AUSSERDEM CÉGIU UND CARLOS EICHMANN IM PORTRÄT ALEXANDRA BLÄTTLER IM GESPRÄCH ÜBER DIE ZENTRAL! DIE HEUTIGE JUGEND IN 45 LESEMINUTEN KOMPRIMIERT ...
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www.null41.ch Dezember 2020 SFr. 9.– AUSSERDEM 12 9 771424 958000 CÉGIU UND CARLOS EICHMANN IM PORTRÄT ALEXANDRA BLÄTTLER IM GESPRÄCH ÜBER DIE ZENTRAL! DIE HEUTIGE JUGEND IN 45 LESEMINUTEN KOMPRIMIERT
L Theater schenken! Verschenken Sie mit einem Gutschein Theatererlebnis im Luzerner Theater www.luzernertheater.ch/ geschenktipps T
EDITORIAL museum gesprochen. Es ist UNFOKUSSIERT UND sein Abschiedstext – die Wis- senschaft hat ihn nach Heidel- DOCH NICHT DANEBEN berg geführt und aus unserer Redaktion gerissen. Er fehlt uns schon jetzt. Verabschieden Liebe Leserin, lieber Leser müssen wir auch Stoph Ruckli. Es ist offensichtlich: Wir können nicht Nach vielen Jahren als Kalenderchef und weitermachen wie bisher. Das günstigere Mister Sperberauge bei der Schlussredaktion Papier, auf das wir dieses Magazin gedruckt schlägt nun der aufmerksame, ausgezeichnet haben, ermöglicht uns, einiges einzusparen. vernetzte Musikkritiker neue Wege ein. Und das müssen wir nun leider tun – denn Wir alle, lieber Stoph, werden dich und deine uns fehlen aufs Jahr gesehen Zehntausende offene, liebenswerte Art sehr vermissen. Franken. Wir schicken Ihnen hier auch ein Von Herzen möchte ich mich bei der gan- Magazin ohne Fokus. Eines, in dem wir uns zen Redaktion für Unterstützung, Freund- als Redaktion neben den gewohnten Kolum- schaft, grossartige Ideen und ebensolche nen, Rezensionen und Hinweisen auf sehens- Texte in diesem irrsinnigen Jahr bedanken. werte Veranstaltungen (ja, die gibt es noch!) Dazu gehören auch Anna Girsberger und eine Carte blanche erteilt haben. Für ein un- Lea Schüpbach, die aus unterschiedlichen verschämt tiefes flat-rate-Honorar haben fast Gründen keinen Beitrag zu diesem Magazin alle Redaktionsmitglieder einen Beitrag abge- beisteuern konnten. liefert, der jetzt passt. Leider müssen wir davon ausgehen, dass Mirjam Steffen zum Beispiel hat in Bil- zum neuen Papier weitere vorübergehende der, Jonas Wydler in Worte gefasst, wie sich Massnahmen dazukommen werden. Zum dieses Jahr angefühlt hat. Jana Avanzini jetzigen Zeitpunkt sind noch keine Entschei- stürzte sich in den weihnächtlich aufgemotz- dungen gefallen, aber es wird uns unter den ten Konsumtempel Emmen Center, Ritah aktuellen Umständen nicht möglich sein, Ayebare Nyakato porträtierte einen Organis- weiterhin die gleiche Qualität und Quantität ten, der nun eine allzu stille Nacht fürchtet. aufrechtzuerhalten. Wir versuchen der Pan- Und Michel Rebosura nimmt uns mit auf demie zu trotzen und uns auf das Licht am einen märchenhaften Spaziergang durch sein Ende des Tunnels zu konzentrieren. Bleiben Heimatdorf, macht unterwegs spürbar, wa- Sie uns bitte treu – wir tun das auch! rum wir so sehr auf Kultur angewiesen sind: Frohe Festtage Ihnen und herzliche weil sie uns Gemeinschaft erfahren lässt. Grüsse, Paul Buckermann hat mit Alexandra Anna Chudozilov Blättler über die Jahresausstellung im Kunst- Redaktionsleiterin Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Für die einen die Hölle, für die anderen ein zweites Zuhause: An der zentral! gibt es Neues zu sehen – doch was hat sich hinter den Konsumtempel Emmen Center. > Seite 18 Kulissen getan? Wir haben nachgefragt. > Seite 43 Editorial > Seite 3 ABRECHNUNG I Jonas Wydler blickt auf das Jahr ohne Kulturjahreszeiten zurück > Seite 17 Guten Tag > Seite 5 Stadt – Land Blick durch die Linse aus Luzern und Wolhusen > Seite 6 ABRECHNUNG II Christof Schwenkel dividiert Schwaben und Zentralschweizerinnen Poliamourös Weihnachtsmann, Christkind & Co. im Testvergleich > Seite 8 Kosmopolitour auseinander und rechnet vor, was sie verbindet > Seite 24 Weihnachtsgrüsse aus dem Londoner Lockdown > Seite 9 Nachschlag BETTELBRIEF Damit die Abrechnung auch in Zukunft stimmt, muss sich was tun > Seite 32 Mehr Mexiko an den Wänden als im Teller > Seite 10 Fotodok Arbeiter-Fotos zwischen Dokumentation, Aktivismus und Kunst > Seite 11 Anno41 Mario Stübi hat die Boa im Archiv gefunden und bringt den Kultur- kompromiss wieder aufs Tapet > Seite 34 Ausgefragt Die neue Co-Leiterin des Museums Sankturbanhof Sursee spricht über Migration > Seite 53 Käptn Steffis Rätsel > Seite 74 Gezeichnet Malin Widén zeichnet > Seite 75 Titelbild: Christof Schürpf Jeanne Jacob, Mirjam Ayla Zürcher, «FAQ», Video-Loop 7 min 2020. Die dunkle Seite des Löwen – The dark side of the lion, Kunsthalle Luzern KULTURKALENDER Film > Seite 54 Kinder > Seite 55 DEZEMBER 2020 IG Kultur > Seite 56 Aktuell > Seite 36 Veranstaltungen > Seite 57 Musik > Seite 37 Ausstellungen > Seite 67 Bühne > Seite 39 Adressen A-Z > Seite 71 Wort > Seite 41 Impressum > Seite 71 Kunst > Seite 43 Ausschreibungen > Seite 72 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
GUTEN TAG GUTEN TAG, VBL «Superspreader-Gefahr in Luzern» – so titelte kürzlich der «Blick». Tatsächlich sehen die massiv überfüllten Busse, die täglich eine ganze Menge Schülerinnen und Schüler von und zur Kanti Alpenquai befördern, wie regel- rechte Virenparadiese aus. Dein Sprecher Sämi Deubelbeiss wiegelt allerdings ab: «Die- ses Problem hat nichts mit Corona zu tun!» Es sei so, dass sich viele Schülerinnen und Schüler GUTEN TAG, STAPI ZÜSLI UND jeweils in den gleichen Bus quetschen, analy- KULTURCHEFIN BITTERLI siert er weiter im beliebten Boulevardblatt. Vielen Dank für den salbungsvollen Brief No shit, Sherlock! Aber nur weil ein Problem vom 30. Oktober, den Sie an die «Vertreterin- schon vor Corona bestand, heisst das nicht, nen und Vertreter von Event-, Kultur- und dass man es jetzt nicht umso resoluter ange- Sport-Organisationen» geschickt haben. Auch hen sollte. Das ist, als ob man sagen würde, die nach wochenlangem Grübeln verstehen wir Künstlerinnen und Künstler hätten doch nicht, was Sie mit den folgenden Worten wohl schon vor der Pandemie am Hungertuch gen- meinen könnten: «Seitens Stadt Luzern kön- agt, nur weil jetzt alles noch prekärer sei, nen wir Ihnen versichern, dass wir die Situa- müsse man nicht handeln. Und jetzt – hopp- tion eng verfolgen und dass wir die bisher auch hopp! Lasst Euch was einfallen. Bei den Sub- in der Krise wunderbar funktionierenden pri- ventionen wart Ihr ja auch nicht um kreative vatwirtschaftlichen Strukturen im Veranstal- Lösungen verlegen! tungs- und Kultur- bzw. Sportbereich erhalten und stützen wollen!» Das klingt ein bisschen Die Krise als Chance sehend, so, als wolle man sich von der öffentlichen 041 – Das Kulturmagazin Hand aus ja nicht in die – wunderbar funktio- nierenden! – privatwirtschaftlichen Angele- genheiten einmischen. Heisst das im Klartext, dass da kein roter Rappen zu erwarten ist von der Stadt? Wir freuen uns auf die Ausdeut- GUTEN TAG, REGIERUNGSRAT schung von dem darauf folgenden «Wir lassen GUIDO GRAF Sie nicht im Stich!». Am besten direkt auf Sie haben Ihre Pflegefachkräfte am liebs- unser Spendenkonto: ten so, wie Sie die Patientinnen abhandeln: Verein IG Kultur Luzern. ambulant vor stationär. Statt genügend Perso- Raiffeisenbank Luzern: nal einzustellen, wie es seit Jahren aus der CH64 8080 8002 2440 2915 6 Branche gefordert wird, schalten Sie lieber eine Werbeanzeige in der Krise, um qualifi- Die Krise als Krise sehend, zierte Leute ad hoc anzuheuern. Denn lang- 041 – Das Kulturmagazin sam, das haben Sie als cleverer Gesundheits- fachmann längst bemerkt, wird’s brenzlig in den Spitälern und Pflegeheimen. Dabei wol- len Sie nur die vielen Anfragen «kanalisieren»! Die Luzernerinnen und Luzerner sind da ihrem Sozialdirektor scheinbar fast zu sozial. Und um dieses Engagement gleich mal einer ordentlichen Prüfung zu unterziehen, zahlen Sie den Freiwilligen nur knappe 20 Stutz brutto pro Stunde Corona-Betreuung. Nicht, dass diese Fachkraft-Saisonniers noch glau- ben, im Pflegeberuf herrschten Anstellungs- bedingungen, die Lust darauf machen wür- den, sich stationär einzunisten. Fachkräftig, 041 – Das Kulturmagazin Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
STADT 7. NOVEMBER, KUNSTHALLE LUZERN «Maske trifft auf Maske in der Aus- stellung ‹Die dunkle Seite des Löwen› in der Kunsthalle Luzern. Die Arbeit von Claudia Schildknecht, zu der die Fotografie im Hintergrund gehört, setzt sich mit dem voranschreitenden Artenschwund auseinander.» Bild & Wort: Christof Schürpf 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
LAND 11. NOVEMBER, TROPENHAUS WOLHUSEN «Entspannen unter Palmen - hier und jetzt.» Bild & Wort: Gabriela Acklin Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
POLIAMOURÖS Vor einer Weile wohnte ich einer produktuntypisch dünne Exemplare senz verloren. Sein Brand liegt im Diskussion bei über die Frage, wer kosteten ihn beim letzten Qualitäts- Geheimnis, es bleibt bekanntlich «still eigentlich zu Weihnachten die Ge- audit einige Punkte. und unerkannt», was allerdings wirk- schenke bringt. Wer «Amazon» denkt, Sehr zu loben ist sein Supply same Marketingkampagnen deutlich ist rettungslos verloren. Mit allen Chain Management. Aufgrund gün- erschwert. anderen teile ich gerne als adventli- stiger Produktionsbedingungen in Ein bisschen Geheimniskräme- chen Service meine Recherchen zu Billiglohngegenden, die zudem die rei ist ja gut, aber die Markenidentität den marktdominierenden Gaben- Lagerung von Frischware begünsti- bleibt mit Blick auf die Erlösungsmar- bringfiguren. gen, sowie ausreichender Transport- ke «Jesus» undurchsichtig: Diese bildet Der Weihnachtsmann ist un- logistik ist der Weihnachtmann in der den Ursprung des Christkindes, aller- angefochtener Marktführer. Diesen Lage, Waren international zu vertrei- dings ist Jesus ikonografisch glaubhaft Erfolg hat er dem gelungenen Merger ben, zollfrei. Leider gibt es Defizite zuerst erwachsen geworden, bevor er zu verdanken, zwischen dem Nikolaus im Diversity Management: Ausschliess- an den Folgen einer unangemessenen und Knecht Ruprecht nämlich. Niko- lich alte weisse Männer mit Bart sind Befestigung verschied. Warum er jetzt laus hatte aufgrund seines episkopalen nicht mehr zeitgemäss. Auch beim als geflügeltes Kind Geschenke bringt, Auftretens Marktanteile eingebüsst, Tierschutz gibt’s ein Problem: Ru- erschliesst sich mir leider nicht. Die Knecht Ruprecht war aufgrund ge- dolph. Wer offensichtlich kranke grundsätzliche Geschlechtsneutrali- walttätiger Übergriffe schon lange Viecher einmal um die halbe Welt jagt, tät des Christkindes ist löblich, lässt vor #metoo untragbar geworden. Ihr muss mit Verfassungsinitiativen es doch vielfältige Identifikationen Zusammenschluss zum Weihnachts- rechnen, selbst wenn die Tiere ihr zu. Die Logistik ist ebenfalls auf dem mann stellte sich auch aufgrund eines Gehörn noch haben. neuesten Stand, da das Christkind als Co-Brandings mit einem erfolgreichen Da s G esch ä f t smodel l des eine Art Drohne funktioniert. Die Brausehersteller als zukunftsträchtig Christkinds ist unter Druck geraten. Lieferung ist ungemein pünktlich. heraus. Marktführerschaft hat jedoch Eigentlich war es ersonnen worden, Unternehmensethisch problematisch auch klare Nachteile: Wer überall um Nikolaus Marktanteile abzuneh- scheint mir hingegen der Aspekt der zugleich sein muss, kann das nicht men, was rund 300 Jahre lang recht Kinderarbeit. Reden müssten wir überall in gleichbleibender Qualität: gut funktionierte. Mit dem erwähnten zudem über jahreszeitlich angemes- Herabfallende Brauen, schiefe Bärte, Merger des Nikoruprechts zum Weih- sene Arbeitskleidung. abgewetzte Mäntel und vor allem nachtsmann aber hat es stark an Prä- Die anderen Gestalten – ob nun Weihnachtswichtel, Gnome, Heilige oder gar eine zottige Ziege in Nordeu- Weihnachtsgaben- ropa – sind allesamt kleine Nischen- produzenten und haben je eigene Probleme, exemplarisch verweise ich bringfiguren auf Befana, die italienische Weih- nachtshexe. Der Sage nach soll die Hexe seinerzeit von den Hirten die Frohe Botschaft gehört haben, der Stern von Bethlehem sollte sie zur Text: Rayk Sprecher Krippe führen. Da sie jedoch zu spät Illustration: Anja Wicki & Benjamin Hermann aufbrach, verpasste sie den Stern. Wer so etwas zum Gründungsmythos seines Unternehmens macht, muss sich nicht wundern, nur im italieni- schen Markt erfolgreich zu sein. Zum Schluss empfehle ich gerne die Devise meiner Kinder: Hauptsa- che, es bringt überhaupt irgendjemand irgendwas. Halleluja! Wenn Rayk Sprecher nicht gerade die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern managt, ist er freischaffender Philosoph, Dozent, Berater und Kabarettist, zum Beispiel im Kleintheater Luzern mit der Philo- Kabarett-Reihe «standup philosophy». 8 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
KOSMOPOLITOUR Weihnachtslichter gegen düstere Aussichten Das Grossstadtleben, trotz seiner An- «Lazuli Sky» von Will Tuckett wurde drängten, wurde klar, dass wir nach wie onymität, war vor der Pandemie voller während der Pandemie in Auftrag ge- vor in einer Zeit der Isolation lebten Körperkontakt. Auf die U-Bahn zu geben; eine schlichte Choreografie mit und diese noch lange weiterbestehen rennen, sich in das volle Abteil zu drü- klassischer Technik, eine Zelebration würde, doch diesmal während der cken, bevor die Tür zu- des Ausdrucks und der Schönheit des langen, dunklen Jahreszeit und einer Text und Bild: schnappt und man einem menschlichen Körpers. Das Theater neuen Brexit-Realität, die uns am David Kilian Beck anderen Pendler hautnah war nur zu einem Drittel besetzt, je- Neujahrsmorgen erwartet. in den Nacken atmet; in weils vier Sitze bis zur nächsten Person, Geplant wäre das Jahresende in Kellern zu tanzen, Körper an Körper, das Publikum reguliert und betreut von der Schweiz gewesen und nicht einge- bis die Kondensation von der Decke igelt zu Hause in Ostlondon; tropft; oder die Solidarität zwischen anst at t zusammen mit Nachtschwärmern, wenn der angesäu- Familie und Freunden, ein selte Unbekannte im Pub einem den Wiedersehen nach über Arm um die Schultern legt: All das ist einem Jahr: nun zu zweit. jetzt fahrlässig. Obwohl wir über den Unsere muslimischen Nach- Sommer und Frühherbst den maskier- barn, die jeweils unsere ten und desinfizierten Alltag in Kauf Katzen hüten, haben heuer nahmen, uns in einer gewissen Norma- schon im Oktober die Weih- lität wähnten – die Intimsphäre wurde nachtsdekoration ins Fenster neu abgesteckt. Wie vor hundert Jahren gehängt; eine Geste der Soli- hält man höflich Abstand, wenn man darität für die christlichen Bekannten auf der Strasse begegnet; Nachbarn und wohl auch, um Hausfeste wurden zu Abendessen im die trüben Tage etwas zu er- engsten Kreis; eine volle U-Bahn lässt hellen. Wo ich sonst über man weiterziehen und ein Taxi zu teilen, prämature Weihnachtsde- wird gar nicht erst offeriert. koration die Nase rümpfe, Kurz vor dem erneuten Lock- erfüllen mich die bunten, down wurden mein Mann, ein ehema- blinkenden Lämpchen dieses liger Balletttänzer, und ich zu einem Jahr mit Freude. 2020 war ein zeitgenössischen Ballett eingeladen. seltsames Jahr, neue Regeln Vor der Pandemie waren wir im Schnitt gelten, alles wurde bewegli- einmal pro Woche in einem der Theater cher, was nächstes Jahr noch der Stadt anzutreffen, und nach der alles auf uns wartet, wissen langen Durststrecke konnten wir dem 2020 ist X-Mas-Deko schon im Oktober okay. wir nicht. Anstatt mir zu Erlebnis einer live-Darbietung nicht viele Gedanken zu machen, widerstehen. Das Birmingham Royal aufmerksamen Stuarts, die alle zu ihren habe auch ich schon früh begonnen, Ballet war die erste nationale Tanzcom- Plätzen geleiteten. Was sich hätte unser Haus zu dekorieren, und falls es pagnie, die sich wieder auf die Bretter normal anfühlen sollen, war ange- dem Wohlbefinden hilft, lasse ich es des Sadler’s Wells wagte, das zum spannt und vorsichtig. Die Lücken weihnachten bis in den April hinein; letzten Mal während des zweiten zwischen den Zuschauern waren be- und in diesem Sinne: Merry Christmas Weltkriegs seine Türen geschlossen klemmend, noch verstärkt durch die and (hopefully) a Happy New Year! hatte. Drei Kurzstücke, getanzt in Körperlichkeit des Tanzes, und in mir Kohorten, um eine breitflächige Anste- machte sich eine Sehnsucht breit: nach David Kilian Beck lebt seit 13 Jahren in ckung der Compagnie zu verhindern, Nähe, Sicherheit und Normalität. Ob- London. Er studierte Fotografie an der University of Westminster und leitet seit die Bühne wurde zwischen den Stücken wohl wir bis dahin alle Zeichen eines ein paar Jahren die Kulturabteilung der gesäubert. Die Premiere des Stücks zweiten Lockdowns erfolgreich ver- Schweizerischen Botschaft in London. Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 9
NACHSCHLAG Drei Freunde sind einer zu viel Disneyland-Stil, Mehr-ist-mehr-Prinzip, Cocktail-Happy-Hour: All das trifft man gehäuft in Restaurants, die sich in Malls finden. Also jenen Einkaufserlebnis- tempeln, deren Niedergang überall gefeiert wird, während sie in der Zentralschweiz neu eröffnet werden – und mit ihnen auch dieser Typ Systemgastronomie. Wenn Mall-Gastronomie tatsächlich Bier. Während wir dieses des Teufels ist – warum in Gottes Na- trinken, bemerkt meine men sollte man dann so ein Lokal Begleitung, dass ihn die aufsuchen? Hauptsächlich: Weil man Aufmachung sehr an zur falschen Zeit am den Europapark erinnert: Text: Michal Niezborala falschen Ort ist, bunte Wände, Balkon- nämlich zur Hun- imitate, Fensterläden an gerzeit in der Mall. So ist es auch uns der Wand, Scheintüren. ergangen. Mein Kinokollege und ich Die Illusion, man sei auf wollten unbedingt «Tenet» auf Englisch einer Plaza de la ciudad. schauen und sind so überhaupt erst in Aber wir sind an der Ebi- der katarischen Exklave im Rontal (die square-Strasse, leider auch treue Leserschaft dieser Kolumne weiss kulinarisch. Wenn man um meinen Bezug zum Rontal), der schon für Tortillachips Mall of Switzerland, gelandet. Nach zahlt, sollten diese nicht Filmende half nichts mehr. Um halb himmeltraurig auf dem neun nahm im Maihöf li niemand Teller nebst den anderen das Telefon ab, schloss das Felsenegg Vorspeisen verloren gehen, wie die Speisekarte (sic! Speisekarte, nicht bereits die Türen und war das Old wenigen Gäste an diesem Abend. Ge- Getränkekarte!) anlärmt und auch Swiss House ausgebucht wegen einer rettet hat die Platte ausgerechnet die auffordert, nach dem Tageshit zu fra- Metzgete. Also gingen wir ins Tres Flauta, eine mit Gemüse und Käse gen. Stattdessen nehmen wir das Amigos. An der ewig langen Bar sass gefüllte Tortillarolle, denn auch die Schicksal selbst in die Hand und rollen ein mutmassliches erstes Date, zwei Chorizoscheiben waren nicht weiter uns noch ein paar Fajitas, ein wenig Freundinnen tranken ihren Apéro und erwähnenswert. All das leider an einem enttäuscht, dass man uns nicht auf die irgendwo hinten links erahnte man Abend, an dem nun wirklich genug Zeit Spare Ribs à discrétion (jeden Montag einen einsamen Verzweifelten, der gewesen wäre, etwas mit der Präsen- und Dienstag!) hingewiesen hat. À auch keine Wahl mehr gehabt hatte. tation rauszureissen. Bei der Haupt- discrétion übrigens, der helvetische Wer davon ausgeht, dass die speise ist es nicht so tragisch: Wir haben Ausdruck für das Mehr-ist-mehr-Prin- Pandemie wirtschaftsschädigend ist, beide das Hähnchen mit Mole Poblano, zip. Wäre doch auf dem Teller mehr sieht sich bei dem Anblick bestätigt. der «Nationalsauce» Mexikos, bestellt. Mexiko als an den Wänden. Aber was Also zeigten wir uns solidarisch und Schmackhaft und würzig ist es, sogar will man machen? Zur falschen Zeit am hauten so richtig rein: Vorspeise, die schwarzen Bohnen haben eine gute falschen Ort. Hautspeise und Fajitas obendrauf, Konsistenz, was ich nach der Vorspeise mehr ist mehr. Überzeugt hat mich am wirklich nicht erwartet hatte. Michal Niezborala isst sich für 041 – Das meisten das Getränk: Modelo Especi- Vielleicht hätten wir auch einfach Kulturmagazin durch die Zentralschweiz. Für diese Ausgabe war er im Mexican al, ein Pilsener aus Mexiko Stadt, dort eine Literkaraffe Margarita zur Eröff- Bar und Restaurant Tres Amigos an der nach Corona angeblich das beliebteste nung bestellen sollen, wie uns die Ebisquare-Strasse 2 in Ebikon. Anzeigen 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
FOTODOK Auftrag gewählter dokumentarischer Themen und künstlerischer Arbeiten. Die Bildgestaltung und die In- tention der Fotografierenden haben sich über die Jahre kaum gewandelt. Hinzugekommen sind neue Betrach- tungsweisen. In der Schweiz wurde etwa oft dokumentarisch «der Letzte seines Standes» festgehalten, bevor ein Industriezweig ins Ausland ausgelagert oder in einem Mass modernisiert wurde, dass es «die Arbeiterin» und «den Arbeiter» nicht mehr braucht, dass sie «ausgebildetem Fachpersonal» Platz machten. Die Grenzen zur Werbefotogra- fie sind oft so dünn, dass sie nur aus dem Kontext erkannt werden. Dieser ist meist dadurch gegeben, dass es ohne Auftrag fast unmöglich ist, auch nur in die Nähe eines Giesskessels oder einer Drehbank wie der hier abgebildeten zu kommen. Das Bild stammt vom Luzer- ner Fotografen Josef Laubacher, dessen Nachlass – ein Teil davon mithilfe der Fotodok – vom Stadtarchiv Luzern aufgearbeitet und digitalisiert wurde. Das Bild ist ganz in der Tradition der Dreissiger- und Vierzigerjahre kompo- niert und wohl Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre entstanden. Fast hört man den Lärm der grossen Drehbank, auf der diese riesige Achse abgedreht wird. Das Licht ist offen- sichtlich gezielt gesetzt und hebt die Theatralik, zieht den Blick vom Stahl Working Class Heroes im Mittelpunkt des Bildes – und dem eigentlichen Star des Werbebildes – auf das Gesicht, fast möchte man sagen Kunst- und Werbefotografien trennt seit jeher nur «Antlitz», des Arbeiters. Und so wird ein schmaler Grat – und manchmal wird ein Foto gar nicht nur die Grenze zwischen Werbe- und Sozialfotografie verwischt, son- fast zu einem sozialdokumentarischen Heiligenbild. dern diese auch recht unscharf in Spinnerinnen und Weberinnen, Ei- politischen Strömungen ein Wandel, Richtung Heiligenbild gezogen. sendreher und Giesser: Sie alle dienen der sich in der Wahl der Sujets wie auch der Fotografie seit ihren Anfängen in deren Darstellung zeigte. Konstant einerseits als Sinnbild für die aufstre- blieb eine hohe Anziehungskraft, ein Die Stiftung Fotodokumentation Kanton Luzern bende Industrialisierung grosses Potenzial zur Identifizierung. (Fotodok) besteht seit 1992 und hat ihren Sitz in Text: Simon Meyer in der zweiten Hälfte des Die Arbeiterinnen und Arbeiter als Luzern. Sie schützt, kuratiert und vermittelt das 19. Jahrhunderts und ander- «Heroen» hatten in allen ideologischen Kulturgut Fotografie in den Arbeiten und Werken von Fotografinnen und Fotografen aus der Zentral- seits als Sujet für Mahn- und Protest- Gesellschaftsformen – ob Kapitalis- schweiz. In dieser Serie stellt die Stiftung Fotodok bilder mit Bezug auf die Arbeitsbedin- mus, Kommunismus oder Nationalso- in einer Kooperation mit dem Kulturmagazin Foto- gungen in den Fabriken. Ähnlich wie zialismus – einen festen Platz. Das gilt grafien und die Geschichten dahinter vor. Simon Meyer ist Geschäftsleiter der Fotodok. in der Malerei vollzog sich dabei mit sowohl für Propagandabilder wie auch Foto: Josef Laubacher © Stadtarchiv Luzern, den jeweils gesellschaftlichen und die freie Fotografie im Sinne ohne F2 PA 37/004.02:04-r Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
UNFOKUSSIERT Bilder: Mirjam Steffen Lockdown / Lockerung / Sommer / Protest / Maskenpflicht 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
UNFOKUSSIERT 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 15
16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT LOST IN NAVIGATION Eine versöhnliche Abrechnung: Suppe, Klumpen, Dickicht: Dieses Jahr in Lauer- stellung und Tickermodus ist lang und zäh. Scheue Licht- so unschlüssig und verwirrend blicke gab’s – dazwischen. Ich mag mich an das erste Kon- zert erinnern nach der erzwungenen Pause, als ich die wie dieses Jahr ohne Zeit. Treppenstufen in den vollen Club hinunterstieg. Es Text: Jonas Wydler fühlte sich an wie zwanzig Jahre zuvor, als ich neugierig und unsicher die heiligen Hallen der Boa für mich ent- Eine trübe Suppe. Ein unförmiger Klumpen. Ein unwirt- deckte. liches Dickicht. Wenn ich das endende Jahr 2020 überbli- cken und resümieren will, gelingt mir das nicht. Zu viele Wenn die Orientierung fehlt – im Kopf wie in der Fixpunkte und Gewohnheiten, die sonst Halt und Orien- Zeit –, bleibt nur das unmittelbare Jetzt. Auch das hat tierung bieten, fehlen. Ich bin überfordert. etwas (es bleibt ja nichts anderes übrig). Ob’s anderen ähnlich ergeht? In diesem Jahr, in das ich mit guten Stattdessen solche blöden Bilder. Ich sehe: ein zeit- Plänen und ambitionierten Vorhaben gestartet war, ist so loses, zähes Etwas, das doch erst gerade begonnen hat. ziemlich alles anders gelaufen als geplant – deswegen. War nicht eben noch Neujahr, Frühling, Daniel Koch? Egal, die Zeit verliert jegliche Bedeutung in diesem Jahr Go with the Flow, jeden Tag aufs Neue leben und ohne verlässliche Prognosen und Sicherheiten. sehen, was möglich und nötig ist. Einmal mit dem Zu- stand arrangiert, ist das alles gar nicht so schlecht. Die Meldungen darüber, so elend sie sind, reihen Anders, nicht schlechter. Es lehrt uns eine gewisse Demut sich ein in den stetigen Fluss von Zahlen, Kurven und Er- und zwingt uns zu Bescheidenheit. zählungen. Restaurants und Kulturschaffende kämpfen um ihre Existenzen; Ärzte, Pflegende und Journalistin- Lost lautet das deutsche Jugendwort des Jahres – nen gegen die Erschöpfung; Komiker um ihren Ruf. Nur indeed, indeed. Inzwischen gebe ich mich der Orientie- die Idioten, die demonstrieren dagegen. rungslosigkeit mit einem gewissen Fatalismus und Genuss hin. Denn sie verspricht auch Überraschungen, Statistiken, Prognosen und Absagen gehören in- Unverhofftes und Augen für das Nahe. Sie ersetzt alte zwischen zum Alltag. Vorhersagen dazu sind schwierig, Gewohnheiten, bricht Mauern ein und schafft Grund für der Ruf nach Planungssicherheit wird zur Folklore. Lieb- Neues. Auf die Gefahr hin, dass das alles wie ein Kalen- gewonnene Traditionen bleiben auf der Strecke – Feste, derspruch klingt. Ein Jahr, an die Wand geklatscht. Festivals, Fasnacht. Es bleibt: Fernweh. So gesehen kann es auch ein Aufbruch sein. Es wird Es wird zwischen schwindenden Existenzen und nicht alles gleich sein danach. Einiges vielleicht ärmer und wankenden Branchen irgendwie weitergehen müssen – verschwunden; vieles aber besser und neu. Wenn auch danach. Und was bleibt uns, die es normalerweise schät- noch ein bisschen lost vielleicht. zen, Kulturprogramme durchzublättern und bequem aus einem breiten Angebot auszuwählen? Es fehlt neben Bis dahin sollten wir in der Orientierungslosigkeit, der geistigen Herausforderung, dem Tanz aus der Kom- so gut es geht, nicht aus dem Tritt fallen. Einfach nicht fortzone, auch einfach: Orientierung. Kultur füllt Kalen- stolpern. Geht doch. der und macht Jahreszeiten – Comics, Musiktage, Open Airs, Jazz, Theater, Worte, Weltklasse-Klassik. Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
KONSUMTEMPEL- KULTUR Unsere Autorin hat das Emmen Center besucht – jetzt und unzählige Male als Kind. Ihren Erinnerungen stellt sie eine ganze Menge wissenschaftlicher Erkenntnisse rund um das Shoppen und Einkaufpaläste zur Seite. Text: Jana Avanzini Bilder: Christof Schürpf 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT Erst riecht es nach Benzin, dann kurz nach frischem Ziga- Hier pausieren, aufgereiht auf den schwarz-gelben rettenrauch. Es folgt ein Hauch billiges Parfüm und im Polstern, ältere Herren mit haufenweise Einkaufstüten. Lift schliesslich umarmt der schwere Duft von thailändi- Neben ihnen ein Haufen tuschelnder Teenies. Aufre- schem Essen. Immer exakt dieselben Gerüche reihen gung kommt auf, Halbwüchsige stolzieren vorbei. Das ist sich auf dem Weg vom Auto bis in den Lichthof aneinan- kein Geschäftsareal – das ist ein öffentlicher Raum 12, der. Im Emmen Center. Ein kleines, provinzielles Ein- eine Bühne 13. kaufszentrum – für die einen zweites Zuhause 1, für die anderen ein stilloser Unort 2. Ein Tempel 3 des Kapitalis- 1 Die Sozialforschung spricht von «Verhäuslichung» des öffentli- mus. Grosse rote Punkte dominieren die leuchtende chen Raumes. «Jugendliche suchen sich in dieser veränderten Le- Landschaft aus billigen Shirts und teuren Schuhen, aktu- benswelt ihre Freiräume.» (Bundesministerium für Verkehr, Bau ell ergänzen blinkende Lichter, Glitzergirlanden und und Stadtentwicklung [2010]: Freiräume für Kinder und Jugendlich) Kunstschnee die Szenerie. Im EG hinten rechts riecht es 2 «Schöngeistern gelten Einkaufscenter als trostlose Konsumtem- nach Lebkuchen, ein Stock darüber versinkt man im pel, gefüllt mit den immergleichen Produkten. Ein Ort, wo der süsslichen Dumpf von vollen Windeln und Feuchttü- Konsum nicht mehr zur Deckung von Bedürfnissen erfolgt, son- chern. Gleich gegenüber duftet die Pasta und links dane- dern wo der Konsum selbst verehrt wird.» (SRF [2020]: Mikrokos- mos Megamall) ben dominiert der Geruch von Chemikalien aus den 3 Fasern der Billigmode – gegen Schimmel und Tierchen. «Mit der Verwendung des Wortes «Tempel» – also der Bezeich- nung für religiöse Gebäude – wird darauf angespielt, dass hier der Es ist wie früher. Bloss Casa ist jetzt Zara, Mango Konsum nicht mehr zur profanen Deckung von Bedürfnissen er- ist Vögele Shoes, und Vögele Shoes ist Decathlon. Neu folgt, sondern der Konsum selbst verehrt wird. Kaufen hat etwas wurde auch eine Nagelbar aufgestellt – «BE PRETTY». mit Träumen und Verführung zu tun. Es lässt die Welt bunter aus- Abgesehen davon: Alles wie immer. Es dudelt sowas wie sehen. Schöne Dinge werten uns auf und lassen uns in der Regel Swiss Pop, ein Kind rastet neben dem Heissluftballon perfekter und begehrenswerter erscheinen, als wir wirklich aus, den man mit Fränklern füttern müsste, und ich falle sind.»(Andreas Haderlein, Eike Wenzel, Patrick Mijnals [2007]: innert Sekunden in alte Muster zurück. Verführung Shopping Szenarien – Die neuen Sehnsüchte der Konsumenten) 4 überall. Bekannt ist, dass der hohe Gesamtkonsum der Menschheit jen- Man schlendert durch eine glamouröse Glitzer- seits der Nachhaltigkeitsgrenzen liegt und folglich unwieder- bringliche Umweltveränderung und -zerstörungen verursacht. welt, in der Armut und Einsamkeit scheinbar nicht exis- 5 tieren. Hier kann man sich auf die schönen und angeneh- «Bei politischen Enttäuschungen und wirtschaftliche Sorgen men Dinge des Lebens fokussieren. Hier ist man sicher. sucht der Mensch nach Kompensation und Betäubung. Fiktive Konsumfigurationen vermitteln Identität und Orientierung. Doch Jedenfalls solange man im Kinderparadies die anderen diese Idylle kann in Desorientierung und Sucht umschlagen.» Kinder nicht grob mit italienischen Fluchworten ein- (Günther Rosenberger [2020]: Moderne Konsumästhetik) deckt. Denn dann werden die Eltern ausgerufen. Unge- 6 «Benjamin R. Barbers vertritt die These, dass die kapitalistische fähr seit damals verbindet mich und das Emmen Center Überflussgesellschaft Erwachsene infantilisiert und die Demo- eine ambivalente Beziehung. All dieses Zeug, dieser billi- kratie untergräbt. Die Unternehmen, so Barber, deklarierten ihre ge, sinnlose Ramsch. Natürlich ist Kritik 4 angebracht. geschickte Manipulation als Ausdruck der individuellen Freiheit Menschen werden ausgebeutet, manipuliert 5 und ab- des Konsumenten. Wie Peter Pan würden die Verbraucher sich hängig gemacht, von Dingen, die sie gar nicht benötigen. weigern, erwachsen zu werden und entzögen sich damit ihrer Ver- antwortung in der Zivilgesellschaft. Dies führe zu Egoismus und Mündige Bürger und Bürgerinnen werden zu Kindern 6 Kulturverlust, Narzissmus und Verantwortungslosigkeit.» (Sabine und Kinder zu Konsumenten. Sucht 7 und Schulden sind Berthold [2009]: Neverland des Konsumkapitalismus) die Konsequenz. Eine üble Sache also. 7 Kaufsucht ist ein Thema, das trotz geschätzten fünf Prozent Doch ehrlich? Das Einkaufen schöner Dinge macht Kaufsüchtigen nicht annährend die Aufmerksamkeit erhält, die es Spass, zählte auch eine Weile zu meinen Hobbys 8. Doch verdient. Es wird bis heute nicht als Krankheit klassiert. Aus dem die Freude an den Dingen, das wohlige Gefühl beim einfachen Grund: Shoppen ist wirtschaftlich erwünscht. Durch Kaufen, das ist je nach Gesellschaft gar nicht einfach zu- vielfältige Marketing-Strategien und Werbung werden permanent zugeben. Hochkultur und Konsumkultur gehen offen- Bedürfnisse geweckt, um das stetige Wirtschaftswachstum auf- bar nicht gut zusammen – sowenig wie Trauffer und die rechtzuerhalten. 8 Oper es tun. Wie Musicals und Theaterwissenschaftle- 2019 nannten bei einer gross angelegten Umfrage in Deutschland rinnen. Oder doch 9? fast 30 Prozent der Menschen Shoppen als Hobby. Das «Lädele» «Der Treffpunkt der Halbschlauen», nannte es eine wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Freizeitvergnügen. Durch den Wirtschaftsboom entstand die Lust am Anschauen moderner, Center-Nachbarin. Ich verstand «Halbwüchsige», wurde toller und oft auch etwas zu teurer Waren. jedoch schnell korrigiert. So würden wohl viele sagen: 9 Konsumismus kann Teil der Hochkultur sein: «Sind die Lügen, Einkaufszentren sind Trash. How the mighty have fallen. 10 die der Werbung für Konsumgütern vorgehalten werden, nicht in Und viele würden den Ort für von Kultur 11 weit entfernt Wahrheit Fiktionen, die, ähnlich wie das bei den Künsten der Fall halten. Abgesehen von der Cinquecento-Ausstellung ist, wichtige Funktionen erfüllen?» (Wolfgang Ullrich [2009]: Über und den Guuggenmusig-Konzerten. die warenästhetische Erziehung des Menschen) Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
UNFOKUSSIERT 10 Über Jahre hinweg verbrachte ich beinahe wö- «Kaufhäuser galten in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Insti- tutionen einer neuen Lebensqualität, mondän und elegant, klas- chentlich einen Tag im Einkaufszentrum. Für mein Grosi sische Sehnsuchtsorte. ‹Kathedralen des neuzeitlichen Handels› und meine Mutter bildeten das Manor-Restaurant, die nannte der Romancier Émile Zola sie gar. Sie sollten eine Demo- Gratis-Parkplätze, all die Einkaufsmöglichkeiten eine kratisierung des Konsums einleiten. Teure Konsumhallen wie die perfekte Kulisse für gemeinsame Stunden. Keine garsti- Galeries Lafayette in Paris zählen auch heute noch zu den kultu- ge Witterung, keine dicke Jacke, kein Schirm, keine Stol- rellen und touristischen Hotspots.» (Kerstin Schneider [2005]: So- perfallen störten das «Lädele». Man vertreibt sich die ziologie des Shoppings) 11 Zeit, schaut schöne Dinge. Kauft schöne Dinge. Ein paar Die Hauptthese von Mareike Schrödter lautet, dass sich durch neue Schuhe hier, zwei, drei neue Shirts da, ein Buch, zwi- die neuen Konsumgewohnheiten ein völlig neues Kulturverständ- schendrin Kaffee und Kuchen und dann noch ein paar nis etabliert hat. Meinte man früher mit «Kultur» Hochkulturen oder geistige Kultur wie Literatur, Musik oder Kunst, so wird der Ohrringe. Eigentlich wollte ich bloss ein Deo kaufen.14 Begriff heute in einem neuen Zusammenhang verwendet. Viele Aber wie stylisch und einzigartig ich doch damit aus- Leute meinen ihre Freizeitbeschäftigung und ihre neuen Erlebnis- sehe,15 wie bohème sich das Buch in meinem Regal doch se, wenn sie von Kultur sprechen. Und dieses neue Verständnis ist macht!16 meist auch mit Konsum verbunden. (vgl. Mareike Schrödter [2001]: Es ist wie früher. Bloss mit schlechtem Gewissen.17 Kulturelle Erlebniswelt – das Einkaufszentrum als neues städti- sches Kulturforum) Anderseits kommt auch Hochkultur kaum noch ohne Zusatzkonsum aus: Ein Prosecco zur Premiere, die Kunsttas- se zum Museumsbesuch und das Bandshirt zum Konzert. 12 Hier versammelte sich das Proletariat, um sich auszutauschen. Hier waren die Märkte, die Theater, hier fanden Ausstellungen statt und Konzerte. (Die Vergangenheitsform ist der aktuellen Si- tuation sowie dem Aussterben der Altstädte geschuldet.) 13 «Wir alle spielen Theater», sagte Erving Goffman und bezog sich in den Ausführungen seiner Theatermetaphorik oft auf Beispiele aus dem Einzelhandel. Er beschrieb alltägliche Selbstdarstel- lungsmechanismen, die privatwirtschaftlich etabliert und insze- niert werden. Eine Selbstdarstellung auf allen möglichen Bühnen des Zusammentreffens, für die Umwelt, aber auch für sich selbst. 14 «‹Shopping› ist nicht die Beschaffung benötigter Güter, sondern entsteht aus dem Bedürfnis nach dem (Einkaufs-)Erlebnis. Kaum jemand wird im Shoppingcenter mit Einkaufszettel aufkreuzen. Im Gegenteil: Die permanente Verführung ist Teil des Spiels.» (Fredy Obrecht [2011]: Shopping als Hobby) 15 «Durch Kunst erhält der Mensch die Chance, sich über sich selbst klarer zu werden und sich neu zu definieren. Statt auf eine bestimmte Weltsicht verpflichtet zu werden, kann er Festlegun- gen überwinden: Selbstbildung wird ermöglicht.» (Friedrich Schil- ler [1794]: Über die ästhetische Erziehung des Menschen). Es stellt sich nun die Frage, ob sich Konsumgüter auch positiv mit Roma- nen oder Bildern etc. vergleichen lassen. 16 «Die Kollaboration von Kunstszene und kommerzieller Waren- produktion verspricht heute ein lukratives Geschäft. Einzigartig- keit, Originalität und Authentizität wird über Objekte inszeniert. Es entsteht eine neue Konsumästhetik aus Produktion, Rezepti- on und jeweiligen kreativen Inszenierungs- wie auch Sammlungs- logiken.» (Pamela C. Scorzin [2020]: Kunst zum Konsum?!) 17 «Nachhaltigkeit einzukaufen ist möglich. Dies fördert immer stärker die Ansicht, dass private Konsumenten – und nicht etwa Unternehmen oder Politik – die Transformation des Kapitalismus hin zu einer ökologischen und moralischen Ökonomie anstossen müssen. Das Problem darin sei, dass dem Individuum zugemutet wird, woran Politik und Zivilgesellschaft – von der Wirtschaft ganz zu schweigen – offenbar scheitern. Der Einzelne wird überfordert, die Politik entlastet. Darf diese Sorge um die Nachhaltigkeit ins Private abgeschoben werden? Oder ist der nachhaltige Umgang mit unseren Ressourcen nicht eher eine öffentliche Aufgabe – weil sie das Ganze betrifft und weil es um einen grundsätzlichen Kurswechsel geht, der eine Veränderung der politischen Rahmen- bedingungen erfordert?» (Armin Grundwald [2012]: Warum nach- haltiger Konsum die Welt nicht retten wird). Und trotzdem: Jeder Einkaufszettel ist eben auch ein Stimmzettel. 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
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UNFOKUSSIERT kirchenkonformes Programm BLOSS KEINE spiele.» Das Verrückteste war für ihn wohl Meat Loafs «I’d Do Anything For Love» in der Kirche erklingen zu lassen. STILLE NACHT «Eine Trauernde kam nachher zu mir und sagte, sie habe nicht gewusst, dass es mög- lich sei, so was auf der Orgel zu spielen. Ich finde, man soll sich vieles er- Für Organisten wie Christoph Mauerhofer lauben, ohne die Grenzen zu überschreiten.» bedeutet die Weihnachtszeit Hochsaison – Darum mag er sich nicht auf Diskussionen doch dieses Jahr ist alles anders. Die Hoffnung darüber einlassen, welche Musik nun die beste sei und was in einer Kirche erlaubt ist auf einen stimmigen Advent hat der Musiker und was nicht. «Da bin ich demokratisch. Ich allerdings noch nicht aufgegeben. glaube, es hat genug Platz für alle Meinun- gen, solange man sich gegenseitig respek- Es ist Sonntag, doch keiner ist in der Kirche. Nur brennen- tiert.» Für ihn zählen die Väter der klassischen Musik wie de Kerzen verraten, dass zuvor schon jemand da war. Mozart, Beethoven und Johann Sebastian Bach zu den Später wird hier Christoph Mauerhofer ein Konzert Favoriten. Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, würde geben, erlaubt sind derzeit maximal 30 vorangemeldete er gerne mit Bach einen Kaffee trinken: «Ich möchte mit Personen. Pandemieregime. Dann be- ihm über die Vielfalt der Musik reden.» Aufgewachsen sei Text und Bild: tritt der dreissigjährige Organist den er aber auch mit DJ Bobo, und er liebe Michael Jackson, Ritah Ayebare Nyakato Raum. Kaum fangen wir an, über höre auch viel Popmusik. Musik zu sprechen, ist offensichtlich, wie sehr er dafür brennt; unwillkürlich illustriert er sein Mit «Golden Eye» fängt alles an Erzählen mit Händen und Fingern, als wäre vor ihm eine Christoph Mauerhofer mag es zu experimentieren, Tastatur. Woran er beim Spielen denkt? Selbstverständ- er arbeitet daran, auch als Komponist seine eigene Spra- lich an die Musik! Was genau ihn umtreibt, hängt aller- che zu finden. Den Weg in die Musik fand er sehr früh, dings vom jeweiligen Werk ab. Bei schwierigen Stücken, bereits mit vier Jahren besuchte er Klavierstunden und etwa bei Bach, schweben seine Gedanken zwischen tech- übte fleissig zu Hause auf dem alten Klavier, auf dem nischen Aspekten und Modulationen, will er doch seine auch seine Mutter musizierte. Sein Vater spielte Gitarre eigene Version spielen, ohne sich zu stark vom Original in verschiedenen Bands, sein Grossvater hatte ebenfalls abzuwenden. «Ich bin wie ein Koch, der schon ein biss- Orgel gespielt, sein Urgrossvater sogar Musik kompo- chen würzen will, aber nur so viel, dass der Eigenge- niert. Christoph Mauerhofer ist fasziniert von den über- schmack hervorgehoben wird», erklärt er. Bei Stücken, lieferten, handgeschriebenen Noten, er arbeitet daran, die er häufig spielt, beginnt er sogar im Schlaf an Variati- diese zu digitalisieren. Eines Tages, so hofft er, wird er onen zu arbeiten: «Dann kann ich mir vorstellen, wie die seinen Urgrossvater mit einem Konzert ehren. «Viel- Leute mitsingen.» Sogar improvisieren kann er so. leicht werde gar ich spielen, das wäre sehr speziell», sagt Für seinen Beruf als Organist muss er aber grund- er. Doch zurück zum Anfang: zu «Golden Eye» von Tina sätzlich hellwach sein. Die enorme Vielfalt seines Instru- Turner. Von früh an konnte sich Christoph Mauerhofer ments hat es ihm angetan, die unzähligen Klangfarben, nämlich Melodien ausgesprochen gut merken und diese ob elektrisch oder manuell. «Jede Orgel hat ihren eigenen dann auf dem Klavier wiedergeben – dazu gehörten die Charakter, das macht es spannend!» Ihm gefällt, dass er Soundtracks der James-Bond-Filme. «Mein erster Kla- mit seinem Orgelspiel verschiedenste Stimmungen aus vierlehrer Max Heinz hat meine Begabung früh erkannt den Leuten rauskitzeln kann – oder aber ihre Wünsche und hat mir geholfen, die Melodien aus meinem Ge- und Bedürfnisse an der Orgel umsetzen darf, etwa an Be- dächtnis am Klavier zu spielen. Das erste Lied war erdigungen. Christoph Mauerhofer hat keine Bedenken, ‹Golden Eye›, erinnert er sich. Trotz allem Talent war es sich von klassischen Vorstellungen zu lösen. «Einmal hat für den im Toggenburg aufgewachsenen Mauerhofer sich ein anderer Organist geweigert, Pink Floyd an einer nicht schon immer klar, dass er dereinst Musik studieren Beerdigung zu spielen», erzählt er. Das könne er nicht ver- würde. Zwar wählte er im Gymnasium Musik als stehen, schliesslich gehe es bei einer Beerdigung darum, Schwerpunkt und spielte nebenbei in einer Big Band. Mit Trost zu spenden. Und wenn die Trauernden bestimmte 17 gewann er gar den Schweizerischen Jugendmusik- Wünsche haben, versucht er diese zu ermöglichen. «So wettbewerb in der Kategorie «Orgel solo». Aber erst, als erreiche ich mehr, als wenn ich streng ein vermeintlich ihn sein Orgellehrer Wolfgang Sieber dazu ermunterte, 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT «Jede Orgel hat ihren eigenen Charakter, das macht es spannend!» Schweizer Witze erzählt oder Komiker wie Charlie Chaplin, Jerry Lewis und Stan Laurel imitiert. Er ist mutig, ambitio- niert und kommunikativ – dank diesen Eigenschaften konnte er sich viele Gelegen- heiten erarbeiten, um seine Karriere voranzubringen. Doch das Jahr 2020 hat vieles auf den Kopf gestellt, Gottesdienste und Kirchen- musik wurden zeitweise stark eingeschränkt. Dank seiner Von Michael Jackson bis Johann Sebastian Bach: Christoph Mauerhofer begeistert sich Festanstellung in Olten habe für ganz unterschiedliche Musik. er keine grossen Sorgen, den- noch mache er sich Gedanken entschied er sich, ganz auf die Musik zu setzen und lan- darüber, wie es weitergehen werde. Was an Weihnachten dete so 2009 an der Hochschule Luzern – Musik. Für die möglich sein wird, ist derzeit ungewiss. «Für gewöhnlich Unterstützung seiner Eltern auf diesem Weg ist Mauer- sind in der Weihnachtszeit die Konzerte und Gottes- hofer sehr dankbar. Schnell konnte er durch seinen Ne- dienste sehr gut besucht, aber das könnte dieses Jahr benjob als Organist in einer kleinen Kapelle und das anders sein. Wir werden vielleicht gar keine Gottesdiens- Spielen von Konzerten einen Teil seines Studiums selber te feiern können», sagt er. «Aber Weihnachten findet finanzieren und schaffte Bachelor und Master dennoch statt, ganz unabhängig davon, welche Einschränkungen in fünf Jahren. gelten. Es ist daher wichtig, dass wir diese Hoffnung, die uns durch die Geburt Christus gegeben wurde, weiter Ein Mann mit vielen Talenten halten, wir müssen irgendwie spontan und flexibel blei- Weit gebracht haben ihn immer wieder seine Neu- ben. Wir können feiern, mit Musik, Glühwein und allem gier und sein Mut. So verschaffte er sich während Ferien Drum und Dran, einfach zu Hause.» Als Leiter eines in Australien die Gelegenheit, dort in einer Kirche zu Krippenspiels wird er seine Pläne allenfalls anpassen spielen, einmal griff er im Würzburger Dom in die Tasten. müssen. «Vielleicht werde ich wie an Ostern improvisie- Regelmässig spielt er in den Kirchen St. Martin und St. ren und ein YouTube-Video machen.» Doch weil die Hoff- Marien in Olten, an der grössten Zentralschweizer Orgel nung zuletzt stirbt, übt Christoph Mauerhofer fleissig in Engelberg, in der Zuger Kirche St. Michael begleitete er weiter für geplante Konzerte. Er hofft, in der Luzerner einen Chor und auch in der Luzerner Kirche St. Karl zieht Kirche St. Karl mit dem mittlerweile traditionellen Or- er immer wieder alle Register. Wovon er träumt? Einmal gelstrauss Neujahrsstimmung verbreiten zu dürfen – im Petersdom zu spielen! Christoph Mauerhofer hat viele nach Wiener Art mit Walzern, Polkas und dem obligaten Begabungen: Er besitzt eine wunderschöne Tenor- Radetzky-Marsch. Auf ein gutes 2021! Stimmlage – auch wenn er das leugnet. Sein schauspiele- risches Talent ist unbestritten, er kann Menschen zum Orgelstrauss SA 2. Januar, 16 Uhr Weinen bringen vor lauter Lachen, wenn er typische Kirche St. Karl, Luzern Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 23
UNFOKUSSIERT VOM VIELLEICHT LANGWEILIGSTEN VOLKSSTAMM DER WELT Der Schwabe, der Bewohner des Bindestrich-Bundeslands Baden- Württemberg, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, wie sich die Zentralschweizer Bevölkerung ihre Identität zimmert. Ein Blick über die Grenze – und auch ein bisschen in den Spiegel. Text: Christof Schwenkel Illustration: Marina Lutz Winter 1996 in einer Schule in Süddeutschland. Ich sitze Grund für den geografischen Exkurs vom Gymna- im Deutschunterricht und kritzle auf ein gelbes Reclam- sium im deutschen Bad Urach in die Innerschweiz war heft. Mein Lehrer zeichnet derweil mit Kreide eine eigen- natürlich, dass sich der Schwabe Schiller diese Region als artige Form an die Tafel: Es ist der Vierwaldstättersee. Schauplatz seines letzten Dramas ausgesucht hatte. Dann illustriert er die Lage der drei Urkantone. Auch Ausser bei Tell ist mir die Schweiz dann in der Schulzeit Luzern ist ihm einen Kreidepunkt wert. Mir in meinem noch wegen Jeremias Gotthelf und Max Frisch begegnet. schwäbischen Klassenzimmer kam das damals sehr exo- Und im Geografieunterricht als Land, in dem der Rhein tisch und vor allem unnötig vor. Ich wusste ja noch nicht, entspringt. Ansonsten hat der südliche Nachbar – obwohl dass es mich einmal an genau diesen unförmigen See ver- nur zwei Autostunden entfernt – in meiner Jugend keine schlagen wird. Dorthin, wo Spätzle Chnöpfli heissen und grosse Rolle gespielt. Die grössten helvetischen Kultur- es keine Maultaschen gibt. importe waren Emil Steinberger, Paola Felix, DJ Bobo 24 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Dezember 2020
UNFOKUSSIERT und Ovomaltine. Andere Nachbarländer und Kulturen ein strenger Protestantismus haben einen vorsichtigen waren da schon deutlich spannender. Die Namen der Umgang mit Besitz gelehrt, was wiederum von Genera- Schweizer Kantone kennt man als Deutscher primär aus tion zu Generation weitergegeben wurde. Der Schwabe den Skiferien. Oder vielleicht noch den mit den drei würde sagen, er sei sparsam. Geld ausgeben tut halt Buchstaben aus dem Kreuzworträtsel. immer ein bissle weh. Vor allem wenn es für etwas ist, das Perspektivwechsel: In der deutschsprachigen nicht lange anhält. Anekdotisch möchte ich da vom Ge- Schweiz sind einem Deutschland und dessen Kultur viel schäftsreisenden erzählen, der kurz vor dem Rückflug vertrauter, als es umgekehrt der Fall ist. Das hat vor allem nach Stuttgart seiner Frau am Telefon noch freudig das mit der Grösse zu tun. Auf eine Schweizerin kommen das Wichtigste mitteilte: «Faschd koi Geld braucht!» schliesslich zehn Deutsche (bei Wolfsrudeln beträgt das Wortkarg: Die Erfahrung zäher Apéro-Gespräche Verhältnis sogar eins zu sechzehn). Und natürlich prägen in der Schweiz relativiert das Bild vom wortkargen auch das Fernsehen und die 400 000 Deutschen, die in Schwaben aus meiner Sicht deutlich. Schwäbische der Schweiz leben, das Bild vom Nachbarland. Schwätzer und Schwätzerinnen gibt es da schon eher. Was hat man also im Sinn, wenn man südlich des Clever: Einstein und Hegel sprachen schliesslich Rheins an Deutschland denkt? Vor 40 Jahren hat sich der schwäbisch und in Württemberg wurden Auto, Stofftier Schriftsteller Hugo Lötscher schon Gedanken zu dieser und Motorsäge erfun- Frage gemacht. Des Schweizers Deutschlandbild umfas- den. Auch arbeiten se vor allem Berlin, Hamburg oder vielleicht noch Mün- nicht wenige meiner chen. «Nur, dass es auch Stuttgart gibt, vergisst man ge- ehemaligen Mitschü- wöhnlich.» Diese Beobachtung gilt auch heute noch. Ba- lerinnen heute bei «Wir können alles. den-Württemberg (mit seiner Hauptstadt Stuttgart) ist Unternehmen, die als zwar Grenzland und Hauptreiseziel für Deutschlandtou- «hidden champion» Ausser Hochdeutsch.» ristinnen aus der Schweiz. Für viele fängt aber dort, wo Dinge herstellen, auf der Europapark aufhört oder man die Konstanzer Innen- die man erst einmal stadt verlässt, terra incognita an. Ausgehend davon kommen muss (Präzi- möchte ich gerne einen kleinen Einblick in eine aus sionsdüsen, Zylinderkopfdichtungen, Schneidwalzen für Schweizer Sicht nahe und dennoch fremde Kultur er- die Windelproduktion). Gegen das Bild vom cleveren möglichen: Schwaben. Schwaben spricht hingegen die Tieferlegung des Stutt- garter Hauptbahnhofs. Geizig, wortkarg und clever Die Betrachtungen über Schwaben wären unvoll- Der natürliche Lebensraum der Schwaben ist in ständig, wenn es nicht auch um den Dialekt ginge. etwa das ehemalige Königreich Württemberg, welches Schliesslich nutzt das Landesmarketing Baden-Würt- seit 1952 gemeinsam mit Baden (im Westen) und Hohen- temberg in Deutschland schon seit Jahren erfolgreich zollern (klein und irgendwo dazwischen) das Bin- den Claim: «Wir können alles. Ausser Hochdeutsch.» Für destrich-Bundesland Baden-Württemberg bildet. Dort die Bearbeitung des Schweizer Marktes wird dieser leben die Schwäbinnen und Schwaben in ihren Eigenhei- Spruch sinnigerweise nicht verwendet. In weiten Teilen men mit Doppelgarage – Stichwort Bausparvertrag. ist, wer schwäbisch spricht, dem Schweizer übrigens ver- Häufig in einer Stadt, die mit «–ingen» endet. Also etwa ständlich. Objektiv gesehen handelt es sich, wie auch bei in Nürtingen, Reutlingen, Tuttlingen, Böblingen, Sindel- den meisten hiesigen Mundarten, nicht um einen klang- fingen, Metzingen, Waiblingen, Plochingen oder Tübin- vollen Dialekt. Der Schwabe, der anderes behauptet, soll gen. Noch lieber zieht die Schwäbin aber nach Berlin, was zur Strafe dreimal hintereinander die Worte «Ortskern» bei den Hauptstädtern nicht immer auf Begeisterung und «Hirschwurst» sagen. stösst. Am wenigsten übrigens bei solchen Berlinerin- Friedrich Schiller, der wohl auch zeitlebens stark nen, die selbst in den 1990er-Jahren ihr Elternhaus auf schwäbelte, hat übrigens nie einen Fuss in die Schweiz der Schwäbischen Alb mit dem Ziel Prenzlauer Berg ver- gesetzt. Dennoch hat man ihm als «Sänger Tells» ein lassen haben. Vom «langweiligsten Volksstamm der Denkmal im Urner Seebecken gesetzt und eines der fünf Welt» ist in einem Artikel im Berliner Stadtmagazin «tip» Dampfschiffe auf dem Vierwaldstättersee trägt seinen die Rede – der Autor stammt natürlich selber aus dem Namen. Gut zwanzig Jahre nach Schillers Tod machte schwäbischen Dialektgebiet. In anderen Teilen Deutsch- sich dann im schwäbischen Leidringen ein Schreinerge- lands werden Schwaben häufig als geizig, wortkarg und selle auf dem Weg in Richtung Eidgenossenschaft: vielleicht noch clever beschrieben. Hier ein kurzer, mög- Johann Georg Blocher, dessen Ururenkel Christoph licherweise nicht ganz neutraler, Reality-Check: irgendwann ein Vorbild für gelungene Integration Geizig: Tatsächlich ist das Verhältnis zu Geld – werden sollte. Wenn etwas in der Schweiz ganz beson- obwohl solches grundsätzlich vorhanden ist – im Schwä- ders schweizerisch sein soll, braucht es vielleicht einfach bischen ein besonderes. Jahrhundertelange Armut und Schwaben dazu. Dezember 2020 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 25
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