MINDESTLOHN - EIN GERECHTER LOHN? - Plädoyer für einen Autonomie stärkenden Mindestlohn 16 /2018 - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
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D I S K U R S 16 /2018 Günther Schmid MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? Plädoyer für einen Autonomie stärkenden Mindestlohn
WISO DISKURS 16 /2018 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk- schaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politikberatung leisten. Über den Autor dieser Ausgabe Günther Schmid ist Professor a. D. für Ökonomische Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin und Direktor Emeritus am Wissenschaftszen- trum Berlin (WZB) für Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung. Sein jüngstes Buch (2018) beschäftigt sich mit der Zukunft der Arbeit in Europa und der Erneuerung des europäischen Sozialmodells. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Andreas Wille leitet in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik die Bereiche Arbeit und Qualifizierung.
16 /2018 WISO DISKURS Günther Schmid MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? Plädoyer für einen Autonomie stärkenden Mindestlohn 4 VORWORT 5 ZUSAMMENFASSUNG 6 1 EINLEITUNG 7 2 DER MINDESTLOHN AUS NORMATIVER PERSPEKTIVE 7 2.1 Gerechtigkeit als Verhältnismäßigkeit 10 2.2 Gerechtigkeit als Fairness 11 2.3 Chancengerechtigkeit durch Umverteilung 13 2.4 Befähigungsgerechtigkeit 15 2.5 Gerechtigkeit durch diskursive Autonomie 18 3 DER MINDESTLOHN AUS POLITISCH-ÖKONOMISCHER PERSPEKTIVE 18 3.1 Gerechter Mindestlohn ein „Lebenslohn“? Die USA als Vorreiter 19 3.2 Der Mindestlohn aus europäischer Perspektive: Höhe und Wirkungen 22 4 FAZIT 25 Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 VORWORT Als die Mindestlohnkommission Ende Juni 2018 ihren Zweiten Auch die Höhe des Mindestlohns ist Gegenstand wiederkeh- Beschluss zur Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindest- render Auseinandersetzungen, die gleichermaßen mit ökono- lohns verkündete, deutete in den öffentlichen Reaktionen we- mischen wie normativen Argumenten ausgetragen werden. nig auf die Kontroverse hin, die der Einführung eines gesetzli- Die Enttäuschung über die Wirksamkeit von Mindestlöhnen bei chen Mindestlohns in Deutschland zu Beginn des Jahres 2015 der Bekämpfung von Erwerbsarmut hat in den vergangenen vorausgegangen war. Die langjährige Debatte über das Für Jahren dem umfassenderen Konzept des „Lebenslohns“ Auf- und Wider des Mindestlohns war zum einen durch die Ausei- trieb gegeben, der – anders als der nominale Mindestlohn – nandersetzung über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen nicht nur ein Existenzminimum garantieren, sondern eine wür- einer allgemeinen Lohnuntergrenze geprägt: Insbesondere die dige Lebenshaltung ermöglichen und so die Autonomie des Frage nach der Beschäftigungswirkung des Mindestlohns, ver- und der Einzelnen stärken soll. Die kritische Auseinandersetzung bunden mit dem Schreckensszenario eines massenhaften Ver- mit dem Konzept des „Lebenslohns“ zu Beginn des zweiten lusts an Arbeitsplätzen, erhitzte die Gemüter. Zum anderen Teils der Publikation ist für den Autor Anlass, den Forschungs- spielte der Mindestlohn eine zentrale Rolle in der Diskussion um stand zu den Auswirkungen von Mindestlöhnen auf Beschäf- soziale Gerechtigkeit, welche in den letzten Jahren in Deutsch- tigung, Produktivität, die allgemeine Lohnstruktur und die land wieder verstärkt geführt wird. „Von seiner Hände Arbeit Erwerbsarmut zu skizzieren. leben zu können“ gilt für die Bürger_innen in einem der reichs- Dabei gilt es auch zu bedenken, dass der Arbeitsmarkt im ten Länder der Welt zu recht als Mindestmaß, das Einkom- Zuge der digitalen Revolution vor tief greifenden Veränderun- men nicht unterschreiten dürfen. Dieser Anspruch gewinnt in gen steht und die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit im der gesellschaftlichen Wahrnehmung umso mehr an Gültig- Lebensverlauf einen höheren Stellenwert als bislang einnehmen keit, je weniger die Spitzengehälter am anderen Ende der Ein- muss. Dies mindert nicht die Bedeutung des Mindestlohns. Der kommensskala im Verhältnis zu Leistung und Verantwortung Mindestlohn kann jedoch – so die zentrale Schlussfolgerung zu stehen scheinen. der Publikation – nur ein Element sein, um die individuelle Au- Die Diskussion um den Mindestlohn hat einen wichtigen tonomie in einer unsicherer werdenden Arbeitswelt zu stärken. Beitrag dazu geleistet, den Blick für das Problem der Erwerbs- Hier bedarf es in größerem Maße als bisher, erstens, einer be- armut in Deutschland zu schärfen und die Auswirkungen zu darfsgerechten öffentlichen Infrastruktur, die allgemeinen Zu- thematisieren, die eine zunehmende soziale Ungleichheit nicht gang zu hochwertiger Bildung und Weiterbildung, verlässlicher zuletzt auf die breite Akzeptanz der Demokratie in unserem Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen oder auch einem Land hat. Die unterschiedlichen ökonomischen und normativen reibungslosen öffentlichen Nahverkehr gewährleistet. Zweitens Argumente, die in der Debatte um die allgemeine Lohnunter- liegen die Armutsrisiken nicht alleine in einem ausbeuterischen grenze ins Feld geführt wurden und werden, vermögen jedoch Lohn begründet. Armutsgefährdende Beschäftigungsverhält- die Frage nicht zu beantworten: Ist der Mindestlohn nun ein nisse wie Solo-Selbstständigkeit müssen stärker in den Blick „gerechter“ Lohn? Und wenn ja, in welcher Höhe? Dieser Auf- genommen werden. Drittens gewinnen Transferzahlungen an gabe hat sich die vorliegende Publikation verschrieben. Bedeutung, die Unterstützung in individuellen Lebenslagen, Auf der Suche nach der Antwort nach dem „gerechten“ Lohn wie Arbeitslosigkeit oder eine Gründungsphase, bieten. nimmt der Autor Günther Schmid zunächst die philosophischen Wir wünschen den Leser_innen eine anregende und er- Schulen der Gerechtigkeit von der Antike bis zur Gegenwart in kenntnisreiche Lektüre. den Fokus. Diese normative Perspektive auf den Mindestlohn verdeutlicht, wie vielschichtig die Anforderungen sind, die an ei- nen „gerechten“ Lohn gestellt werden. Schließlich gilt es, unter- ANDREAS WILLE schiedliche Dimensionen von Gerechtigkeit abzuwägen, deren Leiter der Arbeitsbereiche Arbeit und Qualifizierung Ziele miteinander in Konflikt geraten können.
MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? WISO DISKURS 5 ZUSAMMENFASSUNG Trotz der Warnungen tonangebender Ökonom_innen führte Die Antwort darauf erfolgt hier in zwei Schritten. Zunächst Deutschland im Januar 2015 einen gesetzlichen Mindest- lasse ich die wichtigsten philosophischen Schulen der Ge- lohn ein.1 Dieser war jedoch selbst bei den Gewerkschaften rechtigkeit Revue passieren, angefangen von Platons Theorie umstritten, nahm er doch die Verantwortung für Löhne ein der „Verhältnismäßigkeit“, der mittelalterlichen Ständephi- Stück weit aus ihrer Hand. Der sinkende Deckungsgrad tarif- losophie des Thomas von Aquin, der politischen Ökonomie gebundener Löhne ließ den Ruf nach dem Gesetzgeber je- von Adam Smith bis hin zur Theorie der „Gerechtigkeit als doch lauter werden. Ein weiterer Grund war die verbreitete Gesellschaftsanalyse“ von Axel Honneth. Schwerpunkte sind Auffassung, ein Lohn müsse gerecht sein in dem Sinne, jedoch die ökonomisch-philosophischen Schulen von John dass er allen voll Erwerbsfähigen zumindest ein würdiges Rawls, Ronald Dworkin und Amartya Sen – auch heute noch Existenzminimum gewährleistet. Steigende Erwerbsarmut die Säulen des modernen Gerechtigkeitsdiskurses. Das und Ungleichheit widersprachen dieser Vorstellung. Ergebnis ist eine Präzisierung der These, wonach die Beurtei- Dieses Gerechtigkeitsargument für Mindestlöhne steht lung, ob ein Mindestlohn „gerecht“ ist, neben der Beschäfti- aber auch heute noch auf wackligen Beinen. Für die Haupt- gungswirkung auch nichtökonomische Dimensionen des strömung der Ökonom_innen ist Gerechtigkeit kein Argu- Lohnes wie politische Teilhabe und Vertrauen einbeziehen ment. Es ist der Markt, der die Gerechtigkeit bestimmt, und muss. Diese soziale Dimension der Entlohnung ist wiederum falls Löhne wegen geringer individueller Produktivität doch eine der Ursachen dafür, dass die Höhe des Mindestlohns nicht ausreichen sollten, müsse der Staat sie aufstocken. selbst seine Voraussetzung schaffen kann, nämlich eine Selbst der Nobelpreisträger für Ökonomie, Amartya Sen, nachhaltige Erhöhung der Produktivität durch die Bereit- kommt in seiner Kritik an Gerechtigkeitsphilosophen wie schaft zur Kooperation. Ein als gerecht empfundener Mindest- John Rawls und Ronald Dworkin zum Schluss, dass deren lohn gibt einer Gesellschaft gewissermaßen einen Ruck soli- Kriterien zwar einleuchtend, aber wirklichkeitsfremd seien. darischer Leistungsbereitschaft, die ein anonymer Marktlohn Doch auch Sen meint, dass wir um einen Gerechtigkeitsdis- nie und nimmer vermitteln kann. Über Bedarfs-, Leistungs- kurs nicht herumkommen: Die Menschen haben nun mal ei- und Chancengerechtigkeit hinaus gilt es also auch, die Dimen- nen starken Gerechtigkeitssinn. Da dieser aber je nach Lage, sion der Verfahrensgerechtigkeit ins Auge zu fassen. Zeit und Ort unterschiedlich sein kann, hält Sen es für sinn- Auch die ersten Erfahrungen mit dem deutschen Min- voller, die Gerechtigkeitsdiskurse über Löhne und deren destlohn geben Anlass dazu, den Tunnelblick auf die Be- Auswirkungen genau zu verfolgen und dann daraus prag- schäftigungswirkung hinter sich zu lassen und die gesell- matisch Schlüsse für Korrekturen zu ziehen. Die Frage ist schaftspolitischen Dimensionen der Entlohnung stärker ein- also: Wie können wir auf dem Grat zwischen dem idealisti- zubeziehen. Darüber hinaus stellt die digitale Ökonomie mit schen und scheinbar belanglosen Normenkatalog der Philo- ihrer räumlichen Entgrenzung ganz neue Herausforderungen sophen und dem fast zynisch anmutenden Pragmatismus an die individuelle Befähigung, eine anständig entlohnte Ar- der Fachökonom_innen wandern, um zu einer zeitgemäßen beit zu erzielen. Das Konzept eines „Lebenslohns“ (living Antwort zu gelangen, ob dem Mindestlohn das Prädikat wage), der nicht nur ein würdiges Existenzminimum garantie- „gerecht“ zusteht, und wenn ja, in welcher Höhe und mit ren, sondern auch die individuelle Autonomie stärken soll, er- welcher Perspektive? scheint nur auf den ersten Blick ausreichend für eine zeitge- mäße Lösung. Entscheidender wird es sein, so die zweite These, zunächst die demokratische Beteiligung bei der Fest- legung des Mindestlohns zu erweitern. Nur so kann die ge- setzliche Auflage einer „Gesamtabwägung“ und der „Ange- 1 Der Autor dankt Oliver Bruttel, Karin Gottschall, Martin Kronauer, Claudia Weinkopf und der FES-Redaktion für wertvolle Hinweise zu dieser messenheit“ eines Mindestschutzes der Arbeitnehmer_innen Publikation. gewährleistet werden.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 1 EINLEITUNG Der Verein für Socialpolitik, die traditionsreiche Zunft der Dieser gute Ruf des britischen Modells beflügelte nicht nur deutschsprachigen Ökonom_innen mit etwa 4.000 Mitglie- die Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutsch- dern, hat zum Mindestlohn nach wie vor ein ebenso distan- land, sondern veranlasste auch den deutschen Gesetzgeber, ziertes Verhältnis wie zum Sozialen. Letztlich, so ihre An- eine ähnlich strukturierte Mindestlohnkommission einzuset- nahme, ist der Markt „sozial“, wenn er möglichst ungehindert zen, allerdings mit vier erheblichen Unterschieden: Erstens wirken darf. Sollte dabei das Soziale aufgrund von „Markt- wurde der Eingangssatz des Mindestlohns (8,50 Euro) poli- versagen“ doch unter den Tisch fallen, wäre allenfalls an tisch von der damaligen Regierungskoalition (CDU/SPD) be- „Lohnergänzungen“ zu denken (Sinn 2003a, 2003b). Die stimmt und nicht wie in Großbritannien von der LPC; zwei- Forderung nach einem „gerechten“ Lohn – dass jeder wenig- tens soll sich die deutsche Mindestlohnkommission wei- stens „von seiner Hände Arbeit leben kann“ – ist in den testgehend an der Entwicklung der Tariflöhne orientieren; Augen vieler Mainstream-Ökonom_innen bestenfalls naiv, drittens haben die beiden deutschen akademischen Vertre- unter Kolleg_innen eher rufschädigend. Einen anderen ter_innen im Gegensatz zu ihren britischen Kolleg_innen Maßstab als die messbare Wirkung auf Beschäftigung und kein Stimmrecht; und viertens soll der Mindestlohn nicht Arbeitslosigkeit gibt es nicht für gerechte Löhne. jedes Jahr, sondern nur alle zwei Jahre angepasst werden. Mit dieser engen Auffassung kann sich der Verein weder Erst in jüngster Zeit gerieten sowohl der britische Mindest- auf seine Geschichte noch auf internationale Standards beru- lohn wie auch die LPC wieder unter Beschuss. Kern dieser fen. Schon der zentrale Mitbegründer des Vereins für Socialpo- Kritik war die Festlegung des Mindestlohns auf einen ein- litik, Gustav Schmoller, war ein dezidierter Vertreter verteil- heitlichen Lohnsatz und die verengte Perspektive auf die Be- ender Gerechtigkeit: Ein „fester Taglohn“ habe sowohl ökono- schäftigungswirkung. Noch unter David Cameron entschied misch als auch ethisch seine Berechtigung. Ökonomisch ge- sich die Regierung im Frühjahr 2016, dem Vorschlag der LPC währleiste er Kooperationsbereitschaft, ethisch ein Leben in nicht zu folgen und stattdessen einen „nationalen Lebens- Würde und gesellschaftlicher Anerkennung (Schmoller 1898: lohn“ von 7,20 britischen Pfund pro Stunde (circa 9,10 Euro 89–90). Dass die außerökonomische Begründung für einen nach damaligem Kurs) für Erwachsene (ab 25 Jahren) einzu- Mindestlohn selbst unter ansonsten liberal gesinnten Öko- führen. Zudem legte sich die Regierung – im krassen Gegen- nom_innen eine feste Größe darstellt, lässt sich mit einem kur- satz zum bisherigen Verfahren – auf ein mittelfristiges Ziel zen Blick auf Großbritannien belegen. Dort bestimmt seit 1997 fest: Die Höhe des „Lebenslohns“2 soll im Jahr 2020 mehr als die britische Niedriglohnkommission (Low Page Commission – 9 Pfund pro Stunde betragen; dies entspräche rund 60 Pro- LPC) das Minimum an Bezahlung. Gewerkschaften, Arbeitge- zent des Medianlohnes und nach heutigem Kurs3 umgerech- ber_innen und Wissenschaftler_innen – gleichgewichtig net etwa 10,20 Euro. Um die Mindestbezahlung an einer an- vertreten – tarieren dort in einem sorgfältigen Analyse- und ständigen Lebenshaltung ausrichten zu können, will die Regie- Aushandlungsprozess die Höhe des Mindestlohns aus, sodass rung sogar ausdrücklich eine gewisse Erhöhung der Arbeitslo- ihre Vorschläge in der Regel von Regierung und Parlament an- sigkeit in Kauf nehmen. Inwieweit diese Neuorientierung an genommen und in den Gesetzesrang gehoben werden. Das einem „Lebenslohn“ normativ wie ökonomisch Sinn macht, heftig umstrittene britische Mindestlohngesetz der noch jun- wird nun Gegenstand der folgenden Erörterungen sein. gen Blair-Regierung errang wider Erwarten hohe Anerkennung in der Öffentlichkeit, bald auch von den Arbeitgeber_innen und schließlich von der nachfolgenden konservativen Regie- 2 Im Folgenden setze ich den Begriff in Anführungsstrichen, weil die direkte deutsche Übersetzung des englisch-amerikanischen Begriffs rung. Es war vor allem das politisch legitimierte Verfahren, das „living wage“ zu dem Missverständnis führen könnte, es handle sich um dem nationalen Mindestlohn den Ruf der erfolgreichsten poli- ein im Laufe des Arbeitslebens erzieltes Lohneinkommen. tischen Reform in der jüngsten Geschichte Großbritanniens 3 Der „heutige Kurs“ bezieht sich hier und im Folgenden jeweils auf verschaffte (Brown 2009; Metcalf 2008; Schmid 2016). die Umrechnung mittels Währungsrechner am 28.6.2018.
MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? WISO DISKURS 7 2 DER MINDESTLOHN AUS NORMATIVER PERSPEKTIVE 2.1 GERECHTIGKEIT ALS VERHÄLTNIS- Darum bedürfe es eines Gesetzes, um diese Verhältnismä- MÄSSIGKEIT ßigkeit zu bewahren: „In einem Staate [...], der von der größten Krankheit, welche wir richtiger Auflösung als Auf- „Wird doch für Ungleiche das Gleiche, wenn es das Maß ruhr nennen, frei bleiben soll, darf sich weder bei einigen nicht trifft, zum Ungleichen, und durch beides werden Bürgern drückende Armut noch dagegen auch Reichtum häufige Aufstände in den Staaten erzeugt“ (Platon, Nomoi: finden, da beide jene erzeugen; der Gesetzgeber muss 757a). daher eine Begrenzung jedes dieser beiden bezeichnen. Die Grenze der Armut bestimme also der Wert eines Loses, In seiner nach wie vor lesenswerten Geschichte der westli- welches jedem bleiben muss und dessen Verringerung keine chen Philosophie verweist Bertrand Russell (1961: 46) auf Obrigkeit jemals gestatten wird, so wenig wie irgendeiner eine Konstante des griechischen Denkgebäudes. Es war der übrigen Bürger, welcher den Ruhm der Tugend erstrebt. Anaximander, ein Schüler von Thales aus Milet (um 6. Jahr- Indem der Gesetzgeber dieses als Maßstab annimmt, wird hundert v. Chr.), der diese Idee am deutlichsten formulierte: er das Doppelte, Dreifache, ja Vierfache davon zu besitzen Gerechtigkeit ist der Ausdruck für die Beachtung des unver- gestatten; erlangt aber einer mehr als das, indem er es fand änderlichen kosmischen Gesetzes der Verhältnismäßigkeit. oder irgendwoher geschenkt bekam oder es verdiente oder Dieses Gesetz wird im Kampf der Elemente (damals Feuer, durch einen anderen Glücksfall der Art das Maß Überschrei- Wasser, Erde und Luft) um die Vorherrschaft ständig verletzt, tende gewann, der dürfte wohl, wenn er an den Staat und sodass in der daraus resultierenden Evolution immer wieder die über ihn waltenden Götter es abgibt, einen guten Ruf die Balance herzustellen ist; selbst die Götter sind diesem erlangen und keiner Strafe unterliegen [...]“ (Platon, Nomoi: Naturgesetz der Verhältnismäßigkeit unterworfen. 744e, 745a). Platon (ca. 428–348 v. Chr.) nahm diese Idee auf und Genau genommen beziehen sich Platons Überlegungen übertrug sie auf die Gesetze des Staates. Im Buch „Nomoi“ nicht auf Löhne, sondern nur auf Besitz. Lohnarbeit galt zur beginnt er seine Überlegungen mit der nicht unwichtigen damaligen Zeit sogar als entwürdigend und war Sache von Feststellung, der Grundbesitz eines Menschen werde durch Sklav_innen. Deren „Mindestlohn“ war das Existenzminimum Los bestimmt und dieser dürfe niemandem weggenom- im primitivsten Sinne: Die damaligen Herren sahen die Le- men werden. Es wäre sogar schön, wenn jeder mit „glei- gitimation der Sklavenhaltung darin, diese Menschen zu- chem Besitze in die Niederlassung käme“. Das sei aber mindest am Leben zu lassen, anstatt sie – als Unterlegene unmöglich, weil sich die Menschen eben mit unterschiedli- und angeblich nicht gleichwertige Wesen – totzuschlagen. cher „Habe“ einfinden. Darum sei es nötig, diese Unter- Als Dank oder zum Ausgleich sollten sie wenigstens unbe- schiede in vier Vermögensklassen einzuteilen, „um eine grenzt arbeiten. Selbst angesehene Ökonom_innen, darun- Gleichheit der Verhältnisse im Staate herzustellen [...], dass ter auch der eingangs schon erwähnte „Kathedersozialist“ eine Verschiedenheit der Vermögensklassen eintrete, damit Schmoller, feierten diese Arbeitsteilung noch bis Ende des Staatswürden, Beisteuern und Verteilungen nach Schät- 19. Jahrhunderts als evolutionären Fortschritt oder gar als zung des jedem Gebührenden bestimmt werden, nicht „die große Arbeitsschule der Menschheit“. 4 Wäre die Skla- bloß der Tugend seiner Ahnen und der eigenen oder sei- venarbeit der gesellschaftlichen Bewertung unterworfen ner Körperkraft und Schönheit gemäß, sondern auch mit Berücksichtigung seines Reichtums und seiner Armut, und damit sie, Ehren und Staatswürden auf das gleichförmigste 4 „Die Sklaverei war einige Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende lang allerdings nötig; sie war ein Fortschritt, weil sie technisch notwendig war, in zwar ungleicher, aber verhältnismäßiger Weise erhal- weil sie die große Arbeitsschule der Menschheit wurde. […]. Dieser Fort- tend, nicht in Zwistigkeiten geraten“ (Platon, Nomoi: schritt war deswegen um so viel größer, weil er die ungerechte Ausnutzung 744 b,c). der Gewalt noch mehr erschwerte“ (Schmoller 1898: 135–136).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 gewesen, wäre Platon damals wohl auch für den Lohn zu Zum anderen gilt es, den Mindestlohn an einem als würdig einem ähnlichen Maßstab verteilender Gerechtigkeit ge- empfundenen Lebenshaltungsniveau zu orientieren, eine kommen wie für das Besitzvermögen. Auffassung, die sich heute in der Diskussion des Mindest- Auch die theoretische Weiterführung der Gerechtigkeit lohns als „Lebenslohn“ widerspiegelt. Weil dieser revolutio- als Verhältnismäßigkeit durch Aristoteles (384–322 v. Chr.) näre Gesichtspunkt von Adam Smith meist zu wenig beach- im 5. Buch der „Nikomachischen Ethik“ bezieht sich nicht tet wird, soll er – auch wegen der heute erheiternden auf Lohnarbeit. Seine Leistung bestand in einer konzeptio- britischen Färbung – in einer ausführlicheren Form zitiert nellen Differenzierung des Maßstabes von Verhältnismä- werden: „Unter lebenswichtigen Gütern verstehe ich nicht ßigkeit, ohne jedoch Zahlen zu nennen. Tauschgerechtig- nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, son- keit war „arithmetisch“: Gleiches sollte mit Gleichwertigem dern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der getauscht werden. Verteilungsgerechtigkeit war „geome- untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten trisch“: Der Ausgleich sollte Wertmaßstäben entsprechen des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd wie Freiheit, Wohlstand, Herkunft (Adel) oder – Aristoteles’ ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Favorit – Tugend. Leben notwendig. Griechen und Römer lebten, wie ich Spätestens mit der Herausbildung des Handwerks im glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen Mittelalter wird Arbeit zu einer wertmäßig geschätzten noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Quelle der Macht und Anlass zur Entwicklung von Maßstä- Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der ben unterschiedlicher Lohnarbeit, gleichsam der ersten Ar- Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn beitswertlehre durch Thomas von Aquin (1225–1274). Das eine solche Armut würde als schimpflich gelten, in die ja Resultat war eine Widerspiegelung der damaligen gesell- niemand ohne eigene Schuld geraten kann, wie allgemein schaftlichen Struktur: „Ein jedem nach seinem Stande“ (Türk angenommen wird. Ebenso gehören heute in England Leder- 2013). Die Abgrenzung nach unten war klar: Tagelöhner schuhe aus Lebensgewohnheit unbedingt zur notwendigen hatten Anspruch auf ein Existenzminimum, wobei die Levite Ausstattung. Selbst die ärmste Person, ob Mann oder Frau, des Apostel Paulus an die Gemeinde Thessaloniki voraus- würde sich aus Selbstachtung scheuen, sich in der Öffent- gesetzt war: „Denn als wir bei euch waren, haben wir euch lichkeit ohne Schuhe zu zeigen. Auch in Schottland ist es die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht üblich, dass Männer aus der untersten Schicht unbedingt essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentli- Lederschuhe tragen, indes nicht in gleichem Maße Frauen, ches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht ar- die ohne weiteres barfuß gehen können, während Schuh- beiten“ (2. Brief des Apostel Paulus an die Thessalonicher). 5 besitz in Frankreich wiederum weder für Männer noch für Nach oben setzte Thomas von Aquin zwar weder arithme- Frauen erforderlich ist. Dort kann sich jeder in der Öffent- tische noch geometrische Grenzen, aber seine Ausführun- lichkeit in Holzschuhen oder gelegentlich barfuß zeigen, gen machen deutlich, dass die Lohndifferenzen vor allem ohne deswegen verachtet zu werden [...]. Da die Höhe des durch handwerkliches Können und Verantwortung für das Arbeitslohns teils durch die Nachfrage nach Arbeitskräften, Resultat zu legitimieren seien, wobei er im Grunde genom- teils durch die üblichen Preise für die existenznotwendigen men schon auf Verfahrensgerechtigkeit setzte, nämlich auf Dinge bestimmt wird, muss alles, was diesen Durchschnitts- die Selbstregulierung der Stände. preis erhöht, zwangsläufig zu einer Anhebung des Lohnes Aber auch der Mindestlohn als Existenzminimum erhielt führen, damit der Arbeiter auch weiterhin in der Lage ist, so in den nachfolgenden Diskussionen „zivilisatorische“ Kontu- viel von diesen Waren zu kaufen, wie er erhalten sollte auf- ren. Die Entsprechung eines gesellschaftlichen Mindestma- grund des Entwicklungstrends der Nachfrage nach Arbeits- ßes hatte Adam Smith schon in mittlerweile klassischer Bei- kräften, sei er nun zunehmend, gleichbleibend oder sinkend“ spielhaftigkeit formuliert. Zum einen in der expliziten Erwei- (Smith 1983: 747–748). terung der Funktion von Löhnen, die nicht nur dem individu- Das Zitat bedarf keiner weiteren Kommentierung. Gustav ellen Lebensunterhalt, sondern auch der Reproduktion zu Schmoller – siehe Einleitung – kannte offensichtlich diese dienen hätten: „[…] so gibt es dennoch einen bestimmten Passage und nutzte sie mit leidenschaftlicher Vehemenz Satz, unter den der übliche Lohn selbst für die allereinfachs- und getränkt mit eigener Erfahrung gegen seinen Rivalen te Tätigkeit für längere Zeit, wie es scheint, nicht gedrückt Heinrich von Treitschke, der im Sinne des damaligen Main- werden kann. Der Mensch ist darauf angewiesen, von sei- streams liberaler Ökonomen jeden Eingriff des Staates in ner Arbeit zu leben, und ein Lohn muss mindestens so hoch die Lohnfindung des Marktes ablehnte: „Und in einer Zeit, sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar die sich vor dem goldenen Kalbe in jeder noch nicht vom noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich Zuchthause ereilten Form in den Staub wirft, steht es schlecht wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann an, Geistliche und Lehrer, sowie einen Teil des Beamten- mit der ersten Generation aussterben“ (Smith 1983: 59). tums hungern zu lassen mit dem Hinweis auf den Satz: es wird nur das voll bezahlt, was Käufer auf dem Markt des Lebens findet. Wohin sind wir gekommen, dass einzelne Pfarrer ihre Kinder barfuß gehen lassen müssen, dass ver- 5 Während Paulus damit meinte, dass man selbst für sich sorgen und hungernde Pfarrer mit großen Familien in den Zeitungen anderen nicht zur Last fallen solle, wurde der Satz später abgewandelt mit der Bemerkung, sie seien noch körperlich rüstig, sich zur in „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ und zur unbedingten Pflicht Annahme jeder Stelle bereit erklären, die über 500 Thaler umformuliert, in perverser Form sogar zum zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ über den Eingangstoren der Konzentrationslager Auschwitz, eintrage“ (Schmoller 1898: 82). Für diesen führenden Ver- Dachau, Sachsenhausen und Flossenbürg. treter der „Kathedersozialisten“ war die Verhältnismäßigkeit
MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? WISO DISKURS 9 der Löhne für einen Großteil des damaligen Mittelstandes, teilung als auch der ökonomischen Effizienz im Sinne von vor allem aber für den damaligen „Vierten Stand“, die Lohn- Produktivität, Wohlstand und Beschäftigung dienten. arbeiter_innen, aus den Fugen geraten und verlangte nach Betrachtet man die Lohn- und Vermögensunterschiede in dem Eingriff des Staates im Sinne „verteilender Gerechtig- neuerer Zeit, erscheint Platons „Vierfaches“ mehr als be- keit“. Sein Plädoyer zielte – vom festen, freilich unbestimm- scheiden. Bis zur Vorzeit des Kapitalismus scheint das „Zehn- ten, „Taglohn“ abgesehen – auf keinen festen Mindestlohn bis Fünfzehnfache“ eine implizite Regel gewesen zu sein, oder gar gesetzlich regulierte Maßstäbe der Lohndifferen- deren Grundprinzip in der Verhältnismäßigkeit des jeweili- zierung, sondern galt der Re-Orientierung an maßvollen Re- gen Status der Stände lag. So werden z. B. im „Goldenen lationen, in denen Leistung und Qualifikation wieder besser Zeitalter“ der Niederlande (17. Jahrhundert) folgende Span- zur Geltung kommen sollten. Schmoller, der immer auch in nen an Jahresgehältern notiert: ungefährer Jahreslohn eines historischen Dimensionen dachte, fasst sein Argument der einfachen Handwerkers 150 Gulden; eines Amsterdamer Verteilungsgerechtigkeit in folgender Weise zusammen: Tuchmachers oder Zimmermanns 250 Gulden; eines mittle- „Das absolut Gerechte erforderte häufig, wenn man es ren Kaufmanns 1.500 Gulden; eines Großkaufmanns: 3.000 sofort gesetzlich normieren und durchführen wollte, so kom- Gulden. Rembrandts Entgelt für sein bedeutendstes Meis- plizierte Bestimmungen, einen so umfangreichen und erfah- terwerk (1642), „Die Nachtwache“, betrug 1.600 Gulden renen Beamtenstand, dass zur Zeit die aufgewandte Mühe (Dash 2001: 10, 127). In der beginnenden Hochphase des nicht im Verhältnis zum Erfolg stünde. Und darum muss Kapitalismus sind wir, wie bei Schmoller gezeigt, bei etwa zunächst oftmals an Stelle eines absolut gerechten, alle Mo- 1:50 angelangt. mente des individuellen Verhältnisses erwägenden Maßsta- In dem vom Finanzkapital beherrschten Spätkapitalis- bes, ein rohes ungefähres, aber leicht handzuhabendes mus scheinen auch diese Relationen ferne Geschichte: Mar- Durchschnittsmaß treten, wie wir das so deutlich in der Be- tin Winterkorn, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von VW, handlung des Arbeiterstandes sehen. Der Maßstab war hier verdiente 15.860.000 Euro im Jahr 2014 (Gehaltsreporter. nicht immer derselbe; nach einander lautete die dem Ver- de). Wie lange brauchte er, um einen Mindestlohn von 8,50 hältnis zu Grunde liegende Gleichung anders und es bildeten Euro brutto zu verdienen? Angenommen, er arbeitete 60 sich so nach einander die verschiedenen sozialen Institutio- Stunden pro Woche und machte keinen Urlaub. Dann ergibt nen aus: die Sklaverei, die Leibeigenschaft, der freie Arbeits- sich bei 52 Wochen ein Stundenlohn von 5.083 Euro. Das ist vertrag. Das Maß bei der Sklaverei bestand in der rohen etwa das 600-Fache von 8,50 Euro pro Stunde. In anderen Gleichung: Schonung des Lebens und Unterhalt – dafür Worten: Winterkorn braucht sechs Sekunden, um den Min- Arbeit ohne Begrenzung; bei der Leibeigenschaft: ein Grund- destlohn zu verdienen. Um den Hartz-IV-Regelsatz von da- stück, Vieh usw. – dafür bestimmte erbliche Arbeitsleistun- mals 391 Euro zu verdienen, brauchte er gerade mal 277 gen; beim bisherigen gewöhnlichen Arbeitsvertrag heißt es: Sekunden, also 4,6 Minuten. Verzicht auf die Teilnahme am Gewinn und Verlust, dafür Man mag über einen solchen Extremfall hinwegsehen. sofort zahlbar ein fester Taglohn. Gerechter als der Taglohn Dennoch scheint das Gesetz der Verhältnismäßigkeit – also ist schon der Stücklohn, wo er anwendbar und gerecht zu eine Vorstellung gerechter Löhne, und damit auch eines ge- handhaben ist, wo er den Arbeiter nicht zur Überanstrengung rechten Mindestlohns, im Verhältnis der Menschen zueinan- nötigt. Ebenso gerechter als der einfache Taglohn war die der – in Politik und Gesellschaft nach wie vor eine große Kombination von Geldlohn und Erntequoten, wie solche Rolle zu spielen. Das kann am Beispiel der Schweiz demons- früher ganz allgemein in der Landwirtschaft üblich war. Am triert werden, wo im November 2013 alle Eidgenoss_innen gerechtesten nach idealem Maßstab ist ein kompliziertes über eine Bürgerinitiative abstimmen durften. Der Gesetzes- System von festen Geldlöhnen, für alle höheren besseren vorschlag lautete: „Der höchste von einem Unternehmen Arbeiter verbunden mit Special- und Generaltantiemen, ab- bezahlte Lohn darf nicht höher sein als das Zwölffache des gestuft nach dem Verhältnis, in dem die Arbeit des Einzel- tiefsten vom gleichen Unternehmen bezahlten Lohnes. Als nen wichtig ist für das Resultat des Ganzen“ (Schmoller Lohn gilt die Summe aller Zuwendungen (Geld und Wert 1898: 89–90). der Sach- und Dienstleistungen), welche im Zusammenhang Von Interesse für die heutige Diskussion sind zwei As- mit einer Erwerbstätigkeit entrichtet werden.“ Das Verhält- pekte in diesem Zusammenhang. Zum einen könnte man nis dieser 1:12-Initiative, die von den Schweizer Jungsozia- die von Schmoller erwähnten 500 Thaler Monatslohn, die listInnen ausging und schließlich von der SP, den Grünen, damals offenbar eine Orientierungsgröße für den monatli- den Gewerkschaften und Schweizer Demokraten unter- chen „Mindestlohn“ waren, den damals obersten Löhnen stützt wurde, beruhte auf der Vorstellung, ein_e Manager_ im Bereich von 25.000 Thalern gegenüberstellen; dann käme in dürfe im Monat nicht mehr verdienen als ein_e man – um im Bilde des platonischen Verhältnisses zu bleiben Geringverdiener_in im Jahr. – auf ein Gerechtigkeitsmaß von 1:50. 6 Darüber hinaus war Das Volksbegehren wurde von den Eidgenoss_innen je- Schmoller, der sich bewusst auf kein quantitatives Maß fest- doch mit einer Mehrheit von etwa zwei Dritteln bei einer legte, jedoch fest überzeugt, durch bessere statistische In- Wahlbeteiligung von 53 Prozent abgelehnt. Umgerechnet formationen auch bessere Anhaltspunkte zu finden, welche auf die ganze wahlberechtigte Bevölkerung bedeutet das: Löhne gerechtfertigt seien und sowohl der gerechten Ver- Gut ein Drittel hält ein solches Verhältnis zwischen Mindest- lohn und Höchstlohn eindeutig nicht für gerecht, immerhin knapp ein Fünftel fände das jedoch gerecht. 6 Grobe Relationen auf der Basis der von Schmoller (1898: 174/7) ange- Es ist offensichtlich, dass vor allem die Schweizer Arbeit- führten Einkommensstatistiken. geber_innen zur Ablehnung des Volksbegehrens mobilisier-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 ten, u. a. durch Drohung der Abwanderung aus der Schweiz. die Maximierung des Durchschnitts eintreten, also für „das Aber vielen Schweizer Bürger_innen war auch nicht zu ver- größte Glück der größten Zahl“. Die Unterschiede der bei- mitteln, warum „ausgerechnet“ das Verhältnis 1:12 gelten den Strategien (Maximierung des Minimums und Maximie- soll? Warum nicht zurück zu Platon oder zum biblischen Ver- rung des Durchschnitts) lassen sich an einem einfachen hältnis 1:10? Platons Verhältnismäßigkeit von 1:4 war immer- Rechenbeispiel veranschaulichen (siehe Tabelle 1). hin noch durch die Heiligkeit der Zahl 4 gedeckt. Auf eine solche ontologische Gewissheit können wir uns heute nicht mehr berufen. Das hat jedoch neuzeitliche Philosoph_innen Tabelle 1 nicht daran gehindert, nach einem ontologischen Ersatz Illustration der Gerechtigkeitsvorstellungen nach Rawls im zu suchen. Den berühmtesten und noch heute nachhaltig Vergleich zur klassischen Wohlfahrtstheorie: Verteilung wirksamen Versuch unternahm der amerikanische Philo- hypothetischer Lohneinkommen nach Quintilen soph John Rawls (1972; 2001) in seiner Theorie der Ge- rechtigkeit: Hinter dem Schleier der Unwissenheit („veil of ignorance“) hätten die Menschen eine sehr klare Vorstellung Ausgangs- Fall 1 ∆% Fall 2 ∆% vom gerechten Lohn. verteilung Q1 200 200 0 400 100 Q2 400 500 25 700 75 2.2 GERECHTIGKEIT ALS FAIRNESS Q3 800 1.000 25 1.100 38 „The two principles of justice read now: ,(a) Each person Q4 1.600 2.300 44 1.800 13 has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic liberties […]; and (b) Social and economic Q5 2.000 3.000 50 2.000 0 inequalities are to satisfy two conditions: first, they are to Ø 1.000 1.400 40 1.200 20 be attached to offices and positions open to all under Σ 5.000 7.000 40 6.000 20 conditions of fair equality of opportunity; and second, they are to be to the greatest benefit of the least-advan- taged members of society (the difference principle)‘“ Erläuterung: (Rawls 2001: 42–43). Q: Fünftel (Quintil) Ø: durchschnittliches Lohneinkommen Die für alle akzeptierbaren Kriterien der Gerechtigkeit müs- Σ : Summe der Lohneinkommen der fünf Quintile sen nach Rawls auf dem Fundament des Gesellschaftsver- trags aufbauen. Ein solcher Vertrag steht offensichtlich nicht ∆%: Differenz zwischen dem Lohneinkommen in der Ausgangs- verteilung und Fall 1 bzw. Fall 2 in Prozent – wie etwa Moses Gesetzestafeln – zur Verfügung, er kann nur gedanklich konstruiert werden. Wie sieht sein Konstrukt aus? Rawls ist fest überzeugt: Hinter dem „Schleier des Un- wissens“ – d. h. in Unkenntnis über die eigenen Talente und Der Ausgangspunkt der Verteilung sei ein durchschnittliches Grundausstattungen – würden sich die meisten Menschen Einkommen von 1.000 Einheiten, das niedrigste Fünftel für das sogenannte Differenzprinzip entscheiden. Welche (Quintil) verfüge über 200, das höchste über 2.000 Einhei- Differenz? Differenzen sind nach Rawls nur bei Sekundärgü- ten, also ein Minimum-Maximum-Verhältnis von 1:10. Ange- tern berechtigt, aber nicht bei Primärgütern. Zu letzteren nommen, die Wohlfahrt und Verteilung entwickle sich im gehören grundlegende Freiheiten wie das Recht auf körper- Durchschnitt auf 1.400 Werteinheiten (Fall 1), das niedrigste liche Unversehrtheit, auf Wohnung, Nahrung und Wasser, Quintil verfüge wieder über 200, das höchste über 3.000 das Recht auf Meinungsfreiheit oder freie Berufswahl und Einheiten, Verhältnis 1:15. Diese Verteilung wäre für die schließlich auch das Recht auf Selbstachtung. Hinter dem Wohlfahrtstheoretiker_innen, aber nicht für Rawls akzepta- Schleier des Unwissens wären alle Menschen dafür, bei Pri- bel: Die durchschnittliche Wohlfahrt wurde um 40 Prozent märgütern dürfe es keine Differenz geben, alle müssten vermehrt, ohne die Wohlfahrt der untersten Gruppe zu ver- hier gleich ausgestattet sein. Alle anderen Güter rangieren mindern; das Effizienzkriterium nach Pareto wäre erfüllt. als Sekundärgüter, bei denen Ungleichheiten in einer freien Angenommen, das durchschnittliche Lohneinkommen Gesellschaft unvermeidlich sind. Aber auch hier gelten Re- entwickle sich nur auf 1.200 (Fall 2), aber das niedrigste geln: Diese Ungleichheiten (Differenzen) sind nur gerecht- Quintil verbessere sich auf 400, während das höchste Quin- fertigt, solange der Zugang zu Ämtern und Positionen für til auf seinem Wohlfahrtsniveau von 2.000 Einheiten verhar- alle – nach dem Prinzip der Chancengleichheit – offen ist re – Minimum-Maximum-Verhältnis 1:5. Diese Verteilung und solange die ungleiche Verteilung der Sekundärgüter wäre nun für Rawls, aber nicht für die Wohlfahrtstheoreti- die Position der ökonomisch am schlechtesten gestellten ker_innen akzeptabel: Die unterste Gruppe verdoppelt ihre Gruppe verbessert. Wohlfahrt, die der obersten Gruppe verbessert sich nicht, Damit plädiert Rawls für die Maximierung des Mini- und die Wohlfahrt aller wächst im Schnitt nur um 20 Pro- mums (Maximin-Prinzip) auch als ökonomisches Prinzip, zent. Das Effizienzkriterium nach Pareto wäre nicht erfüllt, während etwa Wohlfahrtstheoretiker_innen oder Utilitarist_ weil das durchschnittliche Wohlfahrtsniveau (Fall 1) um innen in der Tradition von Jeremy Bentham (1748–1832) für 40 Prozent steigen könnte.
MINDESTLOHN – EIN GERECHTER LOHN? WISO DISKURS 11 Die Rechenbeispiele ließen sich vervielfachen, und sie deu- durchaus repräsentativ auf das Faktum hin, dass Beschäfti- ten an, dass sich John Rawls leicht als egalitärer Verteilungs- gung nicht nur eine Einkommensdimension hat, sondern philosoph auf Kosten ökonomischer Effizienz interpretieren auch eine – in der heutigen Arbeitswelt möglicherweise an ließe. Aber aus der Sicht von Rawls ist dieses Rechenbeispiel Bedeutung zunehmende – individuelle Bildungs- und Ent- schon zu konkret. Es widerspricht sogar seinem Grundan- wicklungsdimension, die bei der Bestimmung von Mindest- satz, denn seine Vertragstheorie plädiert vehement dafür, löhnen beachtet werden muss. die Idee, Wohlfahrt zu messen oder gar aufzusummieren, Somit können wir wenigsten drei klare Konklusionen aus gänzlich zu verlassen, da individuelle Wohlfahrt nicht ver- dem Gerechtigkeitsansatz von John Rawls als Zwischenfazit gleichbar sei (Rawls 1972: 324). Aus dieser Sicht ist daher notieren: Erstens müssen sich ungleiche Löhne immer daran irgendeine Verhältniszahl oder Verteilungsrelation zur Be- messen lassen, was sie zur Maximierung des Wohls der am stimmung gerechter Löhne völlig unsinnig. Darüber hinaus meisten benachteiligten Gruppe beitragen. Die Messung gehört der Lohn nach Rawls nicht zu den Primärgütern. Falls dieses Beitrages ist eine empirische Frage, aber die Bewer- Löhne im freien Austausch des Marktes die menschenwür- tung ihrer Gerechtigkeit kann aus der Sicht der Vertragsthe- dige Existenz – etwa das Recht auf Wohnung – bedrohten, orie nur eine Frage des öffentlichen Diskurses sein. Zweitens sei es Sache des staatlichen Transfersystems, das zu korri- sind Lohngrenzen nach unten legitim, insoweit sie dazu gieren (Rawls 1972: 309). Damit könnten wir eigentlich den beitragen, die Vertragsfreiheit beider Seiten des Arbeits- Ansatz von Rawls für unseren Untersuchungszweck abha- markts zu stärken, ohne zur Exklusion anderer von der Teil- ken, wenn da nicht mindestens zwei – letztlich produktive habe am Arbeitsmarktgeschehen beizutragen. Drittens – Unstimmigkeiten in dieser so einflussreichen Theorie können die Grenzen zwischen inkludierenden und exkludie- steckten. renden Mindestlöhnen wiederum nicht theoretisch, sondern Zum einen: Was ist, wenn die Vertragsfreiheit des/der nur in fairen Verhandlungsrunden ausjustiert werden, deren Einzelnen (also ein Primärgut) eingeschränkt wird durch ge- Folgen – insbesondere auf die Geringverdiener_innen – wie- setzliche Mindestlöhne oder Tariflöhne? Zum anderen: Was derum empirisch zu bestimmen sind. ist, wenn die durch Lohnarbeit vermittelte Selbstachtung Rawls Theorie der Gerechtigkeit hat jedoch einen weite- (ebenfalls ein Primärgut) durch extreme oder willkürliche ren Haken, der gravierender ist als die eben erwähnten Pro- Lohnunterschiede beeinträchtigt wird? bleme: Die Prämisse, unter dem „Schleier der Unwissenheit“ Die Einschränkung der individuellen Vertragsfreiheit durch würden sich die Menschen (zumindest ihre deutliche Mehr- tarifrechtliche oder gesetzliche Mindestlöhne scheint aus heit) dafür entscheiden, in jedem Fall stärker die Wohlfahrt der Sicht von Rawls gerechtfertigt zu sein, solange sie die der Benachteiligten als die der Bevorzugten zu fördern, be- individuelle Vertragsmacht stärkt – also auf gleiche Augen- rücksichtigt nicht die ethische Dimension des „Verdienstes“ höhe mit den Arbeitgeber_innen bringt und so zum Vor- und der „Reziprozität“. Gerade die neuere experimentelle teil für die Benachteiligten wirkt; Assoziationsfreiheit zur Forschung (etwa Fehr/Falk 2002 und Falk/Huffmann 2007) Stärkung der Verhandlungsmacht ist schließlich auch ein Pri- wie auch die verhaltenstheoretische Forschung (etwa Kah- märgut. Deren Vorteile könnten jedoch rasch in Nachteile neman 2011) zeigen, wie sehr die Menschen darauf achten, umschlagen, wenn der so ausgehandelte Preis die Beschäf- ob der Lohn auch „verdient“ ist, also der persönlichen An- tigungsmöglichkeiten – und damit die Chancengleichheit strengung, Mühe, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu ver- und Selbstachtung – von Außenseiter_innen einschränkt. danken ist. Für die Frage der Gerechtigkeit macht es einen Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die aktuelle Debatte um Unterschied, ob das Entgelt (auch) die persönlich zu verant- den Mindestlohn in den Vereinigten Staaten, dem Heimat- wortende Leistung honoriert oder nur den Wert, der letzt- land von John Rawls. lich durch die anonymen Mächte des Marktes austariert Dort wehrten sich beispielsweise viele Schauspieler_ wird – in der ökonomischen Theorie die sogenannte Grenz- innen in Los Angeles gegen einen Beschluss des Stadtrats produktivität der Arbeit. im Mai 2015, ab Juli 2016 den Mindestlohn von damals Das die Emotionen tief berührende Gefühl der Unge- 9 US-Dollar schrittweise auf 15 US-Dollar (13 Euro nach rechtigkeit, hilflos einem Druck der Umstände ausgesetzt zu heutigem Kurs) im Jahr 2020 anzuheben. Das Gesetz gilt sein, hat der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin (2000) in für Firmen mit mehr als 26 Beschäftigten: ab 2021 auch seiner Theorie der Verantwortungsethik am deutlichsten für Firmen mit weniger Mitarbeiter_innen. Im Stadtrat herausgearbeitet und der Umverteilung einen zentralen stimmten 14 Mitglieder für den höheren Mindestlohn, da- Stellenwert für Verteilungsgerechtigkeit zugewiesen. gegen stimmte nur ein (republikanisches) Mitglied. Kleine Bühnen können sich diese hohen Mindestlöhne jedoch nicht leisten und fühlen sich um ihre Existenz bedroht, und 2.3 CHANCENGERECHTIGKEIT DURCH ihre (meist jungen oder wenig etablierten) Schauspieler_in- UMVERTEILUNG nen argumentieren, sich nicht bewähren zu können, weil Aufführungen ein zentrales Element nicht nur der schau- „The theory of distributive justice […] – equality of resources spielerischen Bildung, sondern auch der Reputationsentwick- – […] aims to make people’s impersonal resources sensitive lung sind. to their choices but insensitive to their circumstances“ Das Beispiel der amerikanischen Schauspieler_innen (Dworkin 2000: 323). mag wiederum ein Extremfall sein, vor allem weil sich hier Arbeit und Bildung oder Weiterentwicklung in besonderer Dworkin wirft John Rawls vor, seine Theorie sei ethisch Deutlichkeit vermischen. Aber es weist anschaulich und oder moralisch unsensibel. Sie unterscheide nicht, ob die
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 12 Ungleichheit zufallsbedingt und extern verursacht oder ob sourcen ausgestattet sind. Dworkin meint das sehr konkret. sie das Ergebnis einer persönlich freien Wahlentscheidung Da Einkommensverteilungen durch Zufall und externe Um- sei. Stattdessen plädiert er für eine Gerechtigkeitstheorie, die stände bedingt sind, muss es innerhalb und zwischen den auf zwei Säulen – seiner Ansicht nach – universell gültiger Generationen zu periodischen Umverteilungen kommen ethischer Grundprinzipien steht: individuelle Verantwortung zwischen Menschen, die im Lotteriespiel des Lebens Glück für die Folgen eigener Entscheidungen oder Präferenzen und („positive brute luck“) hatten, und solchen, die das Pech gesellschaftliche Solidarität für unverschuldetes Unglück. („negative brute luck“) verfolgte. Dafür sei das Steuer- und Daraus folge, individuelle Pflichten und Rechte in ein Gleich- Transfersystem geeignet, beispielsweise Erbschafts- und gewicht zu bringen. Gerecht ist eine Verteilung, wenn sie progressive Einkommensteuern. Diesem Gedankengang sowohl die eigene Wahl als auch die Umstände berücksich- entspricht auch der von dem Yale-Ökonomen Robert Shiller tigt, die trotz gleicher Anstrengung zu ungleichen Ergebnis- (2003) entwickelte Vorschlag einer allgemeinen Versicherung sen des Lebensstandards und der Lebensqualität führen. gegen Ungleichheit: Das Steuersystem solle so umgestaltet Danach können die Menschen nicht für Verteilungen werden, dass die Steuersätze sich an einer demokratisch verantwortlich gemacht werden, die durch externe Faktoren entschiedenen und politisch festgelegten Verteilungsstruk- verursacht sind. Faktoren, die individuell nicht beeinflusst tur orientierten. Angenommen, die Verteilungsregel hieße, werden können, sind angeborene Talente, Behinderungen der Ginikoeffizient der Einkommensverteilung dürfe 0,33 und Anfälligkeit für Krankheiten oder externe Gegebenhei- nicht überschreiten. Wird diese Schwelle überschritten, ten wie Wetter und natürliche Umgebung. Dazu gehören müssten die Einkommensteuer und die entsprechende Um- aber auch die Zufälle des Marktes. Diese können bewirken, verteilung (etwa über die Progression des Steuersatzes) dass Menschen mit denselben Ausbildungsniveaus und mit solange angepasst werden, bis dieses Niveau wieder unter- denselben Anstrengungen durchaus völlig unterschiedliche schritten wird. Löhne und Gehälter erhalten. Bildungsökonom_innen kön- Dworkin erhebt noch eine Vielzahl von praktischen Ein- nen z. B. nur etwa ein Drittel der Verdienstunterschiede auf wänden gegen das Gerechtigkeitsprinzip von Rawls. Unklar unterschiedliche Bildungsniveaus zurückführen. Andere Stu- sei etwa, wo die Linie der benachteiligten Gruppe gezogen dien schätzen den zufallsbedingten Anteil von Lohnunter- werden soll, deren Wohlfahrt zu maximieren sei. Darüber schieden auf 50 Prozent (Akerlof/Shiller 2009: 150). Worauf hinaus würde der Mittelstand Umverteilungen von oben die restliche Hälfte oder die übrigen zwei Drittel zurückzu- nach unten nicht akzeptieren, solange sein eigener Status führen sind, ob auf unterschiedliche individuelle Anstrengun- bedroht sei. Vor allem in Zeiten raschen Strukturwandels gen, auf Glück oder Pech, ist noch wenig erforscht. Björklund müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass gerade et al. (2012) finden z. B. für schwedische Männer, dass indi- der Mittelstand vom Abstieg bedroht sei. viduelle Anstrengungen zwar den größeren Teil ungleicher Auf das Risiko der Arbeitslosigkeit bezogen schlägt Lebenseinkommen erklären, diverse „Umstände“ (wie Intel- Dworkin ein Gedankenspiel vor. Würde man Menschen im ligenzquotient, Bildung und Einkommen der Eltern) aber „hypothetischen Versicherungssystem“ danach fragen, wel- auch eine große Rolle spielen. che Versicherung – vorausgesetzt die Ressourcen und Risi- Es liegt also nahe, dem Glück oder Zufall eine große Rol- ken seien gleich verteilt – sie zu kaufen bereit wären, dann le für unterschiedliche Erwerbs- und Einkommenschancen würde die Mehrheit weder für eine generöse noch für eine zuzuweisen. Solange dafür keine nachvollziehbaren Berech- magere Arbeitslosenversicherung plädieren. Vermutlich nungsgrundlagen zur Verfügung stehen, ist darüber hinaus würden die meisten Leute für ein „verpflichtendes Beitrags- anzunehmen, dass diese Zuweisung stark von kulturellen system“ votieren, das vergleichsweise generös ist, aber nur Einflüssen und von Persönlichkeitsmerkmalen abhängt. Wie- unter der Bedingung, dass die Versicherer die Aufnahme derum für Schweden finden Eriksson et al. (2013), dass allein neuer Arbeit (vor allem durch Qualifizierung) aktiv fördern die Tatsache, zufällig eine Frau oder ein Mann zu sein, bis und die Arbeitslosen ihrerseits zumutbare Jobs und Qualifi- zu 20 Prozent der Unterschiede in den Lebenseinkommen zierungsmaßnahmen annehmen. erklärt. Aus der Perspektive von Dworkins Verantwortungsethik Menschen müssen aber verantwortlich gemacht werden scheint es zunächst keinen Grund für Mindestlöhne zu ge- für Verteilungen, die das Ergebnis ihrer Wahl sind („option ben, es sei denn, sie dienen als effektives Instrument zur luck“), wie die persönliche Entscheidung, weniger zu arbei- Umverteilung von den „unverdient“ Glücklichen zu den „un- ten, also Muße der Arbeit vorzuziehen, bestimmte oder gar verdient“ Unglücklichen auf dem Arbeitsmarkt. Inwieweit exotische Vorlieben zu haben und einen bestimmten Beruf Einkommensverteilungen „verdient“ oder „unverdient“ sind, zu wählen. Wer den wenig riskanten Beruf eines Lehrers ist wiederum eine empirische Frage, und zwar eine, die so oder einer Lehrerin wählt, kann nicht mit Reichtum, aber mit vertrackt ist, dass sie nur schwer – wenn überhaupt – zu einem gesicherten und stetigen Auskommen rechnen. Wer beantworten ist. Ein Lösungsweg, den etwa David Green den riskanten Beruf eines Künstlers oder einer Künstlerin (2014) im Auge hat, bestünde darin, vom mehr oder weni- wählt, muss mit einer Achterbahn der Einkommensströme ger starken Zusammenhang zwischen Bildungsherkunft und im Erwerbsverlauf rechnen, die in Armut oder Reichtum en- Lohneinkommen auszugehen. Greens Gedankengang ist den kann. folgender: Einkommen korreliert stark mit Bildung. Je mehr Dworkins Prinzip der Verantwortungsethik folgend kön- das individuelle Bildungsniveau vom Bildungsniveau der El- nen Menschen für ihre Entscheidungen aber nur verant- tern abhängt, also Reichtum oder Armut „vererbt“ sind, wortlich gemacht werden, wenn sie – und das entspricht umso mehr wäre ein Mindestlohn als Umverteilungsinstru- dem ethischen Prinzip der Solidarität – mit gleichen Res- ment gerechtfertigt.
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