STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK - Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation - Strukturschwach & erfahrungsstark
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STUDIE Paulina Fröhlich, Tom Mannewitz & Florian Ranft STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK Das Progressive Zentrum ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Berliner Thinktank, der 2007 gegründet wurde. Ziel des Progressiven Zentrums ist es, gemäß dem Dreiklang „Vordenken – Vernetzen – Streiten“ evidenzbasierte Politikideen und praxisorientierte Handlungsempfehlungen zu erarbeiten und öffentlich zu debattieren. Wir möchten mit unserer Arbeit dazu beitragen, qualitative Debatten zu führen, die politische Bildung und den internationalen Austausch zu fördern sowie neue Netzwerke progressiver Akteure unterschiedlicher Herkunft für den ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Fortschritt zu stiften. Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk- schaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung versteht sich als Zukunftsradar und Ideenschmiede der Sozialen Demokratie. Sie verknüpft Analyse und Diskussion. Die Abteilung bringt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik zusammen. Ihr Ziel ist es, politische und gewerkschaftliche Ent- scheidungsträger:innen zu aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu beraten und progressive Impulse in die gesellschaftspolitische Debatte einzubringen.
Paulina Fröhlich, Tom Mannewitz & Florian Ranft Die Übergangenen Strukturschwach & erfahrungsstark Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation ZUSAMMENFASSUNG 3 1. EINLEITUNG – HERAUSFORDERUNGEN DER GROSSEN TRANSFORMATION 4 2. DIE GROSSE TRANSFORMATION: WARUM DEN STRUKTURSCHWACHEN REGIONEN ZUHÖREN? 6 3. ZUR STUDIE 9 4. ERGEBNISSE 12 4.1 Die Gegenwart: Die Klimakrise ist ein Problem, aber uns drängen hier soziale Nöte ......... 12 4.2 Die Zukunft: Ich bange nicht um meine Zukunft, aber um die der Region ........................ 15 4.3 Der Prozess: Unsere Demokratie ist stark, aber die da oben sind alle unfähig ................... 18 5. LÖSUNGSANSÄTZE EINER POLITIK DER GROSSEN TRANSFORMATION IM STRUKTURSCHWACHEN RAUM 21 6. HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN: GELD, GESTALTUNGSMACHT UND GEHÖR 26 DIE AUTOR:INNEN & DAS TEAM 30 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ............................................................................... 32 Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 33 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................... 35
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK 2
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION ZUSAMMENFASSUNG Im Hinblick auf die Bewältigung der Klimakrise fühlen sich HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN: viele Menschen in strukturschwachen Regionen übergan- GELD, GESTALTUNGSMACHT UND GEHÖR gen. Zu diesem Ergebnis kommt eine in ihrer Art einma- lige Studie zur Großen Transformation in Deutschland: Der anstehende Umbruch im strukturschwachen Raum ist Qualitative Haustürgespräche ergaben, dass für die eigene nicht nur eine Schicksalsaufgabe, sondern bietet auch Lebensqualität der Befragten soziale Ungleichheiten und Chancen. Indem den Menschen Geld bereitgestellt, regionale Exklusion gravierender sind als die menschen- Gestaltungsmacht gegeben und Gehör geschenkt wird, gemachte globale Erwärmung. Aufbauend auf den soll zum einen Vertrauen in den Prozess des Wandels authentischen Schilderungen und Perspektiven der gewonnen werden, und zum anderen sollen struktur- Befragten zu persönlichen, regionalen und nationalen schwache Regionen im Hinblick auf gleichwertige Lebens- Zukunftsfragen, entschlüsselt die Studie drei Deutungs- verhältnisse gestärkt werden. Es muss investiert werden, muster und entwickelt drei konkrete Handlungsempfeh- um die lokale Wirtschaft zukunftssicher zu machen und lungen. Sie schließt an die 2017 durchgeführte Untersu- klimaschonende Maßnahmen im Alltag der Bürger:innen chung „Die Rückkehr zu den politisch Verlassenen“ an, zu fördern. Neben gezielten Investitionen benötigen Men- die sich mit rechtspopulistischen Hochburgen in struktur- schen in den Regionen im Umbruch breite Mitsprache- schwachen Regionen beschäftigte. möglichkeiten, damit nicht die negativen Begleiterschei- nungen der Transformation, sondern die Chancen der DIE WICHTIGSTEN ERGEBNISSE Transformation zu ihrem Markenzeichen werden. Ein Ins- trument, das solche regionalen Wandlungsprozesse be- Die Welt, und damit auch Deutschland, steht vor einem gleiten kann, sind „Transformationscluster“. Wenn den fundamentalen Wandel, einer Großen Transformation. Menschen mehr Gehör geschenkt und Respekt entgegen- Das Anliegen der Studie ist es, Möglichkeiten aufzuzei- gebracht wird und ihre Lebensleistungen eine neue Wert- gen, wie von der Großen Transformation betroffene Men- schätzung erfahren, kann dies zusätzlich den demo- schen zu Mitgestalter:innen der Zukunft werden können. kratischen Aushandlungsprozess stärken. Denn der anstehende Umbruch stellt gerade die Bewoh- ner:innen strukturschwacher Regionen vor besondere ÜBER DIE STUDIE Herausforderungen. Aus der Perspektive der Befragten spielt bei den Aufgaben für das Land das Klima zwar eine Das Progressive Zentrum hat in Kooperation mit der Fried- sehr wichtige, wenn auch nicht dominante Rolle. Noch rich-Ebert-Stiftung über 200 Haustürgespräche in vier größere Sorgen bereiten den Menschen soziale Schiefla- strukturschwachen Regionen Deutschlands geführt. gen wie die soziale Spaltung, der mangelnde gesellschaft- Dabei ging es darum, sich einzulassen auf die selbstge- liche Zusammenhalt oder Ungerechtigkeiten innerhalb wählten Prioritäten in strukturschwachen Regionen, auf der Gesellschaft. Noch deutlicher werden die sozialen die Sichtweisen der Menschen und die sich daraus erge- Nöte mit Blick auf die regionale Situation: Hier zeigt sich benden Deutungsmuster des Wandels. Begleitet wurde die Angst vor einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale und die Studie von einer intensiven Forschungsstrategie. vor Perspektivlosigkeit, weil es schon jetzt an lokaler Infra- Hierzu wurden systematisch jene Menschen befragt, über struktur sowie Freizeit- und Kulturangeboten mangelt. die in der öffentlichen Debatte viel gesprochen wird, die Klima- und Umweltthemen spielen auf lokaler Ebene aber selbst nur selten zu Wort kommen. Die Gespräche kaum eine Rolle. Positiv fällt auf, dass die Demokratie fanden in Bitterfeld-Wolfen, Duisburg und Bochum sowie grundsätzlich von der Mehrheit der Befragten als „trans- im Regionalverband Saarbrücken und in Vorpommern- formationskompetent” wahrgenommen wird. Greifswald statt. Unser großer Dank gilt all jenen, die im Rahmen der Studie mit uns gesprochen haben. 3
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK 1 EINLEITUNG: HERAUSFORDERUNGEN DER GROSSEN TRANSFORMATION Zu den dringlichsten Aufgaben der Politik gehört die beklagen die anderen den anhaltenden Prozess von Gestaltung der Klimakrise – und zwar in einer Zeit, in der Erneuerung und Beschleunigung. Alles in allem war bis- die sozialen Ungleichheiten zugenommen haben und in lang bei den allermeisten strukturellen Wandlungsprozes- der Pandemie verstärkt sichtbar werden. Die Größenord- sen zu beobachten, dass relevante Teile gesellschaftlicher nung dieser gewaltigen kollektiven Herausforderung wird Gruppen sich dagegengestellt oder übergangen gefühlt durch eine Schätzung von KfW Research deutlich: Bis haben. Begreifen wir die Politik und die repräsentative 2045 muss Deutschland fünf Billionen Euro investieren, Demokratie als System, das legitimiert ist, einen Hand- um in den Bereichen Verkehr, Energie, private Haushalte, lungsrahmen zu definieren, so müssen deren Akteur:in- Landwirtschaft und Industrie Klimaneutralität zu errei- nen verschiedene Interessen und Bedürfnisse im Blick chen.1 Dies wird nur möglich sein, wenn wir uns zu grund- haben. Die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen soll- legenden Veränderungen durchringen können – in der ten für Entscheidungsträger:innen in der Politik hand- Produktion und am Arbeitsplatz, in unserer Mobilität, bei lungsleitend sein. Wenn den unterschiedlichen Lesarten Konsum und Wohnen, und zwar in sehr kurzer Zeit. Dann des Wandels und den Schutzbedürfnissen verschiedener würde die Große Transformation gelingen, von der der Gruppierungen unserer Gesellschaft nicht ausreichend Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Raum gegeben und eine angemessene Teilhabe garantiert Umweltveränderungen bereits 2011 sprach.2 Um diese wird, hat dies allzu oft gravierende politische und gesell- Transformation wird die Weltgesellschaft nicht mehr her- schaftliche Konsequenzen. umkommen, wenn sie keine katastrophalen Verwerfun- gen im Weltmaßstab riskieren will. Laut des Koalitionspa- Politisch wurde dies im Zusammenhang mit der Bundes- piers3 zwischen SPD, Grünen und FDP sind sich die Koali- tagswahl 2017 und dem Aufstieg der AfD auf exemplari- tionsparteien der Dimension der Aufgabe und ihrer sche Weise deutlich. Die Wahl stand im Zeichen der soge- Begleitumstände bewusst. An dem selbst gesteckten Ziel, nannten Flüchtlings- und Migrationskrise und der Frage, „die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologi- ob wir diese Krise als Gesellschaft meistern können. Die schen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen vom Progressiven Zentrum veröffentlichte Studie „Rück- Erneuerung [zu] stellen“,4 wird sich die neue Regierung kehr zu den Politisch Verlassenen“ (2018) kam durch messen lassen müssen. Haustürgespräche in strukturschwachen Regionen zu dem Ergebnis, dass sich viele Menschen von der Politik Für das Individuum ist tiefgreifender gesellschaftlicher verlassen fühlen.5 Als Erklärung für den Erfolg der Rechts- Wandel immer auch ein Auslöser von Unsicherheit. Wäh- populist:innen in strukturschwachen Regionen wurde in rend die einen Disruption und Innovation befürworten, der Studie eine vergleichende Abwertungslogik ausge- macht: Das Thema Migration wurde zwar als zentrale Her- ausforderung für das Land wahrgenommen, aber als die 1 Vgl. Christine Volk, KfW Research: Klimaneutralität bis Mitte des „größten Probleme“ in ihrem persönlichen Alltag benann- Jahrhunderts erfordert Investitionen von 5 Billionen EUR, 07. Oktober 2021, abrufbar unter: https://www.kfw.de/%C3%9Cber-die-KfW/ ten die Befragten soziale Missstände wie unsichere Newsroom/Aktuelles/Pressemitteilungen-Details_673344.html Arbeitsverhältnisse oder den Wegfall sozialer Infrastruk- 2 Vgl. WBGU, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große tur.6 Transformation. Hauptgutachten, Berlin 2011, abrufbar unter: https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/ hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf Neben der Verwirklichung konkreter wirtschaftlicher und 3 Vgl. SPD/BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN/FDP, Mehr Fortschritt wagen. industrieller Transformationsziele wird es darauf ankom- Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag men, die soziale, ökologische und ökonomische Dimen- 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), Berlin 2021, abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/ Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf 5 Siehe Johannes Hillje, Rückkehr zu den politisch Verlassen: Gespräche 4 Vgl. SPD/BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN/FDP, Ergebnis der Sondierungen in rechtspopulistischen Hochburgen in Deutschland und Frankreich, zwischen SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und FDP, Berlin 2021, Das Progressive Zentrum, Berlin 2018, abrufbar unter: abrufbar unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Sonstiges/ https://www.progressives-zentrum.org/die-verlassenen/ 20211015_Ergebnis_Sondierungen.pdf 6 Ebd., S. 20. 4
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION sion der Klimakrise als „elementaren Zusammenhang“ zu Diese Studie soll einen Beitrag dazu leisten, eine klimage- begreifen. Um einen neuen politisch ordnenden Rahmen rechte Wirtschaft mit den Menschen und ihren Bedürf- der bevorstehenden Großen Transformation hin zu einer nissen in Einklang zu bringen. Angesichts der Dringlichkeit klimaverträglichen und gerechten Zukunft zu schaffen, der Herausforderungen spielt die Gestaltungsfähigkeit müssen Normen und Gesellschaftsentwürfe in den Dis- der politischen Entscheider:innen dabei eine zentrale kurs einfließen, um den Menschen in Zeiten des Wandels Rolle. Doch bevor Politik demokratisch gestalten kann, Sicherheit und Halt zu geben. Dies setzt nicht nur eine muss sie zuhören. Demokratie ist immer auch das Ver- immense gesamtgesellschaftliche Koordination voraus, sprechen, dass Entscheidungen gemeinsam ausgehandelt sondern wirft auch zwangsläufig tiefgreifende soziale Fra- und langfristig ausbalanciert werden. Es gibt allerdings gen auf. Es wird darauf ankommen, jene Bürger:innen bei Räume, die von Entscheidungen anderer dominiert wer- diesem Umbruch mitzunehmen, die am gravierendsten den. Wir wollen in dieser Studie nicht „die Leute mitneh- von den materiellen und psychologischen Folgen des men“, wie es oft zu hören ist. Vielmehr wollen wir jene Wandels betroffen sind und sein werden. Das Gefühl Stimmen vernehmbar machen, die in den Talkshows und übergangen worden zu sein, muss der Gewissheit wei- Leitmedien der Republik, auf der politischen Bühne und in chen Mitzumachen. Dabei ist wichtig, nicht zuletzt jene wissenschaftlichen Diskursen zu wenig gehört werden – gesellschaftlichen Gruppen einzubinden, denen eine Stimmen, die sich zu den Wahrnehmungen und Ängsten, aktive Mitgestaltung an der Transformation subjektiv und aber auch zu den Hoffnungen zur Großen Transformation objektiv verwehrt ist – den Kohlekumpel, dem der Aus- äußern. Diese Stimmen machen deutlich, wie die Men- stieg viel zu schnell geht, oder die Klimaktivist:innen, die schen auf die künftigen Herausforderungen blicken, nach sich ein höheres Tempo beim Umbau wünschen. Gelingt welchen Maßstäben sie diese beurteilen und welche es den politischen Akteur:innen in den kommenden Jah- Aspekte für sie im Vordergrund stehen. Wer diese Stim- ren, durch Teilhabe und Mitwirkung das Spannungsfeld men außer Acht lässt, riskiert nicht nur, Teile der Bevölke- zwischen dem sozial-ökologischen Umbau und seinen rung nicht „mitzunehmen“, sondern auch gesellschaftli- sozialen Folgen aufzulösen, verfliegt womöglich auch der che Möglichkeitsräume und intellektuelle Anstöße unge- tiefsitzende, kollektive Pessimismus gegenüber der nutzt zu lassen. In Anbetracht der Tragweite der bevor- Zukunft.6 Das sollte das Ziel aller Demokrat:innen sein. stehenden gesellschaftlichen Veränderungen wird es einen pluralistischen Strauß an Ideen und Perspektiven brauchen. 7 Siehe Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, Frankfurt a. M. 2020; Deloitte, Global Millennial Survey: A „generation disrupted“, 2019, abrufbar unter: https://www2.deloitte.com/de/de/pages/innovation/ Das Anliegen der Studie ist es, Möglichkeiten aufzu- contents/millennial-survey-2019.html zeigen, wie Betroffene der Großen Transformation zu Mitgestalter:innen der Zukunft werden können. Aufbauend auf der Auswertung von über 200 Haustür- gesprächen, gibt die Studie Antworten auf die Frage, wie politische Akteur:innen auf die Bedürfnisse, Erfahrungen und Interessen der Bürger:innen in strukturschwachen Regionen eingehen können, um die Große Transforma- tion nicht nur zu bewältigen, sondern gemeinsam anzu- gehen. 5
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK 2 DIE GROSSE TRANSFORMATION: WARUM DEN STRUKTURSCHWACHEN REGIONEN ZUHÖREN? In der Geschichte der Menschheit gab es lediglich zwei Zweitens: Der Wandel wird gesellschaftliche Brüche pro- Umbrüche, die einer „Großen Transformation“ nahe kamen, duzieren. Dabei geht es vor allem um Fragen der Vertei- weil sie das Leben tiefgreifend, nachhaltig und radikal ver- lungsgerechtigkeit: Wer soll in welcher Form für die Kosten änderten: die Neolithische Revolution, die den Übergang aufkommen? Dass dabei immer noch regelmäßig das Ver- von der Jäger- und Sammler:innengesellschaft zur Agrar- ursacher- und das Solidarprinzip gegeneinander ausgespielt gesellschaft markiert, und die Industrielle Revolution. Die werden, zeigt, welche Wegstrecken noch vor uns liegen. in den letzten Jahrzehnten gewachsene Einsicht, dass die Schon jetzt zeichnen sich die Spannungen ab: natürlichen Ressourcen limitiert sind und das natürliche Gleichgewicht der Erde vulnerabel ist, hat Prozesse in Gang – zwischen verschiedenen Milieus – etwa zwischen dem gesetzt, die in der Summe eine weitere, dritte Große Trans- sozialökologischen und dem prekären Milieu, die zur formation erfordern.8 Bewältigung des Wandels auf unterschiedliche soziale, finanzielle und kulturelle Ressourcen zurückgreifen kön- Der Begriff „Große Transformation“ zeichnet sich aus nen und variierende Wertevorstellungen haben10, durch:9 – zwischen Stadt und Land – etwa in Fragen der infra- strukturellen Anbindung und individuellen Lebensfüh- – Dauer: Sie wird mehr als nur Jahre oder Jahrzehnte rung, brauchen. – zwischen verschiedenen Generationen – zum Beispiel – Vielgestaltigkeit: Wirtschaft und Technologie, Politik, im Hinblick auf das Rentenniveau, Ressourcenverbrauch, Gesellschaft und Kultur sind grundlegenden Veränder- Staatsverschuldung usw., ungen unterworfen. – zwischen kurz- und langfristigen Interessen – zum Bei- – Beispiellosigkeit: Es gibt keine Blaupause, kein Modell spiel im Hinblick auf Investitionen in Klimaschutzmaß- für den neuen Umbruch. nahmen versus Staatshilfen während akuter wirtschaft- – Asynchronität: Die Teiltransformationen verlaufen licher Krisen. unterschiedlich schnell und folgen eigenen Zeit- logiken. Diese Spannungen stellen hergebrachte politische Deutungs- – (Ko-)evolutorischer Charakter: Die Große Transfor- muster infrage und sparen praktisch keinen Aspekt des mation ist schwer von zentraler Stelle steuerbar, und individuellen und gesellschaftlichen Lebens aus. Hierzulande die Teilsysteme interagieren miteinander. Globale Ver- ist die Debatte vor allem geprägt durch die Energiewende, werfungen sind kaum vermeidbar. die Themen Nachhaltigkeit, demografische Entwicklung, Abwanderung im ländlichen Raum und Wohnraummangel Zwei Dinge sind dabei zu ergänzen. Erstens ist die Große in Städten sowie „Wohlstand ohne Wachstum“11, Immig- Transformation kein Schicksal. Sie bricht nicht einfach über ration und Mobilität. Wie unter einem Prisma zeigte sich die Menschheit herein. Sie ist menschengemacht. Das heißt dies im Vorfeld der Bundestagswahl 2021: auch: Sie ist eine Zukunftsaufgabe für alle, die teilhaben – insbesondere für jene progressiven gesellschaftlichen Nie zuvor erhielten die genannten Themen so viel Raum in Kräfte, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die fälligen Wahlprogrammen, Talkshows, Nachrichten und auf den Veränderungen proaktiv zu gestalten. Titelseiten. 8 Vgl. WBGU, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große 10 Vgl. SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, Informationen zu den Transformation. Hauptgutachten, Berlin 2011, abrufbar unter: SINUS-Milieus 2021, Heidelberg/Berlin 2021. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/ 11 Siehe Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum: Grundlagen für eine hauptgutachten/hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf zukunftsfähige Wirtschaft, München 2017; Meinhard Miegel, Exit: 9 Ebd. S. 87-91. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010; Niko Paech, Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München 2012; Maja Göpel, Unsere Welt neu denken: Eine Einladung, Berlin 2020; Harald Welzer/Klaus Wiegandt (Hg.), Wege aus der Wachstums- gesellschaft, Frankfurt a.M. 2013. 6
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION Was bisher fehlt, sind Lösungskonzepte in der Frage, wie Menschen (16 Prozent der Bevölkerung) leben in Gegenden, die Große Transformation sich in strukturschwachen Regi- die die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrem Disparitätenbericht onen gestalten lässt und wie dort soziale Ungleichheiten als „städtisch geprägte Regionen im andauernden Struktur- ausbalanciert und neue Potenziale nutzbar gemacht werden wandel“ und als „ländlich geprägte Räume in der dauer- können. Aber warum ist das wichtig? haften Strukturkrise“ bezeichnet – sprich: in strukturschwa- chen Regionen.15 VON BETROFFENEN ZU GESTALTENDEN: DAS BEFÄHIGUNGS-ARGUMENT STRUKTURSCHWACH UND ERFAHRUNGS- STARK: DAS POTENZIAL-ARGUMENT Hierbei geht es gerade nicht um die Einstellungen jener, die bisweilen als „Prekariat“, „sozial schwach“ oder als Wir gehen davon aus, dass strukturschwache Regionen „Unterschicht“ bezeichnet werden, sondern vielmehr um besonders intensiv von der Großen Transformation betrof- die Menschen, die im strukturschwachen Raum leben – ganz fen sein werden, da sie sich weniger flexibel und wettbe- gleich, ob es sich um wohlhabende oder bedürftige, um werbsfähig darstellen als boomende Regionen und – dies berufstätige oder erwerbslose Menschen handelt. Denn es ist besonders wichtig – ihre gegenwärtige Strukturschwä- sind die strukturschwachen Regionen an sich, die einerseits che häufig das Ergebnis einer schon länger währenden von der Großen Transformation betroffen sein dürften und Abwärtsspirale ist. Mitunter fuhren in der Vergangenheit andererseits in der Debatte nicht vorkommen. Der Diskurs ganze Industriezweige wegen mangelnder Wettbewerbs- wird vom urbanen, kosmopolitischen Raum dominiert, der fähigkeit, geringer Innovationskraft, wegen des allgemeinen jedoch die Probleme vielfach nicht aus eigener Anschauung Strukturwandels oder großflächiger Systembrüche wie in und Erfahrung kennt, und sich seine Zusammenhänge selbst Ostdeutschland ihre Arbeit in Regionen, die komplett von konstruiert – und sogar dies oft nur in begrenztem Maße. ihnen abhängig waren, herunter. Das hatte weitreichende Folgen: wegbrechende Steuereinnahmen, der kulturelle Demokratie beinhaltet das Versprechen, dass Entscheidun- Wandel am Arbeitsplatz und im Privaten, Arbeitslosigkeit, gen in der Gesellschaft gemeinsam und nach fairen Regeln Mangel an Perspektiven, Abwanderung und – daraus resul- ausgehandelt werden. Bei der Schaffung von Hand- tierend – weniger Investitionen. In letzter Konsequenz lungsrahmen oder Verhaltensregeln müssen die büßten die betroffenen Regionen dadurch ihre Attraktivität Betroffenen eingebunden werden, wie dies in der für neue Wirtschaftszweige oder potenziell Zuziehende aktivistischen Formel „Nothing about us without us“ ein. Für die kommenden Herausforderungen ist der struk- zum Ausdruck kommt. Dieses demokratische Versprechen turschwache Raum somit wohl denkbar schlecht gerüstet. des gleichen und gerechten Zugangs zur Zukunftsgestaltung Hoher Altersdurchschnitt, negative Wanderungsbilanz, und -entscheidung wird jedoch nicht immer eingelöst. Es unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau, schwache braucht glaubwürdige physisch-reale und repräsentative wirtschaftliche Leistungskraft, mangelhafte öffentliche Entscheidungsräume für diejenigen, die in besonderem Anbindung und geringe Attraktivität für potenzielle Inves- Maße von der Transformation betroffen sind oder sein tor:innen geben den Rahmen für künftige Entwicklungen werden. Das beugt sozialem und politischem Vertrauens- vor. Der Teil der Bevölkerung, der von der Großen Trans- verlust vor und könnte die gesellschaftlichen Konflikte formation wenig zu erhoffen, aber viel zu befürchten hat, zwischen TANs und GALs,12 zwischen Kommunitarist:innen konzentriert sich vor allem im strukturschwachen Raum. und Kosmopolit:innen,13 zwischen Somewheres und Anyw- heres entschärfen.14 Denn wenn die Große Transformation Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite hat der struk- gelingen soll, müssen die sozialen Disparitäten abgefedert turschwache Raum nicht selten erhebliche Transformations- werden. Wie soll es möglich sein, diese Disparitäten zu erfahrungen, an die sich anknüpfen lässt. Die betreffenden identifizieren, ohne die Betroffenen anzuhören? Wie sollen Regionen sind also nicht bloß strukturschwach, sondern sie nachhaltig und sozialverträglich gelöst werden, wenn auch erfahrungsstark. Schwierigkeiten, die künftig auch die „Betroffenen“ nicht zu „Gestaltenden“ werden? Hier andere Regionen betreffen könnten, wie der demografische setzt die Studie an, auch weil die Große Transformation Wandel und Probleme der infrastrukturellen Vernetzung, nicht nur eine Herausforderung und Bewährungsprobe für sind hier längst Realität, ebenso der Umgang mit diesen die Demokratie ist, sondern sich auch maßgeblich im struk- Schwierigkeiten. Was lief rückblickend gut, was schlecht? turschwachen Raum entscheidet: Mehr als 13 Millionen Welche Verfahren und Ressourcen braucht es vor Ort? Welche Problemlösungen haben sich als erfolgreich erwie- sen? Hier genau hinzuhören, kann sich für die Weiterent- 12 GAL steht für „Grün-Alternativ-Liberal“, TAN für „Traditionalistisch- wicklung der eigenen Region, aber auch für andere Regio- Autoritär-Nationalistisch“; siehe Lisbeth Hooghe/Gary Marks, Cleavage nen in Deutschland und Europa lohnen. Hinzu kommt, dass Theory Meets Europe’s Crises: Lipset, Rokkan, and the Transnational Cleavage, in: Journal of European Public Policy 25 (2018) 1, S. 109-135. 13 Siehe Wolfgang Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst/Ina Kubbe/ Thomas Poguntke (Hg.), Parties, Governments and Elites. The 15 Siehe Philipp Fink/Martin Hennecke/Heinrich Tiemann, Ungleiches Comparative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9-23. Deutschland. Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2019. Für ein 14 Siehe David Goodhart, The Road to Somewhere: The Populist Revolt besseres Leben, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2019, S. 8, abrufbar and the Future of Politics, London 2017. unter: http://library.fes.de/pdf-files/fes/15400-20190528.pdf 7
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK solche Regionen trotz ihrer Strukturschwäche durchaus Summa summarum kann der strukturschwache Raum Potenzial haben. Der Zusammenbruch alter Strukturen hat in mancherlei Hinsicht eine Pionierregion sein, die brachliegende Flächen hinterlassen; Wohnungen und sowohl eine eigene Sicht auf künftige Herausforde- Arbeitskräfte sind günstiger als in Boomregionen, und die rungen als auch abrufbare Transformationserfahrun- Regeldichte wird mitunter durch eine großzügigere Aus- gen mitbringt. Dies muss sich in der Debatte um die Große legung seitens der Verwaltung abgemildert. Das kann die Transformation stärker widerspiegeln als bislang. wirtschaftliche Attraktivität der Regionen durchaus erhöhen, wie die Tesla-Gigafactory im märkischen Grünheide zeigt. ABB. 1 MITTELWERT LÄNDL. GEPRÄGTER RÄUME Strukturschwache Regionen im Überblick IN DAUERHAFTER STRUKTURKRISE Anteil hochqualifizierter Beschäftigter: 10,5 % Städtisch geprägte Regionen Kinderarmut: 15,5 % in andauerndem Strukturwandel Bruttogehälter: 2.464 EUR Wahlbeteiligung: 72 % Ländlich geprägte Regionen Binnenwanderung: -213,4 Personen je 100 Tsd. Einw. in dauerhafter Strukturkrise Befragungsregionen BUNDESMITTELWERTE (ALLER KREISE IN DEUTSCHLAND) Anteil hochqualifizierter Beschäftigter: 13,5 % Kinderarmut: 12,8 % Bruttogehälter: 3.148 EUR Wahlbeteiligung: 75,9 % Binnenwanderung: -1,1 Personen je 100 Tsd. Einw. MITTELWERT STÄDTISCH GEPRÄGTER REGIONEN IM ANDAUERNDEN STRUKTURWANDEL Anteil hochqualifizierter Beschäftigter: 13,4 % Kinderarmut: 27,2 % Bruttogehälter: 3.190 EUR Wahlbeteiligung: 71,8 % Binnenwanderung: -249,5 Personen je 100 Tsd. Einw. Eigene Darstellung. Quelle: Philipp Fink/Martin Hennecke/Heinrich Tiemann, Ungleiches Deutschland. Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2019. Für ein besseres Leben (Friedrich-Ebert-Stiftung), Bonn 2019 (auf Basis der Daten von: Bundesagentur für Arbeit, Statistischens Bundesamt, Bundesinstitut für Bau, Stadtund Raumforschung, Bundes- ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, ThünenInstitut, Wegweiser Kommune der Bertelsmann Stiftung, FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Bundesamt für Kartografie und Geodäsie, GeoBasisDE/BKG 2018). 8
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION 3 ZUR STUDIE Meinungserhebungen zu Teilaspekten des Wandels sind in and Poking“16 nannten – also so etwas wie ein „Sich-im- aller Regel teil- oder vollstandardisierte Bevölkerungsum- Forschungsgegenstand-Suhlen“. Aus diesem Grund sind fragen auf Stichprobenbasis, weil sie ein auf die Allgemein- wir mit einem kleinen und motivierten Team für die Daten- heit übertragbares („repräsentatives“) Meinungsabbild der erhebung ins Feld gezogen. Gesellschaft liefern sollen. Der Nachteil solcher Stimmungs- bilder ist, dass Neues, Ungewohntes und Ungeahntes im Dies geht mit einer gewissen Systematisierung der Befunde Einstellungshaushalt der Menschen zu wenig in die Betrach- einher, denn eine Aneinanderreihung von Einzelfallstudien tung eingeht. ergibt noch kein Gesamtbild. Daher wurden die individu- ellen Aussagen der über 200 Befragten vor der Datenana- Die vorliegende Studie folgt einem anderen Impuls: Ihr lyse inhaltlich geclustert mit der Maßgabe, ähnliche Ein- Anliegen ist es, sich einzulassen auf die selbstgewählten stellungen zusammenzufassen und unähnliche voneinander Prioritäten in strukturschwachen Regionen, auf die Deu- zu trennen. tungen der Menschen und die sich daraus ergebenden Deutungsmuster des Wandels. Begleitet wird sie von einer Die Interviewpartner:innen wurden dreistufig ausgewählt: intensiven Forschungsstrategie. Dies erfordert das, was Im ersten Schritt ging es darum, strukturschwache Regio- Gary King, Robert Keohane und Sidney Verba einst „Soaking nen in Deutschland zu identifizieren. Dabei orientierte sich die Studie hauptsächlich am Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung.17 Dieser unterteilt kreisfreie Städte und Landkreise in fünf Raumtypen aufgrund von: – Wirtschaft, Beschäftigung, Arbeitsmarkt (Anteil hoch- qualifizierter Beschäftigter), – Bildungs- und Lebenschancen (Altersarmut, Kinderar- mut), – Wohlstand und Gesundheit (Lebenserwartung, Erreich- barkeit von Hausärzt:innen, Bruttogehälter), – Staatlichem Handeln und Partizipation (kommunale Schulden, Wahlbeteiligung), – Binnenwanderungen (Gesamtwanderungssaldo). Ergänzend wurde die Studie „Innovationsbasierter regio- naler Strukturwandel – Strukturschwache Regionen in Deutschland“ des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung herangezogen, die als Kriterien für die Einteilung der Räume die Arbeitslosenquote (2015), das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem (2015), die priva- 16 Gary King/Robert O. Keohane/Sidney Verba, Designing Social Inquiry. Scientific Inference in Qualitative Research, Princeton 1994, S. 38. 17 Siehe Philipp Fink/Martin Hennecke/Heinrich Tiemann, Ungleiches Deutschland. Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2019. Für ein besseres Leben, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2019, abrufbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/fes/15400-20190528.pdf 9
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK Tabelle 1 Übersicht zu den Befragungsregionen18 BEFRAGUNGSORT EINHEIT BUNDESLAND PRÄGUNG REGION INTERVIEWS Bitterfeld-Wolfen Mittelstadt Sachsen-Anhalt eher ländlich Ost 52 Duisburg und Bochum Großstadt Nordrhein-Westfalen nicht-ländlich West 55 Regionalverband Saarbrücken Regionalverband Saarland nicht-ländlich Südwest 56 Vorpommern-Greifswald Landkreis Mecklenburg-Vorpommern ländlich Nordost 54 Summe: 217 ten und öffentlichen FuE-Ausgaben pro Einwohner:in (2013), Ausmaß an Umweltverschmutzung22 und nach der Wieder- die Anzahl der Pendler:innen im Verhältnis zur Einwoh- vereinigung unter massiven wirtschaftlichen Einbrüchen ner:innenzahl (2013) und den Anteil industrieller Brutto- litt. Die Hoffnungen auf einen Wirtschaftsschub, den das wertschöpfung am BIP (2015) verwendet.19 „Solar Valley“ Deutschlands Anfang der 2000er Jahre weckte, wurden alsbald enttäuscht. Viele Menschen und Um Verzerrungen durch die Fallauswahl zu minimieren, die Region selbst durchlebten zwei Deindustrialisierungs- wurden zudem städtische wie auch ländliche20 und ost- wie prozesse – einen nach der Wiedervereinigung und einen westdeutsche Regionen berücksichtigt, denn das Ziel war in den 2000er-Jahren, als die chinesische Solarindustrie die eine Studie zu den strukturschwachen Regionen und nicht deutsche Konkurrenz ausstach.23 Nicht zuletzt angesichts zum Osten Deutschlands oder zum ländlichen Raum. der anhaltend düsteren wirtschaftlichen Perspektiven wird für die Region künftig ein deutlicher Bevölkerungsrückgang Im zweiten Schritt wurden bei der Auswahl konkreter Stra- erwartet. ßenzüge und Befragungsorte Indikatoren der Struktur- schwäche einbezogen (zum Beispiel die Arbeitslosenquote, In Duisburg lagen die Schwerpunkte auf den Stadtteilen der Anteil an SGB-II-Empfänger:innen, Alters- und Kinder- Marxloh, Hüttenheim, Bruckhausen und Meiderich-Beeck:24 armut sowie der Anteil an Hochqualifizierten am Arbeitsort). Es handelt sich zum Teil um Stadtteile, gekennzeichnet In Rechnung gestellt wurden zudem die aktuellen politischen durch soziale Probleme (etwa hohe Anteile an Sozialhilfe- und industriellen Dynamiken vor Ort sowie die industrie- bezügen, Arbeitslosigkeit und Migration), demografische politische Historie (etwa Fabrikschließungen, Globalisie- Entwicklungen (Fortzug) und besondere wirtschaftliche rungs- und Transformationserfahrung, industrieller Verfall, Rahmenbedingungen (industrielle Prägung, teilweise aus- Abhängigkeit von fossilen Industriezweigen) und Hinweise bleibende Investitionen). Erschwerend kommen einzelne lokaler Expert:innen, die über umfassende Regionalkennt- einschneidende Ereignisse hinzu, wie die Schließung des nisse verfügen (etwa Kommunalpolitiker:innen). Auf diese Thyssen-Krupp-Grobblechwerks im Stadtteil Duisburg-Hüt- Weise wurden vier Regionen ausgewählt. tenheim,25 der auf eine lange Tradition als Arbeitersiedlung zurückblickt. Die Bewohner:innen sind überdurchschnittlich Der Befragungsort Bitterfeld-Wolfen21 umfasst die häufig von niedrigen Einkommen, Integrationsdefiziten, Gemeinden Bitterfeld, Wolfen, Greppin, Holzweißig und Arbeitslosigkeit und geringem Sozialkapital betroffen. Die Thalheim. Es handelt sich hierbei um das sogenannte frühere Stadtteile Bochum-Riemke (früheres Steinkohlegebiet) und „Chemiedreieck der DDR“, einen der ältesten Chemiestand- Bochum-Laer (Schließung des Opel-Werks 2014) erwiesen orte Europas, der zu DDR-Zeiten berüchtigt war für sein sich aufgrund der dortigen Veränderungen ebenfalls als wichtige Befragungsorte. 18 Zwei Interviews wurden in der Region Zeitz durchgeführt. Sie waren Teil der Auswertung, wurden als Region jedoch nicht gesondert aufgeführt. 22 Siehe etwa den in der DDR illegal gedrehten 30-minütigen Dokumentar- 19 Siehe Knut Koschatzky/Henning Kroll, Innovationsbasierter regionaler film „Bitteres aus Bitterfeld: Eine Bestandsaufnahme“ von 1988 sowie Strukturwandel – Strukturschwache Regionen in Deutschland. Monika Maron, Flugasche, Frankfurt am Main 1981. Fraunhofer ISI Arbeitspapiere Unternehmen und Region Nr. R1/2019, 23 Siehe Andrea Brock/Benjamin K. Sovacool/Andrew Hook, Volatile Karlsruhe 2019, abrufbar unter: https://www.isi.fraunhofer.de/content/ Photovoltaics: Green Industrialization, Sacrifice Zones, and the Political dam/isi/dokumente/ ccp/unternehmen-region/2019/ap_r1_2019.pdf Ecology of Solar Energy in Germany, in: Annals of the American 20 Siehe die Differenzierung der Kreisregionen anhand der Dimension Association of Geographers 2021, S. 1-23. „Ländlichkeit“ in: Thünen-Institut für Ländliche Räume (Hg.), Thünen- 24 Vgl. Stadt Duisburg, Sozialbericht 2012 Stadt Duisburg. Schwerpunktthema: Landatlas Ausgabe 30/07/2021, Braunschweig 2021, abrufbar unter: Prekäre Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, Duisburg 2013. https://karten.landatlas.de/app/landatlas/, https://literatur.thuenen.de/ 25 Vgl. WDR, Duisburg: Thyssen-Krupp bereitet Schließung von Grobblech- digbib_extern/dn057783.pdf werk vor, 14. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www1.wdr.de/ 21 Die nachfolgend zitierten sozialstrukturellen Daten wurden entnommen nachrichten/ruhrgebiet/grobblechwerk-hyssen-duisburg-100.html aus: Bertelsmann Stiftung, Wegweiser Kommune, abrufbar unter: https://www.wegweiser-kommune.de/ 10
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION Im Regionalverband Saarbrücken, gekennzeichnet durch der Polstermöbelfabrik 202131) und in Wolgast (höchster eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, wurden Anteil an Kinder- und Jugendarmut sowie an SGB-II-Emp- insbesondere die Saarbrücker Stadtteile Burbach (höchster fänger:innen im Landkreis). Anteil an SGB-II-Empfänger:innen der Stadt) 26 und Brebach (Schließung der Gusswerke von Halberg Guss im Sommer Bei der Auswahl der Befragten – dies war der dritte Schritt 2020) 27 sowie das Dreieck Quierschied-Sulzbach-Friedrichs- – wurde dezidiert auf ein ausgewogenes Verhältnis der thal (geprägt durch Montan- und Automobilindustrie, Geschlechter, Altersgruppen und Wohnsituationen (Bewoh- Abwanderung, Überalterung) berücksichtigt. Es handelt ner:innen von Ein- und Mehrfamilienhäusern) geachtet: sich mithin um Orte, die innerhalb des strukturwandeler- Zwischen dem 31. Mai und dem 23. Juni 2021 nahmen fahrenen Saarlandes besonders zu kämpfen haben – und insgesamt 106 Frauen (48,4 Prozent), 107 Männer (49,8 zwar konkret mit dem nahezu zeitgleichen Bedeutungsver- Prozent) sowie eine sich als divers bezeichnende Person lust von Bergbau, Stahlindustrie und Automobilbau.28 (0,4 Prozent) teil; drei Personen (1,4 Prozent) machten keine Angaben zum Geschlecht. Das Durchschnittsalter der 217 Die Interviewer:innen in Vorpommern-Greifswald befrag- Befragten betrug 48,6 Jahre; 106 Interviews entfielen auf ten Menschen vorrangig in Pasewalk (Insolvenz der Fleisch den Osten, 111 auf den Westen; 44 Personen (20,3 Prozent) und Wurstwaren GmbH 201729), in Torgelow (höchster wiesen einen Migrationshintergrund auf; 75 Menschen Anteil an Haushalten mit niedrigen Einkommen und Alters- (34,6 Prozent) wohnten in einem Einfamilienhaus, 93 (43,2 armut sowie niedrigster Anteil an Hochqualifizierten im Prozent) in einem Mehrfamilienhaus, 18 (8,3 Prozent) in Landkreis; zudem Insolvenz der Eisengießerei 2020 30 und einem großen Wohnblock/Plattenbau. Bei den Bildungs- abschlüssen dominierten die abgeschlossene Ausbildung (92 bzw. 42,4 Prozent), der Hauptschulabschluss (29 und 26 Vgl. Regionalverband Saarbrücken, Sozialbericht 2016, Saarbrücken 13,4 Prozent) und das Diplom/der Bachelor (28 bzw. 12,9 2017, abrufbar unter: https://www.regionalverband-saarbruecken.de/ Prozent). fileadmin/RVSBR/Soziales/Sozialbericht_2016.pdf 27 Vgl. Volker Meyer zu Tittingdorf, Gusswerke Saarbrücken werden Ende Juni geschlossen, 03. Juni 2020, abrufbar unter: https://www.saarbruecker- zeitung.de/saarland/saar-wirtschaft/brebacher-giesserei-gusswerke- 31 Vgl. Christian Johner, Mutterkonzern will Torgelower Polstermöbel saarbruecken-werden-ende-juni-geschlossen_aid-51456603 endgültig schließen, 04. März 2021, abrufbar unter: 28 Vgl. Wolfgang Wirtz-Nentwig, Fiesta war einmal, 17. November 2020, https://www.nordkurier.de/ueckermuende/torgelower-polstermoebel- abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/autogipfel- stehen-vor-dem-aus-0442653503.html saarland-101.html 29 Siehe Rainer Marten, Was wird aus Pasewalks großem Fleischbetrieb?, 20. August 2019, abrufbar unter: https://www.nordkurier.de/pasewalk/ was-wird-aus-pasewalks-grossem-fleischbetrieb-2036487008.html 30 Vgl. NDR, Eisengießerei Torgelow: Geschäftsführer optimistisch, 03. April 2021, abrufbar unter: https://www.ndr.de/nachrichten/ mecklenburg-vorpommern/Eisengiesserei-Torgelow-Geschaeftsfuehrer- optimistisch,eisengiesserei138.html 11
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK 4 ERGEBNISSE Im Zuge der 217 Interviews wurden in den vier Regionen mit der Bekämpfung des Klimawandels, insbesondere mit zehn offene Fragen zur persönlichen, regionalen und der Dekarbonisierung des Wirtschafts- und Energiesektors. gesamtgesellschaftlichen Zukunft gestellt. Es ging dabei Einerseits verbindet sich dies häufig mit der Forderung nach um Wünsche und Sorgen, aber auch um die Wahrnehmung umfangreichen staatlichen Maßnahmen und aktiver Ver- der Problemlösungsfähigkeit von Politik (siehe Fragebogen antwortungsübernahme vonseiten der Politik. Andererseits im Anhang) 32 . Erwartungsgemäß waren die Antworten so wird auch immer wieder die Forderung erhoben, dass wegen heterogen wie der Kreis der Teilnehmer:innen. Die vielen befürchteter wirtschaftlicher Einbußen auf nationaler Ebene Antworten lassen sich gleichwohl zu einigen wenigen Deu- vor allem stärkere internationale Anstrengungen unter- tungsmustern verdichten, welche die zentralen Aussagen nommen werden sollten. enthalten. Das erste Deutungsmuster bezieht sich auf das Hier und Jetzt. In der Gegenwart weisen die Deu- tungen der Großen Transformation auf eine Diskrepanz zwischen der erkannten grundsätzlichen Dringlichkeit von „Klimawandel schon, finde ich, Klimapolitik einerseits und lokalen Sorgen andererseits hin, […] vielleicht die wichtigste Frage. die vor allem von sozialen Nöten geprägt sind (4.1). Dass Aber dann müssen wir nicht nur Deutschland die Menschen die ökologische Krise anerkennen, bedeutet nicht, dass sie ihr auch im Alltagskontext hohe Priorität umkehren. Haben wir nicht dieses Pariser einräumen. Das zweite Deutungsmuster blickt in die Klimaabkommen? Da müssen sich doch Zukunft und verweist auf den langen Schatten bis- alle dran halten. Gemeinsam an einem heriger Transformationserfahrungen, der auch die Interpretation der künftigen Herausforderungen Strang ziehen, das ist wichtig.“ prägt: Soziale Aspekte dominieren demnach die Interpre- - MANN (36) AUS PASEWALK tation der Großen Transformation (4.2). Das dritte Deu- tungsmuster richtet den Fokus auf den Prozess und lässt neben einem prinzipiellen Vertrauen in die Demokratie eine Grundskepsis gegenüber politischen Zugleich korrespondiert die Bedeutung, die dem Thema Entscheidungsträger:innen erkennen (4.3). Alle drei Klimaschutz auf nationaler Ebene beigemessen wird, nicht identifizierten Deutungsmuster des Wandels sind also von mit der lokalen oder regionalen Perspektive. Hier dominiert Ambivalenz gekennzeichnet. 4.1 DIE GEGENWART: DIE KLIMAKRISE IST EIN PROBLEM, ABER UNS DRÄNGEN HIER SOZIALE NÖTE Die Daten zeigen, dass die Klimakrise auch die Bewoh- ner:innen strukturschwacher Räume durchaus beschäftigt und von diesen als eine der wichtigsten kollektiven Heraus- forderungen gesehen wird. Gefragt nach den größten Herausforderungen Deutschlands, nennt gut ein Viertel der Befragten in den vier Regionen den Klima- und Umwelt- schutz (s. Abb. 2). Für die meisten ist dieser gleichbedeutend 32 Abrufbar auf der Projektwebseite unter: https://www.progressives-zentrum.org/die-übergangenen/. 12
ZUR BEDEUTUNG REGIONALER PERSPEKTIVEN FÜR DIE GROSSE TRANSFORMATION ABB. 2 Die großen Herausforderungen der Zukunft* von 217 Befragten Soziale Herausforderungen 62 (28,6 %) Umwelt- und Klimaschutz 59 (27,2 %) Wirtschaftliche Zukunft Deutschland 48 (22,1 %) Immigration 30 (13,8 %) Sonstiges 27 (12,4 %) 70 0 10 20 30 40 50 60 Anzahl der Nennungen *Die 5 meistgenannten Antworten eine tief verwurzelte Furcht davor, dass die eigene Region Doch woran liegt das? Hier handelt es sich zum einen um wirtschaftlich, infrastrukturell und demografischen abge- ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. So führte das Thema hängt wird (siehe 4.2). Das Stichwort „Klima“ wird kein Klima/Umwelt beispielsweise in einer repräsentativen einziges Mal genannt, und der Begriff „Umwelt“ wird Umfrage von infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend lediglich vereinzelt von Bewohner:innen des Bitterfelder bei der Frage nach dem wichtigsten politischen Problem in Stadtteils Thalheim verwendet, die sich vor belastenden Deutschland mit 33 Prozent den ersten Platz der Rangliste Schadstoffeinträgen der örtlichen Industrie fürchten. Auch an.33 Eine weitere Umfrage der Mannheimer Forschungs- bei der Frage, was sich die Menschen in Zukunft für ihre gruppe Wahlen im Auftrag des ZDF Politbarometers ergab Region wünschen, finden Klima und Umwelt kaum Beach- in einem nahezu identischen Erhebungszeitraum, dass tung. Stattdessen dominieren grundlegende Lebensbedürf- soziale Gerechtigkeit mit 51 Prozent als wichtigstes Thema nisse, wie eine bessere Nahverkehrsanbindung, der Ausbau für die eigene Wahlentscheidung angesehen wird.34 Mit der lokalen Infrastruktur oder die Wiederbelebung von deutlichem Abstand rangiert der Klimaschutz auf Platz zwei örtlichen Kultur- und Freizeitangeboten. (39 Prozent). Auch hier wird also deutlich: Der Klimawandel beschäftigt die Deutschen, ist aber im engeren Alltagsum- Es besteht also eine beträchtliche Diskrepanz zwischen feld der Wähler:innen nur teilweise relevant. kollektiv-(inter)nationaler und persönlich-regionaler Problemwahrnehmung; dem Klimawandel und Zum anderen dürfte sich die Diskrepanz zwischen kollektiv- Umweltschutz wird auf unterschiedlichen Ebenen eine (inter)nationaler und persönlich-regionaler Einordnung der divergierende Priorität und Dringlichkeit beigemessen. Klima- und Umweltkrise durch die Auswahl der Zielregionen erklären. Aus Sicht der Bewohner:innen strukturschwacher Räume prägt die regionale Ausgangslage, die seit Jahren Unterscheiden sich die Antworten in den vier Befragungsregionen? oder gar Jahrzehnten von anhaltendem Wandel und tief- Als größte Herausforderung der Zukunft werden in Bitterfeld-Wol- greifenden sozioökonomischen und demografischen Ver- fen und Duisburg/Bochum soziale Themen wahrgenommen; im Re- gionalverband Saarbrücken und Vorpommern-Greifswald dominiert werfungen gekennzeichnet ist, die eigene Transformations- dagegen der Umwelt- und Klimaschutz. Die meistgenannte regional- bezogene Zukunftssorge ist in allen vier Regionen die Angst davor, als Region abgehängt zu bleiben. Am stärksten ausgeprägt ist diese Sorge in Vorpommern-Greifswald (72 %), am wenigsten im Regio- 33 Vgl. infratest dimap, Eine repräsentative Studie zur politischen Stimmung nalverband Saarbrücken (43 %). In Vorpommern-Greifswald wurde im Auftrag der ARD-Tagesthemen und der Tageszeitung DIE WELT, der Wunsch nach mehr Kultur- und Freizeitangeboten am häufigsten Berlin, September 2021, Erhebungszeitraum: 30. August bis 01. Septem- genannt, in Bitterfeld-Wolfen und Saarbrücken wünscht man sich ber 2021, S. 10., abrufbar unter: https://www.infratest-dimap.de/ vor allem mehr öffentliche Infrastruktur. Das vorbehaltlose Vertrauen fileadmin/user_upload/DT2109_Bericht.pdf in die Demokratie ist in Vorpommern-Greifswald am schwächsten 34 Vgl. ZDF-Politbarometer, SPD überholt nach 19 Jahren wieder die Union, und in Bitterfeld-Wolfen am stärksten ausgeprägt; auf den Reform- online 03.09.2021, Erhebungszeitraum: 31. August bis 02. September bedarf der Demokratie wird in Vorpommern-Greifswald am häu- 2021, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ figsten verwiesen. politbarometer-bundestagswahl-spd-union-100.html?slide= i 20210902-0618-04-1024 13
STUDIE: DIE ÜBERGANGENEN – STRUKTURSCHWACH & ERFAHRUNGSSTARK perspektive auf Gegenwart und Zukunft. Vereinfacht gesagt: Überhaupt dominierten Überlegungen zu sozialen Ungleich- Die bestehenden Defizite prägen die Wahrnehmung der heiten auch andere Teile der Haustürgespräche. So stehen bevorstehenden Transformation. Solange die grundlegenden bei der Frage nach den Dingen, die in Deutschland momen- Lebensbedürfnisse in diesen Regionen nicht gesichert sind, tan nur unzureichend funktionieren, mit 52 Nennungen an erscheinen Klima- und Umweltschutz zweitrangig. Damit erster Stelle die soziale Spaltung, der mangelnde gesell- bestätigt die Studie ältere soziologische Befunde zum post- schaftliche Zusammenhalt und Ungerechtigkeiten innerhalb materialistischen Wertewandel, die auf der Idee der Bedürf- der Gesellschaft. Die Menschen haben Angst davor, dass nishierarchie aufbauen.35 Versinnbildlicht lässt sich diese sie „sich [...] noch einen zweiten Job suchen [müssen], um gleichzeitige Anerkennung und Relativierung von Klima- über die Runden zu kommen“, dass sie „zum Sozialamt politik in der schlichten Erkenntnis zusammenfassen: Die gehen“ müssen (Frau [55] aus Wolfen), und dass „der Unter- Klimakrise ist ein Problem, aber uns drängen hier schied zwischen denen, die um den Mindestlohn kämpfen, soziale Nöte. und denen, die das große Geld machen“ (Mann [ 67] aus Wolfen), zu groß ist, und „dass man, wenn man ein Haus Für wichtiger als den Klimawandel halten die Interviewpart- kaufen möchte, [...] einen Kredit aufnehmen muss. Man ner:innen bei der Frage nach Deutschlands größten Heraus- muss sich irgendwie verschulden und kann nicht auf Kapi- forderungen das Thema soziale Gerechtigkeit. Die genann- tal zurückgreifen“ (Frau [ 24] aus Quierschied). Auf die ten Sorgen sind allerdings vielfältig. Sie reichen von man- Frage, was ihre erste Amtshandlung wäre, gingen sie in die gelnder gesellschaftlicher Anerkennung über wachsende Politik, äußerten die weitaus meisten die Absicht, soziale finanzielle Ungleichheit bis hin zu Altersarmut; auch die Unterschiede durch eine aktive Umverteilungspolitik abzu- Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes wird genannt. bauen (88 Nennungen), wobei die vorgeschlagenen Maß- Die Problematik berührt vor allem Gerechtigkeitsfragen. nahmen sehr heterogen waren. Sie umfassten unter ande- „Die Spanne zwischen Arm und Reich“ (Frau [45] aus Quier- rem die Erhöhung des Mindestlohns, eine Angleichung des schied) wird in den Augen vieler immer größer, in der Selbst- Lohngefälles zwischen den alten und neuen Bundesländern, ständigkeit ist es „ein ewiger Kampf, man zahlt zu viele einen Generationenvertrag, ein Grundeinkommen, eine Abgaben“ (Frau [54] aus Friedrichsthal), und beim Thema Reichensteuer beziehungsweise Steuerreform sowie mehr Altersvorsorge „werden viele vergessen, die ihr ganzes Unterstützung für Familien und die Pflege. Leben gearbeitet haben“ (Frau [65] aus Bitterfeld). Besonders hervorzuheben ist also: Gegenwärtig wird die Der bisherige Befund erweckt womöglich einen falschen soziale Spaltung in Deutschland von vielen Menschen in Eindruck: Soziale und materielle Herausforderungen sind den strukturschwachen Regionen als großer Missstand für die Befragten nämlich im Grunde noch wichtiger, als betrachtet – als ein Missstand, der sich infolge der Großen die bloßen Zahlen suggerieren. Die Menschen scheinen Transformation in Zukunft noch verschärfen könnte und genau zu hinterfragen, wie sich politische Entscheidungen von dem sie selbst zum Teil persönlich betroffen sind. Das auf die eigene materielle Zukunft, aber auch auf die soziale treibt die Menschen um – augenscheinlich mehr als der Gerechtigkeit im Land auswirken. Vor allem die manifeste Klimawandel. Und der Klimaschutz wird augenblicklich Angst vor den materiellen Folgekosten der Klimaschutz- nicht als Chance gesehen. Das zeigt: In Regionen, die politik wurde immer wieder genannt. Eine weitere zentrale in der Vergangenheit bereits vom Strukturwandel Erkenntnis lautet deshalb: Die Menschen erwarten nicht einfach eine Bewältigung des Klimawandels, sondern eine sozial verträgliche Bewältigung des Klimawan- dels. Auffällig ist hierbei, dass eine mögliche positive Ver- bindung von Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit kaum Erwähnung findet und die Befragten potenzielle Lösungen (etwa eine direkte Rückzahlung bei der CO2-Bepreisung) nicht damit in Verbindung bringen. Dementsprechend werden klimapolitische Maßnahmen häufig als Verstärker bestehender sozialer Ungleichheiten empfunden: „Der ‚kleine Mann‘ wird ja immer wieder der Zahler – beim Klimawandel oder bei den Spritpreisen. Und wer ist denn auf die alten Autos angewiesen? Die, die kaum was haben...“ - FRAU (72) AUS BITTERFELD 35 Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics. Princeton, New Jersey 1977. 14
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