Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...

 
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Therapie-
                                          berufe 2030
                                          Tragfähige Ausbildungs­
                                          strukturen für eine gute
                                          Gesundheitsversorgung in
                                          der Physiotherapie, Ergo­
Ein Szenarien-Projekt der                therapie und Logopädie
DAA-Stiftung Bildung und Beruf
in Zusammen­arbeit mit dem
Institut für prospektive Analysen (IPA)
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
IPA – Institut für prospektive Analysen   DAA-Stiftung Bildung und Beruf
Prenzlauer Allee 36 F                     Alter Teichweg 19
D-10405 Berlin                            D-22081 Hamburg
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www.ipa-netzwerk.de                       www.daa-stiftung.de
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Inhalt

            Inhalt

Einleitung            . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    5

Szenario 1: Weiter wie bisher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Szenario 2: Einseitiger Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Szenario 3: Eine gemeinsame Aufgabe                                               . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    29

Szenario 4: Vollakademisierung                                    . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    37

Fazit		               . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    45

Literatur             . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    50

www.therapieberufe2030.de

Autoren*innen:
Dr. Thomas Mehlhausen                                                                                                     Roxanne Schuster
E-Mail: mehlhausen@ipa-netzwerk.de                                                                                        E-Mail: roxanne.schuster@daa-stiftung.de
Sascha Meinert                                                                                                            Dr. Till Werkmeister
E-Mail: meinert@ipa-netzwerk.de                                                                                           E-Mail: till.werkmeister@daa-stiftung.de

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Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

 4    Therapieberufe 2030
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

  	Einleitung

Die Corona-Pandemie führt eindrücklich die zentra­                               lung, die hohe Verantwortung und den Freiraum
le Bedeutung des Gesundheitssektors vor Augen.                                   in der Therapie (Carter/Bley 2019: 3, 13). Die
Innerhalb weniger Wochen musste sich das                                         Therapeut*innen identifizieren sich stark mit ihrem
gesellschaftliche Leben weltweit den notwendigen                                 Beruf, der für viele sinnstiftend und erfüllend ist
Maßnahmen zur Bekämpfung des Covid-19-Virus                                      (ebd.: 19).
unterordnen. Steht die Gesundheit auf dem Spiel,
                                                                                 Und doch zählen die therapeutischen Gesund­
verschieben sich unsere Prioritäten.
                                                                                 heitsfachberufe zu den Mangelberufen. Laut
Oft akzeptieren wir radikale Veränderungen                                       Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit
eingefahrener Verhaltensmuster erst in Zeiten                                    (2019) liegt die Vakanzzeit ausgeschriebener
akuter Krisen. Entfalten hingegen Bedrohungen                                    sozialversicherungspflichtiger Stellen für
ihre drastischen Auswirkungen nur graduell,                                      Physiotherapeut*innen zwischen 147 und 189
reagieren wir oft träge oder zu spät.                                            Tagen mit einer Steigerung von bis zu 24 Prozent
                                                                                 im Vergleich zum Vorjahr1. Eine Studie geht sogar
Dieses Phänomen gilt auch für die Rahmenbedin­
                                                                                 von bis zu 250 Tagen aus, da viele Stellen der
gungen der Ausbildung in den therapeutischen
                                                                                 Bundesagentur für Arbeit nicht gemeldet würden
Gesundheitsfachberufen der Physiotherapie,
                                                                                 (Hochschule Fresenius 2018: 1). Bis auf Bremen
Ergotherapie und Logopädie. Zwar hat die Bun­
                                                                                 (keine Daten angesichts kleiner Größenordnungen),
desregierung die „System­relevanz“ der Gesund­
                                                                                 und Hamburg (keine Anzeichen für Engpässe)
heitsfachberufe im Zuge der Corona-Pandemie
                                                                                 betrifft der Fachkräftemangel alle Bundesländer
insgesamt anerkannt, doch bestehen auch weiter­
                                                                                 (Bundesagentur für Arbeit 2020: 7). Diese Entwick­
hin Finanzierungslücken. Dies ist bei der Ausbil­
                                                                                 lung spiegelt sich auch in der Ausbildung wider. In
dung in den therapeutischen Gesundheitsfachbe­
                                                                                 einer internen Umfrage des Verbandes gemeinnüt­
rufen in besonderem Maße der Fall. Dabei ist es
                                                                                 ziger Bildungseinrichtungen im Gesundheits- und
unstrittig, dass die therapeutischen Leistungen in
                                                                                 Sozialwesen (GeBEGS) gab eine Mehrzahl der
Form von Therapie, Rehabilitation und Prävention
                                                                                 befragten Schulen an, dass sie in den kommenden
zu einer hohen Lebensqualität und durch eine
                                                                                 Jahren weniger Bewerber*innen als zur Verfügung
hochwertige Gesundheitsversorgung auch zu
                                                                                 stehende Ausbildungsplätze erwarten.
unserem Wohlstand beitragen.
                                                                                 Da in Zeiten des demografischen Wandels immer
   Reformbedarf: Fachkräftemangel in den                                       weniger junge Auszubildende einer wachsenden
     therapeutischen Gesundheitsfachberufen                                      Zahl altersbedingt zu versorgender Patient*innen
Eine überwiegende Mehrheit der Therapeut*innen                                   gegenübersteht, dürfte sich der Fachkräftemangel
in Deutschland ist mit ihrem Tätigkeitsprofil zufrie­                            in den nächsten 10 Jahren deutlich verschärfen.
den. Über zwei Drittel der in einer repräsentativen                              Laut einer Studie wird sich der derzeitige Fehl­
Studie der Hochschule Fresenius befragten knapp                                  bedarf von ca. 47.000 Fachkräften im Bereich
1.800 Physio- und Ergotherapeut*innen sowie                                      der nicht-ärztlichen Therapie und Heilkunde in
Logopäd*innen bewerteten ihren Arbeitsplatz als                                  Deutschland bis 2030 mehr als verdoppeln
positiv, insbesondere mit Blick auf die Abwechs­                                 (IEGUS/WifOR/IAW 2016).2

1 Die Daten für die Logopädie werden in der Fachkräfteengpassanalyse der BA als Teilbereich der Gruppe „Berufe in der Sprachtherapie“ geführt. Die
   spezifischen Daten für die Logopädie lassen sich hieraus nicht erkennen, die Berufsgruppe insgesamt wird aber auch von der BA explizit als vom
   Fachkräftemangel betroffen ausgewiesen. Für die Logopädie gibt es spezifische Analysen teilweise auf Landesebene. Das gilt auch für die Ergotherapie,
   bei der systematische Analysen auf Bundesebene jedoch vollständig fehlen.
2 Siehe auch die Fehlbedarfsanalyse für Rheinland-Pfalz (Lauxen 2018), die einen ähnlichen Trend anzeigt.

                                                                                                                            Therapieberufe 2030            5
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

 Der Fachkräftemangel hat weitreichende Konse­                                        müssen viele Auszubildende an den berufszu­
 quenzen für die Gesundheitsversorgung und                                            lassenden Berufsfachschulen ein monatliches
 manifestiert sich in langen Wartezeiten von durch­                                   Schulgeld in Höhe von circa 140 bis 450 Euro
 schnittlich 30 Tagen (Hochschule Fresenius 2018:                                     aufbringen. Derartige Schulgebühren für Ausbil­
 2), die besonders im ländlichen Raum spürbar                                         dungsgänge finden im Übrigen im Rahmen von
 sind. Rehabilitationskliniken und ambulante Praxen                                   „Schüler-BAföG“ keine Berücksichtigung. Bis zum
 finden keinen Nachwuchs, eine Stellenbesetzung                                       Jahr 2018 war im Wesentlichen nur die Ausbildung
 wird schwieriger. Daraus folgt, dass Fachkräfte vor                                  an den vergleichsweise wenigen staatlichen
 Ort Patient*innen häufig nicht mehr behandeln                                        Berufsfachschulen (ca. 23 Prozent in der Physio­
 können, da das Personal für eine angemessene                                         therapie, ca. 17 Prozent in der Ergotherapie und
 Patientenversorgung fehlt. Notleidende Menschen                                      ca. 13 Prozent in der Logopädie) für die
 finden keine zeit- oder ortsnahe Hilfe und Sympto­                                   Schüler*innen kostenfrei; alle privaten, häufig
 me bleiben über einen längeren Zeitraum unbehan­                                     gemeinnützigen Berufsfachschulen hingegen
 delt, was nicht nur das Leiden verschlimmern,                                        mussten die Ausbildungskostendurch die Erhe­
 sondern auch die Lebensqualität erheblich beein­                                     bung eines Schulgelds (mit-)finanzieren.
 flussen kann. Für eine aufwendige Vor- und
                                                                                      Als erstes Bundesland hat Schleswig-Holstein zum
 Nachbereitung in den Praxen fehlt häufig die Zeit,
                                                                                      01.01.2019 eine trägerunabhängige Schulgeldfrei­
 wodurch die Gefahr besteht, dass Patient*innen
                                                                                      heit für die therapeutischen Gesundheitsfachberufe
 mit komplexeren Beschwerden nicht in adäquatem
                                                                                      eingeführt, Bayern, Niedersachsen, Hamburg und
 Umfang behandelt werden können. Dadurch steigt
                                                                                      Hessen zogen nach.3 Nordrhein-Westfalen hat bis
 die Zahl der Menschen, die unter chronischen
                                                                                      Ende 2020 70 Prozent der Schulkosten finanziert;
 Erkrankungen leiden, oft verbunden mit gesund­
                                                                                      in Baden-Württemberg gibt es eine ähnliche
 heitsbedingten Auszeiten oder gar völliger Berufs­
                                                                                      Teilfinanzierung für Ersatzschulen (Physiotherapie
 unfähigkeit. Zudem geht auch der demo­grafische
                                                                                      und Logopädie), für die Ergänzungsschulen
 Wandel mit einer deutlichen Zunahme behand­
                                                                                      (Ergotherapie) hingegen nicht (Freie Presse 2020,
 lungsintensiver gerontologischer Beschwerden
                                                                                      Hessisches Ministerium für Soziales und Integrati­
 einher, was den Mangel an Behandlungs­
                                                                                      on 2020, ZDF 2020).4 In einigen Bundesländern,
 kapazitäten noch weiter verschärfen kann.
                                                                                      darunter Sachsen-­Anhalt, Sachsen und Thüringen,
 Die Ursachen des Fachkräftemangels lassen sich                                       besteht schon seit längerem eine anteilige Ersatz­
 in den Bereichen lokalisieren, in denen auch die in                                  schulfinanzierung im Bereich der therapeutischen
 einer Studie befragten Therapeut*innen die größten                                   Berufsfachschulen, die die von den Schüler*innen
 Defizite wahrnehmen: Vergütung, Anerkennung,                                         aufzubringenden Gebühren reduziert. Andere
 Autonomie, Qualität, Organisation und Ausbildung                                     Bundesländer wie Brandenburg und Rheinland-
 (Christmann 2019: 3).                                                                Pfalz halten sich bislang auf diesem Feld gänzlich
                                                                                      zurück und verweisen auf den laufenden Reform­
 Die finanziellen Anreize sind sowohl in der Aus­
                                                                                      prozess mit dem Ziel einer bundeseinheitlichen
 bildung als auch in der Berufsausübung gering.
                                                                                      Regelung.
 Im Gegensatz zu anderen Ausbildungsbereichen

 3 Bei einer Schulgeldfreiheit entfällt das Schulgeld für die Schüler*innen und wird den Trägern i.d.R. vom jeweiligen Bundesland erstattet. Eine Schulgeldfrei­
    heit ist nicht mit einer vollständigen Refinanzierung der tatsächlich anfallenden Ausbildungskosten gleichzusetzen, da die konkreten Ausbildungskosten an
    den Schulen bisher in keinem Bundesland ermittelt wurden. Die erhobenen Schulgelder liegen meist unter den tatsächlichen Ausbildungskosten der
    Schulträger und führen zu einer strukturellen Unterfinanzierung. Dies belastet vor allem gemeinnützige Bildungsträger, die nicht profitorientiert arbeiten und
    zuvor eher niedrige Schulgelder erhoben haben.
 4 Ersatzschulen bieten Abschlüsse an, die mit denen staatlicher Schulen vergleichbar sind. Ergänzungsschulen bieten hingegen Abschlüsse an,
    die nicht an staatlichen Schulen vorgesehen sind.

 6       Therapieberufe 2030
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

Die Ungleichverteilung der finanziellen Anreizstruk­                           Unter dem Strich bedeutet dies, dass es drei
turen wird durch die Einführung einer Ausbildungs­                             Gruppen von Auszubildenden in den Therapie­
vergütung weiter verschärft. Nachdem sich die                                  berufen mit sehr unterschiedlichen finanziellen
kommunalen Krankenhäuser und Universitätsklini­                                Rahmenbedingungen gibt:5 Für die Ausbildungs­
ken in den Tarifverhandlungen ab Januar 2019 zu                                gänge in der Physiotherapie etwa zahlten im Jahr
einer Zahlung einer Ausbildungsvergütung von                                   2020 circa 25 Prozent der Auszubildenden kein
circa 1.000 Euro pro Monat verpflichtet haben                                  Schulgeld und erhielten während der dreijährigen
(ver.di 2018), wurden im Rahmen des Pflegeperso­                               Ausbildung eine Vergütung in Höhe von insgesamt
nalstärkungsgesetzes auch die rechtlichen Voraus­                              37.350 Euro. Circa 30 Prozent der Auszubildenden
setzungen einer Ausweitung auf private Kranken­                                erhielten zwar keine Ausbildungsvergütung,
häuser geschaffen. Die rechtliche Basis ist das                                mussten aber zumindest keine Schulgebühren
Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), das die                                  zahlen. Knapp die Hälfte der Auszubildenden (ca.
Refinanzierung von Ausbildungskosten und eine                                  45 Prozent) hingegen erhielt keine Ausbildungsver­
Ausbildungsvergütung über die Krankenkassen für                                gütung und musste ein Schulgeld aufbringen. In der
Auszubildende an Berufsfachschulen ermöglicht,                                 Ergotherapie ist der Anteil derjenigen, die eine
die sich in Trägerschaft oder Mitträgerschaft eines                            Ausbildungsvergütung erhielten und kein Schulgeld
Krankenhauses befinden. Somit können grund­                                    zahlen mussten, mit insgesamt 10 Prozent noch
sätzlich nur diejenigen Auszubildenden eine                                    einmal deutlich niedriger. Hier erhielten circa
Ausbildungsvergütung erhalten, die an einer                                    35 Prozent der Schüler*innen keine Ausbildungs­
Berufsfachschule lernen, die sich in (Mit-)Träger­                             vergütung, ohne ein Schulgeld zahlen zu müssen.
schaft eines Krankenhauses befindet.                                           Die Mehrheit der Auszubildenden in der Ergo­

5 Eigene Berechnung und Recherche unter Einbeziehung der Daten aus Deutscher Verband für Physiotherapie, physio.de – Physiotherapie in
   Deutschland und Fillbrandt.

                                                                                                                        Therapieberufe 2030      7
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

 therapie (ca. 55 Prozent) hingegen musste ohne                                    circa 1.000 bis 1.200 Euro pro Monat Euro pro
 Ausbildungsförderung weiterhin auch ein Schulgeld                                 Monat und verdienen als Berufseinsteiger*innen
 bezahlen. In der Logopädie bewegte sich der                                       durchschnittlich zwischen 12 bis 20 Prozent mehr
 Prozentsatz derjenigen, die kein Schulgeld zahlen                                 als etwa Physiotherapeut*innen.7
 mussten und eine Ausbildungsvergütung erhielten,
                                                                                   Zudem sind die Arbeitsbedingungen oft schwierig.
 auf einem ähnlichen Niveau wie in der Physio­
                                                                                   Insbesondere im Bereich der Physiotherapie
 therapie (ca. 25 Prozent), während ein kleinerer Teil
                                                                                   wünschen sich viele Therapeut*innen längere
 (ca. 15 Prozent) zwar keine Ausbildungsvergütung
                                                                                   Behandlungszeiten (Carter/Bley 2019: 6), die
 erhielt, aber auch kein Schulgeld aufbringen
                                                                                   übliche Taktung der Behandlungen ist mit 20
 musste. Wie in der Ergotherapie musste die
                                                                                   Minuten pro Patient*in oft zu knapp. Darüber
 Mehrheit der Auszubildenden auch in der Logopä­
                                                                                   hinaus führt die steigende psychische Belastung
 die (fast 60 Prozent) weiterhin ein Schulgeld zahlen.
                                                                                   vermehrt zu Burnout-Symptomen (Mühlhaus/
 Im Jahr 2020 zahlten somit insgesamt circa                                        Rathmann 2018). Die Arbeitsbelastung dürfte
 20 Prozent der Auszubildenden in den therapeuti­                                  durch den zunehmenden Fachkräftemangel weiter
 schen Gesundheitsfachberufen kein Schulgeld                                       steigen, selbst wenn eine Kehrseite dessen ist,
 und erhielten während der dreijährigen Ausbildung                                 dass durch geringe Arbeitslosigkeit – bei derzeit
 eine Ausbildungsvergütung. Circa 30 Prozent der                                   ca. 1 Prozent – ein nahtloser Übergang von der
 Auszubildenden erhielt zwar keine Ausbildungsver­                                 Ausbildung in die Beschäftigung wahrscheinlich ist.
 gütung, musste aber kein Schulgeld aufbringen.6
                                                                                   Die fehlende Anerkennung der eigenen Arbeit in
 Die Hälfte der Auszubildenden musste hingegen
                                                                                   der Gesellschaft spielt ebenfalls eine große
 ohne Ausbildungsvergütung ein Schulgeld – ab­
                                                                                   Rolle (ebd.). In diesem Zusammenhang fordern
 hängig vom Bildungsgang und Bundesland – von
                                                                                   82,8 Prozent der Befragten einen Direktzugang zu
 einer Gesamtsumme zwischen 5.000 und 16.000
                                                                                   den Patient*innen ohne vorherige ärztliche Konsul­
 Euro zahlen.
                                                                                   tation, da dies die Selbständigkeit der eigenen
 Auch die Vergütung der späteren beruflichen                                       Tätigkeit erhöhen und das eigene Berufsbild
 Tätigkeit ist vergleichsweise niedrig. Das mittlere                               aufwerten würde (Christmann 2019: 3). Während
 Bruttomonatsgehalt für Therapeut*innen in Vollzeit                                bislang die Diagnose mit entsprechender Ausstel­
 lag im Jahr 2017 bei 2.200 Euro und damit um                                      lung einer Verordnung den Ärzt*innen obliegt und
 rund 30 Prozent unter dem aller abhängig Be­                                      Therapeut*innen darauf aufbauend einen Befund
 schäftigten in Deutschland von 3.100 Euro im                                      erstellen und danach therapieren,8 wären
 Monat (HVG/VAST 2018). Vergleicht man die                                         Therapeut*innen bei einem Direktzugang berech­
 finanziellen Rahmenbedingungen im Bereich der                                     tigt, den Umfang, die Frequenz und die Ausrich­
 therapeutischen Gesundheitsfachberufe mit denen                                   tung der Therapie unabhängig zu bestimmen.
 von Mechatroniker*innen, die in etwa so lange
                                                                                   Viele Befragte sehen ein erhebliches Ungleichge­
 (3,5 Jahre) ausgebildet werden und für dessen
                                                                                   wicht zwischen Einsatz und Entlohnung bzw.
 Ausbildung ähnliche Zulassungsbedingungen
                                                                                   Ausbildungskosten und späterem Verdienst (ebd.).
 gelten, so müssen diese nichts für ihre Ausbildung
                                                                                   Diese „Gratifikationskrise“ betrifft mittlerweile bis zu
 bezahlen, erhalten eine Ausbildungsvergütung von

 6 Zu dieser Gruppe können auch zu einem Teil die Absolvent*innen der 30 primärqualifizierenden Studiengänge hinzugezählt werden. Von den zwölf im
    Ausbildungsjahr 2017/18 in den Therapieberufen ausbildenden Hochschulen sind sieben staatlich und erheben keine Studiengebühren.
 7 Eigene Berechnung, Daten basieren auf Statistisches Bundesamt 2016: 329, 338 sowie auf Statistisches Bundesamt 2020.
 8 Hier gilt eine Einschränkung im Bereich der Physiotherapie: Mit einer Fortbildung zum sektoralen Heilpraktiker für Physiotherapie dürfen
    Physiotherapeut*innen auch heute bereits direkte Leistungen erbringen und mit den Patient*innen abrechnen, allerdings werden die Kosten hierfür i.d.R.
    nicht von den Kassen übernommen.

 8       Therapieberufe 2030
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

85 Prozent der Therapeut*innen (Hochschule
Fresenius 2018: 1, siehe auch Höppner/Beck
2019) und kann als einer der Gründe angeführt
werden, warum viele Therapeut*innen den Beruf
wechseln möchten. In der o. g. Studie gaben
46 Prozent der befragten Physiotherapeut*innen,
56 Prozent der Ergotherapeut*innen, 58 Prozent
der Logopäd*innen an, im Beruf verweilen zu
wollen, während die restlichen Befragten über
einen Berufswechsel nachdenken, „sich umschau­
en“, diesen konkret planen oder bereits vollziehen
(Heun/Steffan 2019: 19). Die Verweilbereitschaft ist
besonders unter jüngeren Therapeut*innen gering
(ebd: 20), was den Fachkräftemangel in Deutsch­
land schon zeitnah zusätzlich verschärfen dürfte.

Eine Studie für das Land Rheinland-Pfalz (Lauxen
2018) kommt zu dem Ergebnis, dass weder eine
Erschließung externer Potenziale noch eine
stärkere Bindung der Beschäftigten den Fach­
kräftemangel signifikant reduzieren können: Eine
höhere Anerkennungsquote ausländischer Berufs­
abschlüsse oder ein gezieltes Anwerben von
ausländischen Fachkräften, eine Ausschöpfung
sogenannter stiller Reserven im Sinne nicht mehr
berufstätiger, aber auch nicht arbeitslos gemeldeter
oder noch in der Ausbildung stehender Fachkräfte,
eine Verringerung der Teilzeit- und Unterbrecher­
quoten oder eine Erhöhung des durchschnittlichen
(faktischen) Renteneintrittsalters würden quantitativ
eher geringe Effekte haben. Folglich kann der
Fachkräftemangel nur durch eine Erhöhung der
Absolvent*innenzahlen und somit durch eine
systematische Steigerung der Attraktivität einer
Ausbildung in den therapeutischen Gesundheits­
fachberufen erreicht werden.

   eformprozess: Eckpunkte-Papier der
  R
  Bund-Länder-Arbeitsgruppe

Angesichts dieser Entwicklungen hat sich die
Regierung 2018 im Koalitionsvertrag zum Ziel
gesetzt, die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe
zu reformieren. Die Gesundheitsministerkonferenz
berief eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Führung des Gesundheitsministeriums mit dem

                                                        Therapieberufe 2030   9
Therapie-berufe 2030 - Tragfähige Ausbildungs strukturen für eine gute Gesundheitsversorgung in der Physiotherapie, Ergo therapie und Logopädie ...
Einleitung

 Ziel ein, einen Aktionsplan für eine bedarfsorientierte                          Patient*innen, eine Teilakademisierung für die
 Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen sowie                                   Physio- und Ergotherapie bzw. eine Vollakademi­
 eine Neustrukturierung der Aufgaben- und Kompe­                                  sierung für die Logopädie oder der Hochschul­
 tenzprofile zu erstellen (GMK 2017). Demnach soll                                zugang für beruflich qualifizierte Bewerber*innen
 sich die Reform auf die Revision der Berufsgeset­                                ohne Hochschulzugangsberechtigung. Offenbar
 ze, die Ausbildungsstrukturen und deren Finanzie­                                herrscht größerer Dis­kussionsbedarf bei der
 rung, die Formulierung bedarfs- und kompetenz­                                   Finanzierung der durch die Reformen entstehen­
 orientierter Aufgabenprofile sowie Fragen der                                    den Mehrkosten, sodass die Bearbeitung dieser
 Transparenz und Durchlässigkeit der Ausbildungen                                 Frage einer aus Staatssekretär*innen bestehenden
 fokussieren. Am Ende soll eine Neufassung der                                    Arbeitsgruppe „Wissenschaft und Gesundheit“ zur
 Berufsgesetze stehen, die zum Teil noch aus den                                  weiteren Beratung übertragen wurde.
 1970er Jahren stammen (Ergotherapeutengesetz
 1976, Logopädengesetz 1980, Masseur- und                                              eformdebatte: Weichenstellungen
                                                                                      R
 Physiotherapiegesetz 1994). Nachdem die davon                                        für die Zukunft
 betroffenen Fachverbände um Stellungnahmen
                                                                                  Entsprechend den im Eckpunktepapier genannten
 gebeten wurden, hat die Bund-Länder-Arbeits­
                                                                                  Themen wird der Reformbedarf in den therapeuti­
 gruppe im März 2020 das Eckpunkte-Papier
                                                                                  schen Gesundheitsfachberufen kontrovers
 „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ (BMG
                                                                                  diskutiert, wobei die einzelnen Reformvorschläge
 2020) vorgelegt. Im eigenen Selbstverständnis
                                                                                  teilweise eng miteinander verbunden sind.
 dient das Papier als „Grundlage für die geplante
 gesetzliche Änderung“ und reflektiert den aktuellen                              Für die Regelungen der Finanzierung der Ausbil­
 Stand der Verhandlungen.                                                         dungskosten und -vergütung sind unterschiedliche
 Übergeordnetes Ziel des laufenden Reformprozes­                                  Modelle denkbar. Zum einen gäbe es die Möglich­
 ses ist die langfristige Gewährleistung einer                                    keit, die Kostenübernahme über das Krankenhaus­
 flächendeckenden und patientenorientierten                                       finanzierungsgesetz so auszudehnen, dass künftig
 Gesundheitsversorgung in Deutschland. Dabei                                      auch freie, nicht an einem Krankenhaus angesie­
 werden die folgenden Themenschwerpunkte                                          delte Berufsfachschulen die Ausbildungskosten auf
 genannt:                                                                         der Grundlage von Kooperationsvereinbarungen
                                                                                  über die Krankenkassen abrechnen können. Diese
 • grundsätzliche Schulgeldabschaffung,                                           Möglichkeit wird im Eckpunktepapier explizit
 • flächendeckende Ausbildungsvergütung,                                          genannt und wäre eine erhebliche Erweiterung der
 •	
   Revision der Berufsgesetze für insgesamt                                       bisherigen Refinanzierungspraxis, die bislang nur
   10 Berufsprofile,                                                              Schulen vorbehalten ist, die in (Mit-)Trägerschaft
 • Durchlässigkeit der Ausbildungen,                                              eines Krankenhauses stehen. Zum anderen könnte
 • (Teil-)Akademisierung,                                                         das jeweilige Bundesland – so wie mancherorts
 • Direktzugang,                                                                  bereits praktiziert – (einen Teil der) Ausbildungskos­
 • neue zu regelnde Berufe sowie                                                  ten übernehmen. Schließlich gibt es die Möglich­
 • damit einhergehende Finanzierungsfragen.                                       keit einer Mischfinanzierung, etwa über einen
 Weitgehende Einigkeit scheint es dem Wortlaut                                    Ausbildungsfonds analog zu dem in der Pflege, in
 nach in dem Bestreben zu geben, das Schulgeld                                    den mehrere Kostenträger einzahlen – in dem Fall
 bundesweit abzuschaffen, eine angemessene und                                    das jeweilige Bundesland und die Pflegeversiche­
 flächendeckende Ausbildungsvergütung einzufüh­                                   rung sowie Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen
 ren sowie eine Teilzeitausbildung zu ermöglichen.                                und ambulante Praxen. Die im Jahr 2017 be­
 Weitere Reformideen werden hingegen zunächst                                     schlossene Reform in der Pflege wird nun im Jahr
 geprüft, etwa der Direktzugang zu den                                            2020 umgesetzt.9 Eine Übertragung auf die

 9	Neben der Neustrukturierung der Ausbildungsfinanzierung wurde eine generalistische Ausbildung eingeführt, infolge derer die Kinder-, Alten- und
    Krankenpflegefachkräfte zunächst zwei Jahre gemeinsam ausgebildet und erst im dritten Jahr auf eine Fachrichtung spezialisiert werden.

 10        Therapieberufe 2030
Einleitung

Finanzierung der therapeutischen Gesundheits­                                   zur Folge, dass damit etablierte und über Jahre ge­
fachberufe würde bedeuten, dass eine Finanzie­                                  wachsene Strukturen für die Versorgung mit
rungslogik gefunden wird, an der sich sowohl die                                Fachkräften – vor allem auf dem Land – verloren
Krankenkassen – entweder indirekt oder direkt –                                 gingen, sondern auch, dass statt eines benötigten
sowie die Bundesländer, eventuell perspektivisch                                flächendeckenden Ausbaus der Ausbildungsplätze
auch der Bund sowie die Renten- und Unfallkas­                                  eher eine Verknappung erfolgt. Zweitens könnten
sen, beteiligen.                                                                damit die Krankenhäuser in einem solchen Finan­
                                                                                zierungsmodell einen privilegierten Zugang zu einer
Je nach Modell würde die Finanzierung massive                                   sinkenden Anzahl von Auszubildenden erhalten,
Konsequenzen für die Trägerstruktur von                                         und sich der Fachkräftemangel somit vor allem in
Ausbildungseinrichtungen haben. Erstens könnte                                  den ambulanten Praxen und in der Fläche deutlich
es bei einer Ausbildungsfinanzierung über das                                   verschärfen, was wiederum Konsequenzen für die
Krankenhausfinanzierungsgesetz ohne die Mög­                                    Gesundheitsversorgung hat, insbesondere auf
lichkeit einer Kooperationsvereinbarung zwischen                                dem Land. Der dritte Aspekt – das Größenverhält­
einer Berufsfachschule bzw. einem Schulträger                                   nis zwischen der Anzahl der Berufsfachschulen
und einem Krankenhaus zu einer Schließung oder                                  und der Hochschulen – ist hingegen eng mit der
Verlagerung vieler freier privater und gemeinnützi­                             Frage einer stärkeren Akademisierung der Gesund­
ger Berufsfachschulen in die (Mit-)Trägerschaft von                             heitsfachberufe verbunden.
Krankenhäusern kommen.10 Dies hätte nicht nur

10	So wurden in Rheinland-Pfalz in den letzten Jahren 13 von 19 privaten Physiotherapie-Schulen in die Trägerschaft von Krankenhäusern überführt
    (Landtag Rheinland-Pfalz 2018: 5).

                                                                                                                        Therapieberufe 2030         11
Einleitung

 Der Grad der Akademisierung in den Gesund­            versorgung gilt. Viele Schulen kooperieren bereits
 heitsfachberufen ergibt sich aus dem Verhältnis       in diesem Rahmen mit einer Hochschule: In der
 von berufsfachschulischen und hochschulischen         Logopädie wird der Anteil auf 80 Prozent und in
 Abschlüssen. Bereits jetzt ergibt sich hierzu ein     der Ergotherapie auf etwa 50 Prozent der Schulen
 recht komplexes Bild (HVG o.J.): Die berufsaufbau­    geschätzt (HVG/VAST 2018: 9). In einem kompeti­
 enden bzw. additiven Regelstudiengänge ermögli­       tiv-substituierenden Verständnis könnte hingegen
 chen es Therapeut*innen mit Staatsexamen              die Teilakademisierung derart zunehmen, dass die
 berufsbegleitend, in einem Studium Zusatzqualifi­     primärqualifizierenden Studiengänge als Regelstu­
 kationen in den Bereichen Management oder             diengänge anerkannt und systematisch ausgebaut
 Pädagogik zu erhalten. Die mittlerweile 75 ausbil­    werden, sodass es zwei Wege zur Berufszulas­
 dungsintegrierenden bzw. dualen Regelstudien­         sung – über einen berufsfachschulischen und
 gänge werden seit dem Jahr 2000 in Form einer         einen hochschulischen Abschluss – geben würde,
 Kooperation zwischen Hochschulen und Berufs­          die prinzipiell auf dieselben Tätigkeitsfelder vorbe­
 fachschulen angeboten, die in eine Doppelqualifi­     reiten würden.
 kation mit einem Berufsfachschulabschluss und
                                                       Beide Formen der Teilakademisierung sind in der
 einem akademischen Grad münden. Schließlich
                                                       gegenwärtigen Ausbildungslandschaft angelegt,
 gibt es seit 2009 auch 30 sogenannte primärquali­
                                                       wobei quantitativ die erstgenannte Variante
 fizierende Modellstudiengänge, die als Vorausset­
                                                       vorherrscht. Eine kompetitiv-substituierende
 zung für eine Berufszulassung anerkannt werden
                                                       Teilakademisierung kann als eine graduell abge­
 und prinzipiell ebenso wie die Berufsfachschulen
                                                       stufte Form der Vollakademisierung gewertet
 für den späteren Einsatz an den Patient*innen
                                                       werden. Ein Ausbau primärqualifizierender Studien­
 qualifizieren.
                                                       gänge zulasten der anderen fachschulischen und
 Wenn nun im Eckpunktepapier von einer Teilaka­        hochschulischen Ausbildungsangebote würde zu
 demisierung für die Physio- und Ergotherapie          einer kompletten Abschaffung der Berufsfachschu­
 gesprochen wird, so lässt sich feststellen, dass      len im Bereich der Ausbildung der drei therapeuti­
 der Begriff hier – wie häufiger in politischen und    schen Gesundheitsfachberufe führen, den Zugang
 wissenschaftlichen Diskursen – nicht einheitlich      zu den Therapieberufen für Schulabgänger*innen
 verwendet wird. Eine Teilakademisierung im Sinne      mit mittlerer Schulreife (ohne Berufsabschluss)
 einer akademischen (Weiter-)Bildung von Fachkräf­     erheblich erschweren und so den Fachkräfteman­
 ten in diesen Berufen gibt es de facto heute schon.   gel weiter verschärfen. Letztlich trüge dieser Schritt
 Der Begriff lässt sich besser fassen und die          auch dazu bei, dass der Schulabschluss mit
 vorgebrachten Argumente in der Debatte einord­        mittlerer Reife in Deutschland weiter entwertet und
 nen, wenn zwischen einem kooperativ-konsekuti­        noch weniger Berufsperspektiven für die
 ven und einem kompetitiv-substituierenden             Absolvent*innen bieten würde.
 Verhältnis zwischen berufsfachschulischer und
                                                       Eng mit der Akademisierung verbunden wird mit
 hochschulischer Ausbildung unterschieden wird.
                                                       dem Ziel einer Erhöhung der Attraktivität einer
 Eine fortschreitende Teilakademisierung im koope­     therapeutischen Ausbildung auch die Verbesse­
 rativ-konsekutiven Sinne würde bedeuten, dass die     rung der Durchlässigkeit für die berufliche
 berufsaufbauenden bzw. additiven und die ausbil­      Weiterentwicklung von Therapeut*innen im Sinne
 dungsintegrierenden bzw. dualen Studiengänge          eines lebenslangen Lernens gefordert. Im Zentrum
 systematisch ausgebaut werden. Damit wäre die         steht das vertikale Verständnis, dass den
 Grundlage geschaffen, um das Ziel einer höheren       Ausbildungsinteressent*innen Aufstiegsmöglichkei­
 Akademikerquote unter den Therapeut*innen zu          ten von niedrigeren hin zu höheren Abschlüssen
 erreichen, wobei hier nur die Berufsfachschulen       (von Hauptschulabschluss mit Berufsausbildung
 einen Abschluss anbieten, der als Voraussetzung       bis zur Promotion) gewährt werden. Das horizonta­
 für eine Berufszulassung für die direkte Patienten­   le und ggf. diagonale Verständnis zielt auf die

 12     Therapieberufe 2030
Einleitung

Möglichkeit eines Wechsels zu einem ähnlich
ausgerichteten Beruf unter Anerkennung bisheriger
Qualifikationen. Je höher die Durchlässigkeit, desto
inklusiver und attraktiver kann eine therapeutische
Ausbildung werden.

    eformperspektiven: Zur Zukunft
   R
   der Ausbildung in den therapeutischen
   Gesundheitsfachberufen

Das Eckpunktepapier der Bund-Länder-Arbeits­
gruppe enthält zahlreiche offene Punkte, die
mehrere Entwicklungsmöglichkeiten denkbar
erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund sollen
alternative Szenarien vorgestellt werden, die
unterschiedliche, aber mögliche „Zukünfte“ im
Bereich der Ausbildung in den therapeutischen
Gesundheitsfachberufen beschreiben und deren
Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung in
Deutschland im Jahr 2030 verdeutlichen. Der
Zeithorizont ergibt sich aus der Überlegung, dass
jüngst in einem vergleichbaren Prozess – die
Einführung der generalistischen Pflegeausbildung
– zwischen Beschluss und Inkrafttreten sechs
Jahre vergangen sind.

Der Fokus auf die therapeutischen Gesundheits­
fachberufe Physio- und Ergotherapie sowie
Logopädie ergibt sich aus vier Gründen. Erstens
stellen diese im Vergleich zu den anderen sieben                                und Physiotherapie – nicht nur im Tätigkeitsprofil,
Berufsprofilen11, auf die sich das „Gesamtkonzept                               sondern auch mit Blick auf die deutlich höhere
Gesundheitsberufe“ erstreckt, die zahlenmäßig                                   Abiturientenquote unter den Bewerber*innen.
größte Gruppe dar. Im Ausbildungsjahr 2018/19                                   Diese Argumente werden im Eckpunktepapier u. a.
fielen 76,2 Prozent der insgesamt 46.468 Ausbil­                                als Gründe angeführt, warum für die Logopädie
dungsplätze der zu reformierenden Berufe auf                                    eher eine Vollakademisierung in Frage komme als
diese drei Berufe.12 Zweitens werden die drei                                   für die Ergo- und Physiotherapie.
genannten therapeutischen Berufe im Eckpunkte­                                  Angesichts der hohen Unsicherheit über die
papier bei der Akademisierung als einzige Berufe                                konkrete Ausgestaltung der geplanten Gesetzes­
explizit genannt. Drittens liegt für diese drei Berufs­                         novelle sollen die Szenarien
gruppen das größte Datenmaterial in diversen
Studien und Analysen vor. Viertens können Ent­                                  •	eine Reflexionsgrundlage über den gewünsch­
wicklungen in diesen drei Therapieberufen auch                                     ten Ausgang und mögliche Folgen des Reform­
eine Signalwirkung für die anderen Gesundheits­                                    prozesses bilden,
fachberufe entwickeln. Die Logopädie unterschei­                                •	einen konstruktiven Dialog zwischen den
det sich in bestimmten Punkten von der Ergo-                                       potenziell betroffenen Akteuren anregen,

11 Dazu zählen die Diätassistent*innen, Masseur*innen und medizinische Bademeister*innen, medizinisch-technische Assistent*innen für Funktionsdiagnos­
    tik, medizinisch-technische Laboratoriumsassistent*innen, medizinisch-technische Radiologieassistent*innen, Orthoptist*innen sowie Podolog*innen.
12 Nur die drei medizinisch-technischen Berufe weisen mit der Logopädie vergleichbare Ausbildungszahlen von ca. 1.100 bis 1.300 Personen pro Jahr auf.

                                                                                                                        Therapieberufe 2030        13
Einleitung

 •	Ansatzpunkte für die Formulierung einer schlüs­                      nen Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung
    sigen Kommunikationsstrategie bieten,                                innerhalb der kommenden zehn Jahre entwickeln
 •	eine breitere Öffentlichkeit für die Bedeutung                       könnte. Szenarien beziehen sich auf einen Zeithori­
    des Themas und für die Chancen und Heraus­                           zont, für den Prognosen nicht mehr möglich sind.
    forderungen bei der Gestaltung der künftigen                         Sie beschreiben nicht wünschenswerte oder
    Ausbildungswirklichkeit in den hier behandelten                      befürchtete Entwicklungen, sondern beschreiben
    Gesundheitsfachberufen sensibilisieren sowie                         in einer „Was-wäre-wenn“-Logik alternative
 •	Lösungsansätze für die Gestaltung einer                              Zukunftspfade.
    attraktiven Ausbildung zur Bekämpfung des
    Fachkräftemangels und eine hochwertige                               Dafür wurden zahlreiche Einflussfaktoren identifiziert
    Gesundheitsversorgung skizzieren.                                    und nach ihrer Relevanz und Varianz geordnet.
                                                                         Aus diesen wurden zum einen bereits absehbare
    ier Szenarien zur künftigen Ausbildung
   V                                                                     Gegebenheiten abgeleitet, die für alle Szenarien
   in den therapeutischen Gesundheits­                                   gelten (Givens). Zum anderen gibt es sogenannte
   fachberufen                                                           treibende Kräfte (Drivers), deren künftige Ausprä­
 In den folgenden vier Szenarien werden unter­                           gung von großer Bedeutung und zugleich hoch­
 schiedliche „Zukünfte“ beschrieben, wie sich die                        gradig ungewiss ist. Aus diesen grundlegenden
 Reform der Ausbildung in den therapeutischen                            Alternativen ergeben sich die im Folgenden
 Gesundheitsfachberufen mit den damit verbunde­                          beschriebenen Szenarien.

                                                                                                      heute
                                             Unterfinanzierung                                        2030
                                                      Ausbildung

                                  Szenario 1:                                 Szenario 2:
                                    „Weiter                                   „Einseitiger
                                  wie bisher“                                Kompromiss“

   Homigenisierung                 Struktur der                            Ausbildungsträger             Diversifizierung
                                                      Finanzierung der

                                  Szenario 4:                                 Szenario 3:
                                     „Voll-                                      „Eine
                                   akade­mi-                                  gemeinsame
                                   sierung“                                    Aufgabe“

                                              Bedarfsdeckung

 14     Therapieberufe 2030
Einleitung

Zwei zentrale Entwicklungsachsen dienen dabei        Wenngleich die Finanzierung die Trägerstruktur
der Strukturierung des Zukunftsraums und             beeinflusst, ist der kausale Zusammenhang nicht
schaffen Trennschärfe zwischen den Szenarien –       deterministisch. Auch bei einer Unterfinanzierung
wenngleich natürlich auch zahlreiche andere          kann die Trägerstruktur vielfältig sein, etwa, wenn
Einflussfaktoren berücksichtigt und für die Aus­     aufgrund des Kostendrucks die Qualität der
arbeitung der Szenarien herangezogen wurden.         Ausbildung gesenkt wird. Auch kann es ohne
                                                     finanzielle Zwänge zu einer Homogenisierung der
Zum einen wird für die künftige Entwicklung
                                                     Trägerstruktur kommen, z. B. wenn infolge einer
die Frage der Finanzierung als zentral erachtet.
                                                     Neuformulierung der Berufsgesetze bestimmte
Wird diese in der Zukunft nach funktionalen
                                                     Ausbildungsgänge abgeschafft werden.
Erfordernissen erfolgen und auf soliden Beinen
stehen (Bedarfsdeckung) oder wird die Entwick­       Zu den weiteren treibenden Kräften, die in die
lung durch eine weitgehende Kostensenkung            Ausarbeitung der Szenarien mit eingeflossen sind,
geprägt sein (Unterfinanzierung)?                    zählen etwa der Grad der Akademisierung, die
                                                     Attraktivität einer Ausbildung, die vertikale und
Zum anderen wird die Frage der künftigen Träger­
                                                     horizontale Durchlässigkeit, aber auch die materiel­
struktur in der theoretischen und praktischen
                                                     len Rahmenbedingungen und die Selbständigkeit
Ausbildung in den Fokus genommen. Wird sich
                                                     in der künftigen Berufsausübung.
diese in Zukunft auf immer weniger Einrichtungs­
arten beschränken (Homogenisierung) oder
werden wir weiterhin auf eine vielfältige Struktur
unterschied­licher Ausbildungsträger bauen können
(Diversifizierung)?

                                                                                  Therapieberufe 2030   15
Szenario 1

                   Szenario 1: Weiter wie bisher

  Ausgangslage            Folgen für Finanzierung und Trägerstruktur                        soziale Folgen

                              strukturelle / chronische
                              Unterfinanzierung in
                              einigen Bundesländern                                                      Fachkräfte-
                                                                                                         mangel
                                                                                                         nimmt zu
      keine Einigung
                                                             Verringerung der
      auf Reformen
                                                          Ausbildungskapazitäten
                                                            durch Schließung
                                                               von Schulen                               Gesundheits­
                              keine Übernahme von
                              Schulungsgebühren und                                                      versorgung
                              Ausbildungsvergütung                                                       wird
                                                                                                         schlechter

                                              sinkende
                                            Bewerberzahlen

 Bund und Länder fanden im Reformprozess                         erneuten Reform werden immer lauter. Doch im
 keine Einigung; die einzelnen Länder sind ihre                  Jahr 2030 sind bereits substanzielle Teile der
 eigenen Wege gegangen und verfolgten                            im Jahr 2020 noch existierenden, über Jahr­
 unterschiedliche Modelle in der therapeuti­                     zehnte gewachsenen Ausbildungsstrukturen
 schen Ausbildung. Die chronische Unterfinan­                    verloren gegangen.
 zierung im Ausbildungssektor mündete in
 Abwärtsspiralen: Verlagerungen und sinkende                     Die politischen Entscheidungsträger fanden zu
 Bewerberzahlen führten zur Schließung vieler                    Beginn der 2020er Jahre keinen Kompromiss in
 Ausbildungseinrichtungen, wodurch angesichts                    den Verhandlungen zur Neustrukturierung der
 längerer Wegstrecken die Mobilitätsanforde­                     Gesundheitsfachberufe. Die Unterschiede zwi­
 rungen an die Auszubildenden zugenommen                         schen den Auffassungen der Bundesländer zur
 haben. Der sich zuspitzende Fachkräftemangel                    künftigen Ausgestaltung der Berufsgesetze waren
 erhöht den Arbeitsdruck auf die praktizieren­                   einfach zu groß: Vielerorts fehlte die Bereitschaft,
 den Therapeut*innen, Stress und Burnouts                        bereits eingespielte, auf individueller Landesebene
 nehmen zu, ebenso der Wechsel in andere                         mehr oder weniger erfolgreiche Modelle aufzuge­
 Berufe. Die therapeutische Gesundheitsversor­                   ben, und es überwog der Dissens hinsichtlich
 gung funktioniert in Deutschland nur noch für                   möglicher Lösungsansätze für die Bekämpfung
 zahlungskräftige Privatversicherte und                          des Fachkräftemangels und die Verbesserung der
 Selbstzahler*innen gut – für die gesetzlich                     Rahmenbedingung der Ausbildung. Und so lautet
 Versicherten sind lange Wartezeiten und                         das neue Motto: Die föderale Vielfalt fördere einen
 reduzierte Leistungen die Regel. Die Rufe nach                  Wettbewerb um das beste Modell, das sich
 notwendigen Kurskorrekturen im Zuge einer                       langfristig schon durchsetzen werde.

 16     Therapieberufe 2030
Szenario 1

Der Reformprozess fand unter ungünstigen               investieren, wenn sich die Berufsfachschulen in
Rahmenbedingungen statt. Die drohenden Kosten          staatlicher Hand befinden. Einige weitere Bundes­
einer ambitionierten Neuformulierung der Berufs­       länder hingegen forcierten eine stärkere Akademi­
gesetze schreckte einige Bundesländer ab. Der          sierung in den therapeutischen Gesundheitsfach­
Kostendruck im Gesundheitssystem spitzte sich          berufen und strebten einen Ausbau des staatlichen
ohnehin auch an anderen Stellen zu und die             Hochschulangebotes an. Andere lehnten ein
Steuern und Kassenbeiträge sollten möglichst           solches Vorgehen kategorisch als unzulässigen
stabil bleiben. Die Interessengruppen im Bereich       Markteingriff ab und setzten auf das Wettbewerb­
der therapeutischen Gesundheitsfachberufe              sprinzip ohne staatliche Intervention, was bedeu­
konnten zudem keine gemeinsame Position finden         tet, dass Schüler*innen ihre Ausbildung mancher­
– etwa bezüglich der Einführung einer flächende­       orts weiter komplett allein bezahlen müssen.
ckenden Ausbildungsvergütung oder einer stärke­        Und schließlich gab es auch prinzipiell kompro­
ren Akademisierung – und so kaum öffentlichen          missbereite Bundesländer, die bisher schon einen
Druck aufbauen.                                        größeren Teil der schulischen Ausbildungskosten
                                                       bezuschusst hatten. Der Bund mahnte zwar die
Und so einigten sich die politischen Verantwor­
                                                       Notwendigkeit einheitlicher Ausbildungsregeln an,
tungsträger trotz der anfangs großen Hoffnungen
                                                       verweigerte jedoch jedwede Kostenbeteiligung.
auf wenig mehr als eine allgemeine Absichtserklä­
rung, die den einzelnen Ländern weiterhin freie        Für eine Einigung waren die regionalen Unterschie­
Hand im Ausbildungsbereich zusicherte. Eine allge­     de und Pfadabhängigkeiten zu groß: Die Wahrneh­
meine Schulgeldfreiheit, eine flächendeckende          mungen variierten hinsichtlich der Bedeutung der
Ausbildungsvergütung und eine Erhöhung der             privaten und gemeinnützigen Berufsfachschulen
Akademisierungsquote wurden zwar als Leitziele         in der Fläche, der Einschätzung der Vorzüge einer
benannt, dies blieb jedoch ohne jegliche rechtliche    staatlichen bzw. privat-gemeinnützigen Träger­
Verbindlichkeit. Auch bei den bundesweit gelten­       schaft und der Rolle von Hochschulen. Während
den Regelungen in den Berufsgesetzen konnte            die einen steigende Kosten befürchteten, warnten
man sich nicht auf einen großen Wurf einigen.          andere vor einer nicht auskömmlichen finanziellen
Therapeut*innen müssen weiterhin ihre                  Ausstattung der Ausbildungsträger. Und so blieb
Patient*innen auf der Grundlage einer ärztlichen       nur der Kompromiss, Ende der 2020er Jahre
Verordnung behandeln und die Modellphase               erneut zu bewerten, welcher Ansatz sich am
grundständiger Studiengänge mit anschließender         besten bewährt.
Berufszulassung wurde nicht in ein Regelstudien­
angebot überführt, sondern weiter verlängert.          In den Folgejahren verschärfte sich die Konkurrenz
                                                       zwischen unterschiedlichen Ausbildungsträgern
   er kostengetriebene Wettbewerb erzeugt
  D
                                                       und -standorten: Insbesondere dort, wo eine
  Abwärtsspiralen statt Innovationsimpulse
                                                       Schulgeldfreiheit und eine Ausbildungsvergütung
In den Verhandlungen bildeten sich mehrere Lager:      besteht, sind die Bewerber- und Absolventenzah­
Diejenigen Bundesländer, die seit kurzer Zeit          len durch Zuwanderung von Schulabgänger*innen
trägerunabhängig das Schulgeld refinanzierten,         aus anderen Bundesländern oder Regionen
plädierten für eine allgemeine Schulgeldfreiheit und   gestiegen. Für die Bundesländer mit schlechteren
eine flächendeckende Ausbildungsvergütung.             Ausbildungskonditionen bedeutete diese Abwan­
Andere Länder sprachen sich für die Überführung        derung, dass dort die Bewerberzahlen entspre­
privater und gemeinnütziger Einrichtungen in die       chend sanken. Im Hochschulsektor gab es
(Mit-)Trägerschaft von Krankenhäusern aus, um          ähnliche Effekte: Da manche Bundesländer die
eine Finanzierung im Rahmen des Krankenhausfi­         Anzahl primärqualifizierender Studiengänge zur
nanzierungsgesetzes (KHG) zu ermöglichen.              Steigerung der Akademisierungsquote erhöhten,
Manche Landesregierungen wiederum waren nur            bewarben sich viele Abiturient*innen aus anderen
bereit, mehr Geld in die schulische Ausbildung zu      Bundes­ländern auf die (in der Regel kostenlosen)

                                                                                   Therapieberufe 2030   17
Szenario 1

 Studienplätze. In den Bundesländern, in denen         ihren Betrieb einstellen – etablierte und über Jahre
 weiterhin Schulgeld erhoben wurde, verdrängten        gewachsene Strukturen für die Versorgung mit
 diese neuen Studiengänge so die dualen Studien­       Fachkräften gingen damit verloren. Eigentlich hätte
 gänge. Und so ist nicht nur eine weitere Polarisie­   im letzten Jahrzehnt – insbesondere vor dem
 rung im Bereich der Auszubildendenzahlen,             Hintergrund der demografischen Entwicklung und
 sondern auch eine lokale Verschärfung des             bereits seit langem bestehender Fachkräfteeng­
 Fachkräftemangels insbesondere in den Bundes­         pässe – ein möglichst flächen­deckender Ausbau
 ländern mit wenig attraktiven Ausbildungsbedin­       der Ausbildungsplätze statt­finden müssen. Durch
 gungen erfolgt, denn häufig verbleiben die            die Ballung in Zentren und das „Schulsterben“ im
 Absolvent*innen in einer der Einrichtungen der        Bereich der freien Träger ist stattdessen trotz
 praktischen Ausbildung, in der sie Erfahrung          einiger neuer Schulgründungen an Krankenhäu­
 gesammelt und oft ein Übernahme­angebot               sern faktisch eine Verknappung erfolgt.
 erhalten haben.
                                                       Dies hat wiederum Konsequenzen für die Gesund­
 Um diesem Effekt zu begegnen, starteten die           heitsversorgung, insbesondere auf dem Land. Hier
 von dem „brain drain“ betroffenen Bundesländer        wurde die Versorgung im therapeutischen Bereich
 Abwerbekampagnen und boten Willkommens­               bislang meist durch private Praxen sichergestellt,
 gelder für Absolvent*innen. Das führte bei den        die ihren Nachwuchs über Kontakte zu Berufsfach­
 Bundesländern mit hohen Absolventenzahlen             schulen und deren Schüler*innen, insbesondere im
 zu massiver Kritik. Immerhin hatten sie mit der       Rahmen von Praktika, rekrutiert haben. Diese
 Gewährung kostspieliger Rahmenbedingungen in          Praxen sind, wie auch die Rehabilitationskliniken,
 den Nachwuchs investiert und fürchteten nun,          bei einer Ausbildungsfinanzierung im Rahmen des
 dass sie dauerhaft für andere Bundesländer            KHG als Träger der praktischen Ausbildungsanteile
 mit ausbilden.                                        ausgeschlossen. Somit leiden sie doppelt unter der
                                                       Verlagerung von Schulen an Krankenhäuser und
    ubstanzverlust: viele Ausbildungsträger
   S
                                                       haben mit massiven Nachwuchsproblemen zu
   müssen schließen
                                                       kämpfen. Und so verschärft sich der Fachkräfte­
 Die Unterfinanzierung der Ausbildung und die          mangel gerade in der Fläche noch drastischer, wo
 dadurch auch geringer werdende Nach­frage nach        sich die Folgen des demografischen Wandels –
 Ausbildungsplätzen haben die Trägerstruktur unter     etwa mit Blick auf die Anzahl und Form der
 den Berufsfachschulen vielerorts ausgedünnt.          Behandlungsbedarfe – am deutlichsten manifes­
 Besonders stark betroffen sind private und ge­        tierten. Damit geht einher, dass Fachkräfte
 meinnützige Berufsfachschulen, an denen keine         Patient*innen vor Ort häufig nicht mehr behandeln
 Ausbildungsvergütung möglich ist, da sie nicht in     können, da eine Stellenbesetzung erschwert wird
 (Mit-)Trägerschaft eines Krankenhauses stehen         und somit das Personal für eine angemessene
 und die Kosten somit nicht über die Krankenkas­       Patientenversorgung fehlt. Notleidende Menschen
 sen abrechnen können. Ihre ohnehin schwierige         finden immer seltener zeit- oder ortsnahe Hilfen,
 Situation wurde dadurch verschärft, dass in einigen   wodurch Symptome über einen längeren Zeitraum
 Bundesländern eine systematische Verlagerung          unbehandelt bleiben, was nicht nur das Leiden
 von Ausbildungsstätten an Krankenhäuser stattge­      verschlimmert, sondern auch die Lebensqualität
 funden hat. Die Regierungen einzelner Länder          erheblich beeinflusst.
 nutzten die Möglichkeit einer Finanzierung der
 Berufsfachschulen über das Krankenhausfinanzie­       Diejenigen Berufsfachschulen, die an Krankenhäu­
 rungsgesetz dafür, Rahmenbedingungen für eine         ser angebunden sind, können über ihren Träger
 schulgeldfreie und vergütete Ausbildung zu            hingegen nicht nur eine Ausbildungsvergütung
 schaffen, ohne selbst unmittelbar dafür aufkom­       gewähren, sondern auch auf Schulgeld verzichten
 men zu müssen. Insbesondere in der Fläche             und verzeichnen daher in der Regel genügend
 mussten daher die meisten freien Einrichtungen        Bewerber*innen. Doch die Verlagerung der

 18     Therapieberufe 2030
Szenario 1

Ausbildung an Krankenhäuser erweist sich als
problematisch, denn so werden immer weniger
Schüler*innen dort ausgebildet, wo sie später
auch als Arbeitskräfte gebraucht werden.
Immerhin werden traditionell über zwei Drittel der
Absolvent*innen in den therapeutischen Berufen
nicht in Krankenhäusern angestellt. Für ambulante
Praxen und weitere Einrichtungen im Gesundheits-
und Sozialwesen ergibt sich aus diesem zuneh­
menden Ungleichgewicht ein massiver Nach­
wuchsmangel.

Unter den hochschulischen Ausbildungsangeboten
steigt die Nachfrage nach Studiengängen mit
anschließender Berufszulassung, während das
Interesse an dualen Angeboten mit fachschuli­
schem Abschluss und parallelem akademischen
Abschluss aufgrund des vielerorts noch immer
erhobenen Schulgelds oder im Rahmen des
Schulsterbens auf der Strecke gebliebener Koope­
rationsschulen vor Ort sinkt. Berufsfachschulen
und Hochschulen setzen kaum noch auf Ko­
operation und sehen sich stärker denn je in einer
Konkurrenzsituation um eine sinkende Zahl von
Auszubildenden.

   ie Bewerber*innenzahlen sinken
  D
  und der Fachkräftemangel steigt

Unter Schulabgänger*innen hat die therapeutische
Ausbildung aufgrund der schwierigen Rahmenbe­
dingungen weiter an Attraktivität verloren. Nur die    In den Bundesländern mit den schlechteren
Bundesländer mit hohen staatlichen Zuschüssen          Ausbildungsbedingungen an den Berufsfachschu­
und einem hohen Anteil an Kliniken angegliederter      len blieb vielen Interessent*innen an der Ausbildung
Schulen mit Ausbildungsvergütung verzeichnen           nichts anderes übrig, als ihre Heimatregion zu
ausreichend Bewerber*innen für berufsfachschuli­       verlassen oder ihren Berufswunsch aufzugeben.
sche Ausbildungsgänge, doch anderorts brechen          Denn infolge des verbreiteten „Schulsterbens“ gab
die Zahlen weiter ein. Unter den hochschulischen       es für viele Schulabgänger*innen immer weniger
Angeboten wirken insbesondere die kostenlosen,         Einrichtungen in der Nähe und so wurden die
primärqualifizierenden Studiengänge der staatli­       Wegstrecken zur nächsten Berufsfachschule
chen Hochschulen mit anschließender Berufszu­          immer länger.
lassung lukrativ, da sich so nicht nur ein Schulgeld   Für die bereits praktizierenden Therapeut*innen
vermeiden lässt, sondern ein Studium – im Ver­         bedeutete das Scheitern der Reform, dass sich
gleich zu einer berufsfachschulischen Fachausbil­      weder Berufsbild noch Arbeitsbedingungen
dung – als potentielles Sprungbrett in ein anderes     verbesserten – im Gegenteil, denn je weniger
Tätigkeitsfeld gilt. Die Akademisierung nimmt zwar     junge Arbeitskräfte nachrücken, desto mehr
dadurch zu, aber in einem kompetitiv-substituie­       Patient*innen kommen auf eine Therapeutin bzw.
renden Sinne.                                          einen Therapeuten. Die Folge war vielerorts ein

                                                                                    Therapieberufe 2030   19
Szenario 1

 langsam einsetzender Teufelskreis, der sich               inkende Qualität der Gesundheits­
                                                          S
 allerdings je nach Bundesland unterschiedlich stark      versorgung
 ent­wickelte: Unter Therapeut*innen ist die Zahl von
                                                        Der steigende Fachkräftemangel sorgt nicht nur für
 Krankschreibungen, Burnout-Diagnosen und
                                                        Spannungen zwischen einzelnen Bundesländern,
 Arbeitszeitreduzierungen als direkte Folge der
                                                        sondern beeinträchtigt zunehmend die Gesund­
 hohen Arbeitsbelastung gestiegen, wodurch die
                                                        heitsversorgung – insbesondere in den ländlichen
 Arbeitsbelastung der verbliebenen Therapeut*innen
                                                        Regionen. Die Abwerbungsstrategien einzelner
 noch weiter wuchs. Für berufsbegleitende Weiter­
                                                        Bundesländer führen auch innerhalb der EU zu
 bildungen fehlt immer häufiger die Zeit. Die Strate­
                                                        bilateralen Spannungen. Insbesondere in Polen,
 gie einzelner Bundesländer, durch die Absenkung
                                                        das bereits ähnliche Erfahrungen bei Kranken­
 der Voraussetzungen für die Anerkennung auslän­
                                                        schwestern und Pflegepersonal gesammelt hat,
 discher Berufsabschlüsse und gezielte Werbekam­
                                                        regt sich Protest und Forderungen nach einer
 pagnen den sich verschärfenden Fachkräftemangel
                                                        gesamteuropäischen Ausbildungsstrategie nehmen
 zu kompensieren, entfachte zwar eine gewisse
                                                        zu. Einige Bundesländer fordern hingegen eine
 Wirkung. Doch reichten auch diese Maßnahmen
                                                        bundesweite Senkung der durchschnittlichen
 nicht, um eine flächendeckende Versorgung zu
                                                        Behandlungsdauer von Patient*innen. Das trifft auf
 gewährleisten. Denn zum einen gehörte diese
                                                        massiven Protest der Berufsverbände, die vor einer
 Berufsgruppe bereits zu den mobilsten Arbeitskräf­
                                                        weiteren Verschlechterung der Behandlung von
 ten in Europa und der Anteil der in Deutschland
                                                        Patient*innen, weiterer Arbeitsverdichtung und
 beschäftigten Therapeut*innen mit ausländischen
                                                        Stress sowie – daraus folgend – einer noch
 Berufsabschlüssen war bereits sehr hoch und die
                                                        stärkeren Abwanderung vieler Therapeut*innen in
 „Reserve“ nicht mehr groß. Zum anderen ver­
                                                        andere Berufe warnen.
 schärfte sich auch in den Herkunftsländern bereits
 seit Jahren der Fachkräftemangel bei gleichzeitig      Der Fachkräftemangel manifestiert sich vielerorts
 steigenden Löhnen, wodurch die Anzahl wande­           in langen Wartezeiten und ist besonders im
 rungsbereiter Fachkräfte weiter sank.                  ländlichen Raum spürbar. Doch auch die Qualität
                                                        der Ausbildung und somit die Kompetenz neu
 Die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in
                                                        ausgebildeter Therapeut*innen leidet immer mehr
 den Gesundheitsfachberufen wirken sich auch auf
                                                        unter diesen Bedingungen. Der Sparzwang hat
 die praktische Ausbildung aus, denn unter diesen
                                                        viele Berufsfachschulen veranlasst, zu wenig in die
 Umständen ist eine umfassende Praxisanleitung
                                                        Ausstattung zu investieren. In der praktischen
 kaum möglich. Immer häufiger kommt es sogar
                                                        Ausbildung werden die Auszubildenden häufig
 dazu, dass Praktikant*innen beauftragt werden,
                                                        als vollumfäng­liche Arbeitskräfte eingesetzt, und
 Patient*innen trotz mangelnder Erfahrung und
                                                        das ohne systematische Praxisanleitung. Und
 ohne Aufsicht zu behandeln.
                                                        unter den berufstätigen Therapeut*innen ist die
 Die Berufsverbände protestieren gemeinsam mit          Motivation für Weiterqualifizierungen stark zurück­
 ver.di gegen die Verschlechterung der Ausbil­          gegangen.
 dungsbedingungen. Doch fällt es schwer, eine
                                                        Die therapeutischen Behandlungskapazitäten sind
 Berufsgruppe zu mobilisieren, die durch tiefgreifen­
                                                        im Jahr 2030 noch weiter geschrumpft. In unmit­
 de Unterschiede in den Interessenlagen gekenn­
                                                        telbarer Nähe eine kompetente Behandlung zu
 zeichnet ist. Denn der zunehmende Wildwuchs
                                                        finden, ist allenfalls in einigen Großstädten möglich,
 und die zum Teil gegenläufigen Entwicklungen im
                                                        oft sind die Wartezeiten für einen Termin auch hier
 Ausbildungssektor führten dazu, dass Auszubil­
                                                        kaum noch vermittelbar. Selbstzahler*innen und
 dende und Therapeut*innen in unterschiedlichem
                                                        privat Versicherte sind dabei klar im Vorteil. Ge­
 Maße betroffen sind.
                                                        setzlich Versicherte stellen sich immer häufiger die

 20     Therapieberufe 2030
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