Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland - Vorschlag einer Differenzierung
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Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland Vorschlag einer Differenzierung Impressum © Januar 2022 Bertelsmann Stiftung Carl-Bertelsmann-Straße 256 33311 Gütersloh www.bertelsmann-stiftung.de Verantwortlich Armando García Schmidt Autor:innen Alexandra David, Judith Terstriep, Kristina Stoewe, Alexander Ruthemeier, Maria Elo, Armando García Schmidt Empfohlene Zitierweise David, A., Terstriep, J., Stoewe, K., Ruthemeier, A., Elo, M., & Garcia Schmidt, A. (2022). Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland. Bertelsmann Stiftung. https://doi.org/10.11586/2022002 Titelbild: © BalanceFormCreative - stock.adobe.com
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort – Was uns motiviert .......................................................................... 5 2 Perspektiven auf die unternehmerische Tätigkeit von Migrant:innen in Deutschland ................................................................................................ 7 2.1 Die lange übersehenen Gründer:innen ...................................................................................... 7 2.2 Steigende Relevanz, aber fehlendes Vokabular ........................................................................ 7 2.3 Vom Dönerbuden-Narrativ zum innovativen Hightech-Unternehmen ........................................ 8 2.3.1 Die Generation der Gastarbeiter:innen ....................................................................... 8 2.3.2 Die Generation der Spätaussiedler:innen ................................................................... 9 2.3.3 Generationen von Fluchtmigrant:innen und die EU-Osterweiterung........................... 9 2.3.4 Beharrlichkeit tradierter Narrative rund um migrantisches Unternehmer:innentum ............................................................................................. 10 2.3.5 Migrantische Unternehmen als Teil des Lokalen ...................................................... 11 2.4 Merkmale der unternehmerischen Tätigkeit von Migrant:innen in Deutschland ....................... 11 3 From Ethnic to (Im)Migrant to Refugee Entrepreneurship – Eine europäische Annäherung ............................................................................. 13 3.1 USA – Wiege der „Ethnic Entrepreneurship“-Forschung ......................................................... 13 3.2 Vereinigtes Königreich – eine europäische Annäherung von der Insel .................................... 14 3.3 Migrantisches Unternehmer:innentum auf dem europäischen Festland .................................. 14 3.4 Evolution der Forschung zu (im)migrationsbezogenem Unternehmer:innentum ..................... 15 3.4.1 Ethnisches Unternehmer:innentum ........................................................................... 15 3.4.2 (Im)Migrantisches Unternehmer:innentum ................................................................ 16 3.4.3 Refugee Entrepreneurship ........................................................................................ 17 3.5 Zwischenfazit ............................................................................................................................ 18 4 Eine Definition, viele Gesichter – zur begrifflichen Vielfalt ....................... 19 4.1 Merkmale des migrationsbezogenen Unternehmer:innentums ................................................ 19 4.1.1 Branchenzugehörigkeit ............................................................................................. 19 4.1.2 Transnationalität........................................................................................................ 20 4.1.3 Entwicklungsstadium: Vom Start-up zum etablierten Unternehmen ......................... 21 4.1.4 Diaspora/Enklave ...................................................................................................... 21 4.1.5 Generationen ............................................................................................................ 21 4.1.6 Geschlecht ................................................................................................................ 22 4.1.7 Zuwanderungsmotive ................................................................................................ 23 4.1.8 Qualifikation und Bildung .......................................................................................... 23 4.1.9 Ressourcenausstattung ............................................................................................ 24 4.2 Synthese der Begriffsdefinitionen ............................................................................................. 25 5 Zusammenfassung und Implikationen ........................................................ 27 5.1 Facetten migrationsbezogenen Unternehmer:innentums in Deutschland................................ 27 5.2 Implikationen für Politik und Praxis .......................................................................................... 28 5.2.1 Migrantisches Unternehmer:innentum als Wirtschaftsfaktor begreifen ..................... 28 5.2.2 Rollenmodelle sichtbarer machen ............................................................................. 28 5.2.3 Vorsicht im Umgang mit Labeln und Verallgemeinerungen ...................................... 29 5.2.4 Unternehmer:innentum zielgruppengerecht denken und fördern.............................. 29
Seite 4 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland 5.2.5 Migrantisches Unternehmer:innentum proaktiv denken und angehen ...................... 29 5.2.6 Explizite Förderung der Gründungsbestrebungen internationaler Studierender.............................................................................................................. 29 5.2.7 Nachhaltige Finanzierungsstrukturen für Forschung etablieren................................ 30 5.3 Implikationen für die Wissenschaft ........................................................................................... 30 5.3.1 Transdisziplinäre Zugänge nutzen ............................................................................ 30 5.3.2 Bewusstsein für die Vielschichtigkeit migrantischen Unternehmer:innentums etablieren .................................................................................................................. 30 5.3.3 Vertiefende Erforschung des Selbstverständnisses migrantischer Unternehmer:innen ................................................................................................... 30 5.3.4 Neukonfiguration des Ökosystems ........................................................................... 31 Referenzen ............................................................................................................. 32 Über die Autor:innen ............................................................................................ 37
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 5 1 Vorwort – Was uns motiviert Unternehmer:innentum hier bisher noch in einer klei- nen Wissenschaftscommunity stattfindet, die im Austausch mit den wenigen deutschlandweit zu fin- Migrantisches Unternehmer:innentum hat als Gegen- stand wissenschaftlicher Forschung Konjunktur in denden Intermediären bzw. Deutschland. Immer mehr wissenschaftliche Publika- Unterstützungseinrichtungen steht. Diese Commu- nity — so der Eindruck der Autor:innen — wächst tionen und Fachkongresse u.a. aus dem Bereich der Sozial-, Raum- und Wirtschaftswissenschaften wid- derzeit und widmet sich neben prozessualen Erschei- men sich der Frage nach Ausmaß, Ursachen und nungsformen vermehrt neuen Aspekten und Merkmalen der unternehmerischen Tätigkeit von Wirkung von Gründungstätigkeit und Selbständigkeit von Zuwander:innen. Auch die mediale Aufmerksam- Migrant:innen in Deutschland. keit für das Thema hat durch die zunehmende Zahl Dabei verwundert es, dass obwohl in der deutsch- wissenschaftlicher Publikationen, Fachkongresse, sprachigen Forschung vielfach aufgezeigt, die Themenkreise und Konferenzen Fahrt aufgenom- unternehmerischen Aktivitäten von Migrant:innen men. vielfältig sind, die öffentlichen Debatte häufig weiter- hin vom Narrativ der Gastarbeiter:innen dominiert Es scheint realisiert worden zu sein, dass Zugewan- wird und sich nicht oder kaum weiterzuentwickeln derte und ihre Nachkommen nicht nur als scheint. Schnell und einfach zu skizzierende Bilder Beschäftigte, sondern ebenso als Unternehmer:in- nen aktiv sind und als solche nicht nur eine eines scheinbar randständigen Phänomens und von einer eher prekären Art von Selbständigkeit, vor al- wirtschaftliche Größe darstellen, sondern in zuneh- mendem Maße auf den gesamtgesellschaftlichen lem aber einer, die „ethnisch“ gefärbt ist, werden so immer wieder in Umlauf gebracht: es sind Bilder von Integrationsprozess und auch auf ihre lokalen und re- türkisch geführten Dönerbuden, italienischen Pizze- gionalen Umfelder einwirken. rien oder osteuropäischen Handwerkern. Die Aufmerksamkeit für das Thema bleibt jedoch Erst in jüngerer Zeit setzt sich ein zweites Narrativ nicht bei Forschung und Medien stehen. Auch Politik und Wirtschaftsverbände schenken dem Thema zu- daneben. Ein Ehepaar steht paradigmatisch dafür: Im Jahr 2020 traten die BioNtech-Gründer:innen Uğur sehends Aufmerksamkeit. Auf Landesebene haben etwa der Berliner Senat und die nordrhein-westfäli- Şahin und Özlem Türeci als treibende Kräfte eines sche Landesregierung ressortübergreifende innovativen Biotechunternehmens ins Scheinwerfer- licht. Vielfach wurde in der medialen Programme zur Unterstützung migrantischer Unter- Berichterstattung dabei explizit auf den Migrations- nehmer:innen aufgelegt. Die Bundesregierung hat in hintergrund des Paares verwiesen. Und auch der zurückliegenden Legislaturperiode Forschungs- vorhaben initiiert und ebenfalls ressortübergreifend wissenschaftlich wird die Innovationskraft zugewan- Initiativen zur Förderung internationaler Gründer:in- derter Gründer:innen verstärkt ins Blickfeld nen angestoßen. Und auch auf kommunaler Ebene genommen. 2021 veröffentlichten der Bundesver- sind vielfältige Aktivitäten zu beobachten. band Deutsche Startups e.V. und die Friedrich- Naumann-Stiftung erstmalig den „Migrant Founders In klassischen Einwanderungsländern wie dem Ver- Monitor“, der die Rolle von Gründer:innen mit Migra- einigten Königreich und den USA ist schon lange tionshintergrund im deutschen Startup-Ökosystem bekannt, dass Unternehmer:innen mit Zuwande- hervorhebt (Hirschfeld et al., 2021). rungsgeschichte einen besonderen Beitrag zu In anderen Worten: Migrantisches Unternehmer:in- wirtschaftlicher Dynamik und gesellschaftlichem Zu- sammenleben leisten (können). Entsprechend viel nentum findet im öffentlichen Diskurs in Deutschland wurde bereits zu dem Thema geforscht und entspre- aktuell vor allem zwischen zwei polarisierenden Ext- chend groß sind in beiden Ländern auch die remen statt, dem „Dönerbuden-Narrativ“ auf der einen Seite und den „innovativen Hightech-Unterneh- wissenschaftlichen Communities, die sich mit dem Thema befassen. men“ auf der anderen. Weiterhin – und trotz quantitativer Zunahme an For- Nicht so in Deutschland. Ein detaillierter Blick in die schung zu dem Thema – wird sich in der deutschsprachige Fachwelt zeigt, dass die For- schung zum Thema migrantisches deutschsprachigen Wissenschaftscommunity vor al- lem der Literatur aus dem Ausland bedient. Hierbei
Seite 6 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland sind es primär die Niederlande, das Vereinigte König- Als Autor:innen-Team bewegt uns vor allem eine reich und die USA, die als Vorreiter der „Migrant Frage: Wie wollen wir künftig das Phänomen der un- Entrepreneurship“-Forschung gelten. Oftmals sind ternehmerischen Tätigkeit von Migrant:innen denken die Publikationen kontextspezifisch und nur begrenzt und wie wollen wir darüber sprechen? auf Deutschland übertragbar. Diese Punkte werfen mehrere Fragen auf: Bilden die verwendeten Darstellungen und Narrative der mig- rant:innengeführten Unternehmen in Deutschland die Realität ab? Wollen wir als Gesellschaft auf dem Le- vel des Dönerbuden-Narratives verharren? Oder ist die vielfältige unternehmerische Tätigkeit von Mig- rant:innen nicht doch einer genaueren Analyse wert – alleine schon deswegen, weil sie nicht nur individu- elle (Aufstiegs-) Chancen birgt, sondern auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Mehrwerte? Und: ist das Labelling dieser Gruppe von Unterneh- mer:innen zielführend? Die Problematik hinter jeglichem Labeln von Gruppen besteht schließlich darin, dass die gleichen Bilder und die damit zusam- menhängenden sozioökonomischen Verhältnisse dieser Personengruppen reproduziert werden (Hög- berg et al., 2014). Die Gefahr, dieses Label nicht mehr ablegen zu können und mehr dem „migranti- schen“ als dem „Unternehmer:innentum“ zugeschrieben zu werden, ist groß. Vor diesem Hintergrund versteht sich dieser Beitrag als Anstoß und Grundlage für eine Diskussion der de- finitorischen Einordnung migrantischer Unternehmer:innen in Deutschland. Diese Diskus- sion kann nur vor dem Hintergrund einer differenzierten Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation migrantischer Unternehmer:innen in Deutschland geführt werden. Auch dies bietet der vorliegende Text, der im Kapitel 1 Perspektiven auf die unternehmerische Tätigkeit von Migrant:innen in Deutschland aufzeigt und existierende Narrative dis- kutiert. Mit einem historischen Rückblick anfangend, verweist Kapitel 2 auf die Evolution der Forschung zu (im)migrationsbezogenem Unternehmer:innentum und stellt die gängige Terminologie vor. Eine merk- malsbezogene Definition des Phänomens migrantischer Unternehmen in Deutschland bietet Kapitel 3. Das abschließenden Kapitel 4 bietet eine Klassifizierung migrantischer Unternehmen anhand unternehmensspezifischer Merkmale. Es folgen Im- plikationen für Politik, Praxis und die Wissenschaft.
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 7 2 Perspektiven auf die unter- (Kohlisch & Koppel, 2021; Schäfer, 2021; David et al., 2019a). nehmerische Tätigkeit von Migrant:innen in Deutschland 2.2 Steigende Relevanz, aber fehlen- des Vokabular 2.1 Die lange übersehenen Grün- Nicht zuletzt waren es die Fluchtmigration 2015/2016 der:innen und neue Phänomene der Globalisierung wie „Entre- preneurial Migrants“, die nur zwecks Es gibt viele Hürden, die alle zu nehmen haben, die Gründungsvorhaben nach Deutschland kommen, sich selbständig machen wollen. Diese sind für Zuge- welche dem Thema der unternehmerischen Tätigkei- wanderte jedoch oft schwerer zu nehmen als für ten von Migrant:innen verhalfen, politisch Herkunftsdeutsche: Behördengängen, Business- wahrgenommen zu werden (Ruthemeier, 2021; Da- pläne, Zugang zu Kapital und vielfache bürokratische vid & Coenen, 2017). So konnte sich die Auflagen. Darüber hinaus blendeten Politik und Ver- unternehmerische Tätigkeit von Migrant:innen in waltung das Thema in Deutschland lange aus. In Deutschland erst in der letzten Dekade als politisch einer politischen und administrativen Kultur, die und gesellschaftlich wahrgenommenes Phänomen grundsätzlich als nicht sonderlich gründungsfreund- etablieren. lich zu bezeichnen ist, lag das Gründen durch Zugewanderte abseits vom Fokus. Politik und Ver- Was auf den ersten Blick erfreulich ist, birgt die Ge- waltung setzten integrationspolitisch lange Zeit fahr, dass sowohl politisch Agierende als auch lokale ausschließlich darauf, den Zugang von Migrant:innen Stakeholder:innen, die nun migrantische Unterneh- in den regulären Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu men als Wirtschafts-, Innovations- und organisieren (Knuth, 2016; David & Coenen, 2017; Integrationsfaktor schätzen gelernt haben, sich von Knuth, 2019; David et al., 2019a). dem wissenschaftlichen Diskurs entkoppelt in einem Rahmen bewegen, in dem definitorisch die Charakte- Eine Unterstützungsinfrastruktur, die reguläre und ristika „migrantisch“ und „Unternehmer:innentum“ als rechtliche Beratung für gründungswillige Migrant:in- Oberbegriffe für Unternehmer:innen mit sehr unter- nen anbietet, fehlte bis weit in die 2000er Jahre. schiedlichen Merkmalen und Herausforderungen Gründungen von Migrant:innen wurden damit zwar herhalten müssen (s. Abschnitt 3). nicht verhindert, aber lange auch nicht aktiv unter- stützt (David & Coenen, 2017). In der Folge mussten Dass es sowohl generationelle, qualifikatorische, ge- sich migrantische Unternehmer:innen der ersten Ge- schlechtsspezifische, kulturelle, sektorale und/oder neration lange Zeit zunächst ihrer eigenen Netzwerke ethnische Unterschiede in der Gruppe der migranti- bedienen und gründeten meistens in Branchen, de- schen Unternehmer:innen – wie auch bei nicht- ren Eintrittsbarrieren im Vergleich zu migrantischen Unternehmer:innen – gibt, wird dabei wissensintensiven Branchen geringer sind. Eine vo- oft übersehen. So waren und sind etwa die Mig- rausschauende Gründungsunterstützungsinfrastruk- rant:innen der ersten Generation mit völlig tur für diese Zielgruppe, die Hightech- und Zukunfts- anderen Herausforderungen konfrontiert, als dies für branchen umfasst, fehlt bis heute. Dort, wo es sie jene der zweiten Generation, die das deutsche gibt, ist sie vielfach selbstorganisiert (Schäfer, 2021; Bildungssystem durchlaufen haben, der Fall ist David et al., 2019b; David & Coenen, 2019). (Schäfer, 2021; David et al., 2020). Was auf der internationalen Bühne bereits lange Diese Heterogenität (s. Abschnitt 4.1) bleibt im „State of the Art“ ist, nämlich, dass migrantische Un- öffentlichen Diskurs weitgehend unberücksichtigt. ternehmer:innen auch zu erhöhten Patenten und So steht das migrantische Unternehmer:innentum Innovationsfähigkeit eines Landes beitragen, wurde als ein all-umfassendes Label - auch für viele, die in Deutschland erst spät thematisiert. Dabei führen sich selbst gar nicht als „migrantisch“ im engen gerade migrantische Unternehmer:innen in der Grün- Sinne verstehen würden. dungsphase verstärkt regionale Marktneuheiten ein
Seite 8 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland Im Jahr 2017 wurde von der IQ Fachstelle Migranten- 2.3 Vom Dönerbuden-Narrativ zum ökonomie der Versuch unternommen, eine zusammenfassende Definition für diese Art von Un- innovativen Hightech-Unterneh- ternehmen („migrantische Ökonomien“) zu finden. men Hiernach wird „migrantische Ökonomie als die Ge- Um ein Gefühl für die Heterogenität des Phänomens samtheit der von Menschen mit migrantischen Unternehmer:innentums in Deutsch- Migrationshintergrund gegründeten [und] oder ge- land zu bekommen, ist es nötig zunächst einen Blick führten Unternehmen [verstanden]. Dies umfasst auf die Geschichte der Zuwanderung in die Bundes- sowohl die seit mehreren Jahrzehnten in Deutsch- republik zu werfen. land Lebenden (mit oder ohne deutschen Pass), ihre 2.3.1 Die Generation der Gastarbeiter:innen Nachkommen sowie erst kürzlich Zugewanderte – Im Oktober 2021 wurde vielfach an das 60. Jubiläum hierunter fallen Personengruppen aus EU-Ländern, des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesre- Nicht-EU-Ländern und die Neuzugänge der Flücht- publik und der Türkei gedacht. Bereits seit 1955 linge“ (IQ, 2017: 1). bestand ein entsprechendes Abkommen mit Italien. Auf diese Definition setzen bis heute viele For- Bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 kamen 14 Milli- schungsvorhaben, nicht zuletzt auch deshalb, weil onen Menschen aus diesen beiden und weiteren eine der wichtigsten Datenquellen zur Untersuchung vorwiegend südeuropäischen Ländern nach migrantischer Selbständigkeit der Mikrozensus des Deutschland (Trost & Linde, 2016) – die Generation Statistischen Bundesamtes ist. Dieser lässt eine an- der so genannten „Gastarbeiter:innen“. Davon gin- dere Fokussierung als die auf den wie oben gen im Laufe der Jahre elf Millionen Menschen definierten „Migrationshintergrund“ nicht zu. Die zurück in ihre Heimatländer.1 zweite wichtige Datenquelle, die Gewerbeanzeigen- Einige der damaligen so genannten Anwerbeländer statistik, bietet demgegenüber einen wie die Türkei, Marokko und Tunesien werden einem berechtigterweise von den meisten Forcher:innen als anderen als dem „westlichen“ Kulturkreis zugerech- zu eng wahrgenommene Definition. Hier wird aus- net, was zu einer kulturellen Diversifizierung der schließlich auf die Staatsbürgerschaft geschaut, die Bevölkerung in der Bundesrepublik beitrug, aber die Person im Augenblick der Anzeige angegeben auch zu Konflikten, die teilweise in strukturellen Ghet- hat (Kay & Nielen, 2020; Sachs, 2020). toisierungen in westdeutschen Großstädten Die Definition der IQ Fachstelle Migrantenökonomie mündeten. Mit dem Anwerbestopp zwischen 1970 ist stimmig. Der Fokus auf die Gesamtheit aller Per- und 1974 wurden für die in Deutschland verbliebenen sonen „mit Migrationshintergrund“ verwehrt jedoch so genannten Gastarbeiter:innen, Möglichkeiten des den genaueren Blick auf die Heterogenität dieser Familiennachzugs vereinfacht (Berlinghoff, 2018). Gruppe und auf spezifische Charakteristika. Vor die- Die Wirtschaftskrise Ende der 1970er und Anfang der sem Hintergrund plädiert dieser Beitrag für eine 1980er Jahre ließ vielen Migrant:innen keine andere differenzierte Betrachtung der unternehmerischen Möglichkeit als die Selbstständigkeit, um am Arbeits- Tätigkeit von Migrant:innen in Deutschland. Ziel ist markt zu partizipieren (Yildiz, 2017; Wilpert, 2000). es, zu einem gemeinsamen und zugleich facettenrei- Die heute vielfach sichtbaren Dönerbuden, italieni- chen Verständnis dieses Unternehmer:innentums in schen Restaurants, griechischen und jugoslawischen Deutschland beizutragen. Imbisse – bleibt man nur im Bereich der Gastronomie und vernachlässigt erst einmal weitere Branchen – haben durch den Schritt vieler „Gastarbeiter:innen“ in die Selbständigkeit die Stadtbilder und die lokalen Ökonomien westdeutscher Städte verändert. 1 Dieser knappe historische Abriss über die wesentlichen Zuwan- Diese Zuwanderung blieb jedoch zahlenmäßig und in ihren gesell- derungswellen und -gruppen bezieht sich für die Zeit vor 1990 schaftlichen Auswirkungen weit hinter der Zuwanderung in die ausschließlich auf die Bundesrepublik. Auch in die DDR gab es Bundesrepublik zurück, was sich bis heute in der stark voneinan- Zuwanderung, u.a. im Rahmen von Abkommen mit anderen kom- der abweichenden Verteilung der Bevölkerung mit munistischen Staaten wie Polen, Kuba, Algerien oder Vietnam. Migrationshintergrund zwischen West- und Ostdeutschland nie- derschlägt.
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 9 Bis heute prägt die Generation der so genannten 2.3.3 Generationen von Fluchtmigrant:innen „Gastarbeiter:innen“ hiermit das Bild und und die EU-Osterweiterung Narrativ der unternehmerischen Tätigkeit von Seit Beginn der 1990er Jahre erlebte Deutschland in- Migrant:innen in Deutschland. folge der jugoslawischen Zerfallskriege einen ersten in der öffentlichen Wahrnehmung spürbaren Zuzug Was einst aus der Not entstand, wurde schnell zu ei- von Geflüchteten. Aufgrund der damals rigiden Auf- nem Merkmal von Großstädten wie Berlin (Hillmann enthaltsbestimmungen für Geflüchtete, war eine & Sommer, 2011) oder als „Melting Pot“ charakteri- Integration in den Arbeitsmarkt oder unternehmeri- sierter Regionen wie dem Ruhrgebiet in Nordrhein- sche Tätigkeit aus dieser Gruppe heraus nicht Westfalen (David et al., 2019a). Heute sind die ein- denkbar. geführten Speisen – teilweise weiterentwickelt – nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der kulinarischen Mit der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 verstärkte Alltagskultur Deutschlands. Zudem stellte die Gastro- sich die EU-Binnenmigration. Wobei die letzten Be- nomie Anfang der 1980er Jahre ein lukratives schränkungen für die freie Wahl des Arbeitsplatzes Geschäft dar, das sich für viele „Gastarbeiter:innen“ für Arbeitnehmer:innen aus den mittel- und osteuro- und auch ihre Nachkommen besser auszahlte als päischen Beitrittsstaaten von der deutschen beispielsweise die Arbeit unter Tage. Regierung erst 2011 aufgehoben wurden. Seitdem hat das Phänomen soloselbständiger Osteuro- 2.3.2 Die Generation der Spätaussiedler:innen päer:innen im Bereich der Pflege und des Handwerks Die prägnanteste darauf folgende Zuwanderungs- zugenommen. Bis 2011 war die Selbständigkeit in gruppe war die der so genannten Handwerken, die keine Meisterpflicht haben, vielfach Spätaussiedler:innen. Schon seit Ende des Krieges der einzige legale Weg in den deutschen Arbeits- zogen immer wieder Gruppen von Deutschen oder markt für Staatsbürger:innen der damaligen Nachfahren von Deutschen aus Mittel- und Osteu- Beitrittsstaaten (Leicht et al., 2017; David et al., ropa in die Bundesrepublik. Verstärkt zogen 2019a; Kay & Nielen, 2020). Spätaussieder:innen ab Anfang der 1980er Jahren zunächst aus Polen und Rumänien, seit dem Fall der Mit dem „langen Sommer der Migration“ begann eine Mauer v. a. aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion in neue Phase in der Zuwanderungsgeschichte in die die Bundesrepublik. Von rund 3,5 Millionen Men- Bundesrepublik. In den Jahren 2015 und 2016 kamen schen geht das Bundesverwaltungsamt für die Zeit Geflüchtete vor allem aus den Kriegsgebieten Syri- von 1980 bis 2009 aus. Formal unterschied diese ens aber auch aus Ländern wie dem Irak und Gruppe von allen anderen Zuwander:innen, dass sie Afghanistan als Schutzsuchende nach Deutschland sofort als Deutsche galten. Dennoch machten auch (David & Terstriep, 2020; Oltmer, 2016; Knuth, 2016; sie vielfach die Erfahrung zunächst am Rand der Ge- David et al. 2019b). sellschaft zu stehen, wurden sie doch von der Mehrheitsbevölkerung zunächst als osteuropäische Anders als in den 1990er Jahren war die Politik Zuwander:innen angesehen. schnell offen, den Weg auch für Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu öffnen. Viele kamen gut gebildet und Obwohl diese Gruppe zunächst weniger mit Selb- mit jahrelanger beruflicher Erfahrung nach Deutsch- ständigkeit in Verbindung gebracht wurde, haben sie land. Zudem fiel der Zuzug der Geflüchteten zeitlich dennoch das ethnische Unternehmer:innentum (s. zusammen mit einer intensiven öffentlichen Debatte Abschnitt 3.4.1) in Deutschland mitgeprägt. Dieses über den immer offensichtlicher werdenden Fach- hat als Charakteristikum die Fokussierung des Ge- kräftemangel. Mit dem neuen Integrationsgesetz von schäftsmodells auf Dienstleistungen und/oder Waren Juli 2016 dürfen auch Asylbewerber:innen nach drei für eine bestimmte ethnische Gruppe wie z. B. Ein- Monaten in Deutschland arbeiten. Jedoch müssen zelhandelsläden mit polnischem oder russischem durch die Vorrangprüfung noch fünfzehn Monate lang Sortiment, die sich gezielt an eine Klientel richten, die Bewerber:innen aus Deutschland und der EU bei der aus diesen Ländern stammt. Vielfach haben Spät- Arbeitsplatzvergabe bevorzugt werden. Ausnahmen aussiedler:innen solche Nischen besetzt (David et al., hiervon gibt es für Regionen mit geringer Arbeitslo- 2019a). sigkeit. In diesem Zuge hat auch das Thema „Refugee Ent- repreneurship“ (Heilbrunn et al., 2019; David &
Seite 10 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland Coenen, 2017) Einzug in die politische Agenda ge- und Gastgewerbe machen nur noch rund 25 Prozent halten und wird inzwischen als ein Weg der aus, ein Rückgang um 13 Prozent im Vergleich zu Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten betrachtet 2005. Knapp 198.000 Unternehmer:innen und damit (David, 2019). Ähnlich wie die Gastarbeiter:innen 18.000 weniger als 2005 arbeiteten 2018 In Handel gründen Geflüchtete zum Teil aus der Not heraus und Gastgewerbe. In allen anderen Branchen – mit mangels geeigneter Alternativen auf dem Arbeits- Ausnahme der Landwirtschaft – gab es 2018 mehr markt, zum Teil aber, weil sie bereits im Heimatland Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund als selbständig tätig waren (Stichwort: Re-starter) oder 2005 (Sachs, 2020). den bürokratischen und eher langsamen Weg der Ar- Und dennoch: das Dönerbuden-Narrativ bleibt erhal- beitsmarktintegration umgehen wollen (Stoewe, im ten. Dieses Narrativ, gestützt durch vielfältige Erscheinen). Literatur im Themenfeld der lokalen Ökonomie und In den vergangenen Jahren wurden für Geflüchtete migrantischer Selbständigkeit, erzählt fortwährend vermehrt zielgruppenspezifische Maßnahmen wie die Geschichte von Migrant:innen und ihrer durch Mentoring-Programme oder Gründungszentren sei- Notgründungen geprägten unternehmerischen Tätig- tens der EU als auch einzelner Mitgliedsstaaten keiten (David et al., 2019c). umgesetzt, um den Gründer:innenanteil unter Ge- Die bisherigen Definitionen zur unternehmerischen flüchteten zu erhöhen. Dies wurde u. a. durch das Tätigkeit von Migrant:innen und ihren Nachkommen steigende politische Interesse an migrantischen Un- negieren vor allem die Gründungsaktivitäten in wis- ternehmen allgemein vorangetrieben. sens- und technologieintensiven Branchen und 2.3.4 Beharrlichkeit tradierter Narrative rund implizieren, dass es sich bei migrantisch geführten um migrantisches Unternehmer:innen- Unternehmen vorrangig um Notgründungen handelt. tum Dass dies eben nicht zwingend der Fall ist, zeigen die Migrantisches Unternehmer:innentum hat das Po- Studien von Metzger (2016), Leicht et al. (2017) und tenzial, ein Zukunftsthema zu werden. Im Jahr 2020 Sachs (2020), die darauf verweisen, dass die meisten lebten laut Statistischem Bundesamt fast 22 Millionen Migrant:innen Chancengründer:innen sind, also Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, gründen, weil sie wollen und nicht, weil sie müssen 11,4 Millionen davon mit einer ausländischen Staats- (David et al., 2019c). bürgerschaft. Im Jahr 2014 haben sich in In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse des Deutschland insgesamt 915.000 Personen selbstän- Global Entrepreneurship Monitors 2020, die zeigen, dig gemacht, darunter rund 179.000 Personen mit dass das Ziel mit dem neugegründeten Unternehmen Migrationshintergrund (Metzger, 2016), die unter „die Welt verändern zu wollen“ mit 66,3 Prozent der dem Label „migrantische Ökonomien/migrantische Nennungen deutlich häufiger im Vordergrund steht Unternehmer:innen“ subsumiert werden können (Da- als bei einheimischen Bevölkerungsgruppen mit 42,0 vid et al., 2019a). Prozent (Sternberg et al., 2021). Ebenso hat die Er- Menschen mit Migrationshintergrund gründen in zu- kenntnis, dass Unternehmer:innentum als eine Form nehmendem Maße in Deutschland. Sie machen sich der Arbeitsmarktintegration verschiedener Gruppen in einer Vielzahl von Sektoren selbstständig und be- von Migrant:innen der ersten Generation betrachtet treiben Unternehmen verschiedener Größen und werden kann, erst jüngst Einzug in die politische variierender Geschäftsmodelle. Sie leisten einen Agenda gehalten (Stoewe, im Erscheinen; Ruthe- wichtigen Beitrag zur Beschäftigungsdynamik in meier, im Erscheinen; David, 2019; David & Coenen, Deutschland: Die Zahl, der in von Personen mit Mig- 2017). rationshintergrund geführten Unternehmen Aus räumlicher Perspektive und mit Hinblick auf die Beschäftigen wuchs zwischen 2005 und 2018 um 50 Rolle transnationaler migrantischer Unternehmen Prozent auf rund 1,5 Millionen Menschen. Schnell rückt gegenwärtig außerdem das lokale Ökosystem und massiv verändert sich das Profil der Unterneh- verstärkt in den wissenschaftlichen Fokus (David et mer:innen mit Migrationshintergrund: Mehr als die al., 2021; Schäfer, 2021; Ruthemeier, 2021; Harima Hälfte der Selbstständigen mit Zuwanderungsge- & Baron, 2020). schichte ist heute im Dienstleistungsbereich außerhalb von Handel und Gastronomie tätig. Handel
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 11 2.3.5 Migrantische Unternehmen als Teil des Diesbezüglich stellen Leicht et al. (2017) fest, dass Lokalen die nicht-migrantische Bevölkerung eine niedrigere Weitgehend unbestritten ist, dass die Stadt- und Gründungsneigung aufweist als Menschen mit aus- Quartiersentwicklung von Migrant:innen als lokale ländischen Wurzeln. Es sind somit Personen mit Unternehmer:innen gerade in kleinen und mittelgro- ausländischen Wurzeln, die eher den Schritt in die ßen Städten profitieren (Räuchle et al., 2017; Selbständigkeit wagen. Röhrlich, 2016; Nuissl & Schmiz, 2015; Oberste & Rund 46,5 Prozent aller Selbständigen mit Migrati- Ehrich, 2015; Hillmann, 2011; Hillmann & Sommer, onshintergrund kommen aus den EU-28 Ländern. 2011). Dort, wo deutschstämmige „Tante-Emma-Lä- Darunter nehmen polnische Zuwanderer:innen mit 14 den“ aus diversen Gründen schließen, leisten Prozent die Spitzenposition ein. Ihr Anteil an der Un- Migrant:innen als Unternehmer:innen einen wichti- ternehmer:innenschaft in Deutschland hat sich gen Beitrag zur Aufrechterhaltung der zwischen 2005 und 2016 verdoppelt. Es folgen mit Grundversorgung (David et al., 2019a). Zugleich ver- Anteilen von 12 Prozent, 6 Prozent und 3 Prozent ändern sie im Falle einer Clusterung ganze Türk:innen, Italiener:innen und Griech:innen (Leicht Stadtbilder. Das Brautmodencluster in Duisburg et al., 2017; IQ Netzwerk Migrantenökonomie; eigene Marxloh, das Dong-Xuan-Center in Berlin Lichten- Berechnung auf der Basis von Mikrozensus 2005, berg oder das japanische Viertel in Düsseldorf („Little 2019). Obwohl in der Öffentlichkeit vielfach nicht im Tokyo am Rhein“) veranschaulichen diese Dynamik engeren Sinne als migrantische Unternehmer:innen exemplarisch. wahrgenommen, kamen Französ:innen, Niederlän- der:innen, Brit:innen, Österreicher:innen und Schweizer:innen 2016 insgesamt auf 71.000 Selb- 2.4 Merkmale der unternehmeri- ständige in Deutschland. schen Tätigkeit von Nach Berechnungen des IQ Netzwerk Migrantenöko- Migrant:innen in Deutschland nomie ist die Zahl migrantischer Selbständiger im Zeitraum 2005 bis 2019 von 532.000 auf insgesamt Deutschland machte selten wegen eines erhöhten 860.000 gestiegen. Prozentual ergibt dies einen Zu- Gründungsgeschehens Schlagzeilen. Eher ist es als wachs von 61,7 Prozent binnen 19 Jahren. Dieses das Land von Risikoabwägung bekannt. So weisen Wachstum spiegelt sich auch in der Verteilung selb- etwa Kriegesmann et al. (2015) darauf hin, dass in ständiger Personen mit Migrationshintergrund nach Deutschland kulturelle und arbeitsmarktspezifische Geschlecht wider. Für den gleichen Zeitraum hat das Pfadabhängigkeiten in bestimmten Regionen nach IQ Netzwerk Migrantenökonomie (ebd.) einen An- wie vor eine zurückhaltende Einstellung zum Grün- stieg an männlichen Selbständigen von 370.000 auf den stützen. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland 574.000 berechnet (8,3 Prozent) und bei Frauen 8,5 regelmäßig hinter vergleichbaren Industriestaaten Prozent. Den Ergebnissen des jüngsten Global Ent- und auch direkten Nachbarstaaten wie Frankreich, repreneurship Monitor (Sternberg et al., 2021) Belgien oder den Niederlanden zurück, was das folgend, weisen Migrant:innnen im Vergleich zur ein- Gründungsverhalten angeht. heimischen Bevölkerung in Deutschland 2019 mit In den Jahren vor der COVID 19-Pandemie2 schie- 11,8 Prozent gegenüber 7,4 Prozent eine deutlich hö- nen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Menschen here TEA-Quote3 auf. mit Migrationshintergrund in Deutschland besonders Metzger (2016) charakterisiert die Gruppe migranti- gründungsaktiv zu sein (Sachs, 2020; Leifels & Metz- scher Unternehmer:innen als im Durchschnitt jünger ger, 2019; Leicht et al., 2017; Metzger, 2016). 2 3 Obwohl der KfW-Gründungsmonitor (Metzger, 2019) für das Die Total Early-stage Entrepreneurial Activity (TEA)-Quote weist Jahr 2018 keine Abnahme des Gründungsgeschehens feststellte, den prozentualen Anteil an Menschen in der Bevölkerung zwi- ist die Gründungstätigkeit in Deutschland im Jahr 2020 zurückge- schen 18 und 64 Jahren aus, welche entweder ein:e angehende:r gangen (Metzger, 2021). Ein Grund dafür sind die mit der Unternehmer:in oder Eigentümer:in/Geschäftsführer:in eines pandemischen Lage einhergehenden Beschränkungen in allen neuen Unternehmens sind (https://www.gemconsor- Lebensbereichen, die den selbständigen Voll- und Nebenerwerb tium.org/wiki/1154). gleichermaßen hart trafen (ebd.).
Seite 12 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland bei der Gründung (38,6 Jahre) im Vergleich zu deut- Der Vielfalt des migrantischen Unternehmer:innen- schen Gründer:innen (42,7). Zudem greifen tums wird in der deutschen Forschungslandschaft in Personen mit ausländischen Wurzeln beim Gründen steigendem Maße Rechnung getragen, wie im selten auf öffentliche Finanzquellen zurück, sondern folgenden Abschnitt im Zeitverlauf (Abschnitte 3.1 stattdessen auf familiäre oder eigene Rücklagen bis 3.3) und am Beispiel von drei „Forschungs- (24,4 Prozent im Vergleich zu deutschen Gründer:in- wellen“ (Abschnitt 3.4) dargestellt wird. nen mit 13,1 Prozent, ebd.). Als weitere Merkmale identifiziert Metzger (2016) das häufigere Gründen im Team, den überdurchschnittlichen Beitrag zur Be- schäftigung und die Einführung regionaler Marktneuheiten. Letzteres bestätigen die Studien von David et al. (2019a) und Schäfer (2021), hier im Kon- text von innovativen migrantischen Start-ups. Im Jahr 2016 gründete die Mehrheit der Migrant:in- nen (46,5 Prozent) im Dienstleistungssektor. Davon entfielen 19,2 Prozent auf wissens- oder technologie- intensive Dienstleistungen und 27,3 Prozent auf sonstige Dienstleistungen, einschließlich Körper- pflege. Etwa jede:r vierte Migrant:in (24,4 Prozent) gründete im Handel und 12,5 Prozent im verarbeiten- den Gewerbe, einschließlich Handwerk (Terstriep et al., 2021). Mit einem Anteil von rund 10 Prozent sind Gründungen im Baugewerbe weniger stark ausge- prägt. Diese Zahlen überraschen nicht, da migrantische Gründer:innen zuvor häufiger im Dienstleistungssektor und im Handel abhängig be- schäftigt waren (IAB/ZEW, 2016). Diese Zahlen decken sich auch mit den Ergebnissen von Leicht et al. (2017), die einen höheren Anteil mig- rantischer Gründer:innen in nicht-wissensintensiven Dienstleistungen, im Großhandel und im Bauge- werbe betonen sowie eine Unterrepresentativität dieser Gruppe in wissens- und technologieintensiven Dienstleistungen feststellen. Allerdings beobachten die Autoren:innen eine Zunahme der Gründungsakti- vitäten in den letztgenannten Sektoren sowie im Baugewerbe (ebd.). Überraschend ist, dass eine Un- ternehmensgründung in der Branche des Handels gleichermaßen beliebt bei Migrant:innen mit Hoch- schulabschluss (17,2 Prozent) zu sein scheint und 2016 nur von technologieintensiven Dienstleistungen überholt (18,9 Prozent) wird. Die hier genannten Merkmale und Charakteristika migrantischer etablierter Unternehmen und Gründun- gen dürfen jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Unterneh- mer:innen mit Migrationshintergrund bei weitem nicht um eine homogene Gruppe handelt. Vielmehr zeich- nen sie sich durch eine hohe Heterogenität aus.
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 13 3 From Ethnic to (Im)Migrant to 3.1 USA – Wiege der „Ethnic Entre- Refugee Entrepreneurship – preneurship“-Forschung Eine europäische Annäherung In den USA wird der Einfluss von Einwanderer:innen auf die Wirtschaft in Form unternehmerischer Aktivi- Europa zählt spätestens seit dem zweiten Weltkrieg täten aufgrund der frühen (Massen-)Migration als attraktive Einwanderungsregion. Baycan-Levent zwischen 1815 und 1914 als natürlich angesehen und Nijkamp (2007) identifizieren seit dem Ende des (Wadhwani, 2016). Ein weiterer Faktor, der das Zweiten Weltkriegs vier Phasen der Migration in Mit- Thema migrantisches Unternehmer:innentum in den teleuropa: (1) Nachkriegsanpassung, (2) USA begünstigt, ist der US-amerikanische Blick auf Massenflüchtlingsströme und Dekolonisierung, (3) das Unternehmer:innentum als Baustein des „Ameri- Arbeitsmigration und zurückhaltende Migration sowie can Dream“, welcher allen amerikanischen (4) Fluchtmigration, Asylsuchende und illegale Ein- Bürger:innen Chancengleichheit mit Blick auf eine wanderung. Im Gegensatz zu den USA verstehen Selbständigkeit bzw. das Unternehmer:innentum bie- sich die meisten europäischen Staaten nicht als Ein- tet. Damit zusammenhängend spielt das liberale wanderungsländer. Dies galt auch lange für Staatsverständnis mit den geringeren regulativen Deutschland. Unbestritten ist aber, dass die west- Hürden für Gründungswillige eine große Rolle bei der und mitteleuropäischen Länder seit Jahrzehnten bei Betrachtung von (migrantischem) Unternehmer:in- Migrant:innen an Popularität gewinnen (Elo & Ser- nentum in den USA (Ram et al., 2017). In anderen vais, 2018; OECD, 2020). Worten: Wer gründen möchte, kann dies relativ ein- Mit Blick auf die internationalen Migrationsströme fach tun. spielt Deutschland insofern eine besondere Rolle, als Insofern verwundert es auch nicht, dass der Ursprung dass es zu den 20 Ländern weltweit zählt, die insge- des Forschungszweiges „Ethnic Entrepreneurship“4 samt 67 Prozent, also zwei Drittel aller in den USA zu finden ist. Bereits in den 1960ern und internationalen Migrant:innen aufnehmen (UN, 1970ern wurden dort Studien durchgeführt (Bona- 2017). Neben Frankreich, Spanien und dem Vereinig- cich, 1973; Light, 1972; Blalock, 1967). Aus ten Königreich gehört Deutschland zu den einschlägigen US-Statistiken ging hervor, dass die beliebtesten Zielländern in Europa. Mit über 13 Milli- Gründungsquoten verschiedener ethnischer Grup- onen Migrant:innen im Jahr 2019, davon rund 1,4 pen sich von den Gründungsquoten der Bevölkerung Millionen Geflüchtete (10,7 Prozent), hatte Deutsch- insgesamt unterschieden (Drinkwater, 2017). Diese land in absoluten Zahlen die größte im Ausland Abweichungen traten in beide Richtungen der Grün- geborene Bevölkerung aller europäischen Länder dungsskala auf: Während einige Gruppen – darunter (IOM, 2019; UN Desa, 2019). Gemessen an der Ge- jene mit indischen, chinesischen und japanischen samtbevölkerung belief sich der Anteil auf 15,7 Wurzeln – besonders häufig gründeten, befanden Prozent. Deutschland rangiert damit hinter der sich die Gründungsquoten anderer Gruppen – allen Schweiz (29,9 Prozent), Schweden (20,0 Prozent), voran jene mit afrikanischen Wurzeln – am unteren Österreich (19,9 Prozent) und Belgien (17,2 Prozent). Ende der Skala (Light, 1972). Aus dieser Beobach- Die Migrationsgeschichte Europas ist einzigartig, tung entsprang der neue Forschungszweig, der im weshalb sie auch ihre eigenen Narrative zum Thema Wesentlichen auf der Annahme basierte, dass in der migrantisches Unternehmer:innentum braucht. Im „ethnischen Ökonomie“ andere Wirkungszusammen- Vergleich zu den USA wurde die unternehmerische hänge und Determinanten für die Gründung Tätigkeit von Migrant:innen in Europa erst relativ spät vorherrschten als bislang aus der breiteren Entrepre- als eigenständiges Forschungsobjekt entdeckt, wie neurship-Forschung bekannt (Kloosterman, 2010). im Folgenden dargestellt. Gleichzeitig erfolgte in diesem Zuge eine stärkere Fo- kussierung auf „ethnische“ Charakteristika 4 Je nach Kontext und Studie auch als „ethnic minority“ und spä- bezeichnet, wobei die Grenzen teilweise verschwimmen (Rialp & ter auch als „immigrant“ oder „migrant entrepreneurship“ Aliagla-Isla, 2013).
Seite 14 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland migrantischer Unternehmer:innen und ihre Unterneh- 3.3 Migrantisches Unternehmer:in- men.5 Die Ethnie wurde nicht nur als wesentliches nentum auf dem europäischen Merkmal für den Schritt in die Selbständigkeit heran- gezogen, sondern auch für die räumliche Verortung Festland der Unternehmen, die Zusammensetzung spezifi- scher Ressourcen zur Unternehmensgründung und Auf dem europäischen Festland hingegen wurden die den typischerweise als co-ethnisch identifizierten ersten prominenten Studien in den späten 1990er Kund:innenstamm. Jahren durch Forschung aus den Niederlanden pub- lik (Kloosterman et al., 1999). Hier widmete sich der Forschungszweig zunächst der Beobachtung des Phänomens der Clusterung von Einwanderer:innen 3.2 Vereinigtes Königreich – eine als Unternehmensgründer:innen und -eigentümer:in- europäische Annäherung von nen auf lokalen Märkten und der städtischen Ebene der Insel sowie dem Ansatz der „Mixed Embeddedness”, der von der Verankerung der Zielgruppe in verschiede- Der Fokus auf ethnische Gruppierung als Determi- nen Settings als Beitrag zu Opportunitätsstrukturen nante der unternehmerischen Tätigkeit von ausgeht. Migrant:innen wurde zunächst auch in Europa über- Vergleichbare Auslöser wie im Vereinigten König- nommen, wo der Forschungszweig seit den 1980er reich, die das Thema auf die politische Tagesordnung Jahren vor allem im Vereinigten Königreich an Be- brachten, gab es auf dem europäischen Festland in deutung gewann (Soni et al., 1987; McGoldrick & dieser Form nicht. Wohl aber fand das Thema verein- Reeve, 1989; Ram & Sparrow, 1993). Ähnlich wie in zelt auf EU-Ebene Beachtung, etwa als Chance der den USA zeigte sich hier, dass es bestimmte ethni- sozialen und wirtschaftlichen Integration sowie Mobi- sche Gruppen sind, die sich besonders häufig lität benachteiligter Gruppen, worunter auch selbstständig machten, darunter jene mit chinesi- Migrant:innen erster Generation gefasst wurden (Lii- schen, pakistanischen, bangladeschischen und kanen, 2003). indischen Wurzeln (Clark & Drinkwater, 1998). Gleichzeitig stachen „Black Caribbean and Afri- Obwohl der Forschungsstrang des „Ethnic Entrepre- can(s)“ als besonders gründungsfern hervor. neurship“ weiterhin verfolgt wird – vor allem in Großbritannien –, rekurrieren jüngere Publikationen Die Ausschreitungen in Brixton von 1981 und 1985, vermehrt auf den Begriff „Immigrant Entrepreneur“ bei denen die Polizei und jugendliche People of Co- (Rath & Kloosterman, 2000; Rath, 2000; Rialp & Ali- lour in dem sozioökonomisch schwachen Londoner agla-Isla, 2013; Nazareno, Zhou & You, 2018), was Stadtteil brutal aufeinanderstießen, erwiesen sich als als ein Hinweis darauf interpretiert werden kann, dass weiterer Anlass, sich dem Thema Entrepreneurship es sich bei den betrachteten Unternehmer:innen um als Weg des sozialen Aufstiegs für bestimmte Mig- Einwander:innen der ersten Generation handelt. Pa- rant:innengruppen zu widmen und dies auch auf die rallel dazu existiert etwa seit der Jahrtausendwende politische Agenda zu setzen (Scarman, 1986). Dies der verwandte Forschungszweig des „migrantischen wiederum war Anlass, „ethnisches“ Unternehmer:in- Unternehmer:innentums“ (engl. „Migrant Entrepre- nentum verstärkt empirisch zu untersuchen (Ram & neurship“) (Ram et al., 2017), der unter dem Begriff Jones, 2008). Zu guter Letzt trugen und tragen bis auch Nachfahren der Einwanderer:innen als Unter- heute in den USA und im Vereinigten Königreich die nehmer:innen impliziert. geringen regulativen Hürden auf dem Weg in die Gründung zu der verstärkten Präsenz des Themas Die Abgrenzung zwischen der ethnischen und Mig- (migrantisches) Unternehmer:inntum bei. rant:innenökonomie, ethnischem und (im)migrantischem Unternehmer:innentum sowie der 5 Exemplarisch sind hier die beiden oft zitierten Werke „Ethnic Enterprise in America“ (Light, 1972) und „Ethnicity and Entrepre- neurship“ (Aldrich & Waldinger, 1990) zu nennen.
Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland | Seite 15 unternehmerischen Tätigkeit Geflüchteter wird im fol- ist das ethnische Unternehmer:innentum nach wie genden Abschnitt 3.4 thematisiert. vor durch Merkmale wie eine Spezialisierung auf so- genannte ethnische Produkte oder Serviceangebote, sprich Angebote für weitere Mitglieder der gleichen 3.4 Evolution der Forschung zu oder verwandten ethnischen Gruppe, charakterisiert (Elo et al., 2020). Folglich ist nicht jedes Unterneh- (im)migrationsbezogenem Unter- men, das von Migrant:innen gegründet wird, auch ein nehmer:innentum ethnisches Unternehmen. Ähnlich wie der Begriff der Migration selbst, unterlie- Zur Erklärung des Phänomens aus theoretischer Per- gen auch die migrationsbezogenen Begriffe des spektive werden u. a. soziokulturelle sowie Unternehmer:innentums, in Abhängigkeit von politi- sozioökonomische Theorien als auch Kombinationen schen und gesellschaftlichen Stimmungen, aus beiden herangezogen (Indarti et al., 2021). Rahmenbedingungen der Zuwanderung und realwirt- schaftlichen Phänomenen gewissen „Konjunkturzyklen“. Diese lassen sich grob in drei Forschungswellen zum Thema einordnen: Ethni- sches Unternehmer:innentum (Abschnitt 3.4.1), (Im)Migrantisches Unternehmer:innentum (Abschnitt 3.4.2) und „Flüchtlingsunternehmer:innentum“, eng- lisch „Refugee Entrepreneurship“ (Abschnitt 0). 3.4.1 Ethnisches Unternehmer:innentum Ethnisches Unternehmer:innentum bezieht sich auf die unternehmerischen Aktivitäten von Akteur:innen mit einer gemeinsamen Herkunfts- und Kulturidentität (Aldrich & Waldinger, 1990; Wilson & Portes, 1980). Abbildung: 1. Bibliographische Analyse I Zhou (2004) konkretisiert dieses Verständnis, indem sie ethnische Unternehmer:innen als Eigentümer:in- nen und zugleich Manager:innen ihres eigenen In der deutschen Debatte werden ethnische Unter- Unternehmens definiert, deren Gruppenzugehörig- nehmen oft mit der ersten Generation von keit an ein gemeinsames kulturelles Erbe oder eine Migrant:innen in Verbindung gebracht und repräsen- gemeinsame Herkunft gebunden ist. Weiterhin sind tieren zumeist migrantische Unternehmer:innen aus „ethnische Unternehmer:innen“ untrennbar mit be- dem Bereich Handel und/oder kund:innennahe stimmten sozialen Strukturen verbunden, in denen Dienstleistungen. Beispiele sind Einzelhandelsge- individuelles Verhalten, soziale Beziehungen und schäfte, die „Halal-Fleisch“ anbieten. wirtschaftliche Transaktionen eingeschränkt sind Die Literaturanalyse mit Publish or Perish ergab für (ebd.). die Google Scholar Suche auf ausschließlich Ethnische Unternehmer:innen können, müssen aber deutschsprachige Seiten mit dem Suchstring „ethni- nicht selbst Migrationserfahrung gemacht haben. sche Unternehmen“ OR „ethnisches Auch Migrant:innen zweiter oder dritter Generation Unternehmer:innentum“-migrantisch im Zeitraum fallen dementsprechend unter die Definition des eth- 1991-2021 insgesamt 139 Publikationen (Abb. 1). nischen Unternehmer:innentums. Traditionell wurde Während es in den frühen 1990er Jahren vereinzelte davon ausgegangen, dass ethnische Minderheiten Publikationen mit diesen Suchbegriffen gab, wurde vorrangig in sogenannten ethnischen Enklaven un- im Jahr 2008 der erste Piek mit 11 Publikationen und ternehmerisch aktiv sind, wo sie in ein Netzwerk von der zweite Piek 2014 mit 14 Publikationen erreicht. ko-ethnischen Mitarbeitenden, Kund:innen und Zulie- Ursächlich für den ersten Piek 2008 könnte die No- ferer:innen eingebunden sind (Aldrich & Waldinger, vellierung des Zuwanderungsgesetzes 2007 sein. 1990). Diese Publikationen haben die Integration von Mig- Diese enge Betrachtungsweise ist in der aktuellen Li- rant:innen oft zum Thema. Grund für den zweiten teratur und Praxis kaum mehr zu finden. Wohl aber
Seite 16 | Migrantisches Unternehmer:innentum in Deutschland Piek könnte der höchste Zuwachs des Zuwande- ausländische Wurzeln hat, zu den migrantischen Un- rungssaldos im Jahr 2014 sein und damit ternehmen gezählt. Grundlage für entsprechende einhergehend die erneute öffentliche Debatte. Studien bildet dabei zumeist der Mikrozensus. Dabei gibt es Unterschiede zwischen der ersten und zwei- Seit 2014 bewegt sich die Zahl der Publikationen im ten Generation in Bezug auf den Bildungsstand, die Bereich sieben bis zehn Publikationen und fällt 2021 Gründungssektoren, aber auch gemeinsame Cha- rapide auf nur zwei Publikationen ab. Zugleich stei- rakteristika wie z. B. das Gründen im Verbund gen im selben Zeitraum die Publikationszahlen des (oftmals mit Freund:innen und/oder Familienangehö- Suchstrings „migrantische Unternehmen“ OR „mig- rigen), das geringere Einstiegsalter in das rantisches Unternehmertum“ -ethnisch. Unternehmer:innentum und weitere Merkmale (David 3.4.2 (Im)Migrantisches Unternehmer:innen- et al., 2020; Sachs, 2020). tum In der deutschen Debatte ist der Begriff des „Immig- In ihrer Untersuchung von 403 Studien zum ethni- rant Entrepreneurship“ weniger stark verbreitet. schen Unternehmer:innentum im Zeitraum 1999- Migrantisches Unternehmer:innentum als Begriff wird 2008 kommen Ma et al. (2013) zu dem Ergebnis, im Vergleich dazu überstrapaziert und wenig konkre- dass sich eine Neuausrichtung im Forschungsfeld tisiert. So ist es bislang nicht gelungen, eine von der Erforschung von „Enklavenökonomien“, eth- allgemein anerkannte Differenzierung der unter den nischen Unternehmen und sozialer Einbettung hin Begriff „migrantische Unternehmen“ fallenden Sub- zur Erforschung von „Immigrant Entrepreneurship“, gruppen zu etablieren (David et al., 2019a). Migrationsnetzwerken und transnationalen Unterneh- Schwierig wird es im Sinne des Begriffsutilitarismus mer:innen vollzogen hat. vor allem dann, wenn unter dem Dachbegriff sehr un- In der internationalen Forschung zum migrantisches terschiedliche Facetten des migrantischen Unternehmer:innentum haben sich heute die beiden Unternehmer:innentums mit variierenden Charakte- Begriffe „Immigrant“ und „Migrant“ Entrepreneurship ristika zusammengefasst werden, wie Hoch- und etabliert. Dieses einst so eingegrenzte Forschungs- Niedrigqualifizierte, freiwillig und unfreiwillig Migrierte feld hat inzwischen den Status einer etablierten, oder die erste und zweite Generation von Migrant:in- wenngleich fragmentierten Disziplin erreicht (Vershi- nen. nina et al., 2021). Auch für diesen Bereich wurde eine Literaturanalyse Während sich der Terminus „Immigrant Entrepreneu- mit Publish or Perish vollzogen. Die Google Scholar rship“ auf die unternehmerischen Aktivitäten von Suche mit dem String „migrantische Unternehmen“ Menschen mit eigener Migrationserfahrung, sprich OR „migrantisches Unternehmer:innentum“ -ethnisch Migrant:innen der ersten Generation, bezieht, ist bezog sich wie bereits zuvor auf ausschließlich „Migrant Entrepreneurship“ eine Art Dachbegriff, also deutschsprachige Seiten. Auffällig hierbei ist, dass im breiter gefasst und kann migrantische Unterneh- Analysezeitraum 1991 bis 2021 die erste Publikation mer:innen und Gründer:innen der zweiten (oder gar erst im Jahr 2007 verzeichnet wurde. Zuvor scheint dritten) Generation umfassen, die nicht über eine ei- es nur Publikationen unter dem Terminus ethnische gene Migrationserfahrung verfügen (Aliagla-Isla & Unternehmen/ethnisches Unternehmer:innentum als Rialp, 2013). Referenzpunkt zu geben (Abb. 2). Der Begriff wird gerade im deutschsprachigen Raum Insgesamt wurden im besagten Zeitraum 110 Publi- auch für weitere Formen von Unternehmen verwen- kationen gefunden, die migrantische det, die durch die Merkmale „Migration“ und Unternehmen/migrantisches Unternehmer:innentum „Unternehmer:innentum“ charakterisiert sind. Die so- thematisieren. Einen konjunkturellen Höhepunkt er- genannten migrantischen Unternehmer:innen der fährt das Thema im Jahre 2014 mit 13 Publikationen zweiten Generation (David et al., 2020) sind eine und erreicht 2018 den Höhepunkt mit 19 Publikatio- Subgruppe der migrantischen Unternehmen und be- nen. ziehen sich auf Nachkommen der ersten Generation. Ähnlich wie bei den Termini ethnische Unterneh- Vor allem in Deutschland wird diese Gruppe von Un- men/ethnisches Unternehmer:innentum könnte das ternehmer:innen auch dann, wenn nur ein Elternteil Jahr 2014 durch eine hohe Zuwanderung das Thema wieder angestoßen haben. Der Piek im Jahr 2018
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