Katzenkönig - Anwaltsblatt

Die Seite wird erstellt Kjell Opitz
 
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Katzenkönig - Anwaltsblatt
No. 1
                         2020

                                                                      katzenkönig
Deutscher Anwaltverein

                                                                                             das magazin für alle jurakrisen

                         Sind wir politisch genug?   Philipp Amthor   Jurist*innenausbildung reformbedürftig   Teilzeit oder Karriere?
Katzenkönig - Anwaltsblatt
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Katzenkönig - Anwaltsblatt
katzenkönig?
Da klingelt doch was …

Genau! 1988 hat dieser berühmt-berüchtigte Fall den B G H
­beschäftigt. Es ging um Täterschaft, Teilnahme und Verbots­
 irrtum. Aber hey, wem erzählen wir das?! Wenn du dieses
 ­Magazin in den Händen hältst, interessierst du dich mit
  ­ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit für Jura und kennst den
   ­Katzenkönig-Fall bereits aus einer Strafrechtsvorlesung –
    oder von einem befreundeten Jura-Enthusiasten. Vielleicht
    hat dir auch einfach bloß unser Cover gefallen. So oder so:
    Wir freuen uns, dir das brandneue Magazin für alle ­Jurakrisen
    vorstellen zu dürfen: katzenkönig.

In unserer ersten Ausgabe geht es um die Frage, ob Studierende
noch politisch genug sind. Wir haben mit Jungpolitiker und
­Jurist Philipp Amthor über seine Studienzeit gesprochen.

                                                                     editorial
 Auf einer großen Tour durch Deutschlands Jura-Fakultäten
 ­haben wir Studierende gefragt: Warum studierst du Jura?
  Und was würdest du am Studium ändern? Aber natürlich bietet
  katzenkönig darüber hinaus noch viele weitere Storys und
  Hacks für dein Studium und den Berufseinstieg.

Ach ja, eines wollen wir direkt noch klarstellen: ­
Süße Katzenfotos findest du bei uns nicht. Versprochen.

katzenkönig wird vom Deutschen Anwaltverein (DAV) heraus­
gegeben. Als Berufsverband der Anwaltschaft streitet der DAV
für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Er
setzt sich für den Zugang aller zum Recht ein. Außerdem unter-
stützt er ­Anwältinnen und Anwälte in allen berufsrelevanten
Fragen – auch beim Berufseinstieg. Der DAV will die folgenden
Generationen für den Anwaltsberuf begeistern und im Zuge
­dessen Benach­teiligungen jedweder Art beseitigen.

So, genug gesabbelt. Wir ­wünschen dir viel Spaß mit der ­
ersten Ausgabe katzenkönig.

Deine Redaktion

Katzenkönig wird herausgegeben vom Deutschen Anwaltverein
                                                                     3
Katzenkönig - Anwaltsblatt
Philipp Amthor, Politik                             Die Erfahrung zeigt:
                                überholt Jura. Mit uns                              Wenn Studierende sich
                                spricht er über seine                               für ihre Interessen
                                Studienzeit.                                        zusammenschließen,
                                                                                    sind sie erfolgreich!

         hip hip jura                                          anwaltsbla

     3                                                    20
         editorial                                             porträt
                                                          		   Philipp Amthor
                                                               Wie Bundestags­abge­

     8
         essay
                                                               ordneter Philipp Amthor
    		   Sind wir politisch                                    durch das Jurastudium kam
         genug?                                                und wie es sein Leben bis
          Wie politisch ist das
                                                               heute prägt.
          Recht und sind wir, die
          Studierenden von heute,

                                                          26
         ­politisch genug?                                     interview
          Eine Analyse.                                   		   Roya Sangi
                                                               Rechtsanwältin Roya Sangi
                                                               ist politisch und berät NGOs

    14
         report
                                                               zu nationalen und völker­
    		   Die neue Dabatte                                      rechtlichen Fragen der
         Meinungsfreiheit an deut­
                                                               Seenotrettung.
         schen Unis. Ist die Universität
         ein safe space?

                                                          32
                                                               plädoyer
                                                          		   Thomas Fischer

    18
         stellungnahme
                                                               Der Verfasser des bekann­
    		   Wie politisch ist                                     ten Kurzkommentars zum
         das Recht?                                            Strafgesetzbuch erinnert
         Der DAV bezieht Stellung. Die
                                                               sich an seine Studienzeit.
         Stimme der Anwaltschaft im
         Migrationsrecht, Strafrecht
         und Gefahrenabwehrrecht.

4
Katzenkönig - Anwaltsblatt
Wie gelingt der Start                                   Examen am Computer,
                             in den Anwaltsberuf?                                    mehr Semester und
                             In Teilzeit, im Internet,                               digitalisierte Lehre.
                             im Baumwollhemd?                                        Das wünschen sich
                             Wir zeigen, was funktio­                                Jurastudierende für
                             niert – und wie.                                        die Zukunft.

       kanz & lei                                              4 punkte

34                                                       50
       reportagen                                              studierendenporträts
		     Über Anwaltsmarkt                                 		Hi
       und Berufseinstieg:                                     Wir haben uns in juristischen Fakul­
                                                               täten im ganzen Land umgehört.
			 1 Der Traum von der
   Kanzleigründung

                                                         56
                                                               katzenkönig lädt zum chat
       Die Anwält*innen von Neu­
       werk erwecken ihre eigene
                                                         		Jurist*innenausbildung
       Vision von Kanzleistruktur
                                                           reformbedürftig?
                                                               Werden wir richtig auf den Arbeits­

                                                                                                             inhalt
       und Arbeitsweise zum Leben.
                                                               markt vorbereitet? Wir fragen nach.
     		 2 Teilzeit oder
       Karriere
                                                         60
                                                               frag einen prüfer
       Lässt sich auch mit nur vier                      		    Die Faszination des Echten
       Arbeitstagen pro Woche eine                             Antworten auf eure Fragen zur
       erfolgreiche Kanzlei führen?                            mündlichen Prüfung.

			 3 Sichtbar im Internet

                                                         62
       Revolutionieren Online-                                 neu denken

       ­Plattformen die Anwalt­                          		    Lehre anders und innovativ
        schaft? Zumindest können                               Von diesen innovativen Lehr­
        sie die Mandatsakquise ver­                            methoden können sich Unis eine
        einfachen und den Zugang                               Scheibe abschneiden!
        zum Recht erleichtern.

                                                         64
                                                               referendariat
                                                         		    Wissen, Geld, Teamgeist
48
       dresscode
		smart-casual!                                                Wie holt man im Referendariat das
       Wie man stilvoll seinen Platz                           Maxi­mum aus der Anwaltsstation
       im Berufsleben einnimmt.                                heraus?

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                                                               impressum

                                                                                                             5
Katzenkönig - Anwaltsblatt
Studierende haben sich
     bemalt, um halb nackt
     durch die Straßen von
     Berlin zu ziehen, TU,
     Berlin, Deutschland,
     05.12.2003.

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Katzenkönig - Anwaltsblatt
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Katzenkönig - Anwaltsblatt
Politik
    Jura

           Wie politisch ist das Recht? Zwischen Juristerei und
           Politik besteht eine untrennbare Verbindung, mit
           der auch Verantwortung einhergeht. Verantwortung
           für die Gesellschaft und für den Recht­sstaat. Diese
           Verantwortung beginnt schon im Studium. Doch sind
           wir, Studierende und Referendar*innen in Deutsch-
           land, eigentlich politisch genug? Wir haben in einer
           ­online-Umfrage über hundert Jurastudierende
            nach ihrer Meinung gefragt, um herauszufinden
            wie ­unsere ­Generation über das Thema politisches
            Recht und politische Lehre denkt.

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Katzenkönig - Anwaltsblatt
SIND WIR POLITISCH GENUG?   Dominierende Antworten der Jurastudierenden:

Jeweils Aussagen mit
den Antwortmöglichkeiten:   ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNG

 +    trifft voll zu        1. Politik ist mir wichtig.
                            2. Ich würde mich als politisch aktiv
                                                                            +

+-	   trifft teilweise zu   bezeichnen.
                            3. Ich habe mich schon einmal in
                                                                            o

 o    neutral               einer politischen Partei/Organisation/
                            Hochschulgruppe engagiert.                      -

	-    trifft nicht zu       4. Für politisches Engagement bleibt
                            mir neben meinem Studium kaum Zeit.             +
                            5. Es gibt im Universitätsumfeld Möglich-
                            keiten, sich politisch zu engagieren.           +

                            SPEZIELLE JURIST*INNENPERSPEKTIVE

                            6. Ich fühle mich durch die Inhalte des
                            ­Jurastudiums gut auf einen politischen
                             ­Diskurs vorbereitet.                          +-
                              7. Ich kann mir vorstellen, mich in
                              meinem Berufsleben als Jurist*in
                              politisch zu engagieren.                      +
                              8. Ich sehe Jurist*innen grundsätzlich
                              in der Verantwortung, sich politisch
                              zu positionieren.                             +-

                                                                                 hip hip jura
                              9. Ich fühle mich als angehende*r
                              Jurist*in dafür verantwortlich, den
                              Rechtsstaat zu schützen.                      +
                            10. Ich glaube, Jurist*innen sollten
                            ihre persönlichen politischen Ansichten
                            nicht in ihrem Beruf ausleben.                  +-

                            FRAGEN ZU POLITISCHEN LERNINHALTEN

                             11. Ich glaube, die Inhalte meines
                             Jurastudiums sind politisch.                   +-
                             12. Ich weiß, dass einige der
                             bekanntesten juristischen Autoren
                             überzeugte Nazis waren.                        +
                             13. Ich finde, dass vergangenes Juristen­
                             unrecht in meinem Studium ausreichend
                            ­aufgearbeitet wird.                            -
                             14. Ich hinterfrage die Legitimität
                             von Gesetzen, die in einem bestimmten
                             ­politischen Kontext entstanden sind.          +
                              15. Mein Jurastudium hilft mir, eine f­ un-
                              ­­dierte politische Position zu entwickeln.   +
                              16. Ich würde mir wünschen, als
                              Studierende*r mehr Einfluss auf die
                              Tagespolitik nehmen zu können.                +

                                                                                 9
Katzenkönig - Anwaltsblatt
Sind wir
 politisch
 genug?
     AUSGANGSTHESE:

     Wir, die Jurastudierenden von heute, hätten eigentlich einen hervorragenden
     Ausgangspunkt, um politisch aktiv zu sein: Genug Zeit, hoher Bildungsgrad,
     fruchtbares Umfeld, viele Möglichkeiten, uns zu informieren, Plattformen
     zum Austauschen und die Freiheit, uns in Gruppen zusammenzuschließen und
     zu sagen, was wir wollen.

     Aber:

     Nutzen wir diese Ressourcen in ausreichendem Maße?

     Eine Analyse.

10
Um diese Frage adäquat und umfassend beantworten zu können, gilt es zunächst die
Aufgabenstellung vollständig zu erfassen und dann mittels sorgsam erworbener juris­
tisch-analytischer Methodik ein pointiertes Gutachten zu ... STOP.
Vielleicht können wir uns dieser Frage heute mal nicht als „Paragraphenautomaten“,
sondern als Menschen nähern. Denn das ist es doch, was Politik ausmacht – mensch­
liche Interessen bündeln, schlichten, priorisieren.

 Wie DAV-Präsidentin Edith Kindermann (im Interview auf Seite 56) sagt: „Wir haben das
 Handwerkszeug, um ein Ergebnis als logisch zwingend darzustellen.“
 In den wenigsten Fällen ist es das tatsächlich. Zwingend. Vielmehr treffen wir bei der
 Anwendung von Recht politische Entscheidungen, die eben auch von unserem eigenen
 Wertesystem beeinflusst werden. Wir müssen uns dieses Prozesses bewusst sein, wenn
 wir der Verantwortung, die mit einem solchen Handwerkszeug einhergeht, gerecht wer­
 den wollen. Juristische Debatten werden nicht im luftleeren Raum geführt, Recht ist
 stets ein Instrument, um demokratische Entscheidungen in Form zu gießen und damit
 verbindlich zu machen. Das heißt aber auch, dass wir rechtliche Diskurse nicht ohne
 Bezug zu der Gesellschaft, die das Recht regeln soll, führen dürfen. Denn Recht und
 Gesellschaft und damit auch Recht und Politik bedingen und konkretisieren sich gegen­
 seitig. Das eine ohne das andere zu denken, macht keinen Sinn – Jedenfalls, wenn man
 die Idee eines anarchischen Zustandes ablehnt, wie es das Recht wohl nachvollziehba­
 rerweise tun muss, um nicht obsolet zu werden. Wir als Jurist*innen neigen in unserer
 Denkschule dazu, im Recht ein mathematikähnliches System zu erkennen, welches es
 analytisch zu durchdringen gilt, ohne über die Systemgrenzen hinauszudenken. Immer
 wieder müssen wir beweisen, dass die Rechtswissenschaft eine echte Wissenschaft ist.
 Recht ist aber kein naturgegebenes Objekt, das wir mit feiner Methodik erschließen kön­
 nen. Recht ist von Menschen gemacht und zwar zur Regelung menschengemachter
 Probleme. Es sollte deshalb also auch durchlässig sein für neue Probleme und für

                                                                                             hip hip jura
­Perspektivänderungen.

Die eigene Rolle im Rechtsstaat

In unserer Umfrage gaben viele Studierende an, sie würden den politischen Kontext, in
dem eine Norm entstanden ist, hinterfragen. Das hat mich überrascht, ich frage mich,
woher meine Kommiliton*innen diesen Kontext kennen, ist er doch kaum Gegenstand
unserer Vorlesungen. Klar, wir haben wohl schon mal was von der Tätertypenlehre der
Nazis und ihren klebrigen Abdrücken in unserem Strafgesetzbuch gehört. Aber wissen
wir wirklich, welche politischen Verhältnisse im Bundestag galten, als die §§ 217 oder
219a StGB eingeführt wurden oder auch nur das Bundesimmissionsschutzgesetz? In
unserer repräsentativen Demokratie setzt sich parteipolitisches Profil und Kalkül in
Recht um. Das macht das Recht zu einer an sich höchst politischen Sache.
    Ab einem gewissen Punkt mag eine Norm sich von ihrer mehr oder weniger politisch
aufgeladenen Geburtsstunde emanzipieren und einfach nur noch einen soliden Job
machen als täglicher Kompass für alltägliche Streitigkeiten. Je umstrittener und um­
kämpfter der Lebensbereich ist, den sie regelt, umso wichtiger ist es aber, die politische
Agenda, vor deren Hintergrund sie entstanden ist, nicht zu vergessen, wenn man sie
anwendet. Zwar ist Recht die allgemein verbindliche Lösung eines Konflikts. Es lässt mir
als Rechtsanwenderin aber auch Spielräume, die ich mit Blick auf den politischen Hinter­
grund einer Norm verantwortungsbewusst nutzen kann, zum Beispiel indem ich mir
grundsätzliche Fragen zu meiner Rolle im Rechtsstaat und in der Gesellschaft als Ganze
stelle: Womit verdiene ich später mein Geld? Wer profitiert vielleicht von meinem Urteil
und wer leidet darunter? Wen möchte ich vertreten? Wenn ich Mandate aus der Rüs­

                                                                                             11
tungsbranche übernehme, mache ich mir dann nicht deren Rolle in der Welt zu eigen?
     Übernehme ich nicht ein Stück ihrer Schuld? Wir sind Generation „whY“. Lasst uns also
     nach dem Warum unserer Berufswahl fragen – denn darauf gibt es mehr oder weniger
     gute Antworten.

     Haltung gegen Rechts für das Recht! Wir sind mitverantwortlich.

     Doch nicht erst im Berufsleben sollten wir Jurist*innen damit beginnen, unser Umfeld
     und unsere eigene Haltung kritisch zu hinterfragen: Sind nicht gerade Universitäten ein
     „Marktplatz der Ideen“, ein Ort, an dem der Wind der Veränderung weht? An vielen juris­
     tischen Fakultäten ist dieser Wind eher ein laues Lüftchen. Das ist schade – wenn uns
     etwas an unserem Studium nicht gefällt (Professorinnen-Quote, Diversität, altertüm­
     liche Lehre, politische Einförmigkeit usw. usf.), dann sollten wir laut werden und uns
     ­organisieren, Neues vorschlagen und solange diskutieren, bis es unbequem wird, aus
      Bequemlichkeit weiterzumachen wie bisher. Wir sind selbst für unsere Bildung verant­
      wortlich und das ist Privileg und Chance zugleich.
          Vielleicht können wir ja ein bisschen mutiger sein – mit dem Dreiklang Staub, Stoizis­
      mus, Stagnation brechen, der unsere Zunft in den Augen vieler Nichtjurist*innen tref­
      fend zu beschreiben scheint, und uns neue Felder für Engagement und Haltung
      erschließen. Warum zum Beispiel ist Datenschutz nicht längst zum bürgerrechtlichen
      Kampfthema geworden? Ich nehme mich da selbst nicht aus, Google und Co. haben mit
      Sicherheit bereits ein 1a Bewegungs- und Konsumprofil von mir angelegt, aber vielleicht
      muss diese Apathie nicht sein? Wir haben als Generation gemeinsam die Möglichkeit,
      vieles anders zu machen und wir als Jurist*innen könnten ausnahmsweise mal voran­
      gehen – indem wir politisch denken und handeln.
          Das heißt auch, dass wir uns bei der Klärung wichtiger gesellschaftlicher Fragen
      nicht hinter dem Prinzip der Neutralität des Rechts(staats) verstecken dürfen, während
      von rechts am Recht gezogen und gezerrt wird. Das ist zu einfach, dafür hat unser Wort
      zu viel Gewicht. Es kann zu absurden Ergebnissen führen, wenn Normen nur passiv und
      politisch neutral angewendet werden, wie das Verfahren von Renate Künast vor dem
      Berliner Landgericht gezeigt hat. Das soll nicht heißen, dass politische Neutralität nicht
      ein Grundsatz sein kann, sie darf aber nicht zum Dogma werden. Die Geschichte hat
      gezeigt, dass der Rechtsapparat anfällig ist für Korrumpierung, Verdrehung und Anpas­
      sung. Aus dieser Geschichte müssen wir unbedingt lernen, um sicherzustellen, dass sie
      sich nicht wiederholt.

     Konservatismus ist kein Selbstzweck

     Um die aktuellen Probleme unseres Landes, Europas, der Welt zu lösen, müssen wir
     bereit sein für Veränderungen und dafür brauchen wir mutige Ideen. Das Recht ist der
     Maßstab für die Kompatibilität dieser Ideen mit unserer Werteordnung. Aber was, wenn
     sich Werte ändern? Dann braucht es politisch sensible Jurist*innen, die ein Gespür
     dafür haben, wann Regeln anachronistisch sind und verworfen oder neu verstanden
     werden müssen. § 217 und § 219a StGB sind gute Beispiele hierfür. Einfachgesetzliche
     Normen dürfen nicht zum Hemmnis werden für notwendige gesellschaftliche Umbrü­
     che und Neubewertungen – auch was hundert Jahre gut funktioniert hat, passt morgen
                                                                                                   Sophia von Bülzings­
     vielleicht nicht mehr in die Zeit. Konservatismus ist kein Selbstzweck – wenn das, was        löwen hat an der
     bewahrt werden soll, nicht bewahrenswert ist, muss es für eine Gesellschaft möglich           Humboldt Universität in
                                                                                                   Berlin Jura studiert und
     sein, sich davon zu befreien. Und wir jungen Jurist*innen können solche Prozesse so­          arbeitet in der Redaktion
     wohl anstoßen als auch umsetzen – eine große Verantwortung. Die wir nutzen sollten.           von katzenkönig.

12
2 0 2 0       J e t z t Video
                                                        nden
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                                                  w  i n

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Die
 neue
 Debatte
     Meinungsfreiheit an deutschen Unis

14
hip hip jura

Einführung in Jura für Erst­
semester im Hörsaal der

                               15
Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg
Schneeflöckchen gegen Weißlöckchen?

                              Identitätspolitische Kontroversen
                              und die Meinungsfreiheit an
                              deutschen Unis
     Die Idee der Universität ist geprägt von einem aufklärerischen Ideal; sie soll ein Ort sein,
     an dem ein Rationalitätsanspruch herrscht, die Wahrheit gesucht und offen, ohne Scheu
     diskutiert und nachgedacht werden kann. Ein Ort, an dem trotz der eigentlich hierarchi­
     schen Aufteilung zwischen Lehrenden und Studierenden die Kraft des besten Argu­
     ments im Vordergrund stehen soll; ein Ort der Kritik, an dem Hautfarbe, Geschlecht und
     Herkunft keine Rolle spielen dürfen angesichts der gemeinsamen Suche nach Antwor­
     ten auf wichtige gesellschaftliche Fragen, gelegentlich auch beim schöngeistigen Glas­
     perlenspiel.
          In den letzten Jahren kommt es jedoch vermehrt zu Angriffen auf diese Idee der Uni,
     die zunehmend als Bedrohung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit wahrgenom­
     men wird. Störungen, „Streiks“, tumultartige Zustände am Rande von universitären Ver­
     anstaltungen sind kein neues Phänomen. Während es in den 1960er und 1970er Jahren
     vornehmlich um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Demokratisierung
     eines höchst hierarchisch organisierten Universitätsbetriebs ging, steht der aktuelle
     Protest an deutschen Unis anscheinend im Zeichen dessen, was meist abfällig als Iden­
     titätspolitik bezeichnet wird.

                              Universitäten als safe spaces
     So verbreitet sich die Forderung nach safe spaces, ein Import aus den USA, an deut­
     schen Unis. Ursprünglich waren sie in den 1960er und 1970er Jahren als Räume von
     marginalisierten Gruppen für marginalisierte Personen gedacht, in denen sich vor allem
     feministische Gruppen herrschafts- und diskriminierungsfrei austauschen und zeigen
     konnten. In den USA wird hingegen seit Jahren heftig debattiert, inwieweit der ganze
     Campus als safe space gestaltet werden könnte und sollte (vgl. Kaldewey: Der Campus
     als Safe Space, Mittelweg 36 (2017), S. 133 ff.). Das umfasst zum Beispiel die Frage, wer
     als Redner*in auf dem Campus die Gelegenheit bekommt, zu sprechen, oder welche
     Themen auf dem Lehrplan stehen sollten. In diesem Kontext stehen auch sogenannte
     trigger warnings, also Warnungen vor Lehrinhalten, die bei den betroffenen Personen
     mögliche Traumata hervorrufen könnten, weil sie einer kulturellen, religiösen oder
     ­sexuellen Minderheit angehören. Generation Snowflake, so werden die Studierenden,
      die diese Forderungen stellen, in aller Regel abwertend bezeichnet: „Einzigartig“ und
      fragil, infantilisiert und nicht in der Lage, sich einer Debattenkultur zu stellen. In Deutsch­
      land häufen sich vor allem Vorwürfe gegen Studierende, die Veranstaltungen verhin­
      dern, weil sie mit den Auffassungen der dort Sprechenden nicht einverstanden sind: so

16
zum Beispiel durch Proteste gegen Podiumsdiskussionen mit dem Polizeigewerk­
                         schaftsvorsitzenden Rainer Wendt, Hörsaalblockaden in den Vorlesungen Bernd Luckes
                         oder Plattformen wie „Münkler-Watch“, die Aussagen Herfried Münklers auf potentielle
                         Diskriminierungen hin überprüfen.

Wieviel Formalität kann die
Meinungsfreiheit tatsächlich
vertragen?
                         Sind das Angriffe auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit einer Generation hyste­
                         rischer Kinder, die nicht erwachsen werden will? Oder herrscht an der Uni tatsächlich zu
                         wenig awareness für marginalisierte Gruppen? Zu trennen ist zwischen den rechtlichen
                         und den gesellschaftlichen Fragen. Rechtlich gesehen ist es natürlich keine Verletzung
                         der Religionsfreiheit von Kopftuchträgerinnen, wenn eine Wissenschaftlerin unter einer
                         wissenschaftlichen Fragestellung eine Podiumsdiskussion mit verschiedenen Ak­
                         teur*innen anbietet, die zu diesem Thema kontroverse Auffassungen vertreten. Ebenso
                         wenig wie eine Veranstaltung zu feministischer oder postkolonialer Wissenschaftskritik
                         eine Diskriminierung von weißen Professoren oder einen Eingriff in ihre Persönlichkeits-
                         oder Wissenschaftsfreiheit darstellt. Art. 5 Abs. 1 GG schützt die Meinungsfreiheit for­
                         mell, das heißt, dass jede wertende Aussage im Rahmen der grundgesetzlichen

                                                                                                                      hip hip jura
                         Schranken unabhängig von ihrem Wert geschützt wird. Welche Auswüchse ein solch
                         formaler Begriff nehmen kann, zeigt die „meinungsfreiheitsfreundliche“ Rechtspre­
                         chung des Ersten Senats des BVerfG, der selbst die Bezeichnung einer Staatsanwältin
                         als „durchgeknallt“ und „widerwärtig“ als geschützt ansieht (vgl. Beschl. v. 29. Juni 2016
                         1, BvR 2646/15).
                              Was demgegenüber die Demonstrierenden an deutschen Unis einfordern, richtet
                         sich genau gegen dieses formale, rechtliche Verständnis einer Meinungs„freiheit“. Frei,
                         so könnte man argumentieren, ist eine Meinungsäußerung nur dann, wenn die gesell­
                         schaftlichen Bedingungen, unter denen diese Meinung geäußert wird, gleich verteilt
                         sind. Mit John Stuart Mill wird der Meinungsaustausch als eines der wichtigsten Güter in
                         der Demokratie und auch in der Wissenschaft deklariert. Aber ein freies, Wahrheit su­
                         chendes Debatten-Modell basiert auf einem Ideal von herrschaftsfreien Diskussions­
                         strukturen. Um diese wird sich an der Uni vielleicht mehr bemüht als anderswo, erreicht
                         haben wir sie aber noch nicht. Wer damit rechnet, dass die eigene Position nicht gehört
                         werden will, wer nicht das kulturelle Kapital hat, mit einer*m Professor*in auf Augenhöhe
                         zu diskutieren bzw. glaubt, sich nicht gut genug artikulieren zu können, wer aufgrund
                         seines Geschlechts oder seiner Herkunft befürchtet, in eine Schublade gesteckt zu wer­
                         den, der*die braucht viel Mut, um diese Ängste zu überwinden und sich in der Vorle­
                         sung, auf einer Podiumsdiskussion oder im Seminar zu wehren. Frei, die eigene Meinung
                         zu äußern, fühlen sich viele Menschen an der Uni trotz ihrer Meinungsfreiheit nicht.
 Samira Akbarian ist          Auch wenn identitätspolitische Forderungen an der Uni zum Teil übers Ziel hinaus­
­wissenschaftliche
 Mitarbeiterin an der
                         schießen, sollten wir als Studierende, Wissenschaftler*innen und Lehrende unsere eigene
 Goethe Universität      Position hinterfragen und die Verantwortung für eine inklusive Lern- und Gesprächsatmo­
 Frankfurt/Main. Sie
 schreibt außerdem für
                         sphäre übernehmen. Spott und Hohn gegen vermeintliche Snowflakes helfen da vielleicht
 den Verfassungsblog.    genauso wenig wie persönliche Angriffe auf einzelne Wissenschaftler*innen.

                                                                                                                      17
DAS RECHT?
                    Der Deutsche              Wer kümmert sich eigentlich um unsere Gesetze? Die Regierung, richtig,
                    Anwaltverein              aber wer hilft und berät? Hat der Deutsche Anwaltverein da vielleicht auch ein
                    bezieht                   Wörtchen mitzureden?
                    Stellung:                 Der DAV nimmt über seine fast 40 Gesetzgebungs- und Fachausschüsse aus
                                              ­allen Rechtsgebieten Stellung zu nationalen und europäischen Gesetzent­würfen.
WIE POLITISCH IST

                                               Die Ausschüsse werden aber auch initiativ tätig. Sie bringen rechts­staatliche
                                               Maßstäbe und anwaltliches Knowhow in die Gesetzgebung ein und machen
                                               ­Gesetze praktikabel. Was das genau heißt? Wir haben nachgefragt:

                                               S T R A F R E C H T:                           ­G E F A H R E N A B W E H R R E C H T :
                                              „Wie politisch ist das Recht?“                 „Wie politisch ist das Recht?“

                                              Zunächst einmal ist Recht ein Instrument,          Ob in der Ausbildung oder in der Praxis –
                                               aber es ist das Instrument der ­Politik,        oft sind wir Juristinnen und Juristen so
                                               nicht nur weil es von Politiker*innen             verstrickt in Detailprobleme, dass wir
                                              ­gemacht wird. Auch so etwas Unver­               das große Ganze kaum sehen. Aber
                                               dächtiges wie ein Vertrag setzt eine             ­spätestens, wenn wir einen Schritt
                                               Rechtsordnung voraus, die die Privat­           ­zurücktreten, wird klar: Das Recht ist
                                               autonomie der Bürger*innen gewähr­                sehr politisch. Am Beispiel Gefahren­
                                               leistet. Schon das ist eine politische           abwehrrecht: Droht mit den neuen
                                               Grundentscheidung.                                 Möglichkeiten der biometrischen
                                                   Gerade das Strafrecht ist durch und           ­Gesichtserkennung das Ende der
                                               durch eine politische Sache. Es klärt          ­Anonymität im öffentlichen Raum? Darf
                                               schließlich die Frage, wo in einer Gesell­       der Staat unter bestimmten Umständen
                                               schaft Freiheit endet, welche Güter sie            in das anwaltliche Berufsgeheimnis ein­
                                               schützt und wie sie Regelverstöße sank­         greifen? Wie lang darf ein*e Bürger*in
                                               tioniert. All das sind politische Themen.          präventiv eingesperrt werden? Und
                                               Nicht umsonst ist die Entwicklung des              muss ihm*ihr in dieser Lage ein Rechts­
                                               modernen Strafrechts ideengeschicht­             anwalt oder eine Rechtsanwältin zur
                    Rechtsanwalt Dr. Ali B.
                    Norouzi ist Strafver­      lich untrennbar mit der Aufklärung ver­            Seite ­gestellt werden? Dies sind nur ei­
                    teidiger in Berlin und     bunden. Und hier zeigt sich ihre Dialektik:        nige a
                                                                                                       ­ ktuelle Fragen. Sie betreffen das
                    stellvertretender Vor­
                    sitzender des Straf­       Gerade weil das Strafrecht in den letzten       grundsätzliche Verhältnis von Sicherheit
                    rechts­ausschusses        Jahrhunderten rationaler und humaner               und Freiheit in unserer Gesellschaft.
                    des Deutschen
                    Anwaltvereins.            geworden ist, scheint es für die Politik            Was könnte politischer sein?
                                               seine Eigenart als Ultima Ratio verloren       Rechtsanwältin Lea Voigt
                                               zu haben und ein Mittel unter vielen ge­
                                               worden zu sein. Ist daher die Expansion                                           Rechtsanwältin Lea
                                                                                                                                 Voigt ist Vorsitzende
                                               des Strafrechts in alle Lebensbereiche                                            des Ausschusses
                                               der Preis, den seine Humanisierung                                                Gefahrenabwehrrecht
                                                                                                                                 des Deutschen
                                               fordert? Wer hierauf Antworten sucht,                                             Anwaltvereins.
                                               kommt nicht umhin, politisch zu denken.
                                              Rechtsanwalt Dr. Ali B. Norouzi

           18                                 DAS RECHT?
WIE POLITISCH IST

                                                                                                           DAS RECHT?
                             Rechtsanwältin
                             Maria Kalin ist Mitglied
                             des Ausschusses
                             Migrationsrecht
                             des Deutschen
                             Anwaltvereins.

 M I G R AT I O N S R E C H T:
„Wie politisch ist das Recht?“

 Politik gestaltet Gesellschaft – auch
 ­ ithilfe des Rechts. Recht ist also immer
 m
 auch politisch. Im Gesetzgebungsaus­
 schuss Migrationsrecht werden uns seit
 längerem Gesetze vorgelegt, die auf­
 grund aktuellen Tagesgeschehens has­
 tig erarbeitet und dann ebenso hastig

                                                                                                           hip hip jura
 verabschiedet werden. Das hat kaum
 mehr mit gerechtem Recht, sondern nur
 noch mit kurzfristig gedachter Politik zu
 tun. Dass solche Gesetze in der Anwen­
 dung zu Problemen, mitunter auch zu
 Willkür führen, ist verhängnisvoll. Sie ge­
 fährden die Gleichheit, die vor ihnen gel­
 ten sollte, und damit eine Säule unseres
 Rechtsstaates. Im Migrationsbereich er­
 lebe ich, wie der Glaube an das Recht
 ins Wanken gerät. Als Anwältin ist es
 meine Aufgabe, dem entgegenzutreten.
 Dabei muss und will ich politisch bleiben
– auch als Teil des DAV.
Rechtsanwältin Maria Kalin

              Online gibt’s                  Bekämpfung der Unternehmenskriminalität
                                             Verfahrensrechte auf EU-Ebene
              Stellungnah-                   Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus
              men zu diesen                  Verschärfung der Polizeigesetze der Länder
              Themen:                        Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte
                                             Intelligente Videoüberwachung

                                             Referentenentwurf Asylklageverfahren
                                             Einstufung als sichere Herkunftsstaaten
                                             Fehler in Freiheitsentziehungsverfahren

 WIE POLITISCH IST                                                                                         19
Philipp
 Amthor

          Philipp Amthor:
          Landesschülersprecher,
          Jura-Absolvent,
          Bundestags­
          abgeordneter.

20
anwaltsbla

„Ich habe mich schon als
Teenager gefragt, was
das eigentlich ist, der
Staat, und was er
können muss.”

                           21
Etikette ist ihm wichtig.
     Amthor trägt oft
     Trachtenjanker mit
     Tierhornverschlüssen.

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„Ich bin
wirklich
 so”
                                                                                                anwaltsbla
  Text: Jochen Brenner
  Fotos: Peter Rigaud

  Als Philipp Amthor die politische Bühne betritt, halten nicht wenige seine Wahl
  für eine Laune der Demokratie: jung, unerfahren, uncool. Nur drei Jahre später
  gehört Amthor zum Establishment der Berliner Republik. Und erfährt Respekt
  junger Menschen – auch, weil er mit seiner juristischen Ausbildung nicht hinterm
  Berg hält.
  Zu den Modewörtern der Politik gehört seit einigen Jahren das Narrativ. Die „sinn­
  stiftende Erzählung” soll Lebensläufe oder politische Positionen nachvollziehbar und vor
  allem populär machen. Sie lässt Brüche oder Widersprüchlichkeiten oft aus, glättet und
  schleift, macht Politik mundgerecht.
       Als Philipp Amthor mit 25 die politische Bühne in Berlin betritt, scheint es, als habe
  die Kunst des Narrativs ihren Meister gefunden. „Wie es ein junger Mann aus dem Osten
  mit Chuzpe und Fleiß in den Bundestag schafft” lautet die Erzählung.

                                                                                                23
Die Presse arbeitet sich ab an dem Mann aus Ueckermünde, der stets im Anzug und
     mit Einstecktuch auftritt, eine Hornbrille trägt und noch etwas jung wirkt. Es ist, zu die­
     sem Zeitpunkt, ziemlich leicht, sich über Philipp Amthor lustig zu machen. „Wie auch
     immer er dieses Gesicht über die Schulzeit gerettet hat”, sagt Jan Böhmermann in sei­
     ner Show über ihn. Zwei Jahre später ist Amthor bei ­Böhmermann zu Gast. Der Auftritt
     läuft gut für ihn.

     Was ist in dieser Zeit geschehen?

     Etwas vereinfacht könnte man sagen: Das Amthor-Narrativ hat sich nicht nur nicht als „zu
     gut, um wahr zu sein” herausgestellt, es ist auch keins, scheint es. „Ich bin überrascht,
     worüber andere Leute bei mir überrascht sind”, sagt Amthor, „ich bin wirklich so”.
           Natürlich hat er verfolgt, was über ihn geschrieben wird und wie, von Spiegel bis
     Super Illu. „Seltsam, was heute als nonkonformistisch wahrgenommen wird”, sagt
     ­Amthor, „man gilt ja schon als Rebell, wenn man sich vernünftig anzieht, sich die Haare
      kämmt und einen Anzug trägt.”
           Es ist bei ihm ein bisschen mehr als das. Etikette ist ihm wichtig. Ein gut sitzender
      Anzug. Einstecktuch, Krawatte – im Gespräch mit katzenkönig hat er sie abgelegt, wofür
      er sich – scherzhaft oder auch nicht – entschuldigt. Immer am Revers: eine Deutsch­
      landflagge. Bisweilen trägt er Trachtenjanker mit Tierhornverschlüssen, er hat den
      Jagdschein gemacht und sich katholisch taufen lassen.
           Manchmal wirkt es, als habe sich Amthor alle verfügbaren Insignien konservativer
      Lebensführung angeeignet. Nur: Warum war das bei einem Politiker wie ihm zu Anfang
      so oft Thema – und nicht die Sache, für die er sich einsetzt? Amthor zuckt mit den Schul­    Aufgrund der Corona­
      tern, wiegelt ab. „Du kannst in diesem Land etwas erreichen, und was am Ende zählt, sind     pandemie musste das
                                                                                                   Gespräch mit Philipp
      nicht Oberflächlichkeiten wie Äußerlichkeiten, sondern gute Argumente.”                      Amthor in einem
           Dieses Primat der Sachlichkeit formuliert er oft in Gesprächen, vielleicht weil es      Videocall stattfinden.

      ­Amthors bisherige Karriere gut beschreibt. „Inhalt vor Oberfläche” klingt aus seinem
       Mund aber auch wie die Beschwörung einer idealen Öffentlichkeit – und wie ein Wunsch:
       Lasst doch mal ab von der Hülle Amthor und beurteilt die Person.
           Die Aufmerksamkeit, die er schätzt, bringt ihm dann endlich seine juristische Aus­
       bildung ein. Im Februar 2018 zerpflückt er einen Antrag der AfD zum Thema Burkaverbot
       wegen juristischer Formfehler. Seine Rede im Bundestag wurde inzwischen millionen­
       fach geklickt. Mit erhobenem Zeigefinger ließ er die Abgeordneten wie Erstsemester
       aussehen. Der AfD-Antrag „strotzt von falschen Behauptungen“, rief Amthor. „Hören Sie
       mir mal zu, dann können Sie noch was lernen über die Verfassung.“

     Vielleicht ist Amthor im Eifer der Satz ein wenig
     schulmeisterlich geraten. Aber er stimmt.

     „Ich habe mich schon als Teenager gefragt, was das eigentlich ist, der Staat, und was er
     können muss”, sagt Amthor. „Wer macht die Regeln, wer darf denn eigentlich was?” Kurz
     spielt er nach dem Abitur mit dem Gedanken, Medizin zu studieren, entscheidet sich
     dann aber für Jura in Greifswald. Das Verfassungsrecht wird sein Schwerpunkt, von dem
     er bis heute im Bundestag nicht abgerückt ist. Auch seine derzeit in Arbeit befindliche
     Promotion handelt davon. „Wenn es eine Ästhetik des Rechts gibt”, sagt Amthor, „dann
     gilt sie fürs Verfassungsrecht in besonderem Maße.” Nirgendwo sonst gelinge es bes­
     ser, Lebenswirklichkeit durch Recht zu beschreiben.

24
Amthor, so erzählt er es, nutzt die Freiheiten des Jurastudiums und besucht ab dem
                           zweiten, dritten Semester nicht die Vorlesungen, die empfohlen werden, sondern jene,
                           deren Professoren ihn beeindrucken. „Ich habe mir Stück für Stück das große Ganze
                           erschlossen”, sagt er. Das Recht sei wie ein riesiger Apothekerschrank, dessen Schub­
                           laden nach einer bestimmten Logik mit Inhalt befüllt werden müssten. „Diese Art zu den­
                           ken hat mich fasziniert.”
                               Geprägt habe ihn sein Professor und Lehrstuhl-Chef Jürgen Kohler, der ihm als Stu­
                           dent einen entscheidenden Satz mit auf den Weg gegeben habe. „Lernen Sie weniger,
                           verstehen Sie mehr.” Amthor nimmt diesen Rat zum Anlass, nicht übers Auswendigler­
                           nen zum Ziel zu kommen, sondern übers Begreifen. „Ich habe also Entscheidungen des
                           Bundesverfassungsgerichts gelesen, um einen Sinn für die Dogmatik zu entwickeln.”
                               Als es dann aufs Examen zugeht, hält Amthor an seinem Prinzip fest. Verstehen, nicht
                           reproduzieren. „Ich habe gar nicht so viele Übungsklausuren geschrieben, wie manche
                           meiner Kommilitonen”, sagt Amthor, „sondern eher mit Lösungsskizzen gearbeitet.”
                           Die Herausforderung an seinem Weg zum Examen sei es gewesen, das eigene Wissen
                           realistisch einzuschätzen, da ein Abgleich über Übungsklausuren nicht möglich war. „Hat
                           funktioniert”, sagt Amthor und lacht. Die Uni verlässt er mit einem Prädikatsexamen.

                                Wie sollte es weitergehen? Zum Ende seiner Schulzeit war Amthor schon Schüler­
                           sprecher und Landesschülersprecher gewesen. Mit 16 trat er in die CDU ein, mit 18 in
                           den Landesvorstand der Jungen Union, mit 20 wurde er Kreisvorsitzender der Jungen
                           Union in Vorpommern-Greifswald, mit Anfang 24 war er einer der Mitgründer des partei­
                           internen „Konservativen Kreises“.
                                Logisch hätte sich für Amthor das Referendariat angeschlossen. Aber er fängt als
                           freier Mitarbeiter in einer wirtschaftsrechtlichen Kanzlei in Berlin an, beschafft sich par­
                           teiintern die Unterstützung für die Bundestagskandidatur und gewinnt das Direktman­

                                                                                                                          anwltsbla
                           dat im Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II.

                           Warum macht er das?

                           „Ich glaube, dass meine Generation politischer ist als ihr Ruf, wie die Fridays-For-Future
                           zeigt”, sagt Amthor, „die Leute haben Lust auf politische Fakten und Inhalte. Das erlebe
                           ich im Wahlkreis andauernd.” Auch er selbst habe sich nicht vorwerfen lassen wollen,
                           immer nur am Spielfeldrand zu stehen und es besser zu wissen. „Dieser Staat ist kein
                           Elitenprojekt, sondern jeder Bürger kann sich einbringen”, sagt Amthor – wie zum Beweis
                           seiner selbst. Nur authentisch müsse man bleiben als Politiker. „Die Leute merken, wenn
                           man sich verstellt”, sagt Amthor und grinst. „Ich bin einfach wirklich so, wie ich bin.”

Der Autor ist Journalist
in Hamburg und
schreibt regelmäßig
für das Anwaltsblatt
des Deutschen
Anwaltvereins.

                                                                                                                          25
Was tun mit Jura?
               Interview mit Dr. Roya Sangi

     Roya Sangi, 34, ist Rechtsanwältin im
     ­Europa- und Verfassungsrecht in Berlin.
      Sie ist im Iran groß geworden und stu-
      dierte Rechtswissenschaft und politische
      Philosophie (M.A.) in Hamburg und Barce-
      lona. 2016 promovierte sie und ist seit
      2017 Rechtsanwältin. Pro bono berät sie
      NGOs unter anderem zu völkerrechtlichen
      Fragen der Seenotrettung.

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anwaltsbla

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Mit Jura kann man alles machen, ein Lieblingsspruch vor allem von älteren Ju-
                         rist*innen. Doch stimmt der eigentlich noch? Kann man mit Jura wirklich noch
                         alles machen? Oder sollte man mit Jura nicht genau das machen, was man mit
                         Jura machen sollte: Die Welt ein wenig besser?

Wie politisch sind wir
­Jurist*innen heute?
                         Unterschiedlich. Ich selbst bewege mich in einem sehr politischen Raum, aber das ist
                         nicht in allen Bereichen so. Im Studium gab es zwar Seminare, in denen es auch um
                         politische Fragen ging, aber da saßen dann nur 15 Menschen darin. Das hat mich irritiert.

Wie politisch sollten
wir Jurist*innen sein?
                         Sehr, denke ich! Bevor ich mit dem Studium anfing, dachte ich, es geht in der Rechts­
                         wissenschaft um die Frage der Gerechtigkeit. Aber die Fragen: „Worauf kommt es an,
                         warum machen wir das?“ wurden am Anfang meines Studiums wenig thematisiert. In­
                         zwischen ist es etwas anders. Es gibt mehr Grundlagenveranstaltungen. Ich selbst gebe
                         einen Kurs in Hamburg für jüngere Studierende.

Haben Jurist*innen
die Pflicht, politisch
zu sein?
                         Ja. Die Rechtswissenschaft ist eine Machtwissenschaft. Deswegen sollten gerade Men­
                         schen, die gestalten wollen, auch politisch sein. Sie müssen wissen, wie wichtig dieses
                         Instrumentarium ist und wie sensibel. Gerade in Krisenzeiten.

Worum geht es konkret?

                                                                                                                     anwaltsbla
                         Es geht um die Mitgestaltung, aber gleichzeitig auch um die Wahrung der Grundrechte
                         und der Werte, die im Grundgesetz verankert sind. Beides bedingt sich. Das hat sich zum
                         Beispiel in den letzten Tagen gezeigt, in denen wir mit Hochdruck an der rechtlichen
                         Bewältigung der Coronakrise gearbeitet haben.

Können Anwält*innen die
Welt besser machen?
                         Ein bisschen, ja. Natürlich glaube ich nicht, dass ich die Welt rette, wenn ich ins Büro
                         komme. Aber als Anwältin in meinem Bereich gibt es viele Möglichkeiten.

Kann es ein richtiges
­Handeln geben, wenn
 man auf der falschen
 Seite steht?
                         Was ist falsch, was ist richtig? Wenn man sich mit der Materie befasst, ist es immer viel
                         komplexer: Es geht um Interessenkonflikte. Dann ist die Frage: Wie lösen wir sie? Und
                         was gibt zum Beispiel die Verfassung dafür her, wie diese Konflikte zu lösen sind.

Sie sind jetzt seit mehr als
drei Jahren Anwältin. Wie
gehen Sie mit Zweifeln
im Mandat um?
                         Mit Zweifeln muss man ganz offen umgehen. Gerade während meiner Promotion gab es
                         immer wieder Phasen der Verzweiflung. Dann sagte ich mir: O.k., du musst eine Lösung
                         finden, egal wie hart es ist. Das setze ich auch als Anwältin fort.

                                                                                                                     29
Wie wichtig ist Ihnen
     Pro-bono-Arbeit?
                             Sehr wichtig, weil ich weiß, dass viele sich eine*n gute Anwält*in nicht leisten können,
                             weil wir uns gerade jetzt für bestimmte gesellschaftspolitisch relevante Themen einzu­
                             setzen haben.

     Sie beraten die Ver-
     eine Mission Lifeline
     und Sea Watch. Was
     tun Sie genau?
                             Ich habe unter anderem mit einem Kollegen ein Gutachten zum Thema Geflüchtete
                             in Seenot geschrieben. Zu der Frage: Befinden sich Geflüchtete in einem rechtsfreien
                             Raum? Und auch wenn dies nie gesagt wird und der EMRK widerspricht: Faktisch ist es
                             so, denn so wird es gelebt, weil nicht eingegriffen wird. Doch leider ist es auch so, dass
                             in der Politik nicht gleich etwas passiert, nur weil es ein Gutachten gibt.

     Muss die politische
     Landschaft verän-
     dert werden?
                             Wenn sich die Zivilgesellschaft für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzt,
                             kann vieles bewirkt werden. Man muss eben mehr Menschen dafür gewinnen und man
                             braucht eine europäische Perspektive. Daran arbeite ich (lacht).

     Mit Jura kann man alles
     ­machen. Stimmt das?
                             Ob man alles machen kann, weiß ich nicht, aber vieles. Jura bleibt ein Türöffner. Wir als
                             Jurist*innen, sei es in der Justiz, in der Verwaltung oder als Anwält*innen befassen uns
                             mit den Themen, die alle Menschen täglich beschäftigen.

     Warum sind Sie An-
     wältin geworden?
                             Es gibt zwei Momente in meinem Leben: 1998 in Teheran gab es die Kettenmorde an
                             Oppositionellen. Das hat mich sehr mitgenommen. Ich war 13. Ich war fassungslos, er­
                             schüttert. Damals dachte ich: Ich möchte die nächste Verfassung Irans schreiben, sie
                             sollte ganz anders aussehen.
                             Später bin ich nach Hamburg ausgewandert. Da kamen andere Herausforderungen,
                             eine neue Welt öffnete sich. Im März 2016, damals war ich Referendarin am Bundes­
                             verfassungsgericht, saß ich dann in der Verhandlung zum Atomausstieg. Mein jetziger
                             Mentor, Ulrich Karpenstein, hat so beeindruckend zur Grundrechtsberechtigung eines
                             europäischen Staatskonzerns vorgetragen, dass es mich komplett erwischt hat. Es war
                             klar: Wenn ich nicht in der Wissenschaft bleibe, möchte ich bei ihm Anwältin werden.
                             Und so ist es auch gekommen.

     Hätten Sie sich als junge
     Anwältin etwas gewünscht,
     was den Berufseinstieg
     leichter gemacht hätte?
                             Ja, natürlich. Es gibt vieles, das ich irgendwie gerne anders gehabt hätte, schon während
                             des Studiums und der gesamten Ausbildung. In jedem Stadium hätte ich viel besser auf
                             den Beruf und die ganz alltäglichen Probleme vorbereitet werden können. Die prakti­
                             sche Anwendung des Rechts sowie die wirksame Durchsetzung von Interessen ist nach
                             wie vor unterbelichtet. Sachverhaltsarbeit und Subsumtion werden unterschätzt.

30
Was hätten Sie sich
denn in der Ausbil-
dung gewünscht?
                        Sich mal mit der Frage auseinanderzusetzen: Warum sitzen wir alle zusammen? Was ist
                        der Sinn des Ganzen? Also eine bessere Einführung in die Rechtswissenschaft. Eine,
                        die begeistert.

Also, warum Jura?
                        Weil sich damit so viel bewegen und hinterfragen lässt.

Das heißt, es braucht
Vor­bilder, die Lust
und Freude an Jura
vermitteln?
                        Auch. Und Grundlagen. Grundlagen der Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie sind
                        sehr wichtig. Für viele ist das ein exotisches Thema. Aber die Wahrheit ist: Alles, was ich
                        gelernt habe, habe ich aus diesen kleinen Seminarräumen.
                        Um zum politischen Engagement an der Uni zurückzukommen: Leider geht es bei die­
                        sem Engagement oft nicht mehr darum, etwas zu lernen und zu bewegen, sondern
                        darum, es in seinen nächsten Stipendienantrag und seinen Lebenslauf zu schreiben.
                        Das Gefühl habe ich aber auch heute noch bei vielen.

Fehlt der Spaß an Jura?
                        Ja. Das Studium und das Referendariat sind absurd examensorientiert.
                        Dafür aber, dass die Examina so wichtig sind, fand ich den Umgang damit sehr fahrlässig,
                        zum Beispiel die mündliche Prüfung, ein Zufallsprinzip. Oft zählt nur die Sympathie. Ich
                        wünschte mir tatsächlich eine Videoaufnahme in jedem Prüfungsraum.

                                                                                                                               anwaltsbla
Was würden Sie
dem Nachwuchs
mitgeben, wenn sie
die Welt wirklich
­verändern wollen?
                        Jede*r Jurastudierende, sollte sich vorher die Frage stellen: Warum studiere ich das?
                        Weil ich keinen Medizinstudienplatz bekommen habe, weil meine Eltern sich das wün­
                        schen, oder aus Überzeugung? Wenn Ihr feststellt, im dritten, vierten Semester, dass es
                        nicht das ist, was Ihr Euch vorgestellt habt, dann habt den Mut aufzuhören. Lasst Euch
                        nicht von dem sozialen, familiären, freundschaftlichen Druck beeindrucken. Es ist kein
                        Scheitern, es ist eine Tür zu einer anderen Chance.

Wenn Sie zehn Jahre
­weiterdenken, haben Sie
 vor irgendetwas Angst?
                        Dass wir in zehn Jahren nicht mehr mehrheitlich dieselben Werte in dieser Gesellschaft
                        haben werden, und ich rede von der europäischen Gesellschaft. Ich mache mir Sorgen
                        um den Zustand Europas, und dass der rechtspopulistische Prozess weitergeht.

Wenn Sie „Katzenkönig“
hören, woran denken Sie?
                        An meine Strafrechtsvorlesung. Und daran: wie naiv man denn sein kann? (lacht) Das war
                        das erste, was mir durch den Kopf ging.
                        Das Gespräch führten Stephanie Graetz, Bettina Bachmann und Nicolas Lührig (Bearbeitung Lisa Tramm).

                                                                                                                               31
Plädoyer

     Die spezifisch juristische Denke
     Plädoyer von Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des
        Bundesgerichtshofs und Verfasser des Kurzkommentars zum Strafgesetzbuch.

           Und im Übrigen gilt hier wie überall:
         Man sollte tun, was man gern tut, und das,
            was man gern tut, mit ganzer Kraft.
                   Dann läuft das schon.

32
Der Beginn meines eigenen Jurastudiums liegt genau 40 Jahre
 zurück. Es fand in Würzburg statt und dauerte bis Sommer 1984.
 Die meisten Jurastudent*innen haben wenig Ahnung, was sie er­
 wartet. Fast alle haben aber Bilder im Kopf: Von flatternden
 Roben, wichtigen Prozessen, anwaltlichem oder richterlichem
 Lebensstil, Auftreten, Erfolg oder Risiko. Fast alle Bilder stimmen
 ­„irgendwie“ und auch wieder nicht.
          Die meisten Nichtjurist*innen denken, das Jurastudium
  ­bestehe aus dem Auswendiglernen einer unüberschaubaren
   Vielzahl von Regeln. Das ist nicht ganz falsch; es ist allerdings der
   eher weniger herausfordernde Teil. Denn Regeln, Techniken und
   spezifische Zusammenhänge zu erfahren und zu lernen, ist Teil
   jedes Studiums, und das bloße Auswendiglernen von Begriffen
   und Strukturen ist im Fach Jura sicher nicht schwieriger als in
   anderen Fächern.
          Neu und schwierig ist es dagegen, die spezifisch juristische
   „Denke“ zu erlernen: Eine Herangehensweise an Frage­stellungen,
   die ganz auf regelhafte Ergebnisse abzielt; eine Mischung von
   Genauigkeit in Details, welche für andere ganz ­unwichtig erschei­
   nen, und abstrakten Ableitungen. Aus den gewöhnlichen Alltags­
   fragen „Wie ist etwas?“ oder „Warum ist es so?“ werden die
   Fragen: „Darf es so sein?“ oder „Aus welcher Regel e      ­ rgibt sich
   das?“. Manchen sprechen diese Fragestellungen aus dem Her­
   zen, anderen bleibt eine solche Sichtweise auf die Welt fremd.
   Nicht zuletzt daran können sich „Eignung“ oder Nichteignung für

                                                                            anwaltsbla
   den juristischen Beruf entscheiden.
          Ich erinnere mich an Inhalte aus dem Beginn meines eigenen
   ­Studiums nur noch vage. In den Vorlesungen wurden rätselhafte
    Dinge in fremdartiger Terminologie vorgetragen und Fragen be­
    antwortet, die mir nicht eingefallen wären. Begriffe traten in mein
    Leben, die scheinbar alles veränderten: „Anspruch“, „Tatbe­
    stand“, „Rechtslage“. Von Gerechtigkeit, wehenden Roben und
    großen Prozessen war weit und breit nichts zu sehen. Diese
    furchterregende Fremdheit des Anfangs lässt über die Semester
    nach. Dann beginnt, unweigerlich, die Blickrichtung aufs Examen
    als das wichtigste Ziel von allen. „Examensrelevanz“, „Examens­
    vorbereitung“, „Examensangst“ und „Examensnähe“ breiten
    sich aus.
          Mein Ratschlag: Je mehr Sie sich den Blick verengen, desto
    schwieriger wird es. Die beste Methode, Juristin und Jurist zu
    werden ist es, Rechtswissenschaft zu betreiben: Als Wissen­
    schaft vom Recht, in all seinen Bezügen, Bedeutungen, Voraus­
    setzungen und Wirkungen. Natürlich muss man fleißig sein und
    viel lernen. Aber man muss weder das Hypothekenrecht auswen­
    dig lernen noch das Strafgesetzbuch. Sondern man muss offen
    sein für neue Fragen, und ­versuchen, die Dinge zu Ende zu
    ­denken: Strategien des Lösens ergründen, nicht Ergebnisse
     ­einpauken. Wenn man das verstanden hat, verlieren die Klippen
      des Studiums ihre Schrecken und werden zu spannenden
­Herausforderungen.

                                                                            33
1, 2, 3 … los!

           Business as usual? Muss nicht sein! Goldener Türknauf,
      edle Visitenkarte und 60-Stunden-Woche: Kann man machen, muss
       man aber nicht (mehr). Der Anwaltsberuf erlebt einen Umbruch,
        die neue Generation junger Jurist*innen wünscht sich Flexi-
       bilität statt Statussymbole. Arbeitszeitmodelle, die Raum für
      Reisen lassen, die Möglichkeit, das Mandant*innenleben vom Sofa
        aus zu verändern oder sich eine ganz eigene Kanzleistruktur
       auszudenken, sind Zukunftsideen, die Lust auf die Arbeitswelt
       machen. Lest selbst, wie Anwält*innen sich neu erfinden, eine
        gesamte Kanzlei in Teilzeit arbeitet oder virtuelle Mandats­
                bearbeitung tatsächlich funktionieren kann.

           1                       2                       3
       Der Traum               Teilzeit oder            Sichtbar im
     von der Kanzlei-           Karriere?                 Internet
        gründung

       Was treibt              36 Stunden              Wie mache ich
         Sie an?              verteilt auf                auf mich
      Wie erfindet            4 Tage – geht             aufmerksam?
      man sich neu?             das im An-             Wie werde ich
      Wie finde ich            waltsberuf                gefunden?
      meine Marke?              wirklich?
                              Warum ist die
                               Teilzeit in
                               der Anwalt-
                                schaft so
                                 anders?

34
kanz & lei

35
Marke

 Kanzleigründung

        1
Andin Tegen

                           Der Traum von
                        der Kanzleigründung
                                                                        Was treibt Sie an?
                                                                        Wie erfindet man sich neu?
                                                                        Wie finde ich meine Marke?

Sie hatten sich vieles ausgemalt: Dass es                               war bei Freshfields unter anderem zustän­
ihnen an Mandant*innen mangeln würde.                                   dig für „Employment Pensions Benefits“.
Dass sich die Fixkosten nicht mehr decken                                   Der Prozess bis zur Gründung dauerte
ließen. Dass unterschiedliche Arbeitswei­                               etwa zehn bis zwölf Monate. „Wir wollten
sen zu Streit führen würden. Dass aber                                  unsere eigenen Chefs sein und entschei­
nichts davon eintreten würde, dass ihre                                 den, wann und wie man für welche Kondi­
Kanzlei nach kurzer Zeit so laufen würde,                               tionen für welche Mandanten arbeitet“,
                                             Dr. Claudia Jehle
als wären sie seit Jahrzehnten auf dem                                  sagt Naber. „Insbesondere ohne Vorga­
Markt – damit hatten sie nicht gerechnet.    ist Gründungspartnerin     ben von ausländischen Kanzleizentralen,
                                             von Neuwerk Rechts­
    Fünf Jahre ist es her, da setzten sich   anwälte. Vor der Aus­      die an Partner in Deutschland regelmäßig
ein paar Anwält*innen der Großkanzlei        gründung war sie           bestimmte Umsatz- und Gewinnerwar­

                                                                                                                       kanz & lei
                                             Principal Associate bei
Freshfields Bruckhaus Deringer und der       Freshfields Bruckhaus      tungen knüpfen.“
Strafrechtsboutique Roxin an einen Tisch     Deringer LLP. Sie              Sie gingen ohne ein einziges Mandat
                                             ­absolvierte einen LL.M.
und gossen ihren Traum von der Selbst­        in Florenz und ist aus­   aus ihren Festanstellungsverhältnissen,
ständigkeit in einen handfesten Business­     gebildete Wirtschafts­    zwei von ihnen kamen direkt aus einer län­
                                              mediatorin.
plan. Die Kanzlei Neuwerk, unweit der                                   geren Elternzeit. Da war nur diese Vision:
Hamburger Binnenalster, war der lang ge­                                ein Spin-off zu gründen, das mehr ab­
hegte Wunsch, nach all den Jahren der                                   deckt als nur eine Disziplin. „Das sollte
Praxiserfahrung einen immer größer wer­                                 unsere Marktlücke und unser Wiederer­
denden Unternehmer*innengeist zu be­                                    kennungszeichen sein.“
friedigen. Trotz des Risikos zu scheitern.                                  Vom Konferenzraum im vierten Stock
                                                                        eines alten Hamburger Kontorhauses aus
                                                                        blickt Naber über das geschäftige Treiben
Konspirativer Start: Wie sieht                                          auf dem Gänsemarkt. Hier, im Herzen der
die Traumkanzlei aus?                                                   Stadt, hatten sie 2016 eine ganze Etage für
                                                                        ihre Kanzlei gemietet. „Wir hatten eine
 „Wir trafen uns regelmäßig‚ im Verborge­    Dr. Sebastian Naber        Gründungsfinanzierung von der Deut­
nen, bei einem von uns zu Hause und trie­    ist Gründungspartner
                                                                        schen Bank, die wir im ersten Jahr vollstän­
ben die Gründung voran: durch den            von Neuwerk Rechts­        dig zurückführen konnten“, sagt er stolz.
                                             anwälte. Vor der
Entwurf von Businessplänen, durch Ab­        Ausgründung war er
                                                                        Eine fürstliche Bürofläche mit hohen Wän­
stimmungen zur Struktur der Kanzlei, dem     Principal Associate bei    den – und dennoch zu wenig Platz. Drei
                                             Freshfields Bruckhaus
Namen und Ähnlichem“, sagt Dr. Sebastian     Deringer LLP. Er absol­
                                                                        weitere Etagen hat Neuwerk dazu gemie­
Naber, Gründer und Partner bei Neuwerk.      vierte sein Studium in     tet, damit sich nicht mehr mehrere An­
                                             Hamburg, Cambridge
Er berät Unternehmen und Einzelpersonen      und Suzhou.
                                                                        wält*innen ein Büro teilen und „praktisch
in allen Bereichen des Arbeitsrechts und                                zeitgleich in den Hörer quatschen müssen“.

                                                                                                                       37
Die Marktlücke trug:                                                               kommen – viele Anwält*nnen und Mitar­
     Schnelles Wachstum                                                                 beiter*innen haben Kinder und sind auch
                                                                                        zuhause gefordert. „Wenn mein vierjähri­
      Die Kanzlei zählt heute zu den wenigen                                            ger Sohn einmal krank ist, sind mein Mann
      ­interdisziplinären Spin-offs der Branche.                                        oder ich zu Hause. Jeder kennt die Situa­
       Aus einst fünf Anwält*innen und einer                                            tion – dann wird der Arbeitsalltag spontan
       ­S ekretärin wurden innerhalb von drei                                           umorganisiert, und die Welt geht erstaun­
        ­J ahren 50 Mitarbeiter*innen, darunter                                         licherweise nicht unter. Dies war sicher
                                                                 Arbeitsrecht
         16 Anwält*innen, die sich auf die Gebiete                                      auch eine Motivation bei der Gründung.
     ­Arbeits-, ­Gesellschafts-, Immobilienwirt­
         schafts-, Wirtschaftsstraf- und IP/IT-
         Recht spezialisiert haben. „Wir hatten              Gesellschaftsrecht         Wer gründet, kann alles
         von Anfang an eine Office-Managerin,                                           so machen, wie er will
         danach haben wir zügig wissenschaftli­
         che Mitarbeiter, eine Rechtsanwaltsfach­                                       Das Team von Neuwerk will die Nach­
         angestellte und eine Auszubildende                    Immobilienrecht          wuchskräfte schon von Anfang an für sich
         ­eingestellt“, sagt Naber.                                                     gewinnen, setzt auf die Ausbildung vieler
                Die Anwält*innen profitierten von den                                   wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen und
          Kontakten zu Mandant*innen, mit denen                                         das Thema Weiterbildung – ein Aspekt,
          sie bei Freshfields zusammengearbeitet             Geistiges Eigentum         der auch bei Freshfields schon großge­
                                                              und Informations­
          haben: Nach und nach fielen im Laufe der            technologierecht
                                                                                        schrieben wurde.
          Zeit Mandate ab, die zu klein für die Groß­                                        „Schon damals bekamen wir die Mög­
          kanzlei waren. „Und so wurde unser Netz­                                      lichkeit, sämtliche Kurse und Module zu
          werk immer größer – es sprach sich                                            durchlaufen: Teambuilding, Marken­aufbau,
          herum, dass wir umfassend beraten und                                         Akquise, kritische Gesprächsführung…“,
                                                                Prozessrecht
          über eine breite Expertise aus vielen Be­                                     sagt Jehle. „Unsere eigene Weiterbildung
          reichen verfügen“, sagt Naber. „Wir muss­                                     findet mit Hilfe eines externen Dienstleis­
          ten kaum noch akquirieren.“                                                   ters statt: Bucerius Education. Anders als
                Zudem konkurriert die Kanzlei nicht                                     Freshfields sind wir zu klein, um eine
          mal mit dem ehemaligen Arbeitgeber                   Wirtschaftsrecht
                                                                                        ­Weiterbildung mit eigenen, bei uns ange­
          Freshfields. „Wir decken vor allem globale                                     stellten, Coaches zu ermöglichen.“
          und internationale Mandate ab, für die                                             Arbeitsprozesse wurden in der Kanzlei
          eine Präsenz in sehr vielen Ländern erfor­                                     nicht nur hinterfragt, sondern gemäß
          derlich ist – da kommen wir uns praktisch                                      ihrem im Vergleich zu Großkanzleien klei­
          nicht ins Gehege, sondern empfehlen uns                                        nem Format neu entwickelt und in einem
                                                           Malen nach Farben
          vielmehr wechselseitig weiter.“                                                Strategiehandbuch festgehalten. „Wir
                Auch Dr. Claudia Jehle gehört zum           Durch interdisziplinäres     haben für viele Bereiche – vom Onboard­
                                                            Knowhow und die
          Gründungsteam und berät vor allem                ­Er­­fah­rung der Kanzlei­    ing neuer Mitarbeiter bis hin zum Mahn­
          ­komplexe Immobilientransaktionen. Man            part­ner*in­nen in den       wesen – möglichst passgenaue Prozesse
                                                            Schwerpunkt­bereichen
           müsse den Mitarbeiter*innen heute viel           kann die Kanzlei feste       erarbeitet“, sagt Naber. In jeder Organisa­
           mehr bieten als nur gute Gehälter und            Zeit- und Ressourcen­        tion läge die Herausforderung darin, dass
                                                            planung für ihre Rechts­
           ­anspruchsvolle Mandate. „Wir arbeiten           dienst­leistungsprodukte     man die Prozesse auch dann einhält, wenn
            nicht streng hierarchisch, sondern bieten       anbieten. Diese werden       man viel um die Ohren hat – das ist in gro­
                                                            für jedes Mandat vorab
            viele Freiheiten: Home-Office, flexible         individuell angepasst.       ßen Kanzleien genauso wie in kleinen.
            A rbeitszeiten, Weiterbildung, gemein­
            ­                                                                                Der Unternehmergeist wurde schon
            same Unternehmungen, interne Lunch-­                                         damals, während der Fortbildung bei
            Termine, in denen ein Anwalt von uns zum                                     Freshfields zum Leben erweckt, glaubt er.
            Beispiel über ein laufendes Mandat oder                                     Die Autorin ist Journalistin in Hamburg und schreibt
            seinen Fachbereich referiert“, sagt sie.                                    regelmäßig für das Anwaltsblatt des Deutschen
                                                                                        Anwaltvereins.
            Und natürlich darf die Familie nicht zu kurz

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