Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3

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Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
SKP INFO
            Thema
            Migration, Ausländer­
 3 | 2019   kriminalität, Rassismus
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
EDITORIAL

      Liebe Leserin, lieber Leser

                               Das Thema «Migration» zur Weihnachtszeit – was
                               könnte besser passen? Dass Menschen dorthin
                               flüchten, wo die Aussicht auf Frieden und Wohl­
                               stand deutlich grösser ist als dort, von wo sie
                               flüchten, ist nachvollziehbar und legitim, kann
                               aber auch zu neuen Problemen führen: Ausländer­
                               kriminalität und Rassismus heissen die beiden
                               Seiten dieser Medaille.
SKP

                               Wer in einem fremden Land ankommt, um zu blei­
      ben, wird dort selten mit offenen Armen empfangen, viel öfter z­ unächst
      beargwöhnt, als Bedrohung empfunden, ausgegrenzt oder sogar offen
      bekämpft. Man verlangt Anpassung, Integration, womöglich Assimila­
      tion, doch wenn der kulturelle und religiöse Hintergrund in ­Gegensatz
      zu den eingeforderten neuen Regeln und Normen steht, führt dies oft zu
      Spannungen. Falls es sich gar um so genannte «Kriminal­         touristen»
      handelt, also um Menschen, die sich nur kurzfristig in einem fremden
      Land aufhalten, um sich dort mit illegalen Mitteln zu bereichern, ver­
      schärft sich die Problematik zusätzlich.
             In unserer neuen Ausgabe des SKP INFO zu «Migration, Ausländer­
      kriminalität, Rassismus» beleuchten wir verschiedene Aspekte dieses
      Spannungsfelds, wie immer hauptsächlich aus polizeilicher Sicht. Dass
      diese polizeiliche bzw. sicherheitspolitische Betrachtung nur einen
      ­Fokus unter vielen darstellt, ist uns bewusst, kann aber nicht oft genug
       betont werden.
             Oft wird vergessen, dass die meisten Menschen, die in unser Land
       kommen, um Schutz zu finden, um der Armut zu entfliehen, um eine
       menschenwürdige Zukunft zu finden, keinerlei Probleme verursachen.
       Wie in vielen Lebensbereichen prägen Negativbeispiele die ganze
       ­Bevölkerungsgruppe, für die sie vermeintlich stehen. Es liegt aber in
        der Natur der Sache, dass die Polizeiarbeit gerade mit den negativen
        Auswirkungen der Migration konfrontiert ist, und dies darf ebenfalls
        nicht verschwiegen werden. Nur wer ein Phänomen genau kennt, kann             IMPRESSUM
        an­gemessen darauf reagieren.
                                                                                      Herausgeberin und Bezugsquelle
             Was können wir also tun gegen fremdenfeindliche Tendenzen im All­        Schweizerische Kriminalprävention
        tag, aber eben auch im Polizeialltag? Wie können wir Straftaten be­           Haus der Kantone
                                                                                      Speichergasse 6
        gegnen, die in kulturellen und religiösen Unvereinbarkeiten wurzeln?
                                                                                      Postfach
        Kann ein gegenseitiges Verständnis, auch von Seiten der Strafverfol­          3001 Bern
        gung, sogar die Strafverfolgung vereinfachen?                                 info@skppsc.ch
             Ich freue mich sehr, dass wir zur Beantwortung dieser und anderer        Tel. 031 511 00 09

        Fragen einmal mehr eine ganze Reihe ausgezeichneter Autorinnen und            Das SKP INFO 3 | 2019 ist als PDF-Datei zu finden
        Autoren gewinnen konnten, die uns über die verschiedenen Aspekte              unter: www.skppsc.ch/skpinfo. Es erscheint auch
                                                                                      in ­französischer und italienischer Sprache.
        ­informieren. Das Thema Migration und die damit zusammenhängenden
         Probleme werden uns sicher auch in Zukunft noch beschäftigen, dabei          Verantwortlich		         Chantal Billaud,
                                                                                      		                       Geschäftsleiterin SKP
         dürfen wir aber wie gesagt nie vergessen, dass es auch eine leisere und
                                                                                      Redaktion		              Volker Wienecke, Bern
         bereichernde Seite der Migration gibt. Wobei wir wiederum ­Weihnachten
                                                                                      Übersetzungen F ADC, Vevey
         als Sinnbild beiziehen können …
                                                                                                           I   Annie Schirrmeister, M
                                                                                                                                    ­ assagno
             In diesem Sinne wünsche ich unseren Leserinnen und Lesern eine
                                                                                      Layout		                 Weber & Partner, Bern
         anregende Lektüre, eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten           Druck		                  Vetter Druck AG, Thun
         Rutsch ins Neue Jahr!                                                        Auflage		                D: 1350 Ex. | F: 300 Ex. | I: 200 Ex.
                                                                 Chantal Billaud      Erscheinungsdatum Ausgabe 3 | 2019, Dezember 2019
                                Geschäftsleiterin Schweizerische Kriminalprävention   © Schweizerische Kriminalprävention, Bern

      2                  SKP INFO 3 | 2019
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

Einwohnerdienste, Migration                                                                                  rität, der Sicherheit, des Wohlstands,
                                                                                                             der Gerechtigkeit und der Gleichheit.

und Fremdenpolizei (EMF)
                                                                                                             Die Migration stellt dabei die mensch­
                                                                                                             liche Seite der Globalisierung dar, was
                                                                                                             sie zur Schlüsselkomponente der Dis­
der Stadt Bern                                                                                               kussion macht.
                                                                                                                 Hauptursache für Migration war
                                                                                                             und ist die Hoffnung auf ein besseres
                                                                                                             Leben an einem anderen Ort. Dabei
Das Berner EMF ist ein Kompetenzzentrum für                                                                  unter­scheiden wir zwischen sogenann­
urbanes ­Migrations- und Integrationsmanagement.                                                            ten Push- und Pull-Faktoren. Die Push-­

Migration ist die menschliche Seite der Globali­­                                                           Faktoren umschreiben die Situation im
                                                                                                            Herkunftsland, welche Menschen zur
sierung. Das macht sie zur Schlüsselkomponente                                                              Emigration antreibt, wie zum Beispiel
der Diskussion.                                                                                             die schlechte wirtschaftliche Lage
                                                                                                            ­eines Landes. Die Pull-Faktoren wiede­
                                                                                                             rum geben die Situation im Zielland an,
                                                                                                             welche ein besseres Leben verheissen,
                                                                                                             wie beispielsweise grösserer Wohl­
                                                                                                             stand und bessere Arbeitsmöglich­
                                                                                                             keiten. Diese Push- und Pull-Faktoren
                                                                                                             unterliegen einem ständigen Wandel
                                                                                                             und lassen sich in ihrer Wirkung nicht
                                                                                                             beeinflussen.

                                                                                                            Migration in die Schweiz:
                                                                                                            Wie ist die Rechtslage?
                                                                                                            Das Bundesgesetz über die Auslän­
                                                                                                            derinnen und Ausländer und über die
                                                                                                            Inte­gration (Ausländer- und Integrations­
                                                                                                            gesetz, AIG) regelt in der Schweiz die
                                                                                                            Ein- und Ausreise, den Aufenthalt so­
                                                                                        Goran Jakuš/123RF

                                                                                                            wie den Familiennachzug von ausländi­
                                                                                                            schen Staatsangehörigen in der Schweiz.
                                                                                                            Zudem regelt das Gesetz Fragen zur
                                                                                                            ­Integration. Weitere gesetzliche An­wen­
«Hauptursache für Migration war und ist die Hoffnung auf ein besseres Leben an einem                         dungsbestimmungen im Bereich des
anderen Ort.»                                                                                                Freizügigkeitsabkommens (Abkommen
                                                                                                             zwischen der Schweizerischen Eidge­
                                                                                                             nossenschaft einerseits und der Euro­
                                                                                                             päischen Gemeinschaft und ihrer Mit­
                                            Am Thema Migration kommt heute nie­                              gliedstaaten andererseits über die Frei­
 Autor                                      mand mehr vorbei. Migration betrifft                             zügigkeit) sind darin geregelt.
                                            uns alle und ist ein Auslöser für gesell­                            Die Einwohnerdienste, Migration und
 Alexander Ott
                                            schaftliche Debatten, für wissenschaft­                          Fremdenpolizei (EMF) der Stadt Bern
 MAS P & M,
                                            liche Arbeiten, für politische Diskurse,                         gelten aufgrund der Regelung e      ­iner
 dipl. KM SKWM
 Leiter Polizei­                            aber auch für mediale Verunglimp­fungen                          kantonalen Kompetenzausscheidung
 inspektorat, Vor­                          bis hin zu manifester Gewalt. Migra­                             (EG AIG und AsylG / EV AIG und AsylG)
 steher Einwohner­                          tionsthemen bilden den Resonanz­boden                            als autonom agierende Organisations­
 dienste, Migration                         für unterschiedliche Konflikt­­themen                            einheit mit gleichen Aufgaben und Kom­
 und Fremden­polizei
                                            und -ebenen. Hierzu gehören D   ­ ebatten                        petenzen im Ausländerbereich analog
                                      zvg

 der Stadt Bern
                                            zur Globalisierung, zu Grenzen, zu natio­                        Kanton (ausgenommen der Asylbe­
                                            nalen Identitäten, zu Fragen der Solida­                         reich). Zudem sind in der Stadt Bern

                                                                                                            SKP INFO 3 | 2019                       3
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

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                             • AIG, AsylG, FZA, VZAE, VEP
                             • VEV, VIntA                                                AIG Ausländer- und Integrationsgesetz
                             • PGG, IntG, EMRK                                           AsylG Asylgesetz
                             • EG AuG und AsylG
                                                                                         EG AIG und AsylG Einführungsgesetz zum
                             • PolG, StPO
                                                                                         Ausländer- und zum Asylgesetz
                             • etc.
                                                                                         EGID/EWID Gebäudeidentifikator/­

      E                                M                                F
                                                                                         Wohnungsidentifikator
                                                                                         EMRK Konvention zum Schutze der
                                                                                         ­Menschenrechte und Grundfreiheiten
                                                                                         FZA Freizügigkeitsabkommen
                                                                                         GERES Gemeinde Register System
Einwohnerdienste                       Migration                   Fremdenpolizei        IntG Integrationsgesetz
                                                                                         IntV Integrationsverordnung
• Willkommens­                  • Regelung                        • Menschenhandel
                       Kern-	auftrag                                                     KOGE Kooperationsgremium Menschen­
  gespräche                       Aufenthalt                      • Menschen­
• Zuzug                         • Verlängerung                      schmuggel            handel
• Umzug                           Aufenthalt                      • Schattenwirtschaft   PGG Gesetz über das Prostitutionsgewerbe
                       Kernkom-	petenz
• Wegzug                        • Schengen-Visa                   • Verfügungen,         PolG Polizeigesetz
• Zivilstands­                  • eBiometrie                        ­Vollzug
                                                                                         sedex secure data exchange
  ereignisse                    • Familiennachzug                 • Zwangsmass­
                       Kerndiffe-	renzierung                                             StPO Schweizerische Strafprozessordnung
• EGID/EWID                     • IntG                               nahmen AIG
• GERES/sedex                   • etc.                            • PGG, IntV            VEP Verordnung über die Einführung des
• etc.                                                            • Häusliche Gewalt,    freien Personenverkehrs
                                                                     KOGE                VEV Verordnung über die Einreise und
                                                                  • etc.                 die Visumerteilung
                                                                                         VintA Verordnung über die Integration von

        Strategie, Taktik, Kultur, Werte und Ethik                                       Ausländerinnen und Ausländern
                                                                                         VZAE Verordnung über Zulassung,
                                                                                         ­Aufenthalt und Erwerbstätigkeit
Das EMF im Überblick

die nach AIG zu erfüllenden Aufgaben          ­ icherstellung der fremdenpolizeilichen
                                              S                                          dungswege (siehe Grafik oben). Demzu­
­z wischen der Kantonspolizei Bern und        Aufgaben rund um die Uhr leistet die       folge kommt den Mitarbeitenden in den
 der Fremdenpolizei (Spezialdienste,          Fremdenpolizei einen Bereitschafts­        Sektionen mehr Verantwortung zu; sie
 SpezD) im kantonalen Polizeigesetz           dienst und ist somit während 24 Stun­      bieten damit einen höchst agilen Reife­
 (PolG) geregelt.                             den an 365 Tagen im Jahr Ansprech­         grad in Bezug auf Service und Qualität.
      Die Kantonspolizei führt als Organ      partner für die Kantonspolizei sowie das   Gerade in den urbanen und städtischen
 der gerichtlichen Polizei in allen Fällen    Grenz­ w achtkorps (GWK) und für wei­      Räumen können so die heterogenen
 des Strafgesetzbuches und der ent­           tere Bundesstellen wie fedpol und das      und vielschichtigen Bedürfnisse und
 sprechenden Nebengesetzgebungen die          Staats­sekretariat für Migration (SEM).    Ansprüche der Bevölkerung, der Wirt­
 Ermittlungen durch, sofern nicht aus­                                                   schaft sowie der Politik berücksichtigt
 schliesslich Tatbestände des AIG anste­      Einwohnerdienste, Migration                werden. Zugleich können durch die ver­
 hen. Die Fremdenpolizei wird in sämt­        und Fremdenpolizei der Stadt               netzte Zusammenarbeit der verschie­
 lichen Fällen beigezogen, wenn sich          Bern (EMF)                                 densten Stellen und Interessengruppen
 ­Abklärungen bezüglich des Aufenthalts­      Die Einwohnerdienste, Migration und        mit gezielten Massnahmen und geeig­
  titels einer Person bzw. Aus­kunfts­­per­   Fremdenpolizei in ihrer Funktion als       neten Instrumenten die spezifischen
  son aufdrängen. Fälle, die ausschliess­     Dienstleistungs- und Kompetenzzent­        Problemfelder identifiziert und ange­
  lich unter das AIG zu subsumieren           rum verfügen aufgrund der gewählten        gangen werden.
  sind, werden von der Fremdenpolizei         Kompetenz- und Organisationsstruktur           In diesem Spannungsfeld zwischen
  in e­igener Kompetenz bearbeitet. Zur       über effiziente und effektive Entschei­    der legal erwünschten und benötigten

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Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

Immigration sowie der irregulären             formten Grossfamilienverbänden mit          haben sind, weil ihre (Geschäfts-)Tätig­
Migration gilt es, einen interdiszipli­nä­    stark ausgeprägter interner sozialer        keit vordergründig legitim ist und sie
ren Blick auf die verschiedenen The­          Kontrolle. Diese stark verankerten          sich in der Öffentlichkeit als sehr gut
menfelder mit ihren unterschiedlichen         Strukturen prallen auf einen liberalen      integriert präsentieren. Oftmals über­
Aspekten zu werfen. Dabei kommt dem           und hoch individualisierten und ego­        nehmen diese Personen Koordinations-
Menschenhandel und -schmuggel, der            zentrischen Lebensstil. Dieses Auf­         und Kontrollaufgaben und organisieren
Zwangsprostitution, der Zwangsverhei­         einanderprallen von unterschiedlichen       so die Funktionsweise der Community.
ratung, der Fälschung von Dokumenten          Lebens- und Wertvorstellungen hat ein       Diese Netzwerke, welche sich in diesen
sowie einer zunehmend feststellbaren          hohes Konfliktpotential. Hinzu kommen       Geschäftsbereichen mittlerweile eta­
Arbeitsausbeutung in den unterschied­         kollidierende soziale Rollenerwartun­       bliert haben, negieren – anfänglich im
lichsten Branchen höchste Bedeutung           gen, welche im Streitfall «intern» ge­      Mikrobereich tätig – staatliche Struk­
zu. Zudem werden die Dynamiken der            löst werden. In der Regel basieren          turen. Dazu gehört das systematische
Migration in urbanen und städtischen          ­diese internen Verbindungen und Loya­      Nichtbezahlen von staatlichen Abgaben
Räumen immer heterogener.                      litäten auf Klientelbeziehung. Das         wie Steuern, Beiträge an Sozialversiche­
                                               heisst, die Mitglieder des Netzwerkes      rungen oder das Abführen der Mehr­
Im Fokus: Missbrauch                           vermitteln untereinander Arbeitsstel­      wertsteuer. Generell wird das Dekla­
und Ausbeutung                                 len, schliessen Scheinarbeitsverträge,     rieren von Einkommen aus den zum
 Vor dem Hintergrund dieser vielschich­        organisieren Wohnungen und Fahr­           Teil irregulären Geschäftstätigkeiten
 tigen Betrachtungsweisen zeichnen             zeuge, beschaffen Dokumente und Be­        im Bereich der Schattenwirtschaft und
 sich bei genauem Hinschauen Tenden­           scheinigungen, organisieren Einreisen      durch Generieren von Einkommen mit
 zen ab, auf welche wir als Behörde zu         (Schleusungen), gründen Firmen (vor­       Scheinarbeitsverträgen nicht vorgenom­
 reagieren haben. Es ist festzustellen,        nehmlich im Bereich der Gastronomie,       men. Viele Gespräche und Erkenntnis­
 dass der weibliche Anteil unter der           der Bau- und Baunebenwirtschaft so­        se zeigen, dass diese Personengruppen
 Migrationsbevölkerung weltweit zu­            wie Coiffeursalons und ähnliche Klein-     äusserst geschickt darin sind, die wun­
 nimmt. Diese Tatsache wird auf die glo­       und Kleinstunternehmungen) und er­         den Punkte des föderalen Systems der
 balisierte Nachfrage nach geschlechts­        halten als Ausgleich Zuwendungen           Schweiz und die mangelnde Vernetzung
 spezifischen ­Dienstleistungen, beispiels­    ­finanzieller und sozialer Art.            der Behörden auszunutzen.
 weise in Pflegeberufen und Haushalten,                                                       Die hier angesprochenen Netzwerk­
 aber auch im Erotikgewerbe und in der        Netzwerke                                   strukturen entspringen grundsätzlich
 Pornoindustrie zurückgeführt. Neben          Zahlende oder auszuzahlende Geld­           der naturwissenschaftlichen Netzwerk­
 dem Ziel, durch Arbeit im Ausland die        beträge aus dieser Schattenwirtschaft       forschung. Natur- und sozialwissen­
 eigene Lebensgrundlage und die der           werden mittels dem mittelalterlichen        schaftliche Betrachtungen liegt die
 Familie und Verwandtschaft zu sichern,       Hawala-Prinzip getätigt. Das Prinzip ist    Prämisse zugrunde, dass sich die
 emigrieren Frauen unter anderem auch,        eine äusserst effiziente, effektive wie     Strukturen in den beschriebenen Netz­
 um der familiären Bevormundung und           auch simple Methode, Geldströme zu          werken von Parallelwelten und Cliquen
 Diskriminierung zu entgehen. Ausser­         verwalten. Das System beruht auf            einer biologischen Zelle in vielen Ge­
 dem können weitere geschlechtsspezi­         ­einem Netz aus Personen, sogenannte        setzmässigkeiten ähneln. Die Hubs,
 fische Gründe Ursache von Migration           Hawaladar (als Knotenpunkte eignen         Knoten und Verbindungen können nur
 sein. Eine wichtige Form der weiblichen       sich hierzu kleine Ladenlokale oder        mittels entsprechend spezialisierten
 Migration ist die mehr oder weniger           Geschäfte), welche die Geldflüsse ab­      Ressourcen bei den Behörden erkannt
 freiwillige Heiratsmigration. Dabei ist       wickeln und koordinieren. Diese Ver­       und bekämpft werden. Dazu gehört ein
 die Schnittmenge der verschiedenen            richtungen erfolgen alle nach dem          kontinuierlicher, fachlicher Know-how-
 Heiratsformen (freiwillig/arrangiert/         Grundsatz des Vertrauens und der          Aufbau, eine grosse Erfahrung und
 Schein- oder Zwangsheirat) oftmals flies­     Loya­lität zu den verbündeten Gruppie­    vernetzte Koordinations- und vertiefte
send. Die Opfer dabei sind mehrheitlich        rungen. Das Geld wird von einem Kno­      Analysearbeit. Aus den bisherigen Er­
(minderjährige) Frauen, aber auch Män­         tenpunkt zum anderen transferiert und     gebnissen unserer langjährigen Arbeit
ner unterschiedlichster Herkunft.              dem «Endkunden» sodann bar ausbe­         (Analyse von Strukturen in Bezug auf
     Dabei bilden die kulturellen Prä­         zahlt. Das System ist klandestin, sehr    Einreisen, Familiennachzug sowie wei­
gungen ein immer wichtigeres Element,          schnell, kostenarm und erfordert keine    teren ausländerrechtlichen Tendenzen)
welches sich oftmals im Ergebnis zu            administrative Infrastruktur.             ergeben sich Rückschlüsse auf die
­einer negativen, netzwerkartigen Clan­            Unsere Erkenntnisse zeigen, dass      ­Robustheit der netzwerkartigen Struk­
 bildung entwickelt. Sie stützt sich auf       zu diesen Netzwerken auch Personen         turen. Jedes Netzwerk verfügt dem­
 enge Bindungen in patriarchalisch ge­         gehören, die über jeden Verdacht er­       nach über eine Achillesferse, welche

                                                                                         SKP INFO 3 | 2019                      5
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

zuerst erkannt werden muss, damit je­        gung unterschiedlicher Aspekte in sei­       schwerend bei Abklärungen der Straf­
weils aus verschiedenen Perspektiven         ner Gesamtheit beurteilt werden. Zu­         verfolgungs- und Migrationsbehörden
heraus operiert werden kann. Hinge­          ständigkeitsbarrieren und das oftmals        kommt hinzu, dass das Verhältnis der
gen ist die Frage nach der Korrelation       verbreitete «Silo»-Denken und -Han­          Menschen zum Staat in vielen Her­
der Faktoren Robustheit und Verwund­         deln wird überwunden. Im Ergebnis            kunftsländern sehr negativ geprägt ist.
barkeit immer noch nicht vollständig         bleibt eine Hebelwirkung, das heisst,        Staatliche Organe in den Herkunfts­
geklärt.                                     mit begrenzten Ressourcen wird eine          ländern werden – oftmals zu Recht –
    Bei aller Vielschichtigkeit folgen       vielfach bessere Wirkung mit einem           als Instrument der Unterdrückung,
diese Delikte einem doch immer gröss­        Mehrwert erzielt. Jede einzelne Aktion       Bedrohung und Korruption wahrge­
                                                                                          ­
tenteils gleichen Prinzip. Es werden         wird von einem Gesamteinsatzleiter           nommen.
Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen,        geleitet und orchestriert.                         Ein weiteres Handlungsfeld kommt
verschärft oder aufrechterhalten. Die               Damit die unterschiedlichen Organi­   einer glaubwürdigen und konsequenten
Täterschaft setzt den Grundsatz der          sationseinheiten wie Strafverfolgungs-/      Rechtsdurchsetzung zu. Ausbleibende
Gleichheit der Menschen in Bezug auf         Fremdenpolizei-/Migrations-/Arbeits­         oder unangemessen milde Reaktionen
ihre Opfer ausser Kraft. Sie machen          marktbehörden und NGO’s, aber auch           auf Rechtsverstösse führen gegenüber
Menschen zu Ware und degradieren sie         die Zivilgesellschaft die Phänomene          staatlichen Institutionen und deren
vom selbstbestimmten Subjekt zu einem        ­einer gezielten Etablierung einer Paral­    Vertretungen zunehmend zu Respekt­
Teil der eigenen Verfügungsmasse.             lelgesellschaft mit eigenen Normen          losigkeit. Dies führt nicht selten zu
                                              und Werten angehen oder zumindest           ­gewalttätigen Konfliktsituationen, per­
PARITER (= gleichzeitig,                      stören können, erfordert dies von den        sönlichen Drohungen und Angriffen.
gemeinsam in gleicher Weise):                 beteiligten Stellen eine Ausweitung der      Dabei spielen die sozialen Medien eine
Kontrollen im Verbund                         gewohnten Perspektive. Denn neben            immer grössere Rolle. Mittlerweile
 Um einerseits deliktisches Handeln           den rechtlichen Aspekten braucht es          sind nicht nur die Mitarbeitenden der
 verfolgen zu können und andererseits         eine Rückkoppelung auf die wirkliche         Polizei, sondern auch Bus- und Tram­
 die Rechts- und gesellschaftlichen           Lebenswelt, sowohl auf die der Täter­        fahrer/innen, Zugbegleitende, Ange­
­Normen des Staates mit seinem demo­          schaft wie auch auf die der Opfer be­        hörige von Feuerwehr, Sanität aber
 kratisch legitimierten Auftrag sowie         ziehungsweise deren Netzwerke im             auch Medizinalpersonal in Notfallsta­
 die Rechtsordnungen und damit den            Herkunfts- wie auch im Zielland. Dabei       tionen der Spitäler betroffen. Im Prinzip
 Schutz des Schwächeren und die Auf­          machen es die Heterogenität dieser           sind alle betroffen, die eine «offizielle»
 rechterhaltung unerlässlicher gemein­        Delikte und die Wissensdefizite bezüg­       Funktion ausüben und für den Staat
 samer Verhaltensstandards durchzu­           lich dieser Phänomene nicht einfach,         und die Gesellschaft täglich im Ein­-
 setzen, etablierten wir die Verbund­         effektive normative Massnahmen zu            satz stehen. Das von mehreren Stellen
 kontrollen mit der Bezeichnung Pariter       ergreifen und effektiv und adäquat dar­      beklagte zunehmende Fehlen eines
                                                                                           ­
 (Schema siehe Seite 8). Es gilt, mit auf­    auf zu reagieren.                            Grundkonsenses im Hinblick auf die
 einander abgestimmten Massnahmen                   Bei den Sachverhaltsabklärungen        frie­dens­sichernden Aufgaben des
 in allen Bereichen einer weiteren Eta­       gegen diese Art von Delikten kommt           ­Staates muss im Wiederholungsfall mit
 blierung von Parallel­  gesellschaften –     auch hier – wie bereits erwähnt – dem         verstärkten Massnahmen sanktioniert
 gerade in den Städten – entgegenzu­          Erkennen von Mustern der Erforschung          werden. Da­zu gehören auch – ergän­
 wirken, ihr Ein­halt zu gebieten bzw. sie    der rechtswidrigen Netzwerke grösste          zend und präventiv – entsprechende
 gänzlich zu verhindern.                      Bedeutung zu. Diese Strukturen bilden         Integrationsmassnahmen, welche es
                                                                                            ­
     In den Verbundkontrollen der Frem­       sich in Herkunfts- wie Zielländern her­       durchzusetzen gilt. Hierbei ist eine
 denpolizei der Stadt Bern kommen ver­        aus und dienen dem Hauptzweck, das            weitere vernetze Kollaboration aller
                                                                                            ­
 schiedene Organisationseinheiten zum         Migrationsvorhaben sowie die irregu­          Behörden erforderlich, um den drin­
 Einsatz. Diese koordinieren und organi­      läre Eingliederung in die Gesellschaft        gendst be­  nötigten Informationsaus­
 sieren sich gegenseitig. Mit diesem Vor­     des Ziellandes zu erleichtern. Bei           tausch sicher ­zustellen.
 gehen werden bei den einzelnen invol­        ­diesem Prozess spielt auch der Markt
 vierten Stellen Ressourcen geschont,          eine Rolle. Je aufwändiger oder gefähr­    Ausblick
 Synergien genutzt und ein konzertiertes       licher die irregulären Tätigkeiten sind,   Die gewählte Vorgehensweise der
 Vorgehen ermöglicht. Da die verschie­         je grösser das Interesse an den zur        Frem­ denpolizei der Stadt Bern und
 denen Dienststellen unterschiedliche          Verfügung gestellten Dienstleistungen      ihrer Partnerorganisationen verfolgt
                                                                                          ­
 Aufgabengebiete abdecken, ergänzen            ist, umso rascher bilden sich kriminelle   den präventiven Ansatz, dass es in
 sie sich bei der Fallbearbeitung. Ein         Strukturen, um den irregulär erwirt­       Bern bzw. in der Schweiz gar nicht erst
 Sachverhalt kann unter Berücksichti­          schafteten Gewinn zu maximieren. Er­       zu e­iner nicht mehr beeinflussbaren

6                   SKP INFO 3 | 2019
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

                                                                                                                          Keystone / DPA / Markus Böhm

«Die Akzeptanz der geltenden gesellschaftlichen Rechts­ord­nung muss von vornherein gefördert und durchgesetzt werden.»
(Bild: Ausländische Jugendliche am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015)

                                                                                       SKP INFO 3 | 2019                  7
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

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                                                                       (Eidgenössische Zollverwaltung)
                                                                     • Fahndung nach Personen
                                                                     • Bereich Gesundheit, Regale und Monopole
                         Kantonspolizei Bern
                                                                       ­(grenzüberschreitender Verkehr mit Alkohol)
                     •   Personenkontrolle                           • Geistiges Eigentum, Handel und Kultur (Markenschutz)
                     •   Interventionen                              • Überprüfen von Reisedokumenten
                     •   Zufallsfunde nach StGB                      • Zollkontrolle (Angaben/Einfuhr/Verzollung)
                     •   Transport/Bewachung                         • Kontrolle der nicht zollrechtlichen Erlasse
                     •   Sicherungsaufgaben Dispositiv                  (Bereich Sicherheit, Sprengmittel und Waffen)

     Arbeitsmarktkontrolle                                                                               Fremdenpolizei
     (Kanton Bern)                                                                                       (Stadt Bern)
    • Umsetzung flankierende                                                                           • Schattenwirtschaft
       ­Massnahmen zur Personen­                                                                       • Zwangsheirat
        freizügigkeit                                          PARITER                                 • Anhaltung und Festnahme
    • Festgestellte Verstösse den                                                                         von ausländischen Personen
        ­Behörden und Partnern mit­-
                                                         Kontrollen im Verbund                         • Ausländerrechtliches
       teilen                                                                                            ­Bewilligungsverfahren
    • Schwarzarbeit unterbinden                                                                        • Fremdenpolizeiliche
       und eindämmen                                                                                     ­Massnahmen
    • Einhaltung der Lohn- und                                                                         • Menschenhandel/
      ­A rbeitsbedingungen in                                                                             Menschenschmuggel
       Branchen mit/ohne GAV                     Orts- und Gewerbepolizei (Stadt Bern)                 • AIG Ermittlungen
    • Präventiv wirken und aufklären                                                                      (Befragungen, Anzeigen)
                                             •   Übertretung aller ortspolizeilichen Erlasse
                                             •   Bewilligungen
                                             •   Einhalten von Verordnungen und Reglementen
                                             •   Übertretungen Prostitutionsgewerbegesetz
     Sozialdienst Sozial­                                                                                Steuerverwaltung
                                             •   Nichteinhalten von Bewilligungsauflagen
     inspektoren (Stadt Bern)                    ­(Betrieb)
                                                                                                         (Stadt und Kanton Bern)
    • Sozialmissbrauch                       •    Übertretungen Gastgewerbegesetz                      • Meldung an Steuerverwaltung
    • Abklärungen über Arbeits­              •    Jugendschutz
      verhältnisse                           •    Alkohol- und Tabakwerbung
                                             •    Fumoir
                                             •    Aussenbestuhlung
                                             •    Polizeistunde
                                             •    Unlauterer Wettbewerb
                                             •    Übertretungen Datenschutzgesetz
                                             •    Videoüberwachung

PARITER im Überblick

­ ituation kommt, wie wir sie von Frank­
S                                                 hin genügend Ressourcen sowie eine           dische Bevölkerung muss einerseits
reich (Paris etc.) Deutschland (Berlin,           ­starke örtliche Verankerung der loka­       die Vorteile einer Integration erkennen
Frankfurt etc.) kennen. Gegen die dort             len Behörden, welche mit den notwen­        und spüren; andererseits muss sie be­
festgestellten, über Jahre gewachse­               digen Kompetenzen und Verantwort­           reit sein, den Weg, der dazu führt, auch
nen und unbehelligt gelassenen Paral­              lichkeiten ausgestattet sind.               tatsächlich zu gehen. Die Akzeptanz der
lelgesellschaften von nicht oder nur                   Im Weiteren braucht es einen Per­       geltenden gesellschaftlichen Rechts­
ansatzweise integrierten ausländischen             spektivenwechsel hin zu einer ganzheit­     ord­nung muss von vornherein geför­
Personen gibt es nach wie vor keine                lichen Integrations- und Präven­  tions­    dert und durchgesetzt werden. Hierzu
­eigentlichen Rezepte. Um die von Ex­             arbeit. Dazu gehören nebst Bildung,          bedarf es leicht zugänglicher, verständ­
 perten als Best Practice beurteilte              Sprache und Arbeit Aspekte einer             licher und verbindlicher Informationen,
 Vorgehensweise auch langfristig auf­
 ­                                                strukturellen, kulturellen, sozialen und     die dauerhaft erhältlich sind und stän­
 rechtzuerhalten, braucht es weiter­-             identifikativen Integration. Die auslän­     dig aktualisiert werden.

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Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

«Wie rassistisch ist die                                                                   ter Rassendiskriminierung und schenkt
                                                                                           einer wirksamen Prävention besondere

Schweiz, Frau Wiecken?»
                                                                                           Beachtung».
                                                                                               Es ist nicht zielführend, darüber zu
                                                                                           diskutieren, ob die Schweiz rassisti­
                                                                                           scher oder weniger rassistisch sei als
                                                                                           andere Länder. Es ist unmöglich und
Ein Interview mit Alma Wiecken, der Geschäfts­                                             sinnlos, in diesem Bereich eine Rang­
führerin der Eidgenössischen Kommission gegen                                              liste aufzustellen. Nach welchen Krite­
Rassismus EKR                                                                              rien würde man diese auch aufstellen?
                                                                                           Danach, wie viele Vorfälle von rassisti­
                                                                                           scher D­ iskriminierung erfasst wurden?
                                                                                           Das würde beispielsweise die struktu­
 Warum gibt es eine Kommission gegen                                                       relle Diskriminierung, die auf den ers­
 Rassismus in der Schweiz? Wie ist sie                                                     ten Blick unsichtbar ist, gar nicht er­
 aufgestellt? Im Vergleich mit anderen                                                     fassen. Jede Gesellschaft hat die Auf­
 Ländern: Wie rassistisch ist die                                                          gabe, sich mit den verschiedenen Aus­
 Schweiz?                                                                                  prägungen des Rassismus – auch den
 In der Schweiz trat das Internationale                                                    nicht unmittelbar sichtbaren – im eige­
 Übereinkommen zur Beseitigung jeder                                                       nen Land zu befassen.
 Form von Rassendiskriminierung (RDK)                                                          In der Schweiz gibt es eine Vielzahl
 von 1965 am 29. Dezember 1994 in Kraft.                                                   von Monitoringinstrumenten, die auf­
     Um die Voraussetzung für den                                                          zeigen, dass Rassismus in der Schweiz
 Beitritt der Schweiz zum Übereinkom­                                                      eine Realität ist und dass rassistische
 men zu schaffen, musste neu die Ras­                                                      Diskriminierung stattfindet. Wichtig ist
 sismusstrafnorm (Art. 261bis StGB) ein­                                                   es, dabei zwischen individuellen Diskri­
geführt werden. Der Strafrechtsartikel                                                     minierungserfahrungen und der struk­
trat am 1. Januar 1995 in Kraft. Dies,                                                     turellen Ebene von Rassismus und
nachdem das Stimmvolk die Revision                                                         ­rassistischer Diskriminierung zu unter­
am 25. September 1994 in einer Refe­                                                        scheiden. Laut der 2018 veröffentlich­
rendumsabstimmung mit 54,7 Prozent                                                          ten Erhebung «Zusammenleben in der
                                                                                     zvg

«Ja» angenommen hatte.                      Alma Wiecken, MLaw, Geschäfts­führerin          Schweiz» sind rund 60% der befragten
Das Übereinkommen verpflichtet die          der Eidgenössischen Kommission gegen            Personen der Ansicht, dass der Rassis­
Vertragsstaaten, nicht nur rassistische    ­Rassismus EKR                                   mus ein ernstzunehmendes gesell­
Taten unter Strafe zu stellen und ras­                                                      schaftliches Problem ist. Die gleiche
sistische Propaganda zu unterbinden,                                                        Erhebung zeigt auch, dass die Bevölke­
sondern auch eine aktive Präventions­      riat. Die 16 Fachpersonen werden vom             rung in erster Linie vom Staat – von
politik gegen Diskriminierung zu be­       Bundesrat «ad personam» ausgewogen               Bund, Kantonen und Gemeinden – er­
treiben, Toleranz zwischen den ver­        nach Interessengruppen, Geschlecht,              wartet, dass er sich für die Bekämp­
schiedenen Gruppen zu fördern und die      Sprache, Regionen und Altersgruppen              fung und die Prävention von Rassismus
Gleichbehandlung aller Menschen un­        ernannt. Eine Amtsperiode dauert je­             einsetzt.
geachtet ihrer ethnischen oder natio­      weils vier Jahre. Die Amtszeit ist auf
nalen Herkunft, ihres Aussehens oder       12 Jahre beschränkt. Die Mitglieder             Wer ist in der Schweiz besonders von
­ihrer Religion zu garantieren. Um die­    treffen sich fünf- bis sechsmal im Jahr         Rassismus betroffen? Wie wird das
 sen Verpflichtungen nachzukommen,         zu einer ein- bis zweitägigen Plenar­           ­festgestellt? Sind es immer dieselben
 setzte der Bundesrat am 23. August        sitzung.                                         Gruppen oder gibt es signifikante Ver­
 1995 die Eidgenössische Kommission            Laut Mandat des Bundesrats «be­              änderungen in den letzten Jahren?
 gegen Rassismus (EKR) ein.                fasst sich die EKR mit Rassendiskrimi­           Wie bereits gesagt, gibt es in der
     Die EKR besteht aus 16 ausgewie­      nierung, fördert eine bessere Verständi­         Schweiz verschiedene Monitoringin­
 senen Expertinnen und Experten zu         gung zwischen Personen unterschied­              stru­
                                                                                                mente, die verschiedene Aspekte
 Fragen des Rassismus sowie einem          licher Rasse, Hautfarbe, nationaler und          rassistischer Diskriminierung erfassen
 dem Generalsekretariat des Innen­         ethnischer Herkunft, Religion, bekämpft          und darum auch nicht zu deckungs­
 departements angegliederten Sekreta­      jegliche Form von direkter und indirek­          gleichen Ergebnissen kommen.

                                                                                           SKP INFO 3 | 2019                     9
Thema Migration, Ausländer kriminalität, Rassismus 3
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

                                                                                                                              zvg
«Über Rassismus kann heute einfacher und selbstverständlicher diskutiert werden.»
(Bild: Aktionswoche gegen Rassismus 2019 der Stadt Bern)

Die Beratungsstellen, an die sich Opfer     an; diese Fälle erscheinen jedoch nicht    stichwortet sie und stellt sie in der
rassistischer Diskriminierung wenden        im Bericht des Beratungsnetzes. Auch       ­Urteilssammlung der Öffentlichkeit zur
können, erfassen die gemeldeten Vor­        zu beachten ist, dass von einer grossen     Verfügung. Die Urteilssammlung zeigt,
fälle rassistischer Diskriminierung.        Dunkelziffer ausgegangen werden muss.       dass die erfassten Fälle besonders
Viele der Beratungsstellen sind im Be­      Viele Betroffene melden Vorfälle von        häufig Angehörige der jüdischen Reli­
ratungsnetz für Rassismusopfer zu­          rassistischer Diskriminierung nicht,        gionsgemeinschaft betreffen, gefolgt
sammengeschlossen, welches eine             etwa aus Angst, Scham oder einfach,         von der Gruppe «Ausländer/andere
jährliche Auswertung der gemeldeten         weil sie sich nicht weiter mit der eige­    Ethnien» und «Schwarze/Dunkelhäu­
Fälle publiziert. Der Bericht des Be­       nen Diskriminierungserfahrung befas­        tige». Hier muss allerdings angemerkt
ratungsnetzes zeigt, dass neben der         sen wollen.                                 werden, dass gewisse Gruppen aktiver
Auffangkategorie der «Ausländer»,               Eine andere Quelle, die Auskunft        als andere auch rechtlich gegen rassis­
Schwarze und Muslime besonders              über Vorfälle von rassistischer Diskri­     tische Vorfälle und Äusserungen vor­
­häufig Fälle von rassistischer Diskrimi­   minierung gibt, ist die Urteilssamm­        gehen, was zu einer höheren Zahl von
 nierung melden. Allerdings muss hier       lung zur Rassismusstrafnorm die von         Urteilen zur betreffenden Gruppe führt.
 präzisiert werden, dass es weitere         der EKR geführt wird. In der Urteils­       So wurden antisemitische Äusserungen
 A nlaufstellen gibt, die sich spezifisch
 ­                                          sammlung werden alle Entscheide zu          in der Vergangenheit erfahrungsgemäss
 an bestimmte Zielgruppen wenden, die       Art. 261bis StGB erfasst, die der EKR       systematischer angezeigt.
 nicht dem Beratungsnetz angeschlos­        durch den Nachrichtendienst des Bun­            Im Unterschied zu den vorgehend
 sen sind. So bietet z. B. der Schweize­    des weitergeleitet werden. Die EKR          genannten Quellen, erfasst die Umfrage
 risch-israelitische Gemeindebund Be­       erstellt dann anonymisierte Zusam­
                                            ­                                           «Zusammenleben in der Schweiz» nicht
ratung für Opfer von Antisemitismus         menfassungen dieser Entscheide, be­         konkrete Vorfälle von rassistischer

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MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

­ iskriminierung, sondern die Ein­
D                                 stel­        In Zeiten von «Hate Speech»,               muss ein Ausgangspunkt sein, das eige­
lung der Bevölkerung gegenüber be­             «Shit Storms» und «Fake News» hört         ne Denken und Handeln zu hinterfragen.
stimmten Gruppen. Die Ergebnisse               man oft, Rassismus beginne bei der
deuten darauf hin, dass muslimfeind­           Sprache. Soll man bestimmte Wörter           Sie können den Rassismus nicht im Allein­
liche Einstellungen am weitesten ver­          verbieten?                                   gang bekämpfen. Von welchen Seiten
breitet sind (14%), etwa gleichauf             Die drei Schlagwörter, die Sie anspre­       wünschen Sie sich grössere Unter­
mit negativen Einstellungen gegenüber       chen, bezeichnen sehr unterschiedliche          stützung? Was kann und sollte jeder
Jüdinnen und Juden (12%), aber vor
­                                           Phänomene, die ganz verschiedenen             ­Einzelne tun?
negativen Einstellungen gegenüber
­                                           Mustern folgen.                                 Die Bekämpfung von Rassismus ist
Schwarzen (7%). Allerdings müssen                  Rassistische Hate Speech hat es          eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
diese Zahlen mit Vorsicht interpretiert     schon immer gegeben, nur wirken                 Jeder und Jede trägt die Verantwor­
werden, da der Einfluss der sozialen           die sozialen Netzwerke und die ver­          tung, die eigenen bewussten oder un­
Erwünschtheit und der unterschied­          schiedenen Online-Plattformen wie ein           bewussten (rassistischen) Vorurteile zu
lichen Fragestellungen noch genauer         ­r iesiges Megafon, durch welches diese         reflektieren und das eigene Handeln
zu untersuchen wäre. Anzumerken ist          hasserfüllten Botschaften tausendfach          daraufhin zu über­   prüfen. Auch ist es
auch, dass die angegebene Reihenfolge        verbreitet werden. Diese Reichweite            wichtig, dass Rassismus und Diskrimi­
der betroffenen Gruppen weder mit            war früher nicht gegeben.                      nierung benannt und verurteilt werden,
der Auswertung des Beratungsnetzes                 Rassismus hat viele Formen und           hierbei spielen gerade politische Ak­
über­einstimmt, noch derjenigen der          Facetten, Sprache ist eine davon. Des­         teure eine wichtige Rolle, da sie eine
EKR-Rechtssammlung entspricht.               halb ist es wichtig, sich damit zu             gewisse Vorbildfunktion haben.
                                             ­beschäftigen. In die Alltagssprache hat           Für die Bekämpfung von strukturel­
Wie messen Sie die Wirksamkeit Ihrer          sich so manche Wendung einge­                 ler Diskriminierung ist vor allem die Ver­
Arbeit in der ERK? Gab es so etwas wie        schlichen, die – wenngleich oft so nicht      waltung gefragt, und zwar auf Bundes-,
einen «grössten Erfolg», und wo haben         ­beabsichtigt – schlichtweg diskriminie­      Kantons-, und Gemeindeebene. Struk­
Sie Rückschläge am meisten gespürt?            rend und rassistisch sein kann. Der          turelle Hürden beim Zugang zu Arbeit,
Rassismusbekämpfung ist eine Dauer­            Verzicht auf diese Worte ist wichtig, da     Wohnung und anderen Leistungen müs­
aufgabe, die nicht geradlinig verläuft         durch die unreflektierte Weiterbenut­        sen angegangen werden. Diskriminie­
und in ihrer Wirksamkeit nur schwer            zung von rassistischen Begriffen der         rungen sind nicht immer nur das Resultat
messbar ist. Die Arbeit der EKR ist nicht      bestehende Rassismus permanent re­           von bewussten Entscheidungen, sondern
auf einzelne «grosse Erfolge» ausge­           produziert wird. Allerdings denke ich        basieren oft auf vorurteils­be­l a­denen,
richtet, sondern vielmehr auf das konti­       nicht, dass es sinnvoll ist oder aus­        unbewussten Reflexen. Deshalb sind
nuierliche Beobachten und Analysieren          reicht, solche Worte einfach zu ver­         wiederholte Sensibilisierungsmass nah­
von rassistischer Diskriminierung und          bieten.                                      men gerade im Personalbereich bei der
der darauf gestützten Beratungs- und               Der Verzicht auf z. B. das rassis­       öffentlichen Hand ein notwendiges und
Präventionsarbeit. In gewissem Sinne           tische N-Wort reicht jedoch nicht aus.       geeignetes Mittel, um einen diskrimi­
ist die grösste Errungenschaft der EKR         Wir dürfen es nicht bei dem blossen          nierungsfreien Zugang von Minderhei­
wohl, dass über Rassismus heute ein­           Austausch von Worten belassen. Für           tengruppen zu stärken. Aus Sicht der
facher und selbstverständlicher disku­         eine reflektierte Sprache müssen alte        EKR steht die öffentliche Verwaltung
tiert werden kann.                             Gewohnheiten abgelegt werden ange­           besonders in der Pflicht, allen Men­
    Eine besondere Herausforderung             sichts der langen (rassistisch konno­        schen gleichermassen den Zugang zu
für die Zukunft liegt im Spannungsfeld         tierten) Vergangenheit bestimmter Be­        ihren Dienstleistungen offen zu halten.
zwischen knappen finanziellen und              griffe. Anstatt «Mohren-» oder «Neger­           Was die Polizeiarbeit angeht, würde
personellen Ressourcen der EKR und             kuss» nun «Schokokuss» zu sagen, an­         die EKR es begrüssen, wenn in den ent­
der zunehmenden Komplexität der                stelle von «Zigeuner» «Jenische, Sinti       sprechenden Aus- und Weiterbildungs­
Rassismusbekämpfung. Als Beispiel              und Roma», kann nur der Anfang sein          angeboten der Polizeischulen sowie der
sei hier der vermehrte Einsatz von             beim Abbau von (teils unbewusstem)          Ausbildungsstätten des Grenz­wacht­korps
Algo­r ithmen in immer mehr Bereichen          Rassismus.                                  die oft tabuisierte Problematik des institu­
des Alltags genannt. Hier steht eine               Wichtig ist es, sich mit dem rassis­    tionellen bzw. des strukturellen Rassis­
vertiefte Auseinandersetzung mit der           tischen und diskriminierenden Gehalt der    mus ernsthaft und konsequent ange­
Frage bevor, wie durch den Einsatz von      Worte auseinanderzusetzen und da­­rü­ber       sprochen würde. Hierzu gehört auch die
neuen Technologien Vorurteile repro­        eine gesamtgesellschaftliche Diskus­           ­Auseinandersetzung mit Racial Profiling.
duziert und so diskriminierende Er­         sion zuführen. Die inhaltliche Aus­einan­     (Die Fragen stellte Volker Wienecke,
gebnissen erzeugt werden.                   der­set­zung mit Sprache und Begriffen        Redaktor SKP INFO)

                                                                                          SKP INFO 3 | 2019                         11
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

Vermeidung von Racial                                                                     kontrolle, allein oder primär basierend
                                                                                          auf Merkmalen wie Hautfarbe oder

und Ethnic Profiling bei
                                                                                          (zugeschriebener) Ethnie ohne Vor­
                                                                                          ­
                                                                                          liegen zusätzlicher gewichtiger objekti­
                                                                                          ver Gründe.6 Es handelt sich demnach
Personenkontrollen                                                                        um die Anwendung von Selektionskrite-
                                                                                          rien aufgrund stereotyper Zuschrei­
                                                                                          bungen, die gestützt auf äusserliche
Warum es nicht zulässig – und auch nicht sinnvoll –                                       Merkmale erfolgen. Racial und ethnic
                                                                                          profiling ist verfassungswidrig; es
ist, jemanden nur aufgrund eines bestimmten                                               stellt eine Form von Diskriminierung
­Aspekts seines Aussehens für verdächtig zu halten                                        im Sinne der Bundesverfassung und
                                                                                          der Europäischen Menschenrechtskon­
                                                                                          vention (EMRK) dar.7
Allgemeine verfassungs-                       sonenkontrollen dürfen demnach nur
und verwaltungsrechtliche                     durchgeführt werden, wenn sie im            Grundsätze nichtdiskriminie­
Grundsätze für Personen­                      ­konkreten Einzelfall nach einem objek­     render Personenkontrollen
kontrollen                                    tiven Massstab ex ante, das heisst aus        Zwar dürfen Faktoren wie Hautfarbe,
 Personenkontrollen, d.h. Anhaltung,          damaliger Sicht (nach den damaligen
                                              ­                                             zugeschriebene ethnische Zugehörig­
 Identitätskontrolle sowie die Abklärung      Umständen), tatsächlich zur polizeili­        keit oder (mutmassliche) Religion Kri­
 von allfälligen Fahndungen1, tangie-         chen Aufgabenerfüllung (insbesondere          terien für polizeiliches Handeln dar­
ren Freiheitsrechte. Eingriffe in diese       der Aufrechterhaltung der öffentlichen        stellen, jedoch nie alleiniges oder pri­
grund- und menschenrechtlich ge­              Ordnung, der Verbrechensprävention            märes.8 Zusätzlich muss die Kontrolle
schützten Positionen sind nur unter           und der Mitwirkung bei der Strafauf­          an objektive Anhaltspunkte anknüpfen
­bestimmten Voraussetzungen zulässig.         klärung) notwendig und zumutbar er­         können, wie z. B. die zeitliche und/oder
 Sie müssen gesetzlich vorgesehen             scheinen.3 Die Gründe für eine Kontrolle    örtliche Nähe zu einem Tatort, mit­
 sein, ein legitimes öffentliches Interes­    müssen sich stets aus der polizeilichen     geführte Effekten, grosse Ähnlichkeit
 se verfolgen und verhältnismässig sein       Aufgabenerfüllung ergeben: Anlass­          mit einer gesuchten Person (z. B. Farbe
 (Art. 36 Bundesverfassung, BV).2 Per­        freie Kontrollen oder solche, die nicht     der Kleider, Frisur, Grösse und nicht
                                              aus überwiegenden öffentlichen Inter­       nur Hautfarbe oder ethnische Zuschrei­
                                              essen erfolgen, sind daher unzulässig.4     bung), konkrete Ermittlungserkennt­
 Autor/innen                                  Personenkontrollen müssen weiter im         nisse, eine verworrene oder unklare
                                              Einzelfall begründbar sein. So wäre es      Situation, eine Personenbeschreibung
  Judith
                                              unzulässig, undifferenzierte und breite     nach Angaben von Zeugen (die sich z. B.
 ­W yttenbach
                                              Personenkontrollen etwa zur allgemei­       auf eine anhand von Kleiderbeschrei­
 Prof., Ordinaria für
                                              nen Quartierberuhigung vorzunehmen.         bungen, Grösse oder mitgeführten
 Staats- und Völker­
 recht, Universität                                                                       ­Taschen bestimmbare Person richten)
 Bern
                                              Racial und ethnic profiling                  und andere Ermittlungserkenntnisse
                                              als eine Form von Diskrimi­                  oder von der Polizei wahrgenommenes
                                        zvg

 Jörg Künzli
                                              nierung                                      rechtswidriges bzw. die öffentliche
 Prof., Ordinarius für                        Polizeiliches Handeln muss rechts-           ­Sicherheit und Ordnung gefährdendes
 Staats- und Völker­                          gleich erfolgen und darf nicht diskrimi-      oder verdächtiges Verhalten.9 Auch
 recht, Universität                           nierend sein. Die Schweiz hat in ihrer        Fahndungs- und Personenbeschreibun-
 Bern
                                              Rückmeldung an den UNO-Ausschuss              gen dürfen nicht ausschliesslich auf die
                                              gegen Rassendiskriminierung bestä­            Hautfarbe oder die ethnische Zugehö­
                                        zvg

                                              tigt, dass Faktoren wie Nationalität,         rigkeit einer Person abstellen, andern­
 Eliane Braun
                                              Hautfarbe oder Religion einer Person          falls droht eine Einschränkung der
 BLaw, Hilfsassis­
 tentin, Institut für
                                              zwar Kriterien für ein Polizeihandeln         Rechte einer Vielzahl von Personen, die
 öffentliches Recht,                          sein können, nicht aber alleiniges Krite-     rein zufällig ebenfalls diese Merkmale
 Universität Bern                             rium darstellen dürfen.5 Als racial und       aufweisen.10
                                              ethnic profiling gilt die Vornahme oder           Personenkontrollen, die nicht auf­
                                        zvg

                                              Durchführung einer polizeilichen Mass­        grund von konkreten Fahndungsbe­
                                              nahme und namentlich einer Personen­          schreibungen oder ähnlichem erfolgen,

12                       SKP INFO 3 | 2019
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

                                                                                                                                     Keystone / Gaetan Bally
«Als racial profiling gilt u.a. die Durchführung einer Personenkontrolle, allein oder primär basierend auf Merkmalen wie Hautfarbe
ohne Vorliegen zusätzlicher gewichtiger objektiver Gründe.»

sollten verhaltens- und nicht merk-          von Störern (z. B. Teilnehmer einer un­       diskriminierende Personenkontrollen
malszentriert sein. Allerdings ist es        bewilligten Demonstration; Gruppen            noch weiter stigmatisiert fühlen.11 Der
unzulässig, bestimmte alltägliche Ver­       von Personen im öffentlichen Raum, die       Tatbestand des illegalen Aufenthalts in
haltensmuster wie das Senken des             nachts laute Musik hören) einzig dun­        der Schweiz darf auch nicht als nach-
Kopfes oder Abwenden des Blickes nur         kelhäutige Personen einer Kontrolle          träglich legitimierender Vorwand für
deswegen als verdächtig zu beurteilen,       unterzogen würden.                           die Kontrolle verwendet werden, wenn
weil sie bei «ausländisch aussehenden            Problematisch ist es ferner, Perso­      ex ante keine konkreten Verdachts­
Personen» wahrgenommen werden –              nen aufgrund des Erscheinungsbildes          punkte vorliegen.
während das gleiche Verhalten bei            und ohne weitere Anhaltspunkte einzig            Weiter stellt sich die Frage, inwie­
einer «schweizerischen» oder «hell­
­                                            deshalb zu kontrollieren, weil ein Gene-     fern Polizeiangehörige ihre Erfahrungs­
häutigen» Person nicht zu einer Per­         ralverdacht des illegalen Aufenthalts        werte aus langjähriger Tätigkeit im ent­
sonenkontrolle führen würde. Selbst          gegen bestimmte Bevölkerungsgrup­            sprechenden Milieu als Grundlage für
wenn strafbares Verhalten oder eine          pen besteht. Die Selektion erfolgt in        eine gezielte Kontrolle von Angehörigen
Störung der öffentlichen Ordnung und         solchen Fällen v.a. aufgrund eines als       ethnischer Minderheiten heranziehen
somit zweifellos ein objektives, sachli­     fremd/ausländisch interpretierten äus­       dürfen.12 Personenkontrollen werden
ches Kriterium vorliegt, ist die gezielte    seren Erscheinungsbildes. Hier besteht       u.a. damit gerechtfertigt, es sei unbe­
Auswahl von Personen auf Grund ihres         weiter die Gefahr, dass sich Minderhei­      stritten, dass bestimmte Delikte in
Äusseren unzulässig. So wäre es dis­         ten, die ohnehin überdurchschnittlich        ­einer konkreten Gegend nur durch An­
kriminierend, wenn von einer Gruppe          von Ausgrenzung betroffen sind, durch         gehörige einer bestimmten Minderheit

                                                                                          SKP INFO 3 | 2019                      13
MIGRATION, AUSLÄNDERKRIMINALITÄT, RASSISMUS

ausgeübt werden. Die Bestätigung für
die sachliche Begründetheit dieser                    Der vorliegende Artikel ist die gekürzte Fassung eines Beitrags, der als unge-
Praxis wird dabei in der Anzahl «Tref­                kürzter Originalbeitrag in der nächsten Ausgabe des format magazine – Zeit-
fer» gesehen.13 Dass Erfahrung einen                  schrift für Polizeiausbildung und Polizeiforschung erscheinen wird. Wir danken
wichtigen Beitrag zu guter Polizeiarbeit              den Autoren und dem format magazine für die Ermöglichung dieses Vorabdrucks.
leistet, ist unbestreitbar. Gleichwohl
müssen sich auch Erfahrungswerte
letztlich objektivieren lassen und dürfen
nicht zu Stereotypisierungen führen:
Die Selektion von Personen, die ange­                1 Art. 215 Abs. 1 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, SR 312.0.
halten werden sollen, muss sich auf                  2 Art. 36 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 BV (Bewegungsfreiheit), Art. 13 Abs. 2 BV (informationelle Selbst­
                                                       bestimmung) und Art. 13 Abs. 1 (Privatsphärenschutz) der Bundesverfassung der Schweize­
benennbare und nachvollziehbare sach­
                                                       rischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.
liche Kriterien abstützen, um unzuläs­
                                                     3 So u.a. STATTHALTERAMT DES BEZIRKS ZÜRICH, RK.2013.5/TA/TA, Ziff. 10.1.
sige Verallgemeinerungen zu vermei­
                                                     4 BGE 138 I 87 E. 5.2 S. 102; WEDER ULRICH, Art. 215 StPO, in: Andreas Donatsch/Thomas Hans­
den. Liegen prinzipiell derartige objek­               jakob/Viktor Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO),
tive Anhaltspunkte vor und knüpfen die                 2. Aufl., Zürich 2014, S. 1209–1220, N 8.
Handlungen nicht vorrangig an Haut­                  5 EDA, Replies to the questions by the rapporteur in connection with the consideration of the fourth
farbe, (vermuteter/zugeschriebener)                    to sixth periodic reports of Switzerland (CERD C/CHE/6), 29.07.2008, S. 16.

Ethnie oder Religion an, so bewegt sich              6 OSJI, Reducing Ethnic Profiling in the European Union. A Handbook of Good Practices, New York
                                                        2012, S. 17; ähnliche Definition auch von ECRI, General Policy Recommendation N° 11. Comba­t­
die Kontrolle im Rahmen des gesetzlich                  ing racism and racial discrimination in policing, CRI(2007)39, Glossary: “Racial profiling [is] the
und verfassungsmässig Zulässigen.                       use by the police, with no objective and reasonable justification, of grounds such as race, colour,
     Schliesslich sind Profile, die sich                language, religion, nationality or national or ethnic origin in control, surveillance or investiga­
                                                        tion activities” sowie auch von ENAR, Fact Sheet 40, Ethnisches Profiling, Brüssel 2009, S. 2:
auf stereotype Annahmen in Bezug auf
                                                        «Ethnisches Profiling wird dahingehend definiert, dass Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungs-
­Rasse, Religion oder Ethnizität stützen,              und Zollbeamte ihr Handeln, soweit es in ihrem Ermessen steht, auf allgemeine Kriterien wie
 nicht nur diskriminierend, sondern es                 Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Religion und nationale Herkunft einer Person, statt auf ihr
                                                       ­Verhalten und objektive Beweise als Verdachtsmomente gründen.»
 fehlt ihnen auch an Effektivität. Durch
                                                     7 Art. 8 Abs. 2 BV und Art. 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfrei­
 die Verallgemeinerung verstellen sie
                                                       heiten vom 4. November 1950, EMRK, SR 0.101. Siehe dazu explizit ECRI (Fn. 6), Rz. 27 ff.; CERD,
 den Blick auf differenzierende, gleich­               Concluding Observations 2014. Switzerland, UN Doc. CERD/C/CHE/CO/7–9, 13.03.2014, Ziff. 4;
 zeitig aber wesentliche Faktoren.14 Dies              MOECKLI DANIEL, Völkerrechtliche Grenzen des racial profiling, in: Jusletter 18.09.2017, RZ. 9.
belegen die Beobachtungen verschiede­                8 EDA (Fn. 5), S. 16.
ner ausländischer Polizeibehörden, die               9 Im BGer-Urteil 6B_1174/2017 vom 7. März 2018, E. 5.1, lässt das Bundesgericht das Abwenden
                                                       des Blicks (Vermeidungsverhalten) in Kombination mit «situativen Faktoren» (spezifische
sich seit Jahren vertieft mit racial und
                                                       ­Gegebenheiten am Bahnhof Zürich) allerdings genügen. Die Hautfarbe darf jedoch nicht der
ethnic profiling befassen. Ihre Erfahrun­               ausschlaggebende Grund für die Personenkontrolle sein (E. 5.5 e contrario); siehe auch BGE
gen zeigen, dass die Frage diskrimi­                    136 I 87 E. 5.2 S. 101 f.
nierungsfreier Personenkontrollen über               10 FRA, Diskriminierendes «Ethnic Profiling» erkennen und vermeiden: ein Handbuch, Luxemburg
weite Strecken deckungsgleich mit den                   2010, S. 64 f.; weiterführend U.S. DEPARTEMENT OF JUSTICE, Guidance for Federal Law
                                                        ­Enforcement Agencies Regarding the Use of Race, Ethnicity, Gender, National Origin, Religion,
Kriterien guter, d.h. effektiver Perso­                  Sexual Orientation, or Gender Identity, Washington 2014, S. 3; PAP ANDRÁS LÁSZLÓ, Ethno-Racial
nenkontrollen ist. So zeigen Unter­                      Profiling in Law Enforcement: Concepts and Recommendations, NWV 2009, S. 285–296, S. 295.
suchungen, dass mit konkreteren Aus­                 11 BELINA BERND, Eine Variante des Generalverdachts: Racial Profiling in urbanen Räumen. Was
wahlkriterien die Anzahl von Personen­                  ist da los – und was ist zu tun?, in: Jan Philipp Albrecht (Hrsg.), 4. Grüner Polizeikongress. Poli-
                                                        zeiarbeit ohne Generalverdacht. Die Dokumentation, Berlin 2015, S. 19.
kontrollen deutlich gesenkt, gleichzei­
                                                     12 Im BGer-Urteil 6B_383/2008 vom 24.7.2008, E. 1.3, musste sich das Bundesgericht mit einem
tig die Anzahl von Treffern aber erhöht                 Verkehrsteilnehmer befassen, der geltend gemacht hatte, dass er in willkürlicher Weise für
werden konnte.15 Forderungen nach                       eine Kontrolle selektioniert worden sei. Das Bundesgericht lässt darin die Frage offen, wie weit
effek­tiver und solche nach verfassungs­                auch Erfahrungswerte der Polizei eine Selektion rechtfertigen können, zumal es sich um eine
                                                        SVG-Kontrolle handelte und der Lenker im Übrigen durch Verkehrsregelverletzung (und mithin
konformer Polizeiarbeit stellen folglich
                                                        aufgrund seines Verhaltens) aufgefallen war.
nur vermeintlich einen Widerspruch dar.
                                                     13 Ebenfalls HUMANRIGHTS.CH, Rassistisches Profiling: Begriff und Problematik, abrufbar unter
                                                        www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/rassismus/rassistisches-profiling/begriff/
Weiterführend siehe JÖRG KÜNZLI/JUDITH
                                                        (19.09.2019).
WYTTENBACH/VIJITHA FERNANDES-­
VEERA­K ATTY/NICOLA HOFER, Personen­                 14 Zu den Erkenntnissen ausländischer Polizeibehörden siehe OSJI (Fn. 6), S. 14; weiterführend
kon­­trollen durch die Stadtpolizei Zürich – Stan-      dazu OSCE/ODIHR, Preventing Terrorism and Countering Violent Extremism and Radicalization
dards und Good Practices zur Vermeidung von             that Lead to Terrorism: A Community-Policing Approach, Wien 2014, S. 20, 75 ff. An der Erarbei­
Racial und Ethnic Profiling, Bern Februar 2017,         tung dieses Dokuments war auch die Schweiz beteiligt.
abrufbar unter www.skmr.ch > Themen­                 15 Vgl. GLASER JACK, Suspect Race. Causes and Consequences of Racial Profiling, Oxford 2015,
bereiche Polizei und Justiz > Publikationen             S. 205 f.

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