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Nr. 1/2020 H 9851 THEMA Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Katholische JUGEND Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. Kinder- und Jugendschutz NRW e.V. ZEITSCHRIFT FÜR JUGENDSCHUTZ UND ERZIEHUNG RECHTSPOPULISMUS Antisemitismus (Prävention) Rassismus (Kritik) Demokratie (Bildung) www.thema-jugend.de
INHALT VORWORT ■ ■ ■ ■ ■ THEMA Informieren – Sensibilisieren – Stark machen Bildungs- und Präventionsarbeit gegen Antisemitismus Patrick Fels / Dr. Stefan E. Hößl 3 Rassismus (be)trifft uns ALLE Rassismuskritische Perspektiven in der Bildungsarbeit Karima Benbrahim 6 Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen Liebe Leserinnen und Leser, Fortbildungskonzept VIR für Fachkräfte Kath. LAG und Kooperationspartner*innen 9 das gesellschaftliche Leben, Lernen und Arbeiten sind seit Wochen durch das Coronavirus geprägt. Dabei wird das Verhält- Demokratie ist keine wertfreie Veranstaltung nis vom Einzelmenschen zur Gesellschaft fundamental in Frage Weimarer Erklärung für demokratische Bildungsarbeit gestellt. Wir alle sind in unserer gewohnten Freiheit einge- Lea Kohlmeyer 11 schränkt. Aus Kinder- und Jugendschutzsicht bedeuten die geltenden Kontaktsperren eine Herausforderung, da für viele Rassismus und rassistische Diskriminierung Familien die verlässliche Alltagsstruktur wegbricht und niemand Auswirkung auf Kinder und Jugendliche und die weiß, wie sich diese Situation auf Kinder und andere Schutz- Notwendigkeit von Empowerment und Powersharing bedürftige auswirkt. Auch die Arbeit der Katholischen Lan- Gülgün Teyhani / Christina Roth / Lisa-Marie Rüther 12 desarbeitsgemeinschaft stellt sich in diesen Zeiten anders dar. Umso mehr freuen wir uns, Ihnen die aktuelle Ausgabe der Rassismus und Antisemitismus THEMA JUGEND, die noch vor „Corona“ konzipiert wurde, Die Arbeit der Servicestelle SABRA vorstellen zu dürfen. Sophie Brüss / Sebastian Mohr 16 Die Betrachtungen gelten dem Rechtspopulismus und extre- mer Ideologien sowie Tendenzen und Mechanismen gruppen- ■ ■ ■ ■ ■ MATERIAL ZUM THEMA 19 bezogener Menschenfeindlichkeit. Thematisiert werden dabei Antisemitismus und Rassismus, Rechtsextremismus und Hass- kommunikation: Institutionen, Projekte und Fortbildungskon- ■ ■ ■ ■ ■ KOMMENTAR zepte für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden dabei Verantwortung verpflichtet! ebenso vorgestellt wie Beratungs- und Bildungsarbeit in der Markus Lahrmann 22 Praxis. Politischer Bildung im schulischen wie außerschulischen Bereich kommt eine besondere Rolle zu, wenn Heranwachsen- de gestärkt werden sollen in einer kompetenten Beurteilung von ■ ■ ■ ■ ■ BÜCHER & ARBEITSHILFEN politischer Ansprache und gegenüber Haltungen, die autoritäre Vorstellungen vertreten und die Ungleichwertigkeit von Men- Fachstelle LAG Jungenarbeit NRW: schen behaupten. Nicht „neutral“ zu sein, sondern die Achtung Fokus: Fluchtspezifische Sexualpädagogik 23 der Menschenrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit als demokratische Grundlagen zu berücksichtigen, ist Aufgabe von Bildung(sarbeit) in der Demokratie. ■ ■ ■ ■ ■ INFORMATIONEN Im Kommentar dieser Ausgabe bezieht unser stellvertretender Amadeu Antonio Stiftung: Vorsitzender Markus Lahrmann Stellung zum neuen Jugend- Gegen Hasskommunikation online: Projekt de:hate 24 medienschutzgesetz. Die O-Töne von Jugendlichen stammen aus einer Dokumentarfilmreihe des Medienprojekts Wuppertal und aus einer Studie der Fachhochschule Frankfurt zu Antisemi- tismus an Schulen. Einstweilen verabschiede ich mich von Ihnen in eine Elternzeit. Ab der nächsten Ausgabe begrüßt Sie an dieser Stelle meine Kollegin Gundis Jansen-Garz, die die Redaktion der THEMA JUGEND und den Arbeitsbereich Publikationen übernimmt. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen mit herzlichen Grüßen aus der Redaktion Dr. Lea Kohlmeyer 2 THEMA JUGEND 1|2020
THEMA Patrick Fels / Dr. Stefan E. Hößl INFORMIEREN – SENSIBILISIEREN – STARK MACHEN Bildungs- und Präventionsarbeit gegen Antisemitismus Die Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus (ibs) im NS-Dokumentationszentrum ist eine Einrichtung der Stadt Köln mit dem Ziel, das Bewusstsein für Menschenrechte, Demokratie, kulturelle Vielfalt und Gewaltfreiheit zu fördern sowie rechtsextremen Denk- und Handlungsmustern vorzubeugen und entgegenzutreten. Dazu gehört das Eintreten für die Rechte eines jedes einzel- nen Menschen, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Religion. Die „Fachstelle [m²] miteinander mittendrin. Für Demokratie – Gegen Antisemitismus und Rassismus” ist Teil der ibs und verfolgt im Themenschwerpunkt ‚Antisemitismus‘ das Ziel, mit ihren Bildungsangeboten möglichst viele Menschen in Köln zu erreichen. In ihrer Schulzeit ist Emily anfänglich sehr offen mit ihrem Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollten (vgl. Spie- Jüdisch-Sein umgegangen. „Hätte ich gewusst, wie sehr gel 2016). Eine ablehnend-feindliche Haltung und eine in-eins- das ein Thema wird, wäre ich vorsichtiger gewesen“, sagt die Setzung von „(deutschen) Jüdinnen und Juden“ und „Israel/-is“, heute 20-Jährige im Interview 1 dazu. Denn die Reaktionen ihrer wie sie sich in der Motivation zu diesem Anschlag widerspiegelt, Mitschüler*innen darauf waren heftig: Emily wurde als Fremde, findet sich laut der Studie „Verlorene Mitte“ bei mehr als jeder als Andere, als DIE JÜDIN wahrgenommen, ausgegrenzt und mit vierten befragten Person in Deutschland (vgl. Zick et al. 2019, Hitler- und Holocaust- „Witzen“ bedacht. So wurde beispielsweise 70 f.). Diese sind der Meinung, dass sie „bei der Politik, die Isra- auf das Wort „vergessen“ Bezug genommen, wenn gesagt wurde: el macht, gut verstehen können, dass man etwas gegen Juden „Emily vergaaas ... das Essen zu kaufen“, wobei alle anfingen, zu hat“. Einer von fünf Befragten stimmte in der Studie daneben der lachen. Niemand, so Emily, habe daran gedacht, „was das mit mir antisemitischen Aussage zu, dass „viele Juden versuchen, aus der macht, was das bei mir auslöst.“ Aber die Situation wurde noch Vergangenheit des Nationalsozialismus heute ihren Vorteil zu dramatischer für sie. Sie wurde gemobbt und auch körperlich an- ziehen“. gegriffen. Von Lehrkräften, an die sie sich in einer Extremsituation Wie allein das Beispiel des Anschlags und die Ausführungen zu wandte, erfuhr sie keine Unterstützung, was sie mit den Worten Emily deutlich machen, bedroht Antisemitismus die Lebensper- kommentiert: „Ich habe mich so klein gefühlt, mir hat keiner zu- spektiven von Jüdinnen und Juden sehr real. Er ist als Angriff auf gehört“. ihre Menschenwürde sowie die demokratische Kultur mit ihrem Ideal eines respektvollen zwischenmenschlichen Miteinanders Antisemitismus? … schon wieder? zu bewerten – und Antisemitismus macht weder vor der Schu- le (dem Klassen- und dem Lehrer*innenzimmer), noch vor der Nein, immer noch! Trotz all der Bemühungen der letzten Jahr- offenen Kinder- und Jugendarbeit Halt. Er zeigt sich mitunter in zehnte, Antisemitismus zurückzudrängen, ist er auch in der Ge- Form von Bildern in WhatsApp-Gruppen, in Ausgrenzung und genwart ein virulentes antidemokratisches Phänomen – und dies Abwertung, in Form von Sprüchen und Beleidigungen bis hin zu nicht etwa nur in bestimmten Teilbereichen der Gesellschaft. gezieltem Mobbing – wie bei Emily. Aufgrund der Komplexität Antisemitische Vorstellungen finden sich in allen Schichten der der mit Antisemitismus verbundenen Themen fühlen sich viele deutschen Bevölkerung. Insbesondere durch die Möglichkeiten, pädagogisch Tätige unsicher in der Einordnung, Bewertung und die das Internet bietet, finden sie zunehmend Verbreitung (vgl. im Umgang mit Antisemitismus, manchmal auch hilflos. Etliche Schwarz-Friesel 2019). Dabei ist es vor allem der israelbezogene jüdische Kinder und Jugendliche berichten davon, dass sie sich Antisemitismus, der aktuell die dominante Erscheinungsform des mit ihren Antisemitismuserfahrungen alleingelassen fühlen. Vor Antisemitismus darstellt. Oft wird er nicht als Antisemitismus er- diesem Hintergrund stellt sich die Frage: kannt und deshalb weniger stark problematisiert als andere Er- scheinungsformen, da altbekannte antisemitische Stereotype Was tun? nicht auf „Jüdinnen und Juden“ bezogen werden, sondern auf „Israel“. Dass aber auch diese Form des Antisemitismus wie je- Als sicher gilt eines: Nichts zu tun, ist keine Lösung. Antise- de andere eine latente Belastung und auch konkrete Gefahr für mitismus verschwindet nicht einfach, wenn er ignoriert wird. Jüdinnen und Juden in Deutschland darstellt, machen Anschläge Zwar sind nicht nur Pädagog*innen, sondern unterschiedliche wie der auf die Wuppertaler Synagoge im Jahr 2014 besonders Akteur*innen in Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und auch deutlich, den die Täter damit begründeten, dass sie mit ihm die Sicherheitsbehörden gefordert, wenn es darum geht, Antisemi- THEMA JUGEND 1|2020 3
tismus etwas entgegenzusetzen. Doch kommt insbesondere der Fachstelle [m²] des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln Bildungsarbeit hier eine wichtige, präventive Rolle zu. in einem Ansatz integriert, der sich am Motto „informieren – sen- Allgemein betrachtet bietet demokratische politische Bildung sibilisieren – stark machen. kontinuierlich!" orientiert. Entwickelt mit ihrem Ziel der „Mündigkeit“ viele Potentiale, gegen Antise- wurden verschiedene Workshop-Formate für die schulische und mitismus zu wirken. „Mündigkeit umfasst auch die Kompetenz, außerschulische antisemitismuskritische Bildungsarbeit 3 sowie als freies und gleichberechtigtes Selbst unter freien und gleich- für Multiplikator*innen, die darauf ausgerichtet sind, Teilneh- berechtigten Anderen zu leben“ (Biskamp/Hößl 2020) – sie steht mende mit ihrem jeweiligen Vorwissen abzuholen und ihnen damit dem Antisemitismus mit seinem repressiv-antidemokrati- nach Möglichkeit und im Rahmen der zur Verfügung stehen- schen Charakter antagonistisch gegenüber. den Zeit subjekt- und lebensweltorientiert zu begegnen. Die Spezifische, weniger allgemeine Strategien der Bildungsarbeit Fachstelle verfolgt dabei das Ziel, mit ihren Bildungsangeboten gegen Antisemitismus können daneben sehr unterschiedlich möglichst viele Menschen in Köln zu erreichen – und dies unab- ausgestaltet sein. Monique Eckmann (2013) unterscheidet in ide- hängig von gesellschaftlicher Positionierung, Herkunft oder re- altypischer Weise vier Ansätze. Sie benennt Bildungsstrategien, ligiöser Zugehörigkeit. Sie zielt darauf ab, über Antisemitismus die in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zu informieren, a) auf das Erkennen, Infragestellen und eine wissensbezogene für die Gefahren von Antisemitismus zu sensibilisieren und Men- Dekonstruktion antisemitischer Vorstellungen abzielen und in schen darin zu bestärken, sich gegen Antisemitismus zu positi- deren Rahmen Kompetenzen wie Medienkritik vermittelt so- onieren sowie sie zu motivieren, sich aktiv für eine offene und wie über die Funktionsweisen von Antisemitismus aufgeklärt vielfältige Gesellschaft und ein solidarisches Miteinander zu en- wird. gagieren. Ein solches Engagement wird grundlegend als Beitrag b) „Antisemitismus als Erfahrung im sozialen Nahraum im Kon- zur Förderung einer lebendigen Demokratie verstanden. text zunehmender Ethnisierung von sozialen Konflikten“ (ebd., S. 58) thematisieren und Teilnehmende an Bildungsan- geboten darin bestärken, Diskriminierungen entgegenzuwir- Wie wird das konkret umgesetzt? Zwei ken und solidarisch zu handeln. Anmerkungen zu einem komplexen c) sich an der Kontakthypothese orientieren und die auf einen Aufgabenfeld Abbau von Vorbehalten über Begegnungen mit Jüdinnen und Juden im Dialog hinwirken sollen. Da mit antisemitischen Konstruktionen von „Juden“ als „den d) auf eine Spurensuche zum Beispiel nach jüdischem Leben im Anderen/Fremden“ in grundlegender Weise Vorstellungen ei- Dorf oder im Stadtteil ausgerichtet sind und in denen sich die ner (national, ethnisch, religiös oder anderweitig kodierten) Teilnehmenden mit spezifischen Geschichten und Erinnerun- Wir-Gemeinschaft verbunden sind, werden in dreistündigen gen auseinandersetzen. Mitmach-Workshops mit Schüler*innen ab der neunten Klasse Methoden eingesetzt, die auf eine Wahrnehmung der facetten- Idealtypisch ist diese Unterteilung, weil mehr Bildungsstra- reichen Bezüge von Menschen in der Welt abzielen, bevor eine tegien als die angeführten existieren und weil diese auch weiterführende Beschäftigung mit Erscheinungsformen und in kombinierter oder modifizierter Weise genutzt werden können. Alle genannten Ansätze bieten spezifische Potentiale, Funktionen des Antisemitismus erfolgt. 4 Anvisiert wird so, die gegen Antisemitismus zu wirken, sind jedoch auch mit Proble- Logik des Antisemitismus an einem entscheidenden Punkt zu men und Schwierigkeiten verbunden. So sind dialogisch orien- unterminieren: Mit Antisemitismus sind Menschen auf nur eine tierte Projekte, wie sie etwa im Rahmen von „Meet a Jew“ um- Dimension ihrer Zugehörigkeit verkürzende Wahrnehmungen gesetzt werden, 2 sehr anspruchsvoll, auch was etwaige Zumu- verbunden. Menschen verkürzen sich dabei selbst während sie tungen betrifft, denen Jüdinnen und Juden in diesen Bildungs- auch andere in solch einer Weise verkürzen: „Wir – die Deutschen, settings ausgesetzt werden können. Aber auch Strategien, die die Christ*innen, die Türk*innen, die Pol*innen, die Muslim*in- auf eine bloße Wissensvermittlung abzielen, müssen sich nen“ etc. versus „die Juden“ ist eine Konstante in der antisemi- beispielsweise die Frage gefallen lassen, ob allein ein Mehr an tischen Semantik. Die Vielfalt unterschiedlicher Zugehörigkei- Faktenwissen gegen Antisemitismus ausreicht. Und generell ten wird ausgeklammert und ins Zentrum rückt die Imagination stellt sich vor dem Hintergrund dessen, dass auch formal sehr einer Wir-Gruppe als einer Großgemeinschaft, die „den Juden“ gebildete Menschen antisemitische Vorstellungen aufweisen entgegengesetzt ist. Imaginäre und singuläre Zugehörigkeits- können, die Frage, auf welche Art von Bildung zu setzen ist. vorstellungen zu dezentralisieren und die Teilnehmenden der Geht es nicht vielmehr um ganz konkrete Haltungen als um Workshops anzuregen, ihre vielfältigen Bezüge in der realen so- Faktenwissen? … um die Wahrnehmung von Heterogenität in zialen Welt auszuleben, ist insofern ein wesentliches Ziel der Bil- der deutschen Migrationsgesellschaft als etwas Konstitutives? … dungsarbeit von [m²]. um Widerspruchs- und Ambiguitätstoleranz? … um selbstreflexi- Ein weiteres Ziel besteht darin, auf ein Phänomen hinzuweisen, ve und auch -kritische Perspektiven? das als Wahrnehmungsdiskrepanz beschrieben wird (vgl. Zick et al. 2017): Jüdinnen und Juden sind weit überwiegend der Die Bildungsarbeit der Fachstelle [m²] mit- Meinung, Antisemitismus habe in den letzten Jahren zugenom- einander mittendrin. Für Demokratie – men; eine Ansicht, die nur von einer Minderheit der nicht-jüdi- schen Restgesellschaft geteilt wird. Die Ursachen dieser Diskre- Gegen Antisemitismus und Rassismus panz liegen im unterschiedlichen Grad der Betroffenheit von Die Reflexionen zu unterschiedlichen Strategien und Herausfor- Antisemitismus begründet und verweisen darauf, wie bedeut- derungen im Feld der Präventions- und Bildungsarbeit gegen sam es ist, vielfältige jüdische Perspektiven in die Bildungsarbeit Antisemitismus wurden in der 2019 auf Dauer eingerichteten einzubinden, um Sensibilisierungsprozesse zu fördern. 4 THEMA JUGEND 1|2020
Essentiell wichtig ist es für die Mitarbeiter*innen von [m²] daher, den, erscheint eine rassismus- und diskriminierungssensible Haltung in der antise- mitismuskritischen Bildungsarbeit unverzichtbar. Verwiesen werden kann in diesem auf der Basis von selbst durchgeführten Interviews erstellte Por- Zusammenhang darauf, dass sich der Vorwurf, ‚die Muslim*innen‘ seien allesamt An- traits zu jüdischen Kölner*innen in die Workshops einzubringen. tisemit*innen, zu einem eigenständigen Topos des antimuslimischen Rassismus ent- wickelt hat (vgl. Cheema 2017, S. 63), welcher auch in der Praxis der Bildungsarbeit Alle Interviewten weisen eine regionale wie altersbezogene Nä- wiederkehrend geäußert wird. he zu jenen auf, die an den Schul-Workshops teilnehmen. Be- 4 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hößl (2019, S. 373-411). deutsam war es mit Blick auf die Portraits, die Interviewten nicht allein auf ihr Jüdisch-Sein oder auf Antisemitismuserfahrungen zu reduzieren. Vielmehr kommen sie in der Bildungsarbeit mit all dem, was sie als Individuen ausmacht, zu Wort. Jüdisch-Sein ist dabei nur ein mehr oder weniger bedeutsamer Aspekt neben anderen, wie dies auch Emily deutlich macht, wenn sie sagt: „Ich bin nicht nur jüdisch. Ich bin Emily. Ich bin Studentin. Ich bin ein Mensch, der Musik und Kultur mag. Ich bin so vieles. Jüdisch-Sein ist ein Teil von mir, ein schöner und wichtiger, aber eben einer neben anderen.“ Antisemitismuserfahrungen wie die eingangs skizzierten werden dabei jedoch nicht ausgeblendet, sondern vielmehr für Reflexio- nen herangezogen und dahingehend diskutiert, wie man sich in den jeweiligen Situationen (solidarisch) verhalten kann. Überge- Patrick Fels (M.A., Politikwissenschaftler) und Dr. Stefan E. Hößl ordnetes Ziel ist es, Workshop-Teilnehmende zu motivieren und (Erziehungswissenschaftler) sind wissenschaftliche Mitarbeiter der darin zu bestärken, Haltung zu zeigen, Verantwortung zu über- Fachstelle [m²] miteinander mittendrin. Für Demokratie – Gegen nehmen und zu erkennen: Gegen Antisemitismus braucht es Hal- Antisemitismus und Rassismus des NS-Dokumentationszentrums tung. Antisemitismus geht uns alle an! ■ der Stadt Köln. Schwerpunkt der Fachstelle ist die Bildungsarbeit im Themenfeld ‚Antisemitismus‘. Literatur Biskamp, Floris/Hößl, Stefan E. (2020): Perspektiven der politischen Bildung im Zusam- menhang mit Islam und Islamismus in der pluralen Gesellschaft. In: Hößl, Stefan E./Ja- mal, Lobna/Schellenberg, Frank (Hrsg.): Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10399. Bonn. (im Erscheinen) Cheema, Saba-Nur (2017): Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und isla- misierter Antisemitismus – Anforderungen an die Bildungsarbeit. In: Mendel, Meron/ Messerschmidt, Astrid (Hrsg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main, Campus, S. 61-76. Eckmann, Monique (2013): Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen. In: Detzner, Milena/Drücker, Ansgar (Hrsg.): Antisemitismus – ein gefährliches Erbe mit vie- len Gesichtern. Handreichung zu Theorie und Praxis. Informations- und Dokumentati- onszentrum für Antirassismusarbeit. Düsseldorf, S. 57-61. Hößl, Stefan E. (2019): Antisemitismus unter ‚muslimischen Jugendlichen‘. Empirische Perspektiven auf Antisemitismus im Zusammenhang mit Religiösem im Denken und Wahrnehmen Jugendlicher. Wiesbaden. Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid (2017): Einleitung. In: Mendel, Meron/Messer- schmidt, Astrid (Hrsg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrati- onsgesellschaft. Frankfurt am Main, S. 11-23. O-TÖNE Schwarz-Friesel, Monika (2019): Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Berlin/Leipzig. „Auf dem Schulhof stand ein Junge und hielt sich ein Stück Spiegel (2016): Anschlag auf Synagoge in Wuppertal Gericht erhöht Bewährungs- schwarze Pappe über die Lippe und sagte laut »Heil Hitler«.“ strafen für zwei Täter. Quelle: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/anschlag-auf- synagoge-in-wuppertal-hoehere-bewaehrungsstrafen-a-1072630.html. Zugegriffen: (Diana, Schülerin) 15. April 2020. Zick, Andreas/Küpper, Beate/Berghan, Wilhelm (2019): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Bonn. „Wir müssen immer beweisen, dass wir bessere Menschen sind, Zick, Andreas/Hövermann, Andreas/Jensen, Silke/Bernstein, Julia (2017): Jüdische Per- nur weil wir Juden sind.“ (Simone, Schülerin) spektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Quelle: https://uni-bielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf. Zugegriffen: 15. April 2020. „Sonst hast du Probleme bekommen und wurdest geschlagen. […] Solange man in der Schule nicht gesagt hat, dass man Jude ist, hat man weniger Probleme.“ (Jakob, Schüler) Anmerkungen 1 Die Autoren des Textes führten im Jahr 2019 Interviews mit jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Hierbei entstand das Interview mit Emily. Alle Angaben „So oder so gehe ich vielen Konfliktsituationen aus dem Weg, weil zu ihr, die Rückschlüsse auf die Person ermöglichen könnten, wurden – ebenso wie der Name selbst – verändert. ich jüdisch bin, jedoch nicht so aussehe. Ich trage keine Kippa außer 2 Vgl. https://www.meetajew.de/. an Hochzeiten und auch keinen Davidstern.“ (Manuel, Schüler) 3 Eine solche Bildungsarbeit beansprucht, „nicht zuschreibend oder kulturalisierend (aus: Bernstein, Julia u. a.: „Mach mal keine Judenaktion!“. Herausforderun- zu sein“ (Mendel/Messerschmidt 2017, S.14), was sich auch im Namen der Fachstelle gen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit widerspiegelt, in der auf Rassismus Bezug genommen wird. Vor dem Hintergrund, gegen Antisemitismus. Forschungsbericht, Frankfurt a. M. 2018, dass Rassismus und Antisemitismus immer wieder gegeneinander ausgespielt wer- www.frankfurt-university.de/antisemitismus-schule, S. 54.) THEMA JUGEND 1|2020 5
THEMA Karima Benbrahim Rassismus (be)trifft uns ALLE Rassismuskritische Perspektiven in der Bildungsarbeit Wir erleben derzeit extreme Polarisierungen rassistischer und rechter Stimmungsmache, wenn es um das Thema Migration geht. Die Debatten kreisen um Migration, Flucht und Islam und die damit einhergehende Frage bzw. Herausforderung ist, wie mit der gesellschaftlichen Heterogenität ange- messen umzugehen ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Konfliktlinie nicht immer an der Begrifflichkeit Migration, sondern zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen von Pluralität ver- läuft, wie es die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan treffend beschreibt: „Migration ist nur die Chiffre, hinter der sich vielfältige Kon- flikte im Umgang mit Pluralität verstecken: Umgang mit Gender-Fragen, Religion, sexueller Selbstbestimmung, Rassismus, hörden für Verfassungsschutz bei der Verhinderung von rechter und rassistischer Gewalt und Terror. Auch in der Bildungsarbeit muss sich der Blick auf die Strukturen und Rahmenbedingungen Schicht und Klasse, zunehmender Ambiguität und Übersichtlich- in den eigenen Institutionen und Organisationen richten, in de- keit.“ 1 nen immer noch eine nahezu prämigrantische Realität herrscht, die von weißen, christlichen und heterosexuellen Männern ge- Das Problem dieses „Migrationsschleiers“, der diese Komplexität prägt ist, wie es Birgit Rommelspacher in ihrem Werk „Dominanz- verdeckt, liegt darin, dass in den vergangenen Jahren die oben kultur“ beschreibt. 3 genannten Themen mit Migration verknüpft wurden und nicht als Themenfelder wahrgenommen wurden, die auch ohne Migra- Rassismus(kritik) als machtkritische Praxis in tionsbezug von höchster Relevanz sind. So stürzen sich Rechts- populist*innen auch hier auf die Chiffre „Migration“ und schot- der Bildungsarbeit ten sich gegen jegliche Form eines pluralen Verständnisses einer Rassismus verletzt die Würde und die Rechte von Menschen postmigrantischen Gesellschaft ab. Rassistische und rechte Ein- of Color (s. o.). Menschen werden aufgrund bestimmter (zuge- stellungen, Ablehnung und offene Feindseligkeit sowie Enthem- schriebener) Merkmale wie Fluchthintergrund, Hautfarbe, Religi- mungen gegenüber Black, Indigenous und People of Color on und/oder Kultur hierarchisiert und homogenisiert. Je nach Po- (BIPoCs) 2, als sogenannte Migrationsandere sind nicht nur weit sitionierung wird Individuen und Gruppen ein unterschiedliches verbreitet, sie haben in den vergangenen Jahren eher zugenom- Maß an Anerkennung, Wertschätzung und Handlungsmöglich- men. Hassbotschaften in den sozialen Netzwerken und verbale keiten zugestanden. Die grundlegende Unterscheidungsform sowie tätliche Angriffe besonders auf sogenannten Migrations- beruht auf der Gegenüberstellung eines natio-ethno-kulturellen andere, geflüchtete, jüdische und muslimische (oder als solche „Wir“ und „Ihr“, die durch gesellschaftliche und strukturelle Prak- markierte) Menschen haben in einem Ausmaß zugenommen, dass sie als Teil unserer gesellschaftlichen Realität nicht mehr tiken aufrechterhalten werden. Die entsprechenden Zuschrei- ignoriert werden können. Allerspätestens diese Entwicklungen bungs- und Ausgrenzungspraktiken führen zu sozialer Ungleich- haben deutlich gemacht, dass Rassismus weder ein Phänomen heit und Benachteiligung einzelner Individuen und Gruppen auf der Vergangenheit ist, noch sich auf den rechten „Rand“ der Ge- individueller, struktureller, kultureller und institutioneller Ebene. sellschaft beschränkt, sondern fest in der Mitte verankert ist. Das postnationalistische Rassismusverständnis stellt für rassismus- Rassismusbetroffene gelangen in einen ständigen Erklärungs- kritische Ansätze immer noch eine große Herausforderung dar, und Legitimationszwang, wenn es um ihre Zugehörigkeit geht. denn es verknüpft Rassismus mit dem Nationalsozialismus und Exemplarisch stehen hier oft gut gemeinte Fragen und Bemer- beruft sich auf lediglich individuelle Einstellungen bzw. Verhal- kungen wie „Wo kommst Du eigentlich her?“ oder „Du sprichst tensmuster von Menschen am sogenannten Rand der Gesell- aber gut deutsch“. Betroffene erleben zum einen alltäglich Ras- schaft. sismus und zugleich die Dethematisierung ihrer Rassismuserfah- rungen in der Gesellschaft. Seit der Aufdeckung der NSU Morde gewinnt institutioneller und Aus rassismuskritischer Perspektive gilt als zentrales Ziel, Rassis- struktureller Rassismus im gesellschaftlichen Diskurs der Bundes- mus zu thematisieren, aufzuklären und aktiv dagegen zu han- republik Deutschland an Bedeutung. Im Mittelpunkt der Diskus- deln. Pädagogische Arbeitsfelder spielen eine wichtige Rolle im sion steht häufig das behördliche Versagen von Polizei, dem Bun- Erlernen eines reflexiven und sensiblen Umgangs rassistischer desamt für Verfassungsschutz und den verschiedenen Landesbe- Einstellungen, Strukturen und Praktiken. 6 THEMA JUGEND 1|2020
„Rassismuskritik verstehen wir als kunstvolle, kreative, notwen- Empowerment-Räume als Orte der Sichtbar- dig reflexive, beständig zu entwickelnde und unabschließbare [sic.], gleichwohl entschiedene Praxis, die von der Überzeugung machung von Rassismus- und Diskriminie- getragen wird, dass es sinnvoll ist, sich nicht „dermaßen“ von ras- rungserfahrungen sistischen Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen regieren zu In der Bildungslandschaft existieren bereits viele Angebote und lassen“. 4 Tagungen zur Thematisierung von Rassismus, aber es gibt sehr wenige, die die Perspektiven und Wissensbestände von Betrof- Obwohl sich pädagogische Konzepte mittlerweile kritisch ge- fenen fokussieren. Aus rassismuskritischer Sicht ist die Ausein- genüber einem statischen Kulturbegriff positionieren, ist in so- andersetzung mit Rassismus für Alle notwendig. Dennoch zielen genannten interkulturellen Konzepten immer noch die Frage die Angebote hauptsächlich darauf, weiße Zielgruppen fit und nach der „Kultur des Anderen“ als zentrale Differenzkategorie handlungskompetent zu machen. Diese Perspektive vernachläs- zwischen den Teilnehmer*innen präsent. Der Kulturbegriff wird sigt die Handlungssicherheit und Stärkung von Betroffenen ras- hier in – vermeintlich eindeutigen – nationalen, ethnischen und sistischer und rechter Gewalt in Workshops und Arbeitsfeldern. kulturellen Zugehörigkeiten gesehen, die das Verhalten und Empowerment und Powersharing ist eine notwendige Hand- Denken von Menschen stark prägen und determinieren. Kultur lungspraxis, um mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrun- wird somit zu einem homogenen und festgeschriebenen Kon- gen umzugehen. Betroffene Zielgruppen/Fachkräfte und Mul- strukt. Der Umgang mit Differenz und die Reflexion von Normali- tiplikator*innen of Color erleben nicht nur im Alltag Rassismus, tätsvorstellungen bedeuten in diesem Zusammenhang auch das sondern auch in pädagogischen Settings bzw. Handlungsfeldern Reflektieren des Kulturbegriffes. Mit Kultur ist ein flexibles, viel- – und sie erleben zugleich auch die Dethematisierung ihrer Ras- fältiges und sich veränderndes Kulturverständnis gemeint und sismuserfahrungen. In heterogenen Settings werden Fragen von keines, das Menschen determiniert. Dies bedeutet, dass aus der Macht und Privilegien häufig nicht angemessen reflektiert oder Zusammensetzung unterschiedlicher Kulturen (Jugendkulturen, sogar ausgeblendet. Dies führt dazu, dass rassistische Denk- und Subkulturen, Communities) eigene Kulturen entstehen können Handlungsmuster, die den Alltag strukturieren, in diesen Kontex- oder Kulturen sich verändern. ten reproduziert und nicht ausreichend problematisiert werden. Dadurch besteht in pädagogischen Handlungsfeldern die Gefahr Im Umgang mit Differenz ist es daher notwendig, eine Anerken- einer doppelten Verletzung und Reproduktion verinnerlichter nungs- und Wertschätzungskultur zu etablieren, die sich von Rassismen. Defizit-Konzepten und kulturalisierenden Wahrnehmungsmus- tern verabschiedet. Soziokulturelle Einflüsse und Hintergründe, Die Thematisierung von Rassismuserfahrungen am eigenen Ar- unterschiedliche Biographien und Lebenswelten werden dabei beitsplatz oder in der pädagogischen Arbeit wirft oftmals andere nicht als Abweichung und Störung gesehen, sondern als Norma- Fragestellungen auf und führt zu anderen Handlungsstrategien: lität betrachtet. • Welche Rolle spielen eigene Rassismuserfahrungen in der pä- dagogischen Arbeit? Wie können sich Fachkräfte mit Rassis- Beim Aufgreifen und der Bearbeitung von Rassismus sind die muserfahrungen schützen und empowern? Wie können Ras- besonderen Lebensbedingungen, Erfahrungs- und Handlungs- sismuserfahrungen verarbeitet und bewältigt werden? räume sowie die Interpretations- und Wahrnehmungsmuster • Wie kann eine rassismuskritische und empowermentorien- von Menschen, die Rassismuserfahrungen haben, zu berücksich- tierte Bildungsarbeit mit weißen Kolleg*innen aussehen? tigen. Daraus ergibt sich eine gelingende Auseinandersetzung • Wie können rassismuskritische und empowermentorientierte und Thematisierung von Rassismus als wichtige Voraussetzung Öffnungsprozesse in Institutionen angegangen werden? für Bildungs- und Lernprozesse. Für Institutionen und Pädago- • Wie können Empowerment- und Verbündetenarbeit als Teil g*innen ist dies mit verschiedenen Herausforderungen verbun- der pädagogischen Praxis mitgedacht und angewendet wer- den, so dass über Hindernisse und Möglichkeiten, die sich aus der den? gesellschaftlich-strukturellen Positionierung von Gruppen und • Wie können Strategien gegen alltäglichen und institutionel- Minderheiten ergeben, Kenntnisse und Kompetenzen gewon- len Rassismus entwickelt werden? nen und Zugänge geschaffen werden müssen. Pädagog*innen sollten in der Lage sein, begünstigende Voraussetzungen für eine Zielgruppen benötigen je nach ihrer gesellschaftlichen Positio- rassismuskritische und migrationspädagogische Arbeit zu schaf- nierung geschützte Räume zur Bewältigung und Überwindung fen. Sie sollten über Wissen und Kenntnisse ihrer Zielgruppen of von Rassismus und Diskriminierung. Betroffene können ihre in- Color verfügen, wie zum Beispiel Ursachen und Erscheinungsfor- dividuellen Erfahrungen im Kontext von Rassismus und (Mehr- men einzelner Arten von Rassismus und Diskriminierung und ih- fach-)Diskriminierungen in Gruppen mit ähnlichen Erfahrungen rer Verschränkungen. Eine Herausforderung zeigt sich zum einen besser thematisieren und überwinden. In diesem Zusammen- darin, Rassismus als Erfahrung, die nicht alle Beteiligten machen, hang ist es bedeutsam, Menschen mit Rassismus- und Diskrimi- zu reflektieren und zum anderen diese mit gesellschaftlichen Do- nierungserfahrung durch geschützte(re) Räume die Möglichkeit minanz- und Machtverhältnissen zu thematisieren. zu bieten, sich angstfrei und offen über schmerzvolle Erlebnisse Insbesondere in solchen Lernprozessen müssen Räume für die auszutauschen und sich gegenseitig zu stärken. Auch Menschen Thematisierung eigener Rassismus- und Diskriminierungserfah- ohne Rassismuserfahrungen können in eigenen Reflexionsräu- rungen mit Fremd- und Selbstbildern Platz haben, um Hand- men, zum Beispiel im Rahmen von Verbündetenarbeit ihre Ver- lungsmöglichkeiten gegen Rassismus und Diskriminierungen zu strickungen in rassistische Gesellschaftsstrukturen thematisieren. entwickeln. In geschützte(re)n Räumen sollen durch Bewusstwerdung und THEMA JUGEND 1|2020 7
kritische Hinterfragung der eigenen (Ohn-)Machtsituation bzw. O-TÖNE -position Lern- und Veränderungsprozesse angestoßen werden, so dass neue Perspektiven und Handlungsstrategien zur Bewäl- „Wenn das Freunde sind und beide das als Spaß ansehen, tigung von rassistischen Verhältnissen entstehen. Auch in Bezug dann finde ich schon, dass das Spaß ist.“ (Jugendlicher zum Thema auf andere Diskriminierungsformen wie Antisemitismus, Sexis- „Rassistische Bemerkungen unter Freunden“) mus, Klassismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Ethnozentrismus und andere können in geschützte(re)n Räumen (Mehrfach-) Dis- kriminierungen in ihren Verschränkungen intersektional thema- „Wenn das jetzt meine beste Freundin ist und ich sag‘ halt so tisiert und bearbeitet werden. Empowerment und Powersharing »Scheiß-Polin du hast ‘was geklaut«, dann ist das – in Anführungs- muss als Notwendigkeit einer solidarischen und rassismuskri- zeichen – normal für uns, weil sie weiß, dass das nicht ernst gemeint tischen Praxis verstanden werden, in der Menschen mit Rassis- ist. Und sie macht auch Witze über mich.“ (Jugendliche zum Thema muserfahrungen nicht Objekt sind, sondern als Zielgruppe und „Rassistische Bemerkungen unter Freunden“) Adressat*innen die Möglichkeit erhalten, Rassismus zu thema- tisieren und zu überwinden. ■ „Nur, weil du meine Freundin bist, kannst du zu mir dieses N-Wort sagen.“ (Jugendliche zum Thema „Rassistische Bemerkungen unter Freunden“) Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des bereits veröffentlichten Textes auf der Vielfalt Mediathek. „Man kann auch ein bisschen locker sein. Aber ich glaub‘, in man- chen Situationen darf man so ‘was einfach nicht, weil man nicht Literatur- und Quellenliste weiß, ob man die Person verletzt.“ (Jugendliche zum Thema „Rassis- Adorno, Theodor W. (1975): Schuld und Abwehr, in: Pollock, Friedrich: Gruppenexpe- riment, auch in Theodor W. Adorno (2003): Gesammelte Schriften. Band 9.2: Soziolo- tische Bemerkungen unter Freunden“) gische Schriften II. Band 2. Frankfurt/Main, S. 277. Noah Sow (2018): Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus (Deutsch), Berlin. „Diese Diskussion »Warum dürfen die Schwarzen dieses N-Wort Naika Foroutan (2017): Blick hinter den Schleier. Naika Foroutan zum Siegeszug des sagen? Warum dürfen die Weißen das nicht sagen?« hatten wir Begriffs des «Postmigrantischen», URL: https://www.rosalux.de/publikation/id/14762/ blick-hinter-den-schleier/ (letzter Zugriff: 19.12.2019). in der Klasse auch.“ (Jugendliche zum Thema „Rassistische Scharathow, Wiebke (2009): Einleitung, in: Claus Melter, Paul Mecheril (Hrsg.): Rassismus- Bemerkungen unter Freunden“) kritik: Band 1: Rassismustheorie und –forschung, Frankfurt am Main. „Ich hab‘ dann irgendwann gesagt »Halt! Stopp! Hört ‘ mal auf damit!« Nur, weil die aus einem anderen Land kommen, heißt das Anmerkungen nicht, dass man die direkt beleidigen kann.“ (Jugendlicher zum 1 Vgl. Naika Foroutan 2019. Thema „Erfahrungen mit Rassismus“) 2 Black, Indigenous, People of Color (BIPoC) bedeutet „Schwarze und Indigene / Per- son(en) of Color“. Ein Begriff, der die Intersektionalität in Hinblick auf die „Minderhei- ten“-Erfahrung erweitert. PoC (People / Person(en) of Color) bezeichnet Nicht-Weiße Personen in der westlichen Zivilisation. Mit dem I werden indigene Identitätsgrup- „Ich seh‘ auch öfter Leute, die sich aus Spaß den Hitler-Gruß zeigen, pen benannt, die zu den am stärksten unterdrückten Menschen gehören. wo ich dann denke: Das ist doch kein Spaß!“ (Jugendlicher zum 3 Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur 1995. Thema „Erfahrungen mit Rassismus“) 4 Wiebke Scharathow 2009, S.10. (aus: Hagedorn, Tanja / Higgen, Malte: Ich geh dazwischen. In: Filmreihe Alltagsrassismus. Ein Projekt des Fachbereichs Jugend & Freizeit, Kinder- und Jugendschutz und Haus der Jugend Barmen (Close Up Theater). Hrsg. v. Medienprojekt Wuppertal, 2019.) Karima Benbrahim ist Diplompädagogin und Konfliktmediatorin. Sie leitet die landesweite Fachstelle zu Rassismuskritik und Rechts- extremismusprävention IDA-NRW. Neben den Schwerpunktthemen Rassismus(kritik) und Rechtsextremismus, Critical Diversity und Em- powerment in der politischen Bildungsarbeit legt sie einen Fokus auf rassismuskritische und diversitätsbewusste Öffnungsprozesse in In- stitutionen. 8 THEMA JUGEND 1|2020
THEMA Kath. Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW e.V. und Kooperationspartner*innen Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen Fortbildungskonzept VIR für Fachkräfte VIR (VeränderungsImpulse setzen bei Rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen) ist ein Fortbil- dungskonzept für Personen, die beruflich oder ehrenamtlich Motivierende Kurzintervention Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die VIR-Fortbil- mit rechtsorientierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen dung. Dabei steht die Motivierende Kurzintervention als Bera- im Kontakt sind. In diesem Sinne „rechtsorientiert“ sind Jugend- tungsmodell im Vordergrund. Motivierende Kurzintervention wurde bisher vor allem in der medizinischen Praxis, etwa im Be- liche oder junge Erwachsene, die sich an rechtsextremistischen ratungsgespräch zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin bzw. Cliquen, Organisationen oder Parteien beteiligen und rechts- Patient ausprobiert. Dabei wurde die Erfahrung gemacht, dass extremistische Denkmuster zunehmend verinnerlichen, ohne diese Art der Beratung sich besonders eignet für Personen, die in führender Position in dieser Szene aktiv zu sein. Dies gilt vor riskantes Verhalten zeigen, aber nur eine geringe Bereitschaft zur allem für Jugendliche und junge Erwachsene in einer Annähe- Veränderung haben und sehr ambivalent sind. Dies spricht da- rungsphase an die rechtsextremistische Szene oder solche, die für, dass dieses Konzept auch für unsere Zielgruppe geeignet ist. als Sympathisantinnen bzw. Sympathisanten oder als Mitläufe- Die Beratung versteht sich als Gesprächsangebot, das Betroffene rinnen bzw. Mitläufer beteiligt sind. Das Ziel des VIR-Konzepts ist ermutigen will, sich mit dem eigenen Verhalten auseinanderzu- es, in Alltagssituationen Impulse zu setzen, die zur Veränderung setzen. VIR will den Jugendlichen oder jungen Erwachsenen da- motivieren und den Prozess der Veränderung unterstützen. Da- rin begleiten, das eigene Verhalten und mögliche Gefahren zu her umfasst das Fortbildungskonzept insbesondere Bausteine reflektieren und Veränderungsimpulse aus sich heraus zu entwi- zur Motivierenden Gesprächsführung und die Vermittlung von ckeln. Das Programm möchte sie für Kurzberatung – also Gesprä- Grundwissen zum Thema „Rechtsextremismus“. chen von höchstens 60 Minuten Dauer – zugänglich machen. Kooperation von Institutionen Prinzipien von VIR können aber auch in Gesprächen „zwischen Tür und Angel“ angewandt werden. Hierdurch werden Jugend- Als Kooperationsprojekt des Arbeitskreises der Ruhrgebietsstädte liche erreicht, die ansonsten keine langfristige Beratung nutzen gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK Ruhr), der würden und für deren Bedarf kurze Denkanstöße passender sind. Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugend- schutz NRW e.V. und des Ministeriums für Inneres und Kommu- Veränderung als Prozess nales NRW – Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten wird VIR durch das LWL-Landesjugendamt Westfalen fachlich begleitet. Das VIR-Konzept sieht sowohl das problematische Verhalten als auch dessen Veränderung als einen Prozess. Veränderungen brauchen mehr als einen Tag und auch die Motivation zur Ver- Ziele änderung entwickelt sich laufend. Diesen Prozess der Verände- Für rechtsaffine Jugendliche und junge Erwachsene ist eine Bera- rung gilt es genauer zu beobachten und in der Beratung darauf einzugehen. Wie gehe ich mit jemandem um, der auf den ersten tung notwendig, die ihnen angemessene Unterstützung bietet, Blick überhaupt nicht motiviert scheint, sich mit seinem Verhal- um ein Abgleiten in eine extremistische Szene zu verhindern. ten auseinanderzusetzen oder etwas zu verändern? VIR bietet Angebote von Beratung für diese Zielgruppe gibt es nur wenige. kein fertiges Rezept für schwierige Situationen im Umgang mit Hinzu kommt, dass Jugendliche und junge Erwachsene sich oft rechtsaffinen Jugendlichen. Dabei will und kann VIR längerfris- nicht als Gefährdete definieren, solange keine schwerwiegenden tige Therapien, wenn diese notwendig sind, jedoch nicht erset- Folgeprobleme aufgetreten sind. Von sich aus suchen sie oft kei- zen. Veränderung ist ein vielschichtiger Prozess, die Fortbildung ne Beratung auf. soll den Blick schärfen für ein genaues Hinschauen: Wo befindet sich der Jugendliche oder junge Erwachsene genau? Welche Zie- Wie gehen Kontaktperson mit dieser Situation um? Was tun sie, le und Ansprüche formuliere ich als Kontaktperson für ein Be- wenn sie etwa beobachten, dass in ihrer Einrichtung Jugendli- ratungsgespräch? Der „rote Faden“ der Fortbildung VIR berück- che rechtsextremistische Musik hören? Lässt sich diese Situation sichtigt, dass Motivation zur Veränderung verschiedene Stadien für ein Beratungsgespräch nutzen? Wie lassen sich Beratungsge- durchläuft. Dies ermöglicht die Strukturierung von Beratungssi- spräche gestalten, damit der betroffene Jugendliche nicht den tuationen und vermittelt die passgenauen Interventionen, wel- weiteren Kontakt vermeidet bzw. in seinem problematischen che diesen Stadien angepasst sind. Verhalten bestärkt wird? Wie können Jugendliche begleitet und unterstützt werden bei der Aufgabe, ihre eigene soziale Position Der Skepsis begegnen mit allen Risiken und Experimenten zu entwickeln, dabei aber nicht in schwierig zu reparierende extremistische Fahrwasser ab- VIR soll Impulse setzen bei Zielgruppen, die der Verhaltensände- zugleiten? rung skeptisch gegenüberstehen und bei denen intensive Be- THEMA JUGEND 1|2020 9
ratungsprozesse zunächst aussichtslos sind. Daher setzt VIR auf und Mitarbeiter. der Schulsozialarbeit, aus Einrichtungen und Kurzinterventionen – „Tür und Angel“-Gespräche bzw. Kurzbera- Angeboten der Jugendhilfe, in Sportvereinen, in Justizvollzugs- tungen im Spektrum von 10 bis 60 Minuten. Typische Gesprächs- anstalten sowie Lehrerinnen und Lehrer. ■ situationen sind zum Beispiel • Pausengespräche mit Schulsozialarbeiterinnen und -sozialar- beitern, Lehrerinnen und Lehrern, • Gespräche im Jugendzentrum, Verein oder in der Wohngruppe, • Gespräche zwischen Strafgefangenen und Beschäftigten in ei- ner JVA. VIR ist angelehnt an das erfolgreiche Fortbildungskonzept MO- VE (Motivierende Kurzintervention), das aus der Suchtpräventi- on stammt und von der Landeskoordinierungsstelle für Sucht- vorbeugung – der ginko Stiftung für Prävention in Mülheim a. d. Ruhr – entwickelt wurde. Im Zusammenwirken mehrerer Fach- stellen wurde die Konzeption übertragen, um Distanzierungs- Weitere Informationen zum VIR-Konzept unter www.vir.nrw.de prozesse bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Er- sowie zu angebotenen Fort- und Ausbildungen unter www.the- wachsenen zu fördern. ma-jugend.de/veranstaltungen/. Konzept: Zehn Bausteine VIR bietet Handwerkszeug für die soziale Beratung und Prozess- begleitung bei schwieriger Klientel, es ersetzt keine Therapie. Zentrale Bausteine des VIR-Konzepts sind Übungen zur Moti- vierenden Gesprächsführung, ein Stadienmodell, das Verände- O-TÖNE rungsphasen realitätsnah widerspiegelt, das notwendige Grund- „Das ist einfach so: Man beleidigt sich und macht jemanden ‘runter, lagenwissen zum Themenfeld Rechtsextremismus (Vorurteile, um selber seinen Wert zu pushen.“ (Jugendliche zum Thema Rassismus, rechtliche Grundlagen, „Erlebniswelt Rechtsextremis- „Erfahrungen mit Rassismus“) mus“, Ein- und Ausstiegsprozesse). Angesprochen sind beispiels- weise Mitarbeitende der Schulsozialarbeit, aus Einrichtungen und Angeboten der Jugendhilfe, in Sportvereinen, in Justizvoll- „Ich denke, das sind die […] älteren Deutschen, die öfter ‘mal laut zugsanstalten sowie Lehrerinnen und Lehrer. Der Aufbau eines werden und es sich vielleicht erlauben, weil sie älter sind. Und man Trainings umfasst zehn Bausteine: kann ja eh nichts gegen sie sagen.“ (Jugendliche zum Thema „Erfahrungen mit Rassismus“) • Im Vorfeld des Rechtsextremismus – Vorurteile und Rassismus • Veränderung ist ein Prozess: Das TTM-Modell (Transtheoreti- sches Modell) „Ich glaub‘, es geht mehr darum: Der, der sich am wenigsten • Grundlagen der Motivierenden Gesprächsführung informiert, ist eher geneigt, rassistisch zu sein.“ (Jugendlicher • Rechtliche Grundlagen zum Thema „Erfahrungen mit Rassismus“) • Ein- und Ausstiegsprozesse • Mit Widerstand umgehen „Ich mische mich nicht ein, wenn es halt nur so kleine Andeutungen • Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen sind.“ (Jugendlicher zum Thema „Erfahrungen mit Rassismus“) • Erlebniswelt Rechtsextremismus – Musik, Symbolik, Internet (aus: Hagedorn, Tanja / Higgen, Malte: Ich geh dazwischen. In: Filmreihe • „Change talk“ – Veränderung in Gang setzen Alltagsrassismus. Ein Projekt des Fachbereichs Jugend & Freizeit, Kinder- • Entscheidungen treffen – Ziele klären und Jugendschutz und Haus der Jugend Barmen (Close Up Theater). Hrsg. v. Medienprojekt Wuppertal, 2019.) Zielgruppen VIR bietet zwei Qualifizierungsformate für unterschiedliche Ziel- gruppen an – die VIR-Ausbildung und die VIR-Fortbildung. Die viertägige VIR-Ausbildung bildet Teilnehmende zu VIR-Trainerin- nen bzw. -Trainern aus, die im Anschluss selbst VIR-Trainings in ih- ren Arbeitsfeldern bzw. ihren Regionen im Tandem durchführen können. VIR-Trainerinnen und -Trainer arbeiten immer zu zweit. Zielgruppe sind Fachkräfte aus der Rechtsextremismuspräven- tion und politischen Erwachsenenbildung sowie Fachberaterin- nen und Fachberater aus der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Wichtig sind Erfahrungen im Bereich der Aus- und Fortbildung sowie die Bereitschaft, VIR-Trainings anzubieten. VIR bietet jedes Jahr eine entsprechende Ausbildung an. Die dreitägige VIR-Fort- bildung ist für Fachkräfte konzipiert, die die Methoden in der ei- genen Praxis anwenden möchten, zum Beispiel Mitarbeiterinnen 10 THEMA JUGEND 1|2020
THEMA Lea Kohlmeyer Demokratie ist keine wertfreie Veranstaltung Weimarer Erklärung für demokratische Bildungsarbeit Mit einer bundesweit bislang einzigartigen Positionierung haben sich im Oktober 2019 Weimarer Kultur- und außer- schulische Bildungseinrichtungen gegen Versuche der Einfluss- nahme auf ihre Bildungsarbeit gestellt. Diese beruhe, so die Erst- unterzeichnenden 1 der Erklärung, auf der Achtung von Men- schenrechten, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit und könne daher nie (wert)neutral sein. 2 Ausgehend von Thüringen als einem „Kultur- und Bildungsland mit hoher internationaler Ausstrahlung“ 3 und einer durch eine „spezifische politische Ge- schichte [auferlegten] besondere[n] Verantwortung für Demo- kratie, Freiheit und Vielfalt“ 4 wurde die Erklärung seit ihrer Ver- öffentlichung von über 330 weiteren Institutionen, Verbänden, Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen sowie von Privatper- sonen bundesweit unterstützt. Die „Weimarer Erklärung“ versteht eigenständige politische Meinung zu entwickeln und zu vertre- sich nicht als einmaliges Statement, sondern will die Grundlage ten. Dies ist nur möglich, wenn den Menschen in Bildungsveran- für eine dauerhafte Zusammenarbeit darstellen. staltungen keine politische Meinung aufgedrängt wird, sondern kontroverse Standpunkte zu Wort kommen und Diskussion als Weimarer Erklärung über die Grundlagen ein Prozess der eigenständigen Meinungsbildung begriffen und und Aufgaben historischer, politischer und gefördert wird. kultureller Bildung Demokratische Bildungsarbeit basiert Die historische, politische und kulturelle Bildung ist aktuell her- auf wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgefordert durch die Behauptung, schulische und außerschu- lische Bildung unterliege einem „Neutralitätsgebot“. Gestellt wird Bildungsarbeit fußt auf wissenschaftlichen Grundlagen. Die Er- damit die Frage nach den Aufgaben von Bildung in der Demokra- gebnisse wissenschaftlicher Forschung müssen sich in der Ver- tie. Als Weimarer Akteure einer demokratischen Bildungsarbeit mittlung von Wissen und der Auswahl von Deutungsangeboten ist es uns ein Anliegen dazu zu erklären 5: widerspiegeln. Wissenschaftsfeindliche Positionen sind mit einer demokratischen Bildungsarbeit hingegen unvereinbar. Voraus- Demokratie ist keine wertfreie Veranstaltung setzung einer wissenschaftlich fundierten Bildungsarbeit ist die Freiheit der Wissenschaften. Dies bedeutet, dass die Wissenschaft Die Demokratie beruht auf der Achtung der Menschenrechte, selbst in freier Diskussion und unter Achtung wissenschaftlicher Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Diesen Grundlagen der Methoden darüber entscheidet, welche inhaltlichen Positionen Demokratie kann eine demokratische Bildungsarbeit nicht „neu- als wissenschaftlich abgesichert gelten und dem aktuellen For- tral“ gegenüberstehen. Vielmehr ist es die Aufgabe von Bildung schungsstand entsprechen. Es ist nicht Aufgabe von Politik, über in der Demokratie, für demokratische Grundwerte einzutreten die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft zu entscheiden. Eine und gegen antidemokratische, antipluralistische und menschen- Stigmatisierung von Wissenschaft als „unwissenschaftlich“ durch feindliche Positionen Stellung zu beziehen. Ein Neutralitätsge- die Politik oder gar die Androhung der Kürzung oder Streichung bot, das einem Werterelativismus Vorschub leistet, ist mit einer von öffentlichen Geldern aufgrund politisch unliebsamer wissen- demokratischen Bildungsarbeit nicht vereinbar. schaftlicher Ergebnisse gefährdet vielmehr die Freiheit von Wis- senschaft. Demokratische Bildungsarbeit ist überparteilich Demokratische Errungenschaften müssen geschützt werden Eine demokratische Bildungsarbeit ist der Multiperspektivität bei der Darstellung von historischen und politischen Sachverhalten 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepu- verpflichtet. Diese Form der Überparteilichkeit ist nicht mit Neu- blik Deutschland und 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution tralität zu verwechseln. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, zum selbst- treten wir dafür ein, dass die demokratischen Errungenschaften ändigen Denken anzuregen und die Fähigkeit zu fördern, eine unseres Staates geschützt werden. Deshalb stehen wir für eine THEMA JUGEND 1|2020 11
historische, politische und kulturelle Bildungsarbeit, die einer- rich_1.pdf (10.03.2020). Nach der umstrittenen Wahl Kemmerichs und einer Neu- wahl am 4.3.2020 hat Bodo Ramelow (Die Linke) das Amt des thüringischen Minis- seits eigenständiges Denken und damit den demokratischen terpräsidenten inne. Willensbildungsprozess fördert und andererseits die politischen 4 Ihre Beweggründe für die „Weimarer Erklärung“ erläutern die Erstunterzeichnenden Konsequenzen demokratiefeindlicher Ideologien und Gesell- auch in Videobeiträgen. Siehe hierzu www.weimarer-erklaerung.de. schaftsentwürfe offenlegt. ■ 5 Ein Überblick über weitere Erklärungen, Positionspapiere und Stellungnahme der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland für die Stärkung der Demokra- tie und eine offene Gesellschaft findet sich unter https://www.weimarer-erklaerung. de/workspace/dokumente/weitere-erklaerungen-positionspapiere-und-stellungs- nahmen-bundesweit.pdf (10.03.2020). Literatur Cremer, Hendrik: Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin 2019. Anmerkungen 1 Ihre Beweggründe für die „Weimarer Erklärung“ erläutern die Erstunterzeichnenden auch in Videobeiträgen. Siehe hierzu www.weimarer-erklaerung.de. Auf der Inter- netseite besteht für Interessierte auch die Möglichkeit, sich der Erklärung durch Un- terzeichnung anzuschließen. 2 Der vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Auftrag gegebene Forschungs- bericht „Das Neutralitätsgebot in der Bildung“ beschäftigt sich ebenfalls mit der Fra- ge danach, welche Bedeutung den Menschenrechten und dem stattlichen Neutrali- tätsgebot zukommt, wenn im Schulunterricht oder in der außerschulischen Bildung rassistische oder rechtsextreme Parteipositionen thematisiert werden. Zielgruppe dieser Publikation sind vor allem Entscheidungstragende in Ministerien und Behör- den auf Bundes-, Landes und Kommunalebene sowie Gerichte. Vgl. Cremer 2019 sowie https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/63942 (05.03.2020). Dr. Lea Kohlmeyer ist promovierte Germanistin und Redakteurin bei 3 Offener Brief der Erstunterzeichnenden der „Weimarer Erklärung“ an den Minister- der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugend- präsidenten von Thüringen, Thomas Kemmerich (FDP), vom 6.2.2020: https://www. weimarer-erklaerung.de/workspace/dokumente/offener-brief-an-hrn.-mp-kemme- schutz NRW e.V.; zurzeit in Elternzeit. THEMA Gülgün Teyhani / Christina Roth / Lisa-Marie Rüther Rassismus und rassistische Diskriminierung Auswirkung auf Kinder und Jugendliche und die Notwendigkeit von Empowerment und Powersharing Rassismus ist ein globales Problem, das sich an vorherrschende Machtverhältnisse anlehnt. In diesen Machtverhältnissen ist die Aufwertung oder Abwertung von Menschen gemäß ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religion, Sprache, Bildungsstand, soziale Herkunft etc. definiert und spiegelt sich in unseren Ländern und Gesellschaften wider. Rassismus und rassistische Strukturen finden sich in allen Ebenen und Lebensbereichen. Institutionelle und struk- turelle Machtsysteme in unserer Gesellschaft bestimmen den Oftmals machen von Rassismus und rassistischer Diskriminie- rung Betroffene schon im Kindesalter traumatische Erfahrungen, die sie ein Leben lang begleitet. Die Beratungsarbeit bei ARIC- gleichberechtigten Zugang bzw. die Hindernisse, die Menschen NRW e.V. unterstützt und begleitet Menschen individuell, die sich ausschließen. Wir sind größtenteils sozialisiert in diesen Macht- gegen Rassismus und Diskriminierung wehren möchten. Gleich- systemen und regelmäßig der Tatsache ausgesetzt, dass wir oder zeitig zeigen wir auf, an welcher Stelle der Gesetzgebung, institu- unser Umfeld Rassismus reproduzieren. tioneller Regelungen etc. es Veränderungen bedarf, um Diskrimi- Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist vor dieser Reproduk- nierung abzuschaffen und/oder den Diskriminierungsschutz zu tion nicht geschützt. Unterschiedliche Studien beweisen, dass verbessern. Mit der Bildungsarbeit im ARIC-NRW e.V. sensibilisie- eine Prägung rassistischer Wertung im eigenen Umfeld durch ren wir einerseits auf allen Ebenen: Kommunen, Verwaltungen, zum Beispiel Elternhaus, Regelsysteme, reproduzierten Bildern in Schulen, Akteure der freien Wirtschaft, Soziale Dienste, und wei- der Öffentlichkeit etc. schon früh beginnt. Kindern und Jugend- tere Regelsysteme zu Rassismus und rassistischer Diskriminie- lichen, denen anhand von äußerlichen Merkmalen eine negativ rung. Gleichzeitig stärken wir von Rassismus Betroffene. bewertete Herkunft zugesprochen wird, sind früh im Leben Ras- sismus und Diskriminierung ausgesetzt. 12 THEMA JUGEND 1|2020
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