Themenheft Neurologie - Swiss Medical Forum
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SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum Sondernummer in Kooperation mit der 39–40 23. 9. 2020 Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG) Themenheft Neurologie Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
INHALTSVERZEICHNIS 507 Wissenschaftliche Redaktion: Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. M artin Krause, Münsterlingen (stellvertretender Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti, Basel; Prof. Dr. Idris Guessous, Genf; Prof. Dr. Reto Krapf, Liestal; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; Prof. Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board: PD Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Jérôme Gauthey, Biel; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Daniel Portmann, Winterthur; Prof. Dr. Claudio Sartori, Lausanne; PD Dr. Stefan Weiler, Zürich Redaktion im Verlag: Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj; Dr. Natalie Marty; Dr. Susanne Redle Peer reviewed journal: Alle Einreichungen werden durch die wissenschaftliche Redaktion des SMF geprüft; alle wissenschaftlichen Beiträge werden zudem externen Gutachtern vorgelegt (Peer reviewing). Kurz und bündig R. Krapf 511 Kurz und bündig Damit Sie nichts Wichtiges verpassen: unsere Auswahl der aktuellsten Publikationen. Editorial C. L. A. Bassetti, R. Du Pasquier, L. Kappos, A. Kleinschmidt, M. Weller 514 Neurologie: eine therapeutische Disziplin Übersichtsartikel V. Pantazou, I. Beuchat, R. Du Pasquier 516 Neuroinflammatorische Erkrankungen Die neuen Behandlungsmöglichkeiten haben die Entwicklung der neuroinflammatorischen Erkrankungen und die Versorgung der Patientinnen und Patienten verändert. Oft kann dadurch die Krankheitsprogression verlangsamt werden. A. O. Rossetti, L. H. Bonati, P. S. Sandor, P. Michel, U. Fischer 524 Neurologische Notfälle Die Neurologie hat sich in den letzten Jahren von einem diagnostischen zu einem therapeutischen Fach entwickelt. Viele neurologische Erkrankungen können bereits in der Notfallstation korrekt diagnostiziert und behandelt werden. M. O. Baud, K. Schindler, D. Flügel, C. L. A. Bassetti 532 Personalisierte Chronotherapie bei Epilepsie Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die in der Schweiz eine hohe Prävalenz aufweist. Dank der Fortschritte im Bereich des Neuroengineering wird es in den kommenden zehn Jahren zu zahlreichen Neuentwicklungen kommen. Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
INHALTSVERZEICHNIS 508 5 things to know about … A. G. Guggisberg, T. Nyffeler 538 Neurokognition und Neurorehabilitation Trotz Fortschritten in der Akuttherapie bleibt der Hirnschlag die häufigste Ursache von Behinderungen im Erwachsenen- alter. Neuere Daten zeigen nun zwei unterschiedliche Verlaufsmuster von neurologischen Defiziten während der Neuro rehabilitation. P. A. Lyrer, C. Cereda, T. Kahles, M. Arnold 539 Stroke Der akute ischämische Hirnschlag ist heute eine behandelbare Erkrankung. M. Weller, A. F. Hottinger 540 Neuroonkologie Die Neuroonkologie hat sich zu einer hoch komplexen multidisziplinären Subspezialität entwickelt, die sich mit der Entstehung, Diagnostik und Therapie primärer und sekundärer Hirntumoren befasst. G. Kägi, M. Schüpbach 541 Bewegungsstörungen Neben der technischen Weiterentwicklung der tiefen Hirnstimulation hat sich auch der MR-gesteuerte fokussierte Ultra- schall in der Therapie von Bewegungsstörungen etabliert. Hoffnung geben auch Studien mit Antisense-Oligonukleotiden. D. Straumann 542 Schwindel Das Interesse an der Differenzialdiagnose des akuten vestibulären Syndroms ist weiterhin gross. Aktuell H. H. Jung, D. Wiest, P. S. Sandor 543 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Vorstellung der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG). G. M. De Marchis, G. Kägi, A. Kleinschmidt 545 Blick in die Zukunft der Neurologie «When we pronounce the word future, the first syllable already belongs to the past», schrieb eloquent die polnische Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Die Neurologie lebt dieses Motto vor. Swiss Medical Weekly A list of new articles from www.smw.ch is presented at the end of this issue. Impressum Swiss Medical Forum – ISSN: Printversion: 1424-3784 / beitet oder in anderer Weise verändert Anzeigen: Schweizerisches Medizin-Forum elektronische Ausgabe: 1424-4020 wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur Markus Süess, Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Erscheint jeden 2. Mittwoch mit ausdrücklicher vorgängiger Erlaub- Key Account Manager EMH und der Schweizerischen Gesellschaft nis von EMH und auf der Basis einer Tel. +41 (0)61 467 85 04, für Innere Medizin Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte schriftlichen Vereinbarung zulässig. Fax +41 (0)61 467 85 56, verlag AG, Farnsburgerstrasse 8, markus.sueess@emh.ch Peer reviewed journal 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Abonnemente FMH-Mitglieder: Das Swiss Medical Forum ist im Fax +41 (0)61 467 85 56, FMH Verbindung der Schweizer Hinweis: Die angegebenen Dosierun- «Directory of Open Access Journals» www.emh.ch Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, gen, Indikationen und Applikationsfor- (DOAJ) gelistet und erfüllt damit die 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, men, vor allem von Neuzulassungen, Vorgabe des SIWF an eine Zeitschrift © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG Fax +41 (0)31 359 11 12, dlm@fmh.ch s ollten mit den Fachinformationen der mit Peer reviewing. (EMH), 2020. Das Swiss Medical Forum verwendeten Medikamente verglichen Andere Abonnemente: EMH Schweize- ist eine Open-Access-Publikation werden. rischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Redaktionsadresse: Maria João von EMH. Entsprechend gewährt EMH Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Brooks, Redaktionsassistentin SMF, allen Nutzern auf der Basis der Creative- Herstellung: Vogt-Schild Druck AG, Tel. +41 (0)61 467 85 75, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Commons-Lizenz «Namensnennung – www.vsdruck.ch Fax +41 (0)61 467 85 76, abo@emh.ch Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Nicht kommerziell – Keine Bearbei Tel. +41 (0)61 467 85 58, tungen 4.0 International» das zeitlich Abonnementspreise: zusammen Fax +41 (0)61 467 85 56, unbeschränkte Recht, das Werk zu ver mit der Schweizerischen Ärzte- office@medicalforum.ch, vielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten www.medicalforum.ch zugänglich zu machen unter den Bedin- CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweize- Titelbild: gungen, dass (1) der Name des Autors rische Ärztezeitung 1 Jahr CHF 175.– / © S cience Photo Library / Manuskripteinreichung online: genannt wird, (2) das Werk nicht für Studenten CHF 88.– zzgl. Porto Alamy Stock Photo http://www.edmgr.com/smf kommerzielle Zwecke verwendet wird (kürzere Abonnementsdauern: siehe und (3) das Werk in keiner Weise bear- www.medicalforum.ch) Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
KURZ UND BÜNDIG 511 Journal Club Kurz und bündig Prof. Dr. med. Reto Krapf Gruppe von 3,3% entspricht einer NNT («number nee Fokus auf ... COVID-19 oder Influenza oder beides? ded to treat») von etwa 33. Klinische Charakteristika Influenza SARS-CoV-2 Ann Intern Med. 2020, doi.org/10.7326/M19-3925. Jahreszeit Saisonal, Winterhalbjahr Perennial Verfasst am 23.08.2020. Infektiosität* Tiefer als SARS-CoV-2 Hoch Ansteckend Bei Symptombeginn Mindestens 48 Stunden Magenbypass: Wie kommt die metabolische vor erstem Symptom Verbesserung zustande? Inkubationszeit 1–4 (median 2) Tage 2–14 (median 5) Tage Die Remission des Diabetes mellitus Typ 2 nach Magen Symptome Fieber, Schüttelfrost, Fieber, Schüttelfrost, (bei beiden Infekten sehr Kopfschmerzen, Husten, Kopfschmerzen, Husten, bypass war bislang nicht ganz geklärt: Könnten neben oft mild oder fehlend) Myalgien, Halsweh, Myalgien, Halsweh, dem Gewichtsverlust noch Änderungen im intestina Abgeschlagenheit A bgeschlagenheit len Mikrobiom, im Gallensäurenmetabolismus, bei Relativ agensspezifisch Rhinitis («verstopfte» Nase) Anosmie, Atemnot den intestinalen glukoregulierenden Peptiden (Gluka Symptommaximum Erste Woche Zweite und dritte Woche gon, gastrointestinales Peptid) oder gar hypophysäre Alter: Peptide (Neuropeptid Y, Ghrelin) eine Rolle spielen? Kinder/Jugendliche Sehr häufig, Eher selten, meist mild, Es scheint ganz einfach: Es ist der Gewichtsverlust al 65 Jahre Risikogruppe Risikogruppe und nicht operierten Patienten gleichermassen. Der Diagnostik RT-PCR, Antigenteste RT-PCR, Antigenteste bislang wenig sensitiv, Gewichtsverlust hatte in den beiden Gruppen 18% be Serologie tragen, der initiale Body-Mass-Index war mit etwa Impfstoffe Mehrere, jährlich, von Saison Noch keine 43 kg/m2 identisch gewesen. zu Saison unterschiedlich wirksam Die Studien etablieren die Bypassoperation also als *Infektiosität bei beiden Infekten massiv einschränkbar durch Hygiene- und Distanzregelungen sowie rein symptomatische Therapie, die aber auch einen Maskentragen. Überlebensvorteil – wenn auch zum Preis einer RT-PCR: «reverse transcription-polymerase chain reaction» invasiven Intervention – mit sich bringt. Anders aus JAMA Insights 2020, doi.org/10.1001/jama.2020.14661. Verfasst am 22.08.2020. gedrückt: Hoffnung für bessere medikamentöse/ diätetische/verhaltenstherapeutische Methoden zur Gewichtsreduktion. Praxisrelevant N Engl J Med. 2020, doi.org/10.1056/NEJMoa2003697. Verfasst am 23.08.2020. Bariatrische Chirurgie: Mortalitätsdaten Die bariatrische Chirurgie hat einen erwiesenen Effekt auf die Remission adipositasinduzierter Komorbiditäten, Neues aus der Biologie namentlich von Hypertonie und Diabetes mellitus Typ 2. Welches ist ihr Effekt auf die Gesamtmortalität? Wirtsstoffwechsel und Tumormetastasierung: Im Rahmen des «Ontario Bariatric Network» (Kanada) Eisen wurden Mortalitätsdaten von je 13 679 Patienten mit Ferroptose ist ein seit knapp zehn Jahren bekannter bariatrischer Chirurgie (in mehr als 80% ein Magen Mechanismus des programmierten Zelltodes. In Gewe bypass) mit einer ebenso grossen Zahl vergleichbarer, ben oder Körperflüssigkeiten mit hoher Eisenkonzen aber nicht operierter Patienten nach 4,9 Jahren erho tration (z.B. Blut) können (Fremd-)Zellen durch eisenin ben. Die Mortalität der bariatrisch operierten Patien duzierte Lipidperoxidation von mehrfach ungesättigten ten betrug 1,4%, jene der nicht operierten signifikant Fettsäuren in deren Membran ausgeschaltet werden. höhere 2,5%. In der Altersgruppe über 55 Jahre akzentu Primär hämatogen metastasierende Tumorzellen haben ierte sich der Unterschied: Mortalität 2,8% in der Ope deshalb ein ziemlich schlechtes Schicksal, sie müssen rationsgruppe versus 6,1% in der konservativ behan auf antioxidative Hilfen, zum Beispiel durch Glutathion delten Gruppe. Die absolute Risikoreduktion in dieser hoffen. Im Gegensatz zur lymphogenen Route: Maligne SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):511–513 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Kurz und Bündig 512 Melanomzellen nehmen in der Lymphe eine einfach ge fischen SARS-CoV-2-Antikörper aus vorbestehenden sättigte Fettsäure (Oleat, Bestandteil der lymphtypisch (vor der COVID-19-Epidemie schon nachweisbaren) hohen Konzentration an Triglyzeriden) auf, die in der Vorstufen-Antikörpern zu entwickeln, zum Beispiel als Folge wie ein Abfangjäger die mehrfach ungesättigten Folge früherer coronabedingter «common cold»-Er Fettsäuren vor der Peroxidation und damit die Tumor krankungen. Die Stimulation dieser Vorstufen-Anti zellen vor dem Zelltod schützt. Diese durch die Lymphe körper durch ein Impfantigen scheint als Ziel lohnend. vermittelte Protektion scheint beim sekundären Über Cell 2020, doi.org/10.1016/j.cell.2020.06.044. tritt der Melanomzellen ins Blut, das heisst nach Passage Verfasst am 23.08.2020. des regionären Lymphknotens, zu persistieren. Nature 2020, doi.org/10.1038/s41586-020-2623-z. Relevant für SARS-CoV-2-Impfstoffe (2) Verfasst am 22.08.2020. Beim Ausbruch in Wuhan beinhaltete die Aminosäure sequenz des Spikeproteins an der Stelle 624 die Amino Wirtsstoffwechsel und Tumormetastasierung: säure Asparagin (D624), die im Verlaufe der Pandemie B12/Methylmalonsäure fast vollständig durch Glycin (G624) ersetzt wurde. Die Methylmalonsäure, die unter Regulation des Vit Diese Mutation wurde erstmals im Februar in Europa amin B12 in Succinat (Co-Enzym A) umgewandelt und gesehen und scheint einen Überlebensvorteil für in den Krebszyklus eingeschleust wird, kann ein Pro SARS-CoV-2 mit erhöhter Infektiosität zu vermitteln. gramm einer Tumorgenexpression induzieren, die in Die Präsentation einer G624-Sequenz im zur Impfung den Tumorzellen einen metastasierenden Phänotyp verwendeten Antigen könnte also einen wirksameren induziert. Die Tatsache, dass die Methylmalonsäure Antikörper induzieren. (als Derivat zirkulierender Fettsäuren) mit zunehmen Cell 2020, doi.org/10.1016/j.cell.2020.06.043. dem Alter ansteigt, könnte die altersabhängig erhöhte Verfasst am 23.08.2020. Inzidenz metastasierter Neoplasien (mit-)erklären. Nature 2020, doi.org/10.1038/s41586-020-2630-0. Nicht ganz ernst gemeint Verfasst am 22.08.2020. Hatten die Grossmütter recht? Relevant für SARS-CoV-2-Impfstoffe (1) In Vorbereitung auf die kältere Jahreszeit findet eine Me Neutralisierende SARS-CoV-2-IgG-Antikörper werden taanalyse/systematische Review, dass Honig sowohl die schon Tage nach Krankheitsausbruch gegen das Rezep Hustendauer als auch die Hustenintensität bei oberen torprotein S(pike) produziert. Sie weisen eine breite Atemwegsinfekten reduziert. Palette verschiedener Bindungssequenzen (variable 14 kontrollierte, randomisierte Studien konnten ausge Regionen) auf, die über die Zeit nur eine minime Muta wertet werden, 9 davon bei Kindern; leider waren nur tionsfrequenz zeigen. Häufig scheinen sich diese spezi 2 durch einen Plazebo-Arm kontrolliert. Die verwende ten Honigmittel (reiner Honig, dominante pflanzliche Herkunft des Honigs, Honig enthaltende Präparate) waren heterogen [1]. Angesichts der seltenen Nebenwirkungen* sei kurz und bündig methodisch nicht zu streng geurteilt. Zu hoffen, dass eine gut propagierte Honigverschreibung durch die Ärztinnen und Ärzte die Angehörigen/ Patient(inn)en überzeugt, dass kein – bei dieser Krank heit sowieso fast nie indiziertes – Antibiotikum ver schrieben werden muss. Eine Analyse der Cochrane- Datenbasis ist zu vergleichbaren Schlussfolgerungen gekommen [2]. * Dazu sind aber auch die Stichverletzungen der Imker sowie bakterielle und toxische Kontaminationen zu rechnen! 1 BMI Evid Based Med. 2020, dx.doi.org/10.1136/bmjebm-2020-111336. Eine Metaanalyse zeigt, dass Honig sowohl die Hustendauer als auch die Husten 2 Cochrane Database Syst Rev. 2014, intensität bei oberen Atemwegsinfekten reduziert (ID 38002775 © Juefraphoto | doi.org/10.1002/14651858.CD007094.pub4. Dreamstime.com). Verfasst am 22.08.2020. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):511–513 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Kurz und Bündig 513 Eine internationale Kohorte (726 Patienten aus 429 Fa Aus Schweizer Feder milien aus den USA, Belgien und der Schweiz) wurde nun analysiert. Beide Genotypen führen innert gut Chronische tubulointerstitielle Nephropathie: fünf Dekaden zur terminalen Niereninsuffizienz, der an genetische Ursachen denken! UMOD-Genotyp ist charakterisiert durch eine konti Chronische tubulointerstitielle Nephropathien sind nuierlich steigende Inzidenz von Gicht. Diese Form wichtige Ursachen der terminalen Niereninsuffi kann auch durch tiefe Urinkonzentrationen von Uro zienz. Sie werden traditionell vorwiegend medika modulin vermutet werden. mentösen Nebenwirkungen und im Sinne von Spät Als Konsequenz: Bei positiver Familienanamnese, pro folgen rezidivierenden Infekten und Entzündungen gredienter Niereninsuffizienz, geringgradiger Protein zugeschrieben. urie und Gicht schon bei jüngeren und mittelalterli Es gibt aber auch genetische, autosomal-dominant ver chen Patienten (UMOD) sowie fehlenden anderen erbte Ursachen, die sogenannte autosomal-dominante Erklärungen daran denken. Eine genetische Testung tubulointerstitielle Nierenerkrankung (ADTKD). Cha auf den UMOD-Defekt ist relativ einfach, im Falle von rakteristisch sind Tubulusepithelschäden, interstitielle MUC-1 eher anspruchsvoll. Fibrose und keine bis diskrete glomeruläre Verände Kidney Int. 2020, doi.org/10.1016/j.kint.2020.04.038. rungen und eine nur diskrete Proteinurie (
EDITORIAL 514 Eine Sondernummer in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaf t Neurologie: eine therapeutische Disziplin Prof. Dr. med. Claudio L. A. Bassetti a , Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier b , Prof. Dr. med. Ludwig Kappos c , Prof. Dr. med. Andreas Kleinschmidt d , Prof. Dr. med. Michael Weller e a Klinikdirektor, Universitätsklinik Bern, Past-Präsident der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG); b Klinikdirektor, Universitätsklinik Lausanne, Past-Präsident SNG; c Klinikdirektor, Universitätsklinik Basel; d Klinikdirektor, Universitätsklinik Genf; e Klinikdirektor, Universitätsspital Zürich Neurologische Krankheiten sind in den letzten Jahren als und Patienten unter anderem mit Schlaganfall, Multipler ein hochrelevantes Gesundheitsproblem erkannt wor- Sklerose, Migräne, Parkinson, Epilepsie, Polyneuropathie, den, das in den kommenden Jahren wegen der Alterung Hirntumoren und Schlafstörungen wesentlich verbes- der Gesellschaft weiter zunehmen wird [1]. Eine Arbeit sern [6–8]. Parallel hierzu konnten auch die Prävention, aus dem Jahre 2010 schätzte, dass mehr als 3,3 Millionen Rehabilitation und Palliation neurologischer Krankheiten Schweizer unter einer neurologischen Krankheit leiden1, erfolgreich ausgebaut werden. In den allerletzten Jahren mit dadurch assoziierten Gesundheitskosten von über sind schliesslich gezielte (bzw. präzise) Therapien auch für 5 Milliarden CHF/Jahr [2, 3]. Eine Analyse aus dem Jahre bis anhin unbehandelbare genetische Erkrankungen wie 2016 zeigt zudem, dass neurologische Krankheiten die Muskeldystrophien möglich und für neurodegenerative häufigste Ursache einer Frühinvalidität und die zweit- Erkrankungen in greifbarer Nähe [9–11]. häufigste Todesursache weltweit darstellen [1]. Die Neurologie ist heute eine dynamische, hochspeziali- Neurologie ist als eigenständiges Fach Mitte des 19. Jahr- sierte und therapeutische Schlüsseldisziplin geworden, hunderts aus der Inneren Medizin und Psychiatrie in die stark translationell und multidisziplinär handelt England, Frankreich und Deutschland entstanden. Die und über ein grosses Innovationspotential (u.a. hoch- ersten Lehrstühle der Schweiz wurden in Zürich (von auflösendes Neuroimaging, Präzisionsmedizin, Tele- Monakov, 1894), Bern (Dubois, 1902) und Basel (Bing, neuromedizin, Digitalisierung, Hirnstimulation und 1918) geschaffen. Die Gründung der Schweizerischen Brain-Machine-Interface-Ansätze) verfügt [12–15]. Neurologischen Gesellschaft (SNG) erfolgte 1908 [4]. Die Diese Sondernummer bringt Beiträge aus den fünf Etablierung der Neurologie als selbständiges Fach war neurologischen Universitätskliniken, aber auch nicht- in der Schweiz (wie auch international) langsam. Erst universitären Institutionen zusammen, die eindrück- 1932 führte die FMH (Foederatio Medicorum Helvetico- liche Fortschritte in Verständnis, Diagnostik und vor rum) den Facharzttitel für Neurologie ein und die ers- allem Management neurologischer Erkrankungen prä- ten eigenständigen Bettenstationen der Schweiz wur- sentieren. Wir hoffen, dass die Lektüre dieser spannen- 1 Folgende 9 Krankheits den 1951 (Zürich) und 1958 (Bern) eröffnet [5]. Sicher den Artikel bei den Leserinnen und Lesern des Swiss gruppen (mit geschätzten wurden die Anerkennung und das Wachstum des Fa- Medical Forum Anklang finden wird. Prävalenzdaten für die Schweiz) wurden ches unter anderem dadurch verzögert, dass die Neuro- Disclosure statement berücksichtigt: Kopfschmer- logie lange vor allem als diagnostische Disziplin mit be- Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen zen (n = 2 359 744), schränkten therapeutischen Möglichkeiten galt. im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Schlafstörungen (n = 682 598), Demenzen In den letzten 20 Jahren verwandelte sich die Neurologie Literatur (124 218), Schlaganfall (71 156), rasant zu einer Disziplin mit effizienten Therapien, die die Die vollständige Literaturliste finden Sie in der Online-Version des Epilepsie (38 150), Parkinson (17 624), Multiple Sklerose Lebenserwartung und Lebensqualität von Patientinnen Artikels unter https://doi.org/10.4414/smf.2020.08608. (7669), neuromuskuläre Erkrankungen (n = 3894), Hirntumoren (3504). Korrespondenz: Prof. Dr. med. Claudio L. A. Bassetti Klinikdirektor, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern Dekan, Medizinische Fakultät Bern, Präsident, «European Academy of Neurology» claudio.bassetti[at]insel.ch Claudio L. A. Bassetti Renaud Du Pasquier Ludwig Kappos Andreas Kleinschmidt Michael Weller SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):514 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
ÜBERSICHTSARTIKEL PEER REVIEW ED ARTICLE | 516 Überwachung der neuen Immunmodulatoren Neuroinflammatorische Erkrankungen Dr. med. Vasiliki Pantazou, Dr. med. Isabelle Beuchat, Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier Unité de Neuro-Immunologie, Service de Neurologie, Département des Neurosciences Cliniques, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne Die neuen Behandlungsmöglichkeiten haben den Verlauf der neuroinflammatori- schen Erkrankungen und die Versorgung der Patientinnen und Patienten verän- dert. In vielen Fällen kann dadurch die Krankheitsprogression verlangsamt wer- den. Die enge Zusammenarbeit zwischen Neurologie und Hausarztmedizin ist darum wichtiger denn je, um eine frühe Diagnose, eine schnelle und sichere Ein- führung immunmodulierender Behandlungen und eine regelmässige Überwa- chung ihrer potenziellen Toxizität zu gewährleisten. Einleitung räumliche Streuung (Läsionen an mindestens zwei Stellen des ZNS) nötig (McDonald-Kriterien 2017 [1]). Da In den letzten Jahren hat in der Neuroimmunologie zahlreiche Krankheiten zu ähnlichen radiologischen eine fantastische Entwicklung stattgefunden. Sie wird und klinischen Anomalien wie die MS führen können, in erster Linie durch die immer zahlreicheren Behand- müssen umfassende Untersuchungen durchgeführt lungsoptionen für Multiple Sklerose (MS) und Neuro- werden, um andere Diagnosen auszuschliessen. myelitis optica (NMO) verdeutlicht, aber auch durch die Man unterscheidet drei Formen der MS [2]: Entdeckung einer wachsenden Zahl antineuronaler An- 1. Die schubförmig-remittierende MS (85–90% der tikörper, wodurch sich unser Verständnis der Autoim- Fälle) manifestiert sich durch akute oder subakute munenzephalitiden (AIE) weiterentwickelt hat. neurologische Episoden («Schübe»), denen Remis In diesem sich rasch entwickelnden Gebiet obliegt es sionsphasen folgen. Der schwankende und vorüber- den Neurologinnen und Neurologen und den medizi- gehende Charakter der Symptome führt unglückli- nischen Grundversogern, bei der Diagnose sowie bei cherweise dazu, dass die ersten Anzeichen bisweilen der Verschreibung und Überwachung der neuen im- banalisiert werden. Da in dieser Phase die Entzün- munmodulierenden Behandlungen eng zusammenzu- dung als pathophysiologischer Mechanismus domi- arbeiten. Um Therapiefehlern vorzubeugen, befasst niert, ist der Grossteil der Behandlungen bei dieser sich dieser Artikel mit den wichtigsten Fragen im Zu- Form wirksam. sammenhang mit den am häufigsten eingesetzten Be- 2. Bei der sekundär progredienten MS geht die schub- handlungen bei MS, NMO und AIE. Das Augenmerk förmig-remittierende MS in eine schleichende und liegt dabei auf den neuen Behandlungsoptionen und kontinuierliche Progression der Behinderung über es werden Algorithmen zur klinischen und paraklini- (weniger Entzündung, mehr Neurodegeneration). schen Überwachung vorgeschlagen. Im natürlichen Verlauf tritt sie typischerweise 15– 20 Jahre nach dem ersten Schub auf [3]. 3. Die primär progrediente MS ist von Beginn an Multiple Sklerose durch eine schleichende Progression der Symptome MS ist eine entzündlich-degenerative Erkrankung des gekennzeichnet. Zentralnervensystems (ZNS), die vor allem jüngere Er- wachsene im Alter zwischen 20 und 40 Jahren betrifft. Aktuelle Studien zeigen, dass die Einleitung einer im- Nach einer ersten neurologischen Episode sind zur munmodulierenden Behandlung («disease modifying Dia gnosestellung eine zeitliche (mehrere klinische therapy» [DMT]) den Übergang zu einer sekundär pro- Schübe und/oder Läsionen unterschiedlichen Alters gredienten Form hemmen kann, besonders wenn die Vasiliki Pantazou im Magnetresonanztomogramm [MRT]) und eine Therapie möglichst frühzeitig begonnen wird (Über- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):516 –522 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Übersichtsartikel 517 – Bei Verdacht auf das Uhthoff-Phänomen ist zudem darauf zu achten, ob Infektionszeichen, Sonnenex- position, Müdigkeit, Schlaflosigkeit oder Stress vor- liegen, und die Ursache zu behandeln. – Bei Verdacht auf einen Schub: neurologische Kon- sultation, +/– Medrol® 500/1000 mg per os oder Solu-Medrol® 1000 mg i.v. 3–5 Tage lang je nach Schwere der Symptome. Das Ausschleichen der Kor- tikoidgabe ist eher die Ausnahme als die Regel und ist im Falle einer transversen Myelitis oder schwe- ren Optikusneuritis zu erwägen. Abbildung 1: Einführung immunmodulierender oder -suppressiver Wirkstoffe der Erst- (schwarz) und Zweitlinientherapie (rot) bei Multipler Sklerose (MS). Was ist als Erstlinienbehandlung vorzuschlagen? Als Erstlinienbehandlung werden in der Schweiz im gang zur progredienten Form nach 20 Jahren in 54% Allgemeinen Beta-Interferone, Glatirameracetat, Teri der Fälle ohne DMT, im Vergleich zu 24,2% der Fälle mit flunomid, Dimethylfumarat und Fingolimod vorge- DMT) [3]. Da immer mehr und immer wirksamere schlagen. Der Vorteil der selbst injizierbaren Wirk- DMT auf den Markt kommen (Abb. 1), bietet sich für stoffe (Interferon und Glatirameracetat) ist, dass sie junge Patientinnen und Patienten, die eine Behand- bereits seit Langem eingesetzt werden (seit rund lung beginnen, die reale Aussicht, dass sich die sekun- 40 Jahren) und ein sehr gutes Langzeitsicherheitsprofil där progrediente Form erst nach mehr als 15–20 Jah- aufweisen. Allerdings lässt sich durch sie aufgrund der ren entwickelt [4]. Die Wahl der Behandlung [5] hängt moderaten Wirksamkeit langfristig nur selten ein von Fall zu Fall von den individuellen Vorlieben, dem NEDA-3-Score erreichen. Teriflunomid hat ein ähnli- Alter, einem allfälligen Schwangerschaftswunsch und ches Wirksamkeitsprofil wie die injizierbaren Wirk- der Aggressivität der Krankheit ab, doch das Ziel bleibt stoffe, wird aber von vielen Patientinnen und Patien- gleich: die Verhinderung klinischer Aktivität (keine ten bevorzugt, da es einmal täglich oral eingenommen Schübe und keine Progression der Behinderung) und werden kann. Bei Frauen im gebärfähigen Alter ist es radiologischer Aktivität («no evidence of disease ac- aufgrund des Teratogenitätsrisikos keine empfehlens- tivity» oder NEDA-3, das heisst [a] kein neuer Schub, werte Option. Die Wahl zwischen Dimethylfumarat [b] keine Progression der Behinderung und [c] keine und Fingolimod hängt vor allem vom Profil der uner- neue MRT-Läsion). wünschten Wirkungen ab, auch wenn Fingolimod bei starker Entzündungsaktivität üblicherweise als wirk- Wann besteht der Verdacht auf einen Schub und samer gilt. In verblindeten, randomisierten Studien wie ist er zu behandeln? stellte sich heraus, dass es Interferon überlegen war Ein Schub ist definiert als neues neurologisches per- und die Zahl der Schübe um 39% verringerte, während sistierendes Symptom (oder altes Symptom mit stär- Dimethylfumarat das Schubrisiko im Vergleich zu Gla- kerer Intensität als beim ersten Schub), das länger als tirameracetat um 24% senkt. 24 Stunden ausserhalb eines infektiösen Kontextes anhält. Ein Rezidiv vorgängiger neurologischer Sym Wann ist eine Zweitlinienbehandlung angezeigt? ptome mit geringerer Intensität, die im Tagesverlauf Im Falle einer stark aktiven MS, bei der die Erstlinien- schwanken und selten länger als 72 Stunden anhalten, behandlung nicht wirkt, ist eine Zweitlinienbehand- wird als Uhthoff-Phänomen bezeichnet: Es tritt in Ver- lung indiziert. Zwei Strategien sind zu erwägen: bindung mit Müdigkeit, Infektion, Wärme oder syste- Eine «Eskalationstherapie» mit Umstieg auf einen Wirk- mischer Erkrankung auf und muss als solches erkannt stoff mit grösserer Wirksamkeit: werden, da die Therapie darin besteht, die zugrunde – Natalizumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen liegende Ursache zu behandeln, und nicht in einer die Alpha-4-Untereinheit von Integrinen und wirkt Kortikoidgabe. als Barriere, die das Eindringen aktivierter Leukozy- Vorgehen bei Verdacht auf einen Schub: ten in das ZNS verhindert. In 70% der Fälle kann so – Laboruntersuchungen: grosses Blutbild, Blutsen- nach zwei Jahren ein NEDA-3-Score erreicht werden. kungsgeschwindigkeit, CRP, Na, K, Ca, Mg, Ph, ASAT, Die Hauptnebenwirkung, die selten, aber mit poten- ALAT, Bilirubin, Kreatinin, Harnstoff, proBNP, Vita- ziell fatalen Folgen auftritt, ist die progressive multi- mine B12, B9, D, TSH, Urinuntersuchung mittels Test- fokale Leukoenzephalopathie (PML), die auf einer streifen. Reaktivierung des JC-Virus im Gehirn beruht. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):516 –522 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Übersichtsartikel 518 – Ocrelizumab ist ein monoklonaler CD20-Antikör- Tabelle 1 enthält einen Algorithmus zur Überwachung per, der aufgrund des Risikos einer anaphylakti- der genannten Wirkstoffe. schen Reaktion eine Prämedikation mit Antihista- minika und Kortikoiden erfordert. Die Wirksamkeit Wie werden die progredienten MS-Formen ist ebenfalls sehr gut: Nach sechs Jahren wird in behandelt? rund 80% der Fälle ein NEDA-3-Score erreicht. Diese Die grosse Herausforderung derzeit besteht darin, den DMT führt nach zweijähriger Behandlung in 5–20% Zustand der Patientinnen und Patienten zu verbessern, der Fälle zu einer totalen Depletion der zirkulieren- sobald sie die progrediente Phase erreichen. Das erste den B-Lymphozyten und zu einem Absinken der ermutigende Ergebnis wurde 2017 erzielt, als in Fällen Immunglobulinkonzentration. Als Alternative zu primär progredienter MS, in denen frühzeitig Ocreli- Ocrelizumab gilt Rituximab, ein weiterer CD20-An- zumab eingesetzt wurde, eine moderate, aber signifi- tikörper, dessen Wirksamkeitsprofil ähnlich ist, der kante Verringerung der Behinderungsprogression ge- aber eine vorgängige Bewilligung der Krankenkasse zeigt wurde [7]. In den Vereinigten Staaten wurde im erfordert, da er nicht in einer Phase-III-Studie un- vergangenen Jahr Siponimod, ein Sphingosin-1-Phos- tersucht wurde und darum von Swissmedic nicht phat-Rezeptoragonist, zur Behandlung sekundär pro- offiziell zugelassen ist. gredienter Formen zugelassen, wobei auch hier der Ef- Eine «Induktionstherapie» wird über einen festgelegten fekt moderat ist. Der Wirkstoff ist in der Schweiz bisher Zeitraum verabreicht und zielt darauf ab, einen «Reset» nicht verfügbar. des Immunsystems zu erreichen. Im Idealfall ist infolge ei- ner derartigen Therapie keine weitere Behandlung nötig. Welche Untersuchungen sind vor Therapie – Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler beginn nötig? Antikörper gegen CD52 (einen Rezeptor, der auf T- Bei allen systemischen Behandlungen mit immunmo- und B-Lymphozyten vorkommt) und führt zu einer dulierender oder -suppressiver Wirkung ist es im Allge- Lymphozytendepletion sowie zu einer Repopula- meinen angezeigt, eine latente Infektion auszuschlies tion mit weniger autoreaktiven Lymphozyten. Acht sen und sicherzustellen, dass der Impfschutz auf dem Jahre nach der Therapie bleibt der Grossteil der Pati- aktuellen Stand ist. Die Patientinnen und Patienten entinnen und Patienten symptomfrei, bei den meis- sind durch die DMT anfälliger und müssen darum vor ten ist keine Folgebehandlung mit einer DMT nötig. Infektionskrankheiten geschützt werden. Allfällige Unglücklicherweise weist der Wirkstoff zahlreiche Impfungen müssen vor Beginn der DMT erfolgen, da die und schwerwiegende Nebenwirkungen (autoimmu- Impfstoffe nicht optimal wirken, wenn sie parallel mit ner und infektiöser Art) auf, weshalb seine Anwen- bestimmten DMT verabreicht werden. Abgeschwächte dung beschränkt ist. Die Verabreichung ist nur in ei- Lebendimpfstoffe sind im Falle einer DMT sogar kon- nem spezialisierten Zentrum möglich. traindiziert. Vor Beginn jeder DMT sind also diese – Das Purinanalogon Cladribin wird in der Hämatolo- grundlegenden Untersuchungen nötig: gie als Chemotherapeutikum bei refraktären lym- – Laboruntersuchungen: grosses Blutbild, ASAT, phoproliferativen Krankheiten eingesetzt. Vor Kur- ALAT, Gamma-GT, Bilirubin, Kreatinin, Harnstoff, zem wurde es zur oralen Behandlung aggressiver Serologien auf Syphilis, Lyme-Borreliose, HIV (hu- MS-Formen zugelassen. Zwei Jahre nach Abschluss manes Immundefizienzvirus), VZV (Varizella-Zos- der Behandlung sind 75% der Patientinnen und Pati- ter-Virus), HAV (Hepatitis-A-Virus), HBV (Hepatitis- enten weiterhin schubfrei, auch ohne DMT. Die un- B-Virus), HCV (Hepatitis-C-Virus), Tb-Spot; erwünschten Wirkungen (vor allem Herpes-Infek – radiologische Untersuchungen: Hirn-MRT mit Kon- tionen) sind durch die induzierte Lymphopenie trastmittelinjektion
Übersichtsartikel 519 Tabelle 1: Verabreichungsart, Hauptnebenwirkungen (die häufigsten kursiv) und Empfehlungen für die Überwachung der am häufigsten eingesetzten Wirkstoffe zur Behandlung von Multipler Sklerose. Bei allen Wirkstoffen Anamnese Therapietreue? Nebenwirkungen? Häufige Infektionen? Neue neurologische Symptome? Laboruntersuchungen Alle 6 Monate Hirn-MRT +/- Rückenmark-MRT Baseline (mit Kontrastmittel): nach 3–6 Monaten Nachbeobachtung: jährlich (ohne Kontrastmittel) Neurologische Untersuchung Alle 6 Monate Impfungen Kontraindiziert: abgeschwächte Lebendimpfstoffe und Gelbfieber Möglich: inaktivierte Impfstoffe Wirkstoff Verabreichungsart Unerwünschte Wirkungen Überwachung Beta-Interferon 3×/Woche s.c. – Hautläsionen an der Injektionsstelle Grosses Blutbild, ASAT, ALAT, Gamma-GT, alkalische 2×/Monat i.m. – Grippeähnliche Symptome Phosphatase und TSH 1×/Jahr – Medikamentös bedingte Hepatitis – Schilddrüsenfunktionsstörungen Glatirameracetat 1× /Tag oder 3× /Woche s.c. – Hautläsionen an der Injektionsstelle Keine Laboruntersuchung obligatorisch – Engegefühl in der Brust (selbstremittierend) Baseline-MRT nach 9 Monaten Klinische Kontrolle 2×/Jahr, radiologische Kontrolle 1×/Jahr Teriflunomid 14 mg p.o. – Magen-Darm-Symptome ALAT 1×/Monat über 6 Monate, dann 1×/2 Monate – Haarausfall (vorübergehend und moderat) – CAVE falls ALAT >5× ULN – Medikamentös bedingte Hepatitis Grosses Blutbild nach 1, 3 und 6 Monat(en), – Teratogenität +++ dann 2×/Jahr Blutdruck 1×/Monat über 6 Monate, dann 2×/Jahr Bei Frauen im gebärfähigen Alter nicht empfohlen Dimethylfumarat 240 mg p.o. 2×/Tag zur Mahlzeit – Magen-Darm-Symptome rosses Blutbild 1×/3 Monate G – Moderate Lymphopenie – CAVE falls
Übersichtsartikel 520 • in Endemiegebiet: Frühsommer-Meningoenze- gen assoziiert (Myasthenia gravis, Lupus erythemato- phalitis-(FSME-)Impfung vorschlagen (Encepur® des disseminatus, Sjögren-Syndrom, Zöliakie, …). 0–7–21 Tage und 2 Monate je nach Antikörper titer); Welche Untersuchungen sind bei Verdacht auf • bei Ocrelizumab oder Alemtuzumab: Pneumo- NMO angezeigt? kokken-Impfung (Prevenar-13®) empfohlen. – Differentialblutbild, Gerinnung, Blutsenkungsge- – Bei Fingolimod: Elektrokardiogramm, ophthalmo- schwindigkeit, Serumchemie, Blutzucker, Vita- logische, dermatologische und gynäkologische Un- min B12, Folsäure, Kupfer, Zink; tersuchung. – ANA, dsDNA-Antikörper, Lupus-Antikoagulans, An- tiphospholipid-Antikörper, ANCA, Komplementfak- Was ist im Falle einer ersten Entzündungs tor C3 und C4; episode, die nicht alle MS-Kriterien erfüllt, – Test auf Antikörper gegen Aquaporin-4 und das My- zu empfehlen? elin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG); Wenn eine neurologische Episode auf MS hindeu- – Syphilis-, Lyme-Borreliose-, HIV-Serologie, Tb-Spot; tet (Optikusneuritis, internukleäre Ophthalmople- – Urinsediment; gie, Ataxie, Myelitis) und nicht alle diesbezüglichen – Hirn- und Rückenmark-MRT mit Kontrastmittel Diagnosekriterien erfüllt sind, aber gleichzeitig die injektion; ätiologische Analyse keinen Hinweis auf eine – neurologischer Befund; a ndere Pathologie liefert, spricht man von einem – Lumbalpunktion zum Nachweis oligoklonaler Ban- klinisch isolierten Syndrom (KIS). Die Wahrschein- den. lichkeit, dass ein KIS in den Folgejahren in eine be- stätigte MS übergeht, kann zwischen 20 und 80% Ist die Behandlung von NMO gleich wie bei MS? schwanken, je nach Vorhandensein von oligoklo- Die Schübe von NMO sind stark und erfordern eine ag- nale Banden und dem Ausmass der entzündlichen gressive Behandlung mit hohen intravenösen Kortiko- Läsionen im MRT. In derartigen Fällen wird eine iddosen und gegebenenfalls Plasmaaustausch, im Ge- jährliche klinische und radiologische Kontrolle gensatz zur MS muss das Kortikoid jedoch über empfohlen, bisweilen auch eine immunmodulie- 2–8 Wochen ausgeschlichen werden [8]. rende Erstlinienbehandlung, um das Risiko eines Die immunmodulierende Behandlung zielt darauf ab, Übergangs in eine bestätigte MS zu verringern. die Zahl und den Schweregrad der Rezidive zu senken Analog dazu spricht man von einem radiologisch iso- und so dem Auftreten von Behinderungen vorzubeu- lierten Syndrom (RIS), wenn im Rahmen einer Schädel- gen, aber auch den Einsatz von Kortikoiden mit ihren MRT bei einer schubfreien Person (etwa zur Untersu- zahlreichen Nebenwirkungen zu verringern. Die meis- chung von Kopfschmerzen) zufällig MS-typische ten Arzneistoffe gegen MS sind gegen NMO nicht wirk- Läsionen entdeckt werden. Auch hier ist eine klinische sam oder können sie sogar verschlimmern, etwa im und radiologische Kontrolle erforderlich, eine immun- Fall von Natalizumab. Zu den ersten Wirkstoffen, deren modulierende Behandlung wird derzeit nicht offiziell Wirksamkeit nachgewiesen wurde, zählen Azathio empfohlen, aber diskutiert. prin, Mycophenolat-Mofetil, Rituximab und Metho trexat. Sie werden seit vielen Jahren in der Rheumato- logie und Immunologie eingesetzt. Empfehlungen für Neuromyelitis optica die Einleitung und Überwachung dieser Wirkstoffe Die NMO wurde erstmals im 19. Jahrhundert beschrie- sind auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft ben und gilt nicht mehr als klinische Sonderform von für Rheumatologie zu finden (unter «Behandlungs- MS, sondern als nosologisch eigenständige Pathologie, empfehlungen») [9]. seitdem 2004 die Antikörper gegen AQP-4 entdeckt Kürzlich wurde Satralizumab, ein monoklonaler Anti- wurden. In klinischer Hinsicht ist die Krankheit ge- körper, der Interleukin-6-(IL-6-)Rezeptoren blockiert, kennzeichnet durch Schübe schwerer, oft bilateraler für die Behandlung von NMO zugelassen, nachdem er Optikusneuritiden und/oder Myelitiden, die sich im eine gewisse Wirksamkeit bei der Reduzierung von Re- MRT über mehr als drei Wirbel ausdehnen. Im Gegen- zidiven gezeigt hat. Die Verwendung von Inebili- satz zur MS ist keine schleichende klinische oder radio- zumab, einem neuartigen monoklonalen Anti-CD19- logische Progression zu beobachten. Allerdings ist die Antikörper, wurde ebenfalls mit einem verringerten Remission nach einem Schub oftmals nur partiell, wo- Risiko für schwere Schübe in Verbindung gebracht, durch es zu funktioneller Behinderung kommt. Häufig ebenso wie Tocilizumab, ein weiterer monoklonaler ist die Krankheit mit anderen Autoimmunerkrankun- Anti-IL-6-Antikörper, und Eculizumab, ein Komple- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):516 –522 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Übersichtsartikel 521 menthemmer, der bereits bei Myasthenia gravis ein- krankung (paraneoplastisch), einer Infektion (parain- gesetzt wird. Letztere sind in der Schweiz noch nicht fektiös) oder bei Personen mit Autoimmunkrankheiten für die Behandlung von NMO zugelassen. in der Anamnese können auf eine AIE hinweisen. Zur Diagnose von AIE wurden Kriterien ausgearbeitet [10]. Die rasche Diagnosestellung ist entscheidend, da eine Autoimmunenzephalitiden frühzeitige und anhaltende Immuntherapie mit einem Seit in den 1980er Jahren erstmals antineuronale Anti- besseren klinischen Ansprechen assoziiert ist, und zwar körper entdeckt wurden, die eine Enzephalitis auslösen kurzfristig (bessere Remission) und langfristig (weniger können, hat der Bereich der neurologischen Krankhei- Rezidive). ten, die in Verbindung mit antineuronalen Antikörpern Für die Behandlung von AIE liegen keine etablierten stehen, stark an Bedeutung gewonnen, besonders im Empfehlungen vor. Mehrere Optionen stehen derzeit letzten Jahrzehnt. Die Diagnosestellung ist schwierig zur Verfügung, wobei die Therapie von Fall zu Fall aus- aufgrund des breiten Spektrums klinischer Symptome, zuwählen ist [11]. Wie bei MS- und NMO-Schüben müs- zu denen Enzephalitis, epileptische Anfälle, Myelitis, sen die neurologischen Störungen in Verbindung mit ei- Ataxie, Stiff-Man-Syndrom, Bewegungs- und Kogni ner AIE umgehend mit Kortikoiden +/– Plasmaaustausch tionsstörungen (was dem Bild neurodegenerativer +/– intravenöser Gabe von Immunglobulinen behan- Krankheiten ähneln kann) ebenso zählen wie eine Viel- delt werden. Orale Immunsuppressiva wie Azathioprin zahl peripherer Neuropathien (Tab. 2) [10]. und Mycophenolat-Mofetil können als kortikoidspa- Das Auftreten und die rasche Progression der Symptome rende Wirkstoffe während einer Langzeittherapie einge- im Zusammenhang mit einer systemischen Krebser- setzt werden. Rituximab kann in Betracht gezogen wer- Tabelle 2: Neurologische Symptome in Verbindung mit onkoneuronalen und Oberflächen-Antikörpern, die dazu Anlass geben, nach einem zugrunde liegenden Tumor zu suchen. Oberflächen Antigen Klinisches Syndrom Assoziierter Tumor antikörper NMDAR Halluzinationen, Verhaltensstörungen, epileptische Ovarialteratom Anfälle, Bewegungsstörungen, Koma AMPAR Limbische Enzephalitis Bronchialkarzinom, Mammakarzinom, Thymom GABA-A-Rezeptor Epileptische Anfälle Hodgkin-Lymphom GABA-B-Rezeptor Epileptische Anfälle Kleinzelliges Bronchialkarzinom LGI1 Epileptische Anfälle, fokale Anfälle mit faziobrachialer Kein assoziierter Tumor beschrieben Dystonie, Myoklonien Caspr2 Neuromyotonie, Morvan-Syndrom Thymom GlyR Stiff-Man-Syndrom Hodgkin-Lymphom DPPX Enzephalitis, Übererregbarkeit, Anfälle, Durchfall Kein assoziierter Tumor beschrieben IgLON5 Schlafstörungen, bulbäre Symptome, Gehstörungen Kein assoziierter Tumor beschrieben mGLuR1-2-5 Ophelia-Syndrom, zerebelläre Ataxie Hodgkin-Lymphom, Prostatakarzinom DNER Zerebelläre Ataxie Hodgkin-Lymphom Intrazelluläre Yo Zerebelläre Ataxie Mammakarzinom, Ovarialkarzinom Antikörper Hu Limbische Enzephalitis, zerebelläre Ataxie, Myelitis, Kleinzelliges Bronchialkarzinom SOX Neuropathie Ri Zerebelläre Ataxie Mammakarzinom, Ovarialkarzinom, Kleinzelliges Bronchialkarzinom Ma Limbische Enzephalitis Hodenkarzinom, Bronchialkarzinom, solide Tumoren VGCC Zerebelläre Ataxie Kleinzelliges Bronchialkarzinom PCA-2 Tr Zerebelläre Ataxie Hodgkin-Lymphom CRMP5 Demenz, zerebelläre Ataxie, Anfälle, Neuropathien Thymom, Bronchialkarzinom GAD65 Stiff-Man-Syndrom, zerebelläre Ataxie, Typ-1-Diabetes Kein assoziierter Tumor beschrieben Antiamphicin Stiff-Man-Syndrom Bronchialkarzinom, Mammakarzinom Antibipolar cells of the retina Retinopathie Melanom Antirecoverin Retinopathie Kleinzelliges Bronchialkarzinom SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):516 –522 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Übersichtsartikel 522 den, falls es zu einem Rezidiv kommt oder andere erkennen (im paraneoplastischen Kontext kann die AIE Korrespondenz: Dr. med. Vasiliki Pantazou Wirkstoffe kontraindiziert sind. Cyclophosphamid (oral fünf Jahre vor dem Tumor auftreten). Bei der Konsul Unité de Neuro-Immuno oder intravenös) und Bortezomib (ein Proteasom-Inhi- tation müssen zudem mögliche chronische Komplika- logie Service de Neurologie bitor) sind schweren Fällen vorbehalten. Darüber hin- tionen der Enzephalitis erfasst werden, etwa Kopf- Département des Neuro aus wurden Wirkstoffe, die auf Interleukine und ihre Re- schmerzen, Muskelkrämpfe, Verhaltensänderungen, sciences Cliniques zeptoren abzielen, in schweren Fällen als Ergänzung zu Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und auto- CHUV Rue du Bugnon 46 traditionelleren Immuntherapien eingesetzt. nome Dysfunktionen (z.B. orthostatische Hypotonie, CH-1011 Lausanne Gleichzeitig sind umfassende Untersuchungen zur Rhythmusstörungen, Magen-Darm- und Blasenstörun- Vasiliki.pantazou[at]chuv.ch Früherkennung von Tumoren ab der Frühphase der gen sowie erektile Dysfunktion). Die Diskussion mit der Krankheit unverzichtbar. Im Serum und im Liquor Neurologin / dem Neurologen umfasst auch den Zeit- muss umgehend nach intrazellulären onkoneurona- plan des Absetzens der Immuntherapie: Auch wenn die len Antikörpern und Oberflächenantikörpern gesucht optimale Dauer bisher nicht festgelegt ist, sollte die werden, und zwar in Laboratorien mit optimierter De- Therapie den Expertenmeinungen zufolge bei stabilen tektionstechnik, das heisst unter Verwendung von Rat- Patientinnen und Patienten zumindest nach spätestens tenkleinhirnschnitten oder rekombinanten Zellen, die 24 Monaten neu bewertet werden [11]. den Liganden dieser Antikörper exprimieren. Ein ein- facher ELISA geht mit der Denaturierung des Zielanti- Wann bei das ZNS betreffender Autoim- gens und somit dem Verlust der dreidimensionalen mun-/Entzündungserkrankung an die Struktur einher, wodurch es oftmals zu falsch negati- Neurologin / den Neurologen überweisen? ven Ergebnissen kommt. Tumoren wie das Ovarialtera- tom, das Thymom oder das kleinzellige Bronchialkar- Die langfristige Verlaufskontrolle dieser Erkrankun- zinom werden bei einem erheblichen Anteil der gen und die Überwachung ihrer immunmodulieren- Personen mit AIE nachgewiesen. Zwischen dem Ovari- den Therapien erfordert die enge Zusammenarbeit alteratom, das früher als gutartiger Tumor galt, und zwischen den behandelnden Grundversorgern und der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis besteht eine Neurologinnen / Neurologen. Insbesondere folgende starke Assoziation, die Resektion des Tumors ist ein Situationen müssen mit der Neurologin / dem Neuro- wichtiger Teil der Behandlung. logen besprochen werden: Nach dem Spitalaufenthalt besteht die Nachsorge in – Leukopenie (Lymphopenie oder Neutropenie) über Arztkontrollen alle drei bis sechs Monate in den ersten einen längeren Zeitraum, wobei die untere Grenze beiden Jahren und anschliessend jährlich bis zum fünf- des akzeptablen Bereichs unterschritten wird, oder ten Jahr. Empfohlen wird, bei jedem Besuch eine Ana Anstieg der Transaminasen; mnese und gründliche Untersuchung sowie in den ers- – rezidivierende Infektionen; ten drei Jahren jährlich und dann im fünften Jahr eine – neues neurologisches Symptom, Progression der Computertomographie des Brust-, Bauch- und Becken- Behinderung, nicht dokumentierte neurokognitive raums und eine gynäkologische Untersuchung ein- Störung, epileptischer Anfall; schliesslich Mammografie vorzunehmen, um eine all- – neue Komorbidität (Diabetes im Rahmen einer Be- fällig zugrunde liegende Krebserkrankung frühzeitig zu handlung mit Fingolimod, neuer und ungeklärter Bluthochdruck im Rahmen einer Behandlung mit Teriflunomid oder Fingolimod; durch Papillomvi- Das Wichtigste für die Praxis ren bedingte Karyokinesestörung am Gebärmutter- Neuroinflammatorische Erkrankungen können sich auf vielfältige Weise ma- hals vor allem im Rahmen einer Behandlung mit nifestieren, die Differenzialdiagnose ist umfassend und bisweilen schwie- Fingolimod; Krebserkrankung; andere systemische rig. Da eine wirksame und frühzeitig begonnene immunmodulierende Be- Autoimmunerkrankung); handlung das Progressionsrisiko langfristig verringert, ist es jedoch wichtig, – Hinweis auf geringe Therapietreue; bei entsprechenden klinischen Symptomen diese Krankheiten stets in Be- – Schwangerschaftswunsch. tracht zu ziehen. Zur Behandlung der Multiplen Sklerose, der Neuromyeli- Disclosure statement tis optica und auch der Autoimmunenzephalitiden stehen mehrere Wirk- Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen stoffe zur Verfügung; ihre Zahl wächst jedes Jahr und jeder Wirkstoff weist im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. einen speziellen Wirkmechanismus und ein charakteristisches Nebenwir- Literatur kungsprofil auf. Den verschreibenden Ärztinnen und Ärzten obliegt es, die Die vollständige Literaturliste finden Sie in der Online-Version des sorgfältige Überwachung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen. Artikels unter https://doi.org/10.4414/smf.2020.08607. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):516 –522 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
ÜBERSICHTSARTIKEL PEER REVIEW ED ARTICLE | 524 Durch rasche Diagnose und gezielte Therapie Behinderungen vermeiden! Neurologische Notfälle Prof. Dr. med. Andrea O. Rossetti a , Prof. Dr. med. Leo H. Bonati b , Prof. Dr. med. Peter S. Sandor c , Prof. Dr. med. Patrik Michel a , Prof. Dr. med. Urs Fischer d a Service de neurologie, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne; b Universitätsklinik für Neurologie, Universitätsspital, Basel; c Neurologie RehaClinic, Akutnahe Rehabilitation Baden & Universität Zürich; d Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Bern Die Neurologie hat sich in den letzten Jahren von einem diagnostischen zu einem therapeutischen Fach entwickelt: mit präziser Anamnese- und Untersuchungs- technik sowie gezielter Zusatzdiagnostik können viele neurologische Erkrankun- gen bereits in der Notfallstation korrekt diagnostiziert und behandelt werden. Dabei können den Patienten relevante Behinderungen erspart werden. Einleitung sowie den Kopfschmerz beschränken, obwohl andere Symptome und Krankheitsbilder wie Schwindel, Menin- Bei neurologischen Notfällen spielt einerseits das Zeit- gitiden und Enzephalitiden, entzündliche und neoplasti- intervall von Symptombeginn bis zum Therapiebe- sche Erkrankungen des Nervensystems, Myelopathien, ginn eine wichtige Rolle, andererseits ist ätiologisches akute Polyradikuloneuropathien, akute Bewegungsstö- Denken gefragt: Kopfschmerzen, epileptische Anfälle, rungen usw. ebenso neurologische Notfälle darstellen Schwindel, usw. sind Symptome von potentiell gefähr- und einer unmittelbaren Abklärung und Behandlung lichen neurologischen Erkrankungen und keine bedürfen. Die wichtigsten neurologischen Notfallsitua Krankheit per se, weshalb ist eine unverzügliche und tionen sind in Tabelle 1 zusammengefasst, eingeteilt korrekte Diagnose von entscheidender Bedeutung ist. nach Syndromen und Ätiologien. Neurologen sind daher in vielen Spitälern aktiv in den interdisziplinären Notfallbetrieb eingebunden, aber auch für Notfallmediziner, Intensivmediziner, Inter- Epileptische Anfälle auf der Notfallstation nisten und Chirurgen ist ein unverzügliches Erkennen von neurologischen Notfällen entscheidend, damit die Epileptische Anfälle stellen eine relativ häufige Notfall- betroffenen Patienten ohne Zeitverzögerung einer ent- situation dar. In den USA werden jährlich etwa 1 Mio. sprechenden Therapie zugeführt werden können. Patienten für akute Anfälle behandelt, dies entspricht Dabei ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von etwa 2% aller Notfallaufnahmen [1]; 150 000 Erwach- Generalisten und Fachspezialisten auf Notfallstatio- sene erleiden ihre erste Episode [2]; übertragen auf die nen von zentraler Bedeutung. Neurologische Notfälle Schweiz bedeutet dies etwa 25 000 Kontakte mit etwa sind häufig und Schätzungen gehen davon aus, dass 3700 neuen Anfällen pro Jahr. Bei Kindern sind die Zah- mindestens 10–20% aller Notfallkonsultationen durch len noch höher: febrile Anfälle treten bei bis zu 4% aller neurologische Notfälle bedingt sind. Das rasche Erken- Kleinkindern auf. An jedem beliebigen Schweizer Spital nen von neurologischen Notfallsituationen ist nicht kann man pro Woche mit mehreren Patienten mit An- nur für Neurologen, sondern auch für Hausärzte, Not- fällen auf der Notaufnahme rechnen. Akut symptoma- fallmediziner und Internisten von grosser Bedeutung. tische Anfälle, z.B. bei Intoxikationen, Medikamenten- Die zerebrale Bildgebung spielt in der Abklärung von oder Alkoholentzug, stellen bei jungen Erwachsenen vielen neurologischen Notfällen eine entscheidende vor Hirntrauma die häufigste Ursache der Anfälle dar, Rolle. während bei älteren Leute der Schlaganfall (akut oder Dieser Artikel ist den häufigsten neurologischen Notfall- chronisch) und Tumoren als Ursache in den Vorder- situationen gewidmet, mit einem besonderen Fokus auf grund treten [2, 3]. Bei circa 50% der Patienten, die we- zeitkritische Erkrankungen, bei denen eine rasche und gen eines Anfalls auf eine Notfallstation gebracht wer- korrekte Diagnose therapeutische Konsequenzen hat. den, sind vorgängige Episoden bekannt [1]. Nach einem Aus Platzgründen werden wir uns in diesem Artikel auf ersten epileptischen Anfall ist die Sterblichkeitsrate im Andrea O. Rossetti den epileptischen Anfall, den zerebrovaskulären Notfall Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung mit 14–18% SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2020;20(39– 40):524–531 Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
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