinke Romantik, an dieser Stelle Rosa Luxemburg zu zitieren. Dieser Satz ist schlichtweg noch immer wahr. Liebe Gießener:innen, liebes Publikum, Für Menschen, die von diktatorischen Despoten regiert werden, ist „sagen, was ist“ eine Gefahr für Leib und „Retten wir den Begriff Revolution, der von Plattform- Leben, das Aussprechen von Wahrheit ein aufständi- heinis und Faschisten missbraucht worden ist“, sagt scher Akt. Wir haben das Privileg, in einer demokratisch ein junger Hacker in Sybille Bergs neuestem Roman verfassten Gesellschaft öffentlich gefördertes Theater #RemoteCodeExecution. Er sagt ihn mit wilder Wut machen zu dürfen. „Sagen, was ist“ ist kein Risiko für uns, und im sicheren Bewusstsein, dass diese Welt geändert es ist uns Verpflichtung. Es ist kein besserwisserisches, werden muss. aufklärerisches Theater, was daraus folgen soll. Vielmehr eines, das sich der Wirklichkeit und ihrer Ungereimt- Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe haben uns deut- heiten stellen möchte. Eines, das neugierig ist, kommu- lich gemacht, was der Verstand längst wusste und die nizieren möchte, sucht, forscht, probiert, spielt. Eines, innere Stimme uns schon seit Langem sagt: Es gibt kei- das sich auf den Weg macht, gemeinsam mit seinem ne Sicherheiten, die Gefüge sind brüchig, der Boden Publikum. auf dem wir wandeln hat tiefe Risse. Die Erkenntnis ist alt. Neu ist, dass nicht mehr versucht wird, sie zu ver- Ob es ein leichter Spaziergang wird oder eine kräfte- drängen, und sie seltener mit markigen Sprüchen und zehrende Tour? Wir wissen es nicht. Aber die Schuhe einfachen Lösungen zu quittieren. Stattdessen schie- sind gut geschnürt; es kann losgehen. Die Pfade, die ben sich Politiker:innen, die den Zweifel kultivieren, wir betreten, sind oft unbekannt, und viele Wege sind an die Spitze der Beliebtheitsskala. Das lässt hoffen. neu. Denn wir haben auf einen konsequent zeitgenös- 6 7
PREMIEREN 25.03.2023 Tosca G H Melodramma von Giacomo Puccini | Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica 1 9. 0 5 . 2 0 2 3 La clemenza di Tito G H Dramma serio von Wolfgang Amadeus Mozart | Text von Caterino Mazzolà nach Pietro Metastasio TA N Z ERÖFFNUNG 2 1 .1 0. 2 02 2 My body a stranger that protects me that kills me U R A U F F Ü H R U N G | K H Tanz von Maura Morales 3 0 . 0 9. 2 0 2 2 Posthuman Journey U R A U F F Ü H R U N G | G H Eine Trilogie von Pat To Yan | Aus dem Englischen von John Birke und Ulrike Syha 13.01.2023 where we are (at) U R A U F F Ü H R U N G | G H Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel 08.04.2023 Five Stages of Grief U R A U F F Ü H R U N G | G H J U N G E S T H E AT E R Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel 16.06.2023 Ein neues Stück von Paula Rosolen U R A U F F Ü H R U N G | K H 2 4 . 0 9. 2 0 2 2 Luft nach oben S T Ü C K A U F T R A G | U R A U F F Ü H R U N G | K H | A B 9 J A H R E N Tanz von Paula Rosolen/Haptic Hide Schauspiel von Fabienne Dür 0 6 .1 1 . 2 02 2 Ente, Tod und Tulpe K H | A B 5 J A H R E N SCHAUSPIEL Musiktheater von Leopold Dick nach dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch 1 2 .1 1 . 2 02 2 Das kalte Herz G H | A B 6 J A H R E N Familienstück nach Wilhelm Hauff von Hansjörg Schneider 2 0 2 2 /2 0 2 3 Jahr der Erinnerungskultur Reihe von Ayşe Güvendiren 11.02.2023 KRIEGERIN K H | A B 1 5 J A H R E N Nach dem Film von David Wnendt | Für die Bühne bearbeitet von Tina Müller 0 7. 1 0 . 2 0 2 2 Café Populaire K H Schauspiel von Nora Abdel-Maksoud 2 7. 0 5 . 2 0 2 3 Die Lügenziege K H | A B 1 2 J A H R E N Ein vielstimmiges Projekt | Stückentwicklung 2 3 .1 0. 2 02 2 Dantons Tod G H Schauspiel von Georg Büchner 0 9.1 2 . 2 0 2 2 Hundepark U R A U F F Ü H R U N G | G H M U S I KT H E AT E R Schauspiel nach dem Roman von Sofi Oksanen 1 6 .1 2 . 2 02 2 Mais in Deutschland & anderen Galaxien K H 0 8 .1 0. 2 02 2 Gefährliche Operette G H Schauspiel von Olivia Wenzel Operette von Gordon Kampe | mit Texten von Sibylle Berg, Wiglaf Droste, Schorsch Kamerun, Marc-Uwe Kling und weiteren 05.03.2023 Mädchenschule G H Schauspiel von Nona Fernández | Aus dem Spanischen von Friederike von Criegerns 2 6 .1 1 . 2 02 2 Caterina Cornaro G H Tragedia lirica von Gaetano Donizetti | Text von Giacomo Sacchèro 06.04.2023 Last Park Standing K H Schauspiel von Ebru Nihan Celkan | Aus dem Türkischen von Oliver Kontny nach einer Vorlage von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges 21.04.2023 Der Staat gegen Fritz Bauer U R A U F F Ü H R U N G | G H 20.01.2023 Prothesen der Autonomie K H Schauspiel nach dem Film von Lars Kraume Sci-Fi-Oper von Thierry Tidrow | Text von Franziska vom Heede MAI 2023 Demokratietoilette (AT) S T A D T R A U M G I E ß E N Valerie's Voice K H Stadtspaziergang von Hysterisches Globusgefühl Kammeroper von Christofer Elgh | Nach einem Text von Valerie Solanas 11.02.2023 Ein Sommernachtstraum G H Oper von Benjamin Britten | Text von Benjamin Britten und Peter Pears nach William Shakespeare GH = GROß ES HAUS | K H = K LEINES HAUS 8 9
Stadteroberung Dem okra ti e ERÖFFNUNG Viele Personen und Institutionen erheben Anspruch auf diese Stadt. Kein Wunder, dass Subversion ent- Ein Aufruf von Mathilde Lehmann steht. Sie beginnt als meist friedliche Anarchie der Jugend, in der Parkplätze zu Parcours, asphaltierte Stra- Posthuman Journey ßenzeilen zu Miniaturgärten und Mauern, Unterführun- gen und Stromkästen zu Kunstwerken gestaltet werden. Eine Trilogie von Pat To Yan Es ist Zeit, die Räume so wild zu gestalten wie – nicht die Aus dem Englischen von John Birke und Ulrike Syha Architektur, sondern – die ansässige Stadtgesellschaft es URAUFFÜHRUNG vorgibt. PREMIERE 30. SEPTEMBER 2022 Es gilt, viele kleine Gemeinschaften zu bilden. Gemein- GROßES HAUS schaften zu gründen, die dem Individualismus der Stadt folgen und ihn fördern, statt eine Vereinheitlichung des „Wie der Kanarienvogel in der Kohlemine oder das Frühwarn- Stadtbildes zu suchen oder eine Ästhetisierung. Viele system an einer tsunamigefährdeten Küste senden wir ein Not- kleine Orte der Zusammenkünfte, in denen kommuna- rufsignal an den Rest der Welt. Denn Hongkong von heute ist les Leben ermöglicht und auch als solches gefördert und das, was übrigbleibt von der Welt von morgen.“ Joshua Wong geschützt wird. Die Bewohner:innen einer Stadt muss Allegorische Figuren der Vergangenheit irren durch von den man dazu nicht auffordern, auf Ideen kommen sie schon heutigen Kriegen verwüstetes Land. Ein Junge mit schwin- Am Marktplatz ist es ein nüchterner Morgen. Die Pflanz- von selbst, man muss ihnen diese Freiheit nur ermögli- delerregend hoher Intelligenz aber ohne Gesäß altert so kübel auf den Gehwegen wurden umgeworfen und chen. schnell, dass er sogar die Zukunft hinter sich lässt. Ein Liebes- von wem anders wieder aufgestellt, die Erde liegt noch paar verliert sich und findet sich wieder in ferner Galaxie. In da, ein trauriges Häuflein. Eine nächtliche Eruption, eine Urbanität kann man nicht erzwingen, egal wie gut die den drei Stücken „Eine kurze Chronik des künftigen China“, Entladung sorgte dafür, dass eine:r oder viele diese Stadtarchitekt:innen es meinen. All die Sitzinseln, Bän- „Eine posthumane Geschichte“ und „Überall im Universum Straße abliefen und jeden Kübel, den sie finden ke, dekorierten Mülleimer, Pflanzenkübel – es ist eine Klang“ schaut der aus Hongkong stammende Autor Pat To Yan konnten, umwarfen. Stunden später folgt eine Person, Sisyphos-Arbeit, die gut gemeint ist, aber ihren Zweck sehr tief zurück und ganz weit nach vorne, um einen scharfen vielleicht nicht alleine, derselben Strecke, stellt alle verfehlt. Damit eine Gesellschaft ihre gemeinschaftli- Blick zu werfen auf die globalen Phänomene der Gegenwart. Kübel wieder auf, setzt die Pflanzen wieder in den chen Orte entdecken kann, muss sie diese erst erobern. Seine Figuren sind Reisende: vom globalen Süden in den Kübel. Zurück bleiben an diesem Morgen viele kleine Das bedeutet Subversion gegen den Putz und den verheißungsvollen Norden, vom Planet Erde auf neue Terri- deplatzierte Häuflein Erde, und zeugen von dem Ereig- Asphalt. So findet Gesellschaft zueinander. In den Parks, torien, von diktatorischen Staatssystemen in demokratische nis in der Nacht. den Ladenflächen, den Vereinen, den Spielplätzen, auf, Utopien. Sie sind immer auf der Flucht und immer auf der Su- unter und neben Brücken, Lost Places, bald dann wieder: che. Die Grenze von Bühnen- und Zuschauer:innenraum wird Die Zeiten haben sich verändert, der Stadtraum ist Common Spaces. gänzlich aufgehoben für dieses Eröffnungsprojekt aller Spar- nicht länger nur der Schrank, in dem die Wohnungen ten, und das Theater wird zum öffentlichen Platz, auf dem die wie Vorratsgläser eng aneinandergereiht stehen, die Bedingungen für eine freie Gesellschaft verhandelt werden. Gesellschaft begibt sich hinein und dann macht man einen Deckel drauf. Der Anspruch an öffentliche Flächen Eine Prod u k tion von collective a rchives verändert sich im Zeitalter des Hyperindividualismus. Es treibt die Menschen nach draußen, der öffentliche Regie & Rau m Thomas Krupa Platz, der Park, der Spielplatz, sie alle gewinnen eine Kom position Hannes Strobl, Michael Bauer andere, gewichtige Bedeutung. Die öffentliche Fläche Kostü me Monika Gora muss geteilte Erfahrungen ermöglichen, und ein Ort Choreog ra phie Raphael Moussa Hillebrand sein, an dem sich kollektive Interessen bündeln. Sie soll Video & Rau m Stefano Di Buduo Leben beherbergen, kommunale Räume bieten und Chorleitu ng Jan Hoffmann Gemeinschaft stiften. Dramatu rgie Daniele G. Daude 10 11
Zukunf t Leben G i er JUNGES THEATER Luft nach oben Ente, Tod und Tulpe Das kalte Herz Schauspiel nach Wilhelm Hauff Schauspiel von Fabienne Dür Musiktheater von Leopold Dick von Hansjörg Schneider STÜCKAUFTRAG | URAUFFÜHRUNG Nach dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch FAMILIENSTÜCK PREMIERE 24. SEPTEMBER 2022 PREMIERE 6. NOVEMBER 2022 PREMIERE 12. NOVEMBER 2022 KLEINES HAUS | AB 9 JAHREN KLEINES HAUS | AB 5 JAHREN GROßES HAUS | AB 6 JAHREN „Und wenn’s nicht ums Gewinnen geht, wieso gibt’s „Mich lässt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe. „Musik setzte ein. Die Kinder im Saal lachten mit und tram- dann das Turnier?“ Anke Stelling Ist es doch so wie mit der Sonne: Wir sehen sie am Hori- pelten vor Vergnügen. Der arme Timm saß wie ein Stein Es war einmal im September. So geht für Fri, Sop und Kar zont untergehen, aber wissen, dass sie ‚drüben‘ weiter in einem Meer von Lachen.“ James Krüss das Turnier ihres Lebens los. Das Spiel heißt ab sofort: scheint.“ Johann Wolfgang von Goethe Kohlenmunk Peter wäre gern reich, ist es aber nicht. Die Gewinnen oder Verlieren, und dann wird man Gewin- Eine kleine Ente erwacht eines sonnigen Morgens und anderen im Dorf scheinen mehr zu besitzen als er, und ner:in oder Verlierer:in im Leben, sagen Kars Eltern und freut sich auf einen gemütlichen Tag am Teich. Sie grüßt gemein sind sie noch dazu. Also sucht Peter einen Wald- dann soll er Hausaufgaben machen. Denn wenn man auf die Sonne, sie putzt ihr Gefieder, sie prüft die Wasser- geist auf, das Glasmännlein, damit es ihm hilft. Doch das eine weiterführende Schule soll, geht es um alles: Um temperatur. Doch heute ist etwas anders als sonst. Die geht schief und wieder steht er mit leeren Taschen da. die Leistung, Noten, Sozialkompetenzen, um Zukunfts- Ente fühlt sich beobachtet. Sie nimmt all ihren Mut zu- Im Tannenwald trifft er schließlich auf den riesigen Hol- pläne. Dabei sind die drei erst in der vierten Klasse und sammen und spricht ihren Verfolger an: Es ist der Tod ländermichel, der ihm sein pochendes Herz gegen ein finden den Kampf ganz schön verrückt. Kar will später persönlich. Aber für die Ente ist das viel zu früh, also er- steinernes austauscht. So wird Peter zwar ein profitabler mal Gamedesigner werden, und Sop Torhüterin, und Fri zählt sie dem Tod von ihren Plänen. Der wird neugierig Geschäftsmann, aber ein missgünstiger, selbstsüchtiger – sie weiß es noch nicht. Aber sie spürt den Druck, sich – und beschließt, ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen. Mensch – bis er ins Zweifeln kommt. jetzt schon für eine Zukunft entscheiden zu müssen. So eilig hat er es nämlich gar nicht. Angesiedelt im Schwarzwald handelt Wilhelm Hauffs Wenn Kinder anfangen, sich damit zu beschäftigen, wer Irgendwann stellt jedes Kind die Frage nach dem Tod. Erzählung von der Härte des wirtschaftlichen Wandels sie sein wollen, können sie an einer der wichtigsten Ent- In der Geschichte „Ente, Tod und Tulpe“ ist er ein leicht- und den Spielregeln des Kapitalismus. Der Autor schrieb scheidungen ihres Bildungswegs kaum teilhaben. Eltern füßiger Begleiter. Musiktheater, Tanz, Performance, das Märchen 1827, nachdem die dortige Kohlewirtschaft und Lehrkräfte sollen bestimmen, welche weiterführen- Schauspiel – alles kommt zusammen, damit eine kleine dem Strukturwandel der Industriellen Revolution in Eu- de Schule sie besuchen. Eine gewaltige Herausforde- Ente lernt, dass der Tod auch nur ein Teil des Lebens ist. ropa zum Opfer fiel. rung für alle Beteiligten. Choreog rafie Amelie von Godin Regie Mathilde Lehmann Regie Yeşim Nela Keim Schaub M usikalische Leitu ng Wolfgang Wels Bühne & Kostüme Nanako Oizumi Bühne, Kostüme & Video Lili Süper Bü h ne & Kostü me Kristin Buddenberg Musik Elija Kaufmann, Mathilde Lehmann Dramaturgie Mathilde Lehmann Dramatu rgie Caroline Rohmer Dramaturgie Lena Meyerhoff Theaterpädagogik Sebastian Songin Theaterpädagogik Sebastian Songin Theaterpädagogik Sebastian Songin 12 13
Hass Wahr he it A ber wi tz MUSIKTHEATER KRIEGERIN Die Lügenziege Gefährliche Operette Nach dem Film von David Wnendt Ein vielstimmiges Projekt Eine Operette von Gordon Kampe Für die Bühne bearbeitet von Tina Müller STÜCKENTWICKLUNG Mit Texten von Sibylle Berg, Wiglaf Droste, PREMIERE 11. FEBRUAR 2023 P R E M I E R E 2 7. M A I 2 0 2 3 Schorsch Kamerun, Marc-Uwe Kling und weiteren KLEINES HAUS | AB 15 JAHREN KLEINES HAUS | AB 12 JAHREN In einer Spielfassung von Ann-Christine Mecke PREMIERE 8. OKTOBER 2022 „Fakt dass Gewalt schön ist weil wir sie im Blut haben die „Lügenziege werd ich genannt, bin ich erst außer Rand GROßES HAUS Schönheit dessen wenn du alles zerschlägst wenn du die und Band, pfleg' mit den Hufen ich zu grüßen, möcht' al- Stichflamme siehst die Leute die rennen die Schreie es ist les auf die Hörner spießen!“ Ukrainisches Volksmärchen „Überlebt und gegenstandslos wäre die Operette erst ein Augenblick der steigt steigt steigt“ Nanni Balestrini Was ist richtig, was ist falsch? Ist Wahrheit eigentlich total dann, wenn ihre kecken Glücksforderungen eingelöst Marisa ist rechtsradikal und voller Wut auf alle und alles um subjektiv? Dieser Tage sitzen Meinung und persönliche und wenn die Objekte ihrer unartigen Angriffe ver- sich rum. Svenja versucht, ihrer bürgerlichen Erziehung Wahrheit so nah beieinander, dass sich ihre Haare ver- schwunden wären.“ Volker Klotz zu entkommen und will sich Marisas Neonazi-Clique knoten. Und das war’s dann mit der Objektivität und den Zur seriösen Vorlesung über „Die Operette in Geschich- anschließen. Als Marisa in einer Übersprungshandlung Fakten und der Wahrheit. Das kann ja auch nicht sein, da te und Gegenwart“ hat die Volkshochschule geladen, eine Gewalttat an einem jugendlichen Asylbewerber kommt der Klimawandel, oder eine Pandemie, oder und das am Ort des Geschehens: im Stadttheater. Aber verübt und sich ihr Gewissen meldet, kommt ihr Welt- eine Flut, da kommt ein Krieg, und die Menschen strei- die Operette lässt sich nicht in einen Vortrag einsperren! bild ins Wanken. ten sich darüber, ob das nun neu ist oder man das schon Sie ist durchgeknallt, zeitkritisch, sentimental, übertrie- Es ist die Geschichte zweier junger Frauen: einer, die in lange wusste, manche finden sogar, dass das gar nicht ben und bösartig, kurz: Sie ist gefährlich! Und so erobert einem rechtsradikalen Umfeld aufwuchs und nach einer echt ist – wie, echt jetzt? Wer hat denn nun Recht? Diese der Wahnsinn aus Cancan, Walzer, Marsch und Schnulze Gewalttat nun die Dinge in einem anderen Licht sieht. Zeitung, oder diese? Wer kennt die Wahrheit – die Re- den Vortragssaal. Und einer zweiten, die währenddessen in die Szene gierung? Ja, welche denn? Wer hat Antworten, deine Der Komponist Gordon Kampe hat eine rasante und einsteigt. Es ist so leicht, reinzukommen – was führt zum Eltern oder meine, oder am Ende einfach ich? verspielte Revue geschaffen, die den Operetten der Umdenken und wie kommt man wieder heraus? letzten 170 Jahre nachspürt und ihren Aberwitz in die Gegenwart überführt. Für die Gießener Fassung hat er Was hast du zum Thema Wahrheit zu sagen? Willst du mit auf der Bühne stehen und das Stück mitentwickeln? drei neue Nummern komponiert. Willst Du auf die Bühne? Alle sind willkommen! Theaterluft schnuppern und bei KRIEGERIN dabei sein? Meld dich unter theaterpaedagogik@stadttheater-giessen.de Melde dich unter theaterpaedagogik@stadttheater-giessen.de! Eine Koproduktion mit der Empfohlen ist eine Teilnahme an der Produktion für junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren. Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart JOiN Regie Mathilde Lehmann Musikalische Leitung Andreas Schüller Bühne & Kostüme Elena Melissa Stranghöner Regie Ralf Siebelt Regie Elena Tzavara, Sarah Ritter Dramaturgie Tim Kahn Dramaturgie Mathilde Lehmann Bühne & Kostüme Elisabeth Vogetseder Theaterpädagogik Sebastian Songin Theaterpädagogik Sebastian Songin Dramaturgie Ann-Christine Mecke 14 15
Se lb st b est i m m u n g M e ns chlichke it Na tur Dikta tu r Prothesen der Caterina Cornaro Ein Sommernachtstraum Tosca Autonomie Sci-Fi-Oper von Thierry Tidrow Text von Franziska vom Heede Tragedia lirica von Gaetano Donizetti Oper von Benjamin Britten Text von Giacomo Sacchèro nach einer Vorlage von Text von Benjamin Britten und Peter Pears Melodramma von Giacomo Puccini Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges Valerie’s Voice nach William Shakespeare Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Kammeroper von Christofer Elgh In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Deutsche szenische Erstaufführung Nach einem Text von Valerie Solanas PREMIERE 11. FEBRUAR 2023 PREMIERE 25. MÄRZ 2023 PREMIERE 26. NOVEMBER 2023 PREMIERE 20. JANUAR 2023 GROßES HAUS GROßES HAUS GROßES HAUS KLEINES HAUS „Mit der Zeit wurde mir der Wald immer vertrauter. Ich „‚Tosca‘ zelebriert gleichzeitig die Freiheit und verwei- „In den Schaueropern des Belcanto ist die Stellung der – „Jeder hat das Recht auf Sterilität, Purismus und die speicherte die Erfahrung dieser Verwandlungen, wie gert ihren Figuren die Autonomie, umarmt den Realismus Frau als leidendes Opfer zentral.“ Robert Scholes Überwindung des Zwischenmenschlichen zum Schutz sich die Natur öffnen, recken, strecken, entblößen und und stellt dessen Wert in Frage, liefert das liebevollste Diese Oper mutet ihrer Protagonistin einiges zu: eine vor psychischen Verletzungen.“ Franziska vom Heede von innen nach außen kehren kann, wie sie ihre Konsis- Porträt einer Diva, das je in einer Oper geschaffen wurde, unter Gewaltandrohung abgesagte Liebesheirat, eine – „In Wirklichkeit besteht die Aufgabe der Frau darin, zu tenz ändern kann, weicher wird, nasser, poröser, glatter, und erfreut sich irgendwie an ihrem Untergang.“ Zwangsehe mit dem König von Zypern, ein kühles Wie- erforschen, zu entdecken, zu erfinden, Probleme zu oder eben trockener, brüchiger, knorriger, wie sie sich Arman Schwarz dersehen mit dem einstigen Geliebten, einen Krieg und lösen, Witze zu reißen, Musik zu machen – alles mit Liebe.“ zusammenziehen kann, kleiner oder größer werden. Drei junge Menschen in einer Diktatur: Einer hat sich den gewaltsamen Tod ihres Ehemanns. Doch während Valerie Solanas Ein lebendes, atmendes, vielsprachiges Wesen.“ dafür entschieden, von dem System zu profitieren und die typische Belcanto-Heldin in einer solchen Situation Zwei Kammeropern der letzten Jahre widmen sich un- Carolin Emcke auf Moral zu verzichten. Ein anderer – ein Künstler – ent- in den Wahnsinn fliehen würde, steht Caterina auf und terschiedlichen Formen einer futuristischen Frauenherr- Schon mit den ersten Klängen führt uns Benjamin Britten scheidet sich für den Widerstand und muss dafür mit sei- beginnt ihre Zukunft als Königin von Zypern. schaft: In Thierry Tidrows „Prothesen der Autonomie“ in den Wald. Aber zu hören sind keine Vogelstimmen, nem Leben bezahlen. Die Dritte – die gefeierte Sänge- Inspiriert vom Leben der historischen Caterina Cornaro, für Mezzosopran und Instrumentalensemble befinden kein Naturidyll, sondern ein beunruhigendes Eigenle- rin Tosca – wählte die Kunst und hofft, damit außerhalb Tochter einer einflussreichen venezianischen Familie, wir uns in einem „post-utopischen Matriarchat“; Opern ben des Waldes, in der Partitur mit „leise und geheim- des Systems bleiben zu können. Erst als ihr Freund ge- die 1474 Königin von Zypern wurde, schrieb der fran- werden nur noch von Robotern dargeboten, um nisvoll“ überschrieben. Hier herrscht ein zerstrittenes foltert und sie erpresst wird, wird ihr bewusst, dass auch zösische Librettist Saint-Georges einen Text, der zur Sänger:innen vor der emotional belastenden Arbeit Elfenkönigspaar, ein irrlichternder Dämon stiftet Verwir- sie einer Entscheidung nicht entkommen kann. Grundlage mehrerer Opern wurde, darunter auch für der Einfühlung zu schützen. Und in Christofer Elghs rung, und Blumen vermögen wundersame Dinge. Vier Für die brutale Handlung der „Tosca“ schrieb Puccini dieses späte Meisterwerk Donizettis. „Valerie’s Voice“ für Sopran und 4 E-Gitarren wird junge Menschen fliehen in diese geheimnisvolle Welt eine packende Musik, die alle Klangmittel seiner Zeit die „biologische Katastrophe“ Mann kurzerhand und begegnen den Naturkräften in sich, während eine einsetzt, um feinsinnig jeder Regung der Figuren zu abgeschafft. Gruppe Handwerker eine „höchst traurige Komödie“ folgen. probt und ihren Hauptdarsteller an das Naturreich ver- Eine Koprod u k tion mit der H ochschule liert. Oder war das alles nur ein Traum? fü r M usik u nd Da rstellende Ku nst Fra n k fu rt Musikalische Leitung Vladimir Yaskorski Musikalische Leitung Andreas Schüller Regie Anna Drescher Musikalische Leitung Günther Albers Musikalische Leitung Andreas Schüller Regie Martin Andersson Konzeptionelle Mitarbeit Maximilian Hagemeyer Regie Francesco Rescio Regie Magdalena Fuchsberger Bühne Lukas Noll Bühne & Kostüme Tatjana Ivschina Bühne & Kostüme Maik Wendrich Bühne & Kostüme Monika Biegler Kostüme Dorothee Joisten Dramaturgie Ann-Christine Mecke Dramaturgie Ann-Christine Mecke Dramaturgie Ann-Christine Mecke, Daniele G. Daude Dramaturgie Ann-Christine Mecke 16 17
Verra t La clemenza di Tito Dramma serio von Wolfgang Amadeus Mozart Text von Caterino Mazzolà nach Pietro Metastasio In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln P R E M I E R E 1 9. M A I 2 02 3 GROßES HAUS „Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Karl Popper Am Ende sieht sich Kaiser Titus einem extremen Verrat gegenüber: Sein bester Freund Sextus hat einen Mord- anschlag auf ihn verübt – noch dazu hat Titus‘ Braut diesen Freund dazu gedrängt. Titus begnadigt sie alle, denn es gehört zu seinem Selbstbild, Großmut zu zeigen: „Will mich die Welt eines Fehlers beschuldigen, so bezichtige sie mich des Mitleids, nicht der Strenge.“ Pietro Metastasio schuf sein Libretto, das den aufgeklär- ten Absolutismus idealisiert, bereits 1734. Es wurde zur Grundlage von rund 50 Opern. Als sich Mozart zwei Jahre nach der Französischen Revolution diesem Stoff zuwandte, hatten sich nicht nur der musikalische Ge- schmack, sondern auch die gesellschaftlichen Voraus- setzungen geändert – aus dem einstigen politischen Lehrstück wurde eine Studie über das menschliche und politische Scheitern. Musikalische Leitung Vladimir Yaskorski Regie & Bühne Helena Röhr Kostüme Åsa Gjerstad 18
Warum „Peter Grimes“ (1945) – bekanntlich sind diese Werke Denn eines kann Oper wie keine Kunstform sonst: Syn- so zeitgenössisch wie Konrad Adenauer und die Fress- these. Sie allein vermag die scheinbar diskreten Phäno- brauchen wir und Dauerwellen der 1950er Jahre. Uraufführungen mene ihrer Gegenwart zu einem Ganzen zusammen- machten ganze vier Prozent aller Neuproduktionen zufassen und deren Beziehungen sichtbar, hörbar und neue Opern? aus. Meistbesucht war Arnulf Hermanns „Der Mieter“ mit spürbar machen. Und genau das brauchen wir heute: insgesamt 6.129 Zuschauer:innen. „Die Zauberflöte“ (1791) Synthesen eines Selbstbildes. Synthese (nicht mehr wurde im selben Zeitraum von 277.510 Zuschauer:innen Dekonstruktion!) ohne Gleichschaltung ist die dialekti- Ein Essay von Amy Stebbins besucht. In Anbetracht solcher Zahlen kann man sich sche Notwendigkeit unserer Zeit. Oper ist die Kunstform allerdings, und gerade als Opernschaffende, tatsächlich unserer Tage. die Frage stellen: Wozu braucht es neue Opern? Schein- bar will die ja keiner hören! Oder doch? In seiner neuen Spielzeit legt das Stadttheater Gießen den Schwerpunkt auf die Gegenwart. Nicht weniger Nun, auch die Antwort auf diese Frage liegt in diesen als vier zeitgenössische Opern werden zu sehen und Zahlen: Das Überangebot an historischen Stoffen auf hören sein. Eine Ansage, allen Widrigkeiten zum Trotz den Spielplänen ist ein Symptom eines Zeitgeistes, einen neuen, gemeinsamen Blick in die Gegenwart und der von seiner eigenen Vergangenheit besessen ist. die Zukunft zu werfen. Wer werden wir sein? Das gilt es Im Internet ist das komplette Kulturgut meiner Eltern, zu ergründen. Mit neuen Opern. Mit Musik von Jetzt, Großeltern und Urgroßeltern jederzeit abrufbar. Ohne Stoffen aus unserer Zeit. Aufwand, blitzschnell und oft kostenlos. Die techni- sche Reproduzierbarkeit der Kunst, von der Walter Amy Stebbins ist Regisseurin und Librettistin und studier- Benjamin schon 1935 gesprochen hat, macht inzwischen te an der Harvard University Geschichte und Literatur- die Vergangenheit zur Gegenwart. Sie verhilft einst wissenschaft. Anschließend wirkte sie als Stipendiatin „historischen“ Werken zu „zeitgenössischer“ Präsenz. der Fulbright Komission u.a. an der Volksbühne Berlin. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sagt, die Überflutung unserer Gegenwart durch die Vergan- genheit verändere nicht nur unser Verhältnis zum Jetzt, sondern auch unser Verhältnis zur Zukunft. Diese Zukunft Was für eine Frage! Wozu brauchen wir neue Filme? nämlich werde, und mit Grund, zunehmend als bedroh- Wozu neue Bücher? Gedichte? Bilder? Es gibt so viele lich empfunden. Statt sich ihr zuzuwenden, flüchte man Romane, dass es viele Menschenalter dauern würde, sich in die „breite Gegenwart“ historischer Simultani- sie alle zu lesen. Wozu noch neue schreiben? Keiner an- täten. Doch damit ist kein Staat zu machen; eine Gesell- deren Kunstform, nur der Oper wird die Frage nach der schaft braucht Zukunftsentwürfe. Und damit diese mög- Notwendigkeit neuer Werke zugemutet. Dabei ist die lich sind, benötigt sie ein klares Selbstbild: Wer sind wir? wahre Zumutung doch die Selbstverständlichkeit des Heute? Jetzt? sogenannten Repertoirebetriebs. Wozu brauchen wir einen Spielplan aus alten Opern? Nicht immer waren die Opernbühnen mit den „Greatest Hits“ von vorgestern besetzt. Überraschenderweise Eine Folge der erdrückenden Dominanz des Alten ist, waren die heute kanonischen Werke, als sie das Licht dass der Opernbetrieb kaum noch neue Werke prä- der Welt erblickten, zeitgenössisch. „Don Giovanni“ sentiert – zumindest nicht in Deutschland. In der präpan- entstand für das Publikum seiner Zeit, zu Fragen des Jah- demischen Spielzeit 2017/18 entfielen gerade einmal res 1787, einschließlich der ungedachten, unentdeckten 16% der 866 Premieren auf Opern, die nach 1945 ent- Widersprüche der Epoche. Ob in Parma oder in Wien, standen sind. An der Spitze standen dabei „The Rake's neue Opern waren Spiegel ihrer Gegenwart und Pro- Progress“ (1951), „Dialogues des Carmélites“ (1957) und ben für die Zukunft. 20 21
EINMISCHEN Amina Eisner SCHAUSPIELERIN | PIT`S PINTE
Anne-Elise Minetti Annika Gerhards SCHAUSPIELERIN | CAFÉ INSEL SÄNGERIN | BAHNHOF GIEßEN
Ben Janssen Borys Jaźnicki S C H AU S P I E L E R | S C H I F F E N B E RG E R TA L TÄ N Z E R | A LT E U N I V E R S I TÄT S B I B L I OT H E K
Carolin Weber Chiara Zincone SCHAUSPIELERIN | DÖNERDREIECK" TÄ N Z E R I N | A LT E K U P F E R S C H M I E D E "
Clarke Ruth Dascha Ivanova SÄNGER | SACHSENHÄUSER BRÜCKE SCHAUSPIELERIN | GRÜNES HAUS
Davíd Gavíria Emma Jane Howley S C H AU S P I E L E R | K I RC H E N P L AT Z TÄ N Z E R I N | A LT E R F R I E D H O F
Floriado Komino Grga Peroš TÄ N Z E R | K L Ä RW E R K SÄ N G E R | W E STSTA DT
Gustavo de Oliveira Leite Izabella Radić TÄ N Z E R | S Ü DA N L AG E S C H AU S P I E L E R I N | S P O RTC A M P U S KU G E L B E RG
Jana Marković Jeff Pham SÄNGERIN | LÖBERSHOF TÄ N Z E R | N E U STÄ DT E R TO R
Julia Araújo Levent Kelleli S Ä N G E R I N | K i Z – K U LT U R I M Z E N T R U M SCHAUSPIELER | PHILOSOPHIKUM II
Maja Mirek Magdalena Stoyanova TÄ N Z E R I N | B OTA N I S C H E R GA RT E N TÄ N Z E R I N | G I E ß E N E R WO C H E N M A R KT
Nils Müller Nina Plagens SCHAUSPIELER | GUMMIINSEL" SCHAUSPIELERIN | AUDIMAX "
Pascal Thomas Paula Schrötter SCHAUSPIELER | LAHNUFER SCHAUSPIELERIN | CENTRAL BAR
Roman Kurtz Rose Marie Lindstrøm Andersen SCHAUSPIELER | RODHEIMER STRAßE S C H AU S P I E L E R I N | T H E AT E R PA R K
Sebastian Songin Stephan Hirschpointner T H E AT E R PÄ DAG O G E | B R A N D P L AT Z SCHAUSPIELER | PHILOSOPHIKUM I
Tomi Wendt Zelal Kapçık S Ä N G E R | H E R M A N N - H O F F M A N N -A K A D E M I E SCHAUSPIELERIN | ELEFANTENKLO" "
Symphonie Gedenken bedeutet für mich: Gedenken bedeutet Verantwortung zu tragen, zu wissen, dass wir nicht nur der Ermordeten gedenken, der Solidarität Gedenken ist für mich die reinste Form des Erinnerns. sondern auch an die Überlebenden denken. Weil Für mich bedeutet das, dass ich mich an die Ermorde- Rassismus weiterhin ein gesamtgesellschaftliches Prob- ten erinnern kann. An Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz, Bahide lem ist und die Minderheiten immer noch davon betrof- Wie wir uns ein respektvolles Gedenken vorstellen – Arslan. fen sind. von İbrahim Arslan An all die schönen Momente mit ihnen, an die gemeinsa- Gedenken ist Vertrauen. Vertrauen in diejenigen, die men Ausflüge, an die vielen Picknicke, an die gemeinsa- das Gedenken mit dir gemeinsam einfordern. men fröhlichen, aber auch traurigen Lebens-situationen, an die gemeinsamen Kämpfe, an die Verluste und an die Für mich bedeutet Gedenken: Erfolge, an das davor. Aber leider nicht mehr an das da- „Mit uns, aber nie wieder ohne uns.“ nach. Für mich bedeutet Gedenken, daran zu denken, dass sie nicht mehr bei uns sind, aber dennoch mit uns. Gedenken bedeutet für uns, das Gedenken im Sinne der Überlebenden, Betroffenen, Angehörigen, Gedenken ist unser alltäglicher Begleiter, es ist qua- Freund:innen und Verbündeten zu gestalten. Selbstbe- si ein Bestandteil unseres Lebens, es bestimmt für mich stimmt, selbstorganisiert, solidarisch und empowernd. Raum und Zeit. Dennoch gibt es für das Gedenken keine Aber was bedeutet das? Welche Veränderungen Amtszeit, sodass wir es ersetzen oder absetzen können. braucht es? Das Gedenken bestimmt unseren zeitlichen Geist, mal tut es uns weh, mal ist es befreiend, es ist Wut, Trauer, Gedenken bedeutet für uns, die Vielstimmigkeit der Widerstand, aber es ist auch Ruhe und Gelassenheit. Verletzlichkeiten zu verbinden und zu verstärken. Aber wie können wir uns noch mehr verbinden? Welche Gedenken ist, sich nicht zu beugen, trotz fehlender Stimmen verstärken? Und welche überhören wir noch? Wir gedenken jeden Tag unseren Ermordeten Ayşe, Staatsbürgerschaft, ohne gleiche Rechte, ohne Aner- Yeliz und Bahide. Doch was bedeutet es, zu gedenken? kennung, ohne Privilegien, Gedenken ist trotz alldem Gedenken bedeutet für uns, dass Betroffene ihre Dieser Frage wollen der Freundeskreis im Gedenken zu kämpfen, für Gerechtigkeit und Freiheit. Geschichten erzählen und ihnen zugehört wird, weil an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, die eure/unsere Geschichten so viel verändern und be- Familien Arslan und Yılmaz und unsere Verbündeten Gedenken ist für mich Solidarität mit Betroffenen auf reits beginnen zu beschreiben, wie Gerechtigkeiten weiter nachgehen. Eine Frage, die wir uns und ande- Augenhöhe, es ist ein politischer Prozess mit der Gesell- aussehen könnten. Wer erzählt? Wer hört zu? Wie kann ren in den vergangenen Jahren immer wieder gestellt schaft, aber auch mit uns selbst. Es bedeutet, die Betrof- es mehr Platz für diese Geschichten geben? Und wie haben. Und die wir als Teil einer Auseinandersetzung fenen und Angehörigen anzuerkennen. Es bedeutet sehen Gerechtigkeiten aus? ansehen, die andauert. Zu unseren Gedanken und heute über das Vergangene zu sprechen, das Gegen- Fragen möchten wir Sie einladen. Und zu einer Sympho- wärtige in den Vordergrund zu holen und die Zukunft Gedenken bedeutet für uns, sich auf einen Prozess nie der Solidarität, die wir mit euch anstimmen wollen. einzufordern. einzulassen und nicht an Vorstellungen und Plänen festzuhalten. Zu akzeptieren, dass Trauer und Schmerz In einer Symphonie wird aus vielen einzelnen Stimmen Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten, viele Ver- Zeit brauchen und Raum. Wie können wir das schaffen? ein neuer gemeinsamer Klang. Und so wollen wir die letzungen, viele Wünsche und Bedürfnisse, viele Per- Und euch und uns Zeit lassen? Gedenken bedeutet für vielen Stimmen hörbar machen und zusammenbringen. spektiven. Gedenken bedeutet, sie zu hören, aus der uns, nicht davon auszugehen, dass alle Betroffenen das Wir wollen die Betroffenenperspektive in den Vorder- Vereinzelung zusammenzubringen, zu vernetzen und Gleiche fühlen und wünschen, sondern zu lernen, dass grund rücken und zu einer Vervielfältigung von selbst- so Erinnerungspolitiken herauszufordern. die Formen des Gedenkens, der Trauer, des Erinnerns organisierten, selbstbestimmten, solidarischen und sich unterscheiden und widersprechen können und empowernden Gedenkpraxen für eine gerechtere dennoch Gemeinsames möglich ist. Wie können wider- Gesellschaft aufrufen. sprüchliche Bedürfnisse Raum bekommen? Wie können 54 55
wir auch in den Unterschieden verbunden sein? Wie Gedenken bedeutet für uns, sich verbunden zu füh- Betroffenen und Angehörigen. Wie können wir pers- Gedenken bedeutet daher sooo viel und noch viel können Gemeinsames und Unterschiedliches zusam- len: mit den Verstorbenen und den Lebenden. Ihnen pektivisch bewirken, dass unsere kraftvolle Solidarität mehr. Für uns ist es wichtig, die Erinnerung zurückzu- men sichtbar sein? zuzuhören, Lebens-Geschichten und Verletzlichkeiten untereinander in noch mehr gesellschaftliche Wirkungs- erkämpfen – und uns an die zu erinnern, die wir durch über Zeit und Raum hinweg zu verbinden. Wie kann so räume überschwappt, sodass unser Verständnis vom Rassismus und Antisemitismus verloren haben, an das Gedenken bedeutet für uns, den Stimmen von Über- eine Verbindung aussehen? selbstbestimmten, partizipativen Gedenken nachhalti- Geschehene, an das Vergessene, an das Verschwiege- lebenden, Betroffenen und Angehörigen Raum zu ge Akzeptanz erlangen kann? ne, an das unter den Teppich Gekehrte, an die Ursache geben und ihren Stimmen zuzuhören. Es gibt Erinner- Gedenken bedeutet für uns ganz viel Dankbarkeit. und die Folgen, an das Davor und das Danach. ungen, die sich in unsere Herzen eingebrannt haben, Dankbarkeit, dass Betroffene und Angehörige ihre Gedenken bedeutet für uns, kollektive Prozesse die wir vor unseren Augen sehen. Und dann gibt es Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen mit uns zu gestalten und Gemeinsamkeiten zu schaffen. Wie Indem wir die Erinnerung lebendig halten, rücken jene, die uns Trost und Zuversicht geben. Die Familie, teilen und wir zusammen über Vergangenes und Jetzi- können wir diese Erfahrungen auf weitere Kämpfe wir die Perspektive der Betroffenen in den Vorder- die wir bekommen, die Familie, die wir verloren haben ges weinen können, zusammen wütend sein können, übertragen? grund: Gedenken ist die reinste Form des Erinnerns. und die Familie, die wir finden. aber auch zusammen über so vieles lachen können. Bis heute versuchen Andere zu bestimmen, wie an das Gedenken bedeutet für uns auch, dass wir zusam- Gedenken bedeutet für uns, wahrnehmbar öffentli- Geschehene gedacht wird. Bis heute versuchen An- Gedenken bedeutet für uns, nicht ohne uns über uns men Essen und Gedenken, dass wir zusammen an den che Räume umzugestalten, anders zu besetzen und zu dere zu vereinnahmen, wie über das Geschehene zu sprechen, zu planen, zu handeln. Wer übersetzt die- Gedenktagen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solin- beschreiben. Wie können wir Orte der Solidarität, des gesprochen wird. Sie diffamieren damit die Opfer und ses Prinzip wirklich in die eigene künstlerische, politi- gen Halle, Hanau … in der Kälte, unter der brütenden Austausches, der Trauer, der Wut und der Ermutigung ihre Geschichten. sche, kulturelle Praxis? Sonne oder im Regen und Schnee stehen, aber unser gestalten? Wie können wir viele dieser Orte schaffen? Zusammensein und unsere Solidarität uns wärmt. Die Vorstellung der Betroffenen und Angehörigen von Gedenken bedeutet für uns, uns Vereinnahmungen Gedenken bedeutet für uns, sich mit den gesellschaft- Erinnerung sollen Maßstab für das Gedenken sein. von verschiedenen Seiten entgegenzustellen. Wie Gedenken bedeutet für uns, mitzufühlen, Gefühle zu- lichen Bedingungen und Kontinuitäten auseinanderzu- sehen diese Vereinnahmungen aus? Wie erkennen wir zulassen und sie zu teilen. Wie können wir Gefühle als setzen, die zu den Taten führen. Wie kann sich diese Sie sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des sie? Wie können wir ihnen entgegentreten? Teil der politischen Praxis begreifen? Auseinandersetzung im Alltag widerspiegeln? Geschehenen. Gedenken bedeutet für uns, sich mit Überlebenden Gedenken bedeutet für uns ein ständiger Weckruf, Gedenken bedeutet für uns Gesellschaftskritik. Die İbrahim Arslan ist Opfer und Überlebender der rassisti- und Betroffenen zu verbünden. Die Zeug:innenschaf- die Vergangenheit in eine solidarische und gerechtere dringenden Fragen nach Gerechtigkeit, nach ausge- schen Brandanschläge von Mölln 1992, Bildungsaktivist ten für die erfahrene Gewalt zu vervielfältigen. Wie Gegenwart und Zukunft zu übersetzen und Zeit gleich- grenzten Geschichten und nach der Gewalt unserer und mitwirkende Person beim Freundeskreis im Ge- kann das praktisch aussehen? Und wer wird als Zeug:in zeitig zu denken. Was bedeutet das für unsere Vorstel- gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen. Wem hören wir denken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln anerkannt? lungen von Zeit? zu? Was stellen wir der strukturellen Gewalt entgegen? 1992, Botschafter für Demokratie und Toleranz. Und welche Gerechtigkeiten brauchen wir heute? Gedenken bedeutet für uns, dem Schweigen auf den Gedenken bedeutet für uns mehr als bloßes Erinnern, Grund zu gehen. Wer schweigt und warum? Wann wird es bedeutet, die Vergangenheit im Heute zu betrach- Gedenken bedeutet für uns, etablierte Erinnerungs- Schweigen akzeptiert? Und wem ist es möglich, das ten. Welche Aufgaben übergibt uns das Geschehene? diskurse herauszufordern, die oft ohne Betroffene Schweigen zu durchbrechen? Welche Verantwortung erwächst daraus? Und was heißt entstanden sind und eher staatstragenden Zwecken das für die Zukunft? dienen. Welche Erzählungen gilt es zu verändern? Wie Gedenken bedeutet für uns den Versuch, das Unsag- können wir darin beharrlich bleiben? bare auszudrücken. Wie können wir noch mehr zu die- Gedenken bedeutet für uns, „wir werden immer wie- sen Versuchen ermutigen? Welche Sprachen/Formen/ der da sein“, wie Faruk Arslan sagt. Aber was bedeutet Gedenken bedeutet für uns, Zuschreibungen zu hin- Ausdrucksweisen können wir voneinander lernen? dieses Da-Sein? Wer mit wem und wann und wie lange? terfragen und Begriffe mit neuen Bedeutungen zu fül- len. Was bedeutet es, „ein Opfer“ zu sein? Was bedeu- Gedenken bedeutet für uns, gemeinsam die Trauer Gedenken bedeutet für uns, Haltung zu zeigen, tet es, eine Familie zu sein? Was bedeutet es, betroffen zu halten und auszuhalten. Was bedeutet es, Trauer zu indem Verantwortung für die Vergangenheit übernom- zu sein? halten? Wie können wir selbstbestimmte und stärkende men wird, um eine solidarische Zukunft zu gestalten. Trauerrituale gestalten? Gelingen kann das nur mit respektvollem Einbezug der 56 57
Le ib e s kräf te G egenwa rt G ra m TANZ My body a stranger that protects me that kills me where we are (at) Five Stages of Grief Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel und Tanz von Maura Morales Tanz / Physical Theatre von Constantin Hochkeppel dem Philharmonischen Orchester URAUFFÜHRUNG STÜCKENTWICKLUNG | URAUFFÜHRUNG STÜCKENTWICKLUNG | URAUFFÜHRUNG PREMIERE 21. OKTOBER 2022 PREMIERE 13. JANUAR 2023 PREMIERE 8. APRIL 2023 KLEINES HAUS GROßES HAUS GROßES HAUS „Der Körper ist ein Gefängnis oder ein Gott. Es gibt kei- „Die Ruine ist ein utopischer Ort, in dem Vergangenheit „Wenn man ohne jemanden leben kann, den man ge- ne Mitte. Oder aber: die Mitte ist Gehacktes, Anatomie, und Zukunft in eins fallen.“ Judith Schalansky liebt hat, bedeutet das, dass man ihn weniger geliebt Geschältes, doch nichts von alldem macht einen Körper Die 4. Frage im Fragebogen II der legendären Samm- hat, als man glaubte…?" Roland Barthes aus. Der Körper ist ein Leichnam oder er ist glorreich.“ lung des Autors Max Frisch mag zunächst nur eine ja/ Leugnung – Wut – Verhandlung – Depression – Akzep- Jean-Luc Nancy nein-Antwort erfordern – „Kennen Sie Versöhnungen, tanz. Die verschiedenen Phasen der Trauer lösen eine Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper steht die keine Narben hinterlassen?“. Doch stellen wir sie in Welle an Emotionen aus, die Körper und Geist des ein- unter einer permanenten Spannung: Ich bin mein Kör- Bezug auf unseren gesellschaftlichen Zustand dauer- zelnen Menschen wie auch die Gefüge von Gemein- per und ich habe einen Körper. Im Körper-Sein spüren hafter Krisenerfahrung, wiegt diese Frage um einiges schaften erschüttern. Trauer wirft uns sprichwörtlich um, wir unseren lebendigen Leib in der Welt – und sind ihm schwerer. Dabei sind Krisen immer der beste Zeitpunkt reißt uns den Boden unter den Füßen weg und das Herz darin existenziell durch seine Sterblichkeit ausgelie- für gegenseitige Selbstbefragung: Wo stehen wir als auf und löst einen psychischen und physischen Prozess fert. Im Körper-Haben verfügen wir zugleich über ihn Individuen, als Gemeinschaft, psychisch wie physisch, der Arbeit und Verarbeitung aus. Nur durch das Prinzip als Medium, als Werkzeug und Bild – das sich aber auch mit welchem Erbe und welcher möglichen Zukunft? Wie Hoffnung können wir die Vergänglichkeit ertragen. von uns entfremden kann. Ausgehend von diesen Ge- gehen wir damit um, wenn uns die Antworten darauf Die fünf Phasen (engl. stages) der Trauer wörtlich neh- gensätzen untersucht die kubanische Choreographin nicht gefallen oder sie gar verweigert werden? Und mend, kreieren Constantin Hochkeppel und das Tanz- Maura Morales die unaufhebbare Zweiheit des Körpers mit welchen neuen Narben dürfen wir uns in Zukunft ensemble gemeinsam mit dem Künstler Philipp Basener in ihren Grenzerfahrungen und ihre Bedeutung für die schmücken? Zusammen mit dem Gießener Tanzen- und dem Philharmonischen Orchester eine rauschende Begegnung mit Anderen: Wenn der schöne body mit semble wagt ihr neuer künstlerischer Leiter Constantin Prozession auf fünf unterschiedlichen Bühnen des Thea- selfcare geformt und gepflegt wird, um dann als Objekt Hochkeppel eine kritische wie humorvolle Bestands- ters. Sie untersucht die Existenzialität wie Banalität einer kapitalisiert und enteignet zu werden. Wenn der sinn- aufnahme. allzu alltäglichen individuellen wie gesellschaftlichen Er- liche Zustand der Lust und Liebe durch Verletzungen fahrung und fragt kritisch danach, was darüber entschei- gestört wird, oder sich ein Mensch gar in außerkörperli- det, welche Verluste betrauernswert erscheinen. chen Erfahrungen plötzlich wie von oben zu betrachten scheint. Wenn der Mensch als lebendiger Leib gebo- ren, aber durch den Zerfall des eigenen Körpers umge- bracht wird. Konzept & Choreographie Maura Morales Konzept & Regie Constantin Hochkeppel Komposition Michio Woirgardt Musik Laura N. Junghanns Konzept & Regie Constantin Hochkeppel Bühne & Kostüme Maura Morales, Lukas Noll Bühne Nicolas Rauch Musikalische Leitung Andreas Schüller Dramaturgie Caroline Rohmer Kostüme Sophie Lichtenberg Bühne & Kostüme Philipp Basener Outside Eye René Linke Dramaturgie Caroline Rohmer Dramaturgie Caroline Rohmer 58 59
Hea rt b ea t S elbstermäc h ti gu n g SCHAUSPIEL Ein neues Stück Jahr der Erinnerungskultur von Paula Rosolen Tanz von Paula Rosolen und Haptic Hide URAUFFÜHRUNG PREMIERE 16. JUNI 2023 R E I H E V O N AY Ş E G Ü V E N D I R E N KLEINES HAUS S P I E L Z E I T 2 02 2 /2 02 3 Die argentinische Choreographin Paula Rosolen ent- „Opfer und Überlebende sind keine Statist:innen, sie sind die wickelt mit dem Gießener Tanzensemble ein neues Hauptzeug:innen der Geschehnisse.“ İbrahim Arslan Stück. In ihren Choreografien arbeitet sie im Grenz- Mölln, 23. November 1992. Solingen, 29. Mai 1993. Hanau, 19. bereich von Tanz, Performance, Musik und Theater Februar 2020. Die Historie dieses Landes trägt viele Narben. und beschäftigt sich mit tänzerischen Strukturen in Doch es sind die Leiber der „Anderen“ die seither bluten. alltäglichen Situationen und in der Populärkultur. Sie markieren irreversibel die bundesrepublikanische Land- karte, wir hingegen beziffern lediglich ihre Körper. Wir nen- nen die Orte. Wir kennen die Städte. Doch wir können sie uns nicht merken. Es sind zu viele; Einzelfall, für Einzelfall, für Einzelfall. Menschenleben werden zu Zahlen, Individuen zur anonymen Masse. Wir studieren Statistiken, doch kennen ihre Gesichter nicht. Wir wissen um die Opfer, doch kennen ihre Geschichten nicht. Unsere ungeübten Zungen verknoten sich bereits beim Versuch der korrekten Aussprache ihrer Namen. Mit dem „Jahr der Erinnerungskultur“ in der Spielzeit 2022/2023 schauen wir auf diese gegenwärtigen Schmerz- punkte innerhalb unserer Gesellschaft. Wir möchten ge- denken. An die Mordopfer. Wir möchten erinnern. Mit den Opferfamilien. Unter der Leitung von Ayşe Güvendiren wol- len wir uns mit Performances, Lesungen, Interventionen und Podiumsgesprächen als Gießener Stadttheater über die ge- samte Spielzeit hinweg daran erproben, Theater als wider- ständige Erinnerungsarbeit zu etablieren. Umtrieben von der Sehnsucht nach einer solchen künstlerischen Erinnerungspra- xis werden wir uns u.a. mit einem mobilen Teegarten, einem Çay Bahçesi, in den Gießener Stadtraum begeben und damit den Versuch unternehmen, erinnerungskulturelle Narrative in die Stadtgesellschaft zu tragen. Konzept, Choreographie & Regie Paula Rosolen Bühne & Kostüme Lukas Noll Dramaturgie Caroline Rohmer 60 61
Klassismus Id e o lo g ie Ka pita l A nerken n u n g Mais in Deutschland & Café Populaire Dantons Tod Hundepark anderen Galaxien Schauspiel nach dem Roman von Sofi Oksanen Aus dem Finnischen von Angela Plöger Schauspiel von Nora Abdel-Maksoud Schauspiel von Georg Büchner URAUFFÜHRUNG Schauspiel von Olivia Wenzel P R E M I E R E 7. O K TO B E R 2 0 2 2 PREMIERE 23. OKTOBER 2022 P R E M I E R E 9. D E Z E M B E R 2 02 2 PREMIERE 16. DEZEMBER 2022 KLEINES HAUS GROßES HAUS GROßES HAUS KLEINES HAUS „wann shamend man die ganzen kunsthipster dafür „Revolutionäres Handeln ist keine Form der Selbstaufop- „Und plötzlich gibt es eine Antwort auf die Frage „Ich sah eine Mutter und einen Vater, vertieft in ihre wie sie immer so ghetto proleten cosplay mit jogging- ferung, keine erbitterte Hingabe und Bereitschaft, alles des ehemaligen amerikanischen Außenministers Mike Unterhaltung, während ihre Söhne mit ihren Dreirä- hose, häfntattoos und bomberjacke machen und dann zu tun, was nötig ist, um eine zukünftige Welt der Freiheit Pompeo, der 2020 im Zusammenhang mit der Trump- dern ganze Gehsteige beherrschten. Die Galaxie ge- am 24.12. sieht man immer kurz fotos auf insta mit papa herbeizuführen. Es ist vielmehr das trotzige Beharren Selenski-Affäre die Journalistin Mary Louise Kelly anbrüll- hörte ihnen, und während unseren Kindern Schrecken hans-friedrich und mutter gerda unterm 2m weihnachts- darauf, so zu handeln, als sei man bereits frei.“ te, ob sie allen Ernstes glaube, irgendwer «gives a f*** eingeimpft wurde, war es bei ihnen Überlegenheit.“ baum im klavierzimmer.“ Stefanie Sargnagel Maggie Nelson about Ukraine».“ Sasha Marianna Salzmann Ta-Nehisi Coates Svenja ist ein guter Mensch – und das, obwohl sie aus In Zeiten zunehmender politischer Erschütterungen Es ist 2016, Olenka sitzt auf einer Parkbank in Helsinki. Das Susannes Plan die DDR zu verlassen, scheitert mit der einer kleinbürgerlichen Familie stammt. Nach dem Stu- finden diejenigen Orientierung, die sich dem Drama Buch in ihrem Schoß ist bloß Requisit, ihr Blick liegt auf Geburt ihres Sohnes Noah und fesselt sie fester an die dium an der Kunsthochschule kehrt sie zurück ins heimi- Georg Büchners zuwenden. Das Scheitern politischer dem kleinen Hund und den beiden spielenden Kin- Enge dieser Welt, in der sie nicht glücklich ist. Während sche Nest Blinden, um als Clown im städtischen Hospiz Ideologien wird hier ebenso deutlich wie der Drang dern. Als sich Daria unvermittelt neben sie setzt, kommt sie dagegen rebelliert, wächst Noah mit dem Gefühl zu arbeiten. Als Püppi, Älteste im Hospiz und um keinen Antwort zu geben auf die Frage, was Freiheit ist. Wäh- die Panik zurück. Nach dem Verschwinden „eines der auf, unerwünscht zu sein. So beginnt seine Odyssee Sponti-Spruch verlegen, eine neue Besitzer:in für ihre rend die Schreckensherrschaft Robespierres zum besten Mädchen der Agentur“ verließ Olenka die des Erwachsenwerdens zwischen ostdeutschem Punk Kneipe sucht, sieht Svenja ihre Chance: Die "Goldene scheinbaren Wohl des Volkes immer mehr Opfer for- Ukraine von heute auf morgen und war seither über- und Nachwendetristesse. Strauchelnd flüchtet er in die Möwe" soll mit ihrem Einsatz das diskriminierungsfreieste dert, spaziert Danton müde durch die Trümmer der zeugt, sicher untergetaucht zu sein. Galaxien seiner Comics, in denen es keinen Zwang zur aller Stand-up-Programme bekommen. Ihr klassistischer Revolution, sein Vertrauen in das Uhrwerk Welt bereits Als Krimi konzipiert erzählt Sofi Oksanen in ihrem jüngs- Rechtfertigung gibt und wo er seine Mutter am liebsten Persönlichkeitsanteil Don schreibt derweil an anderen verloren. Entsetzen, Gewalt und Vernichtung beherr- ten Roman die Geschichte zweier junger Frauen im auf den Mond schießen würde. Olivia Wenzels Theater- Pointen und will um jeden Preis verhindern, dass Dienst- schen diesen Text, aber auch der unerlässliche Mut, de- Donbass, die dort in die Strukturen einer Agentur für Ei- text erzählt von einer Mutter-Kind-Beziehung, der das leistungs-Proletarier Aram der neuer Pächter wird – mokratische Ideale dagegen zu verteidigen. Wie mit zellenspenden gelangen – eine Branche, die den ge- Entscheidende fehlt: die bedingungslose Liebe. Das denn was hat ein Mensch, der nicht weiß was dem politischen und menschlichen Scheitern umgehen, bärfähigen Körper für Geschäfte mit dem Westen zu Einzige, was Susanne und Noah verbindet, ist ihre Sehn- „Heteronormativität" bedeutet, Blinden schon kulturell das in eine Welt des Despotismus, der Demagogie und nutzen weiß. sucht nach Anerkennung, in einer Welt, die nicht fähig ist, zu bieten? des Nationalismus führt? Andersartigkeiten wertzuschätzen. Regie Franziska Autzen Regie Caner Akdeniz Bühne Eylien König Bühne & Kostüme Valentina Pino Reyes Regie Simone Sterr Kostüme Naomi Kean Musik Giovanni Berg Bühne & Kostüme Sabina Moncys Musik Chris Lüers Video Justin Urbach Musik Jojo Büld Regie Sarah Claire Wray Dramaturgie Lena Meyerhoff Dramaturgie Tim Kahn Dramaturgie Lena Meyerhoff Dramaturgie Tim Kahn 62 63
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