Transatlantik-Tagebuch der SEA CLOUD
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Transatlantik-Tagebuch der SEA CLOUD Vom 2. bis 18. Dezember 2011 ging unsere Windjammer-Legende SEA CLOUD wieder auf große Transatlantik- Überquerung. Mit an Bord war Reinhart Bünger vom Tagesspiegel, der täglich Berichte in seinen SEA CLOUD Transatlantik-Blog eingestellt hat. R. Bünger ist seit 1991 beim Tagesspiegel tätig und arbeitet heute in der Redaktion „Sonderthemen“. Als gebürtiger Bremer ist er nah am Wasser mit viel Fernweh aufgewachsen und auch die Themen „Schiff“ und „Reisen“ begleiteten Reinhart Bünger schon sein Leben lang: Sein Großvater war Überseespediteur und er selbst brach immer wieder zu Reisen in die Ferne auf: über ein Journalisten-Stipendium, für politische Reportagen und Reisereportagen. Sein Bordbuch gibt u.a. Details über das Segelsetzen, Sterne, Knoten und Seefahrt. Lesen Sie, was der Kapitän, langjährige Crew-Mitglieder und Gäste zu erzählen haben, und lernen Sie die verschiedenen Aufgaben einer Foto: Reinhart Bünger Segelmannschaft kennen. Doch dies sind nur ein paar Beispiele. Denn 16 See- tage lassen genügend Zeit und Raum, um verschiedenste interessante Themen näher beleuchten zu können. Segelabenteuer SEA CLOUD Mit dem Passat über den Atlantik Von Reinhart Bünger Mit der 80 Jahre alten Segellady SEA CLOUD geht es für den Tagesspiegel-Redakteur Reinhart Bünger für über zwei Wochen auf große Fahrt. Wohin genau die Reise führen wird, auf die er Sie, liebe Leser, in seinem Reisetage- buch mitnehmen möchte, das lesen Sie hier. Das Reisetagebuch ist als Blog angelegt und ist – in einer kürzeren Fassung – auch unter www.tagesspiegel.de/atlantik-ueberquerung zu finden. Reisezeit 2. Dezember bis 18. Dezember 2011 Abfahrt/Ablegen Freitag, 2. Dezember 2011 in Portimão (Portugal), 18.00 Uhr (Auf See, Samstag, 03. Dezember bis Samstag, 17. Dezember 2011) Fahrtroute Der Kurs führt nach Westen. An jedem Morgen grüßt im Idealfall die Sonne, achtern und an jedem Abend gleitet die SEA CLOUD einem farbenprächtigen Sonnenuntergang entgegen. 16 erholsame Tage lang wird die legendäre SEA CLOUD das Zuhause auf See. Alltagsmüde Seelen finden Ruhe, Hektik wird zu Muße. Romantiker finden im Spiel der Wolken und der Segel eine Reflektionsfläche für die eigene Fantasie. Diese Reise ist etwas für alle, die endlich einmal auf „Große Fahrt“ gehen wollen. Mit an Bord sind Lektoren – der Astronom Erich Übelacker, die Malerin Heidemarie Übelacker-Bröring und die Welt- umseglerin Pam Wall, die auf dem Lidodeck oder in der Lounge zu kleinen Runden einladen. Ihre Vorträge bieten anregende Themen, sind abwechslungsreich, informieren und unterhalten. Und manchmal steht einfach nur das bewegte Leben der 80-jährigen Segeldame im Mittelpunkt. Ankunft/Anlegen Sonntag, 18. Dezember 2011, St. John’s/Antigua (Karibik), 08.00 Uhr
Die SEA CLOUD legte in der Zeit vom 2. Dezember bis zum 18. Dezember 2011 eine Distanz von 1550 nautischen Meilen unter Segeln zurück. Das entspricht 46,7 Prozent der Gesamtstrecke von 3317 nautischen Meilen. Die Temperatur in Portimão betrug bei der Abfahrt 15 Grad Celsius, in St. John’s/Antigua (Karibik) erwarteten Passagiere und Besatzung 29 Grad Celsius. Stürmische Zeiten in Lissabon Vier Tage vor dem Ablegen der SEA CLOUD in Richtung Antigua/Karibik entscheiden sich Reederei und Schiffsfüh- rung für einen neuen Abfahrtshafen. Ursprünglich war geplant, dass die SEA CLOUD ab Lissabon auf die große Überfahrt über den Atlantik geht. „Die derzeit vorherr- schenden starken Winde stellen selbst die wettererprobte SEA CLOUD vor Herausforderungen und gefährden den Fahr- und Zeitplan des Schiffes“, teilt die Reederei den Gästen mit. Neuer Abfahrtshafen ist nun Portimão, Ur- laubsort und touristisches Zentrum der westlichen Algar- ve. Ein Transferbus erwartet die Gäste ab 13.30 vor dem Hotel Tiara Park Atlantic, Rua Castilho 149 in Lissabon. Das Luxushotel liegt sehr schön auf einem Hügel unweit des Zentrums. Die Fahrtzeit von hier nach Portimão, wo das Schiff um 19 Uhr von der Cais de Comércio e Turismo ablegen soll: Rund 3,5 Stunden inklusive eines kurzen Halt. Die Strecke führt durch riesige Kork- und Pinienwäl- Die gegen den Wind fahren. Zwei Tage vor der geplanten Transat- der an der südlichen Algarve. Korkeichen können erst lantik-Crossing der SEA CLOUD zieht vor der Küste Portugals nach 25 Jahren das erste Mal geerntet werden. Dann eine Tiefdruckfront auf. Die Reederei entschließt sich kurzfristig, wird jeweils nach 9 (Mittelportugal, Alentejo) bis 14 Jah- den Abfahrtshafen von Lissabon nach Portimão zu verlegen. Die Gäste werden mit einem Bus an die Algrave gefahren. ren (Südportugal in der Algarve) ca. ein Drittel der Rinde abgeschält. Insgesamt werden die Eichen ca. 15 Mal abgeerntet. Die Zeiten werden gesetzlich streng kontrolliert, und an jedem Naturkorken sind auch die Jahresringe sichtbar, so dass jeder Weintrinker die Qualität des Korkens anhand der Zahl der Jahresringe abschätzen kann – je mehr, desto besser.
Flaute im Wartezimmer Auf der SEA CLOUD fahren zwei Ärzte mit. Viel zu tun hatten sie beim letzten Törn zum Glück nicht. „Das gibt's ja in keiner Praxis – das ist das schönste Wartezimmer der Welt: mit Meerblick...“ Der Weißhaarige, der eben auf dem Hauptdeck des Fünf-Sterne-Windjammers Sea Cloud an den Schiffsärzten Angelika Aßmann und Heiko Bienengräber vorbeischlendert, ist begeistert. Dem Seeklima sei Dank, erfreut er sich bester Gesundheit. Wie soll man sich auch fühlen, wenn es in die Karibik – in diesem Fall St. John’s/Antigua – geht? Sehr gut, natürlich. Folglich sind die Sprechstunden der Schiffsärzte sehr schlecht besucht. Doch das könnte sich von einer Sekunde auf die andere ändern. „Es kann ein Besatzungsmitglied mit dem Messer stolpern, es kann ein Pas- sagier auf der Treppe fallen, es kann sich jemand von der Crew beim Flexen verletzen, es kann ein Passagier mit seinem Champagnerglas bei Seegang zu Boden gehen“, sagt Angelika Aßmann. Die blonde 35-Jährige ist Oberärztin in Ulm – für Kardioanästhesie. Sie be- schäftigt sich mit schweren Fällen. Zu ihr kommen Patienten zur „Herznarko- se“, wie sie sagt. Auf die SEA CLOUD kam die Lörracherin wie eine Fla- Lächeln bei ruhiger See. Die Schiffsärzte schenpost in die Badewanne. Angelika Aßmann arbeitete nebenberuflich als Angelika Aßmann und Heiko Bienengräber Notfallmedizinerin für ein Unternehmen, das sich auf Rückholflüge speziali- auf dem über der Brücke gelegenen Sonnendeck der SEA CLOUD. siert hatte. „Der Klassiker ist der Mopedunfall auf den Kanaren“, sagt Aß- Foto: Reinhart Bünger mann. Verletzt im fremden Land, und was dann? „Viele Menschen wollen nicht in einer fremden Klinik bleiben. Vor allem dann nicht, wenn Rehamaßnahmen oder OPs anstehen.“ Und dann zahlten sie den Rückflug im Notfall selbst. Beides ist auf der SEA CLOUD keine Option. Rückführungen sind hier technisch nicht machbar. Bei Schiffsreisen sind oft keine Küste oder Insel in Sicht. Daran musste sich Aßmann erst einmal gewöhnen, als sie vor sieben Jahren kurzfristig für einen erkrankten Kollegen auf der SEA CLOUD einsprang. Die Behandlungs- und Untersuchungs- möglichkeiten sind begrenzt. Manches, was auf großen Kreuzfahrtschiffen an Bord ist, passt nicht auf das knapp 110 Meter lange Segelschiff. Dialyse- und Ultraschallgeräte zum Beispiel. Ein EKG-Gerät ist allerdings an Bord, und zwei Defibrillatoren gibt es auch. „Im Prinzip sind wir Hausärzte für die Crew und die Passagiere – und natürlich in kritischen Fällen Notfallmediziner“, sagt Aßmann. An Bord könne alles gemacht werden, was auch in einem Rettungshelikopter oder Rettungswagen zur Verfügung stehe. Das Schlimmste, was Schiffsärzte bisher auf der SEA CLOUD behandeln mussten, war der aus- gekugelte Arm eines Crewmitgliedes. Der Arm war bei Arbeiten an einem Segel hoch über Deck aus dem Schulter- gelenk gesprungen, und der Mann stand noch auf einer der Rahen. Zuerst wurde der Arm an den Körper angebun- den, Mannschaftskameraden bildeten dann eine Art Rettungskorb um den Verletzten und geleiteten ihn langsam nach unten. Dort wurde der Arm – nach Verabreichung schmerzstillender Medikamente – wieder gerichtet. Im Not- fall können auch die Offiziere eines Schiffes erste Hilfe leisten. Sie werden dafür ausgebildet. Einmal im Jahr nehmen die Ärzte, die auf SEA CLOUD-Schiffen als Schiffsärzte fahren, an einer Fortbildung teil. Hier geht es dann zum Beispiel um Hautausschläge in den Tropen oder um Bakterien im Wasser, die Erkrankungen hervorrufen können. Eine große Rolle spielten zuletzt kulturelle Unterschiede. Asiaten etwa würden Ärzten nie direkt sagen, wenn eine Medizin nicht anschlage. Hier helfe nur das richtige Nachfragen, sagt Aßmann. Außerdem finden an Bord in schöner Regelmäßigkeit Rettungsübungen zum Bergen von Patienten statt. Was ist das Schlimmste, was Schiffsärzten passieren kann? „Alles, was infektiös ist“, sagt Aßmanns Co-Mediziner und Partner Heiko Bienengräber. Er ist in Flensburg aufgewachsen und lernte zunächst Segelmacher. Seine Stelle
als Oberarzt in Göppingen hat der 47-Jährige vor vier Jahren gekündigt und arbeitet jetzt als selbstständiger Hono- rararzt, der von Kliniken als Vertretung angeheuert werden kann. Ansteckungen an Bord sind den Ärzten ein Gräuel – wie auch den Patienten. Die wollen ihre Schiffsreise gesund erleben. Dafür haben sie schließlich bezahlt. Zur Behandlung von Virusarten mit schweren Krankheitsverläufen gibt es Notfallpläne mit Quarantänevorschriften. In den anderen Fällen versuchen die Schiffsärzte, die Passagiere mit Antibiotika schnell wieder fit zu machen. Gegen Seekrankheit sind ja, Gott sei Dank, inzwischen Kräuter gewachsen. Bei mancher Wettervorhersage würden die beiden Schiffsärzte ihren Reisenden am liebsten schon einmal prophylaktisch etwas in die Suppe tun. Aber das haben sie sich bisher noch nicht getraut.
Reisetagebuch, Tag 1 Freitag, 2. Dezember 2011 Endlich. Das große Knarren hat begonnen. Wir segeln durch die sternenklare Nacht. Auf und davon in eine neue Welt. In eine Welt der Langsamkeit. Der Mond steht auf halb. Mit mehreren Stunden Verspätung hat die SEA CLOUD in Portimão/Portugal um 19.39 Uhr mit Schlepperhilfe abgelegt. An Bord sind etwa 60 Passagiere und ebensoviel Mann (und Frauen) Besatzung. Um 20 Uhr wurden auf Befehl von Kapital Vladimir Pushkarev (Russland) die größeren Royalsegel gesetzt. Der Viermaster nimmt langsam Fahrt auf, unterstützt vom laufenden Hilfsdiesel. Die Nadel auf dem Kompass gibt die Richtung vor: Kurs Nordwest/West. Das Ziel der Transatlantikreise: St. John's/Antigua in der Karibik. „It's a relief“, sagt einer der zahlreichen US-amerikanischen Gäste, als wir bei der Ausreise aus Portugal der freund- lichen Behördenvertreterin die Pässe zeigen. Es klingt, als sei das Leben an Land für den kompakten 60-Jährigen mit der Igelfrisur ein Leben auf Entzug. Sieben Mal schon ist er an Bord gewesen, andere Mitreisende kommen allerdings locker auf die doppelte Zahl von Törns. Ein Passagier ist sogar schon 19 Mal auf der SEA CLOUD mitge- fahren. Seit Veteran Günther bei der Kriegsmarine war, liebe er Schiffe. Sein Arbeitsleben lang habe er als Schiffsin- genieur bei Siemens gearbeitet, sagt er. Luxusliner lehnt er strikt ab. Die Zahl der überzeugten Wiederholungstäter bei den winterlichen Transatlantiküberquerungen ist überraschend hoch – wie das Durchschnittsalter, es liegt bei 60 plus. Man kennt sich. Na ja, mehr oder weniger: „Wir haben uns doch auch schon einmal gesehen“, sagt eine Italienerin erfreut, als sie einen ihr bekannten Deutschen wieder trifft. „Sie waren doch schon vor drei Jahren auf der Winterreise dabei.“ So ist das hier an Bord. Auf dem Lido-Deck versucht sich Gaynor Trammer auf dem Klavier zur Begrüßung der Gäste warm zu spielen. Nicht nur die Amerikanerin fröstelt etwas. Kein Wunder, es ist recht frisch. Derweil wird an der Bar munter ausgeschenkt. Überall herrscht großes Hallo. Die Vorfreude auf eine tolle Reise erwärmt die Gemüter. Ein Gläschen Schampus und die Gewissheit, nach einer langen Anreise endlich am Ziel mancher Träume zu sein, tun ein Übriges. Für ein Ehepaar wäre der Törn in die Karibik fast schon vorbei gewesen, bevor er beginnen konnte. Sie hatten offen- bar nicht mitbekommen, dass der Abfahrtshafen verlegt worden war. „Zum momentanen Zeitpunkt ist es so, dass uns erschwerte Wetterbedingungen am Abfahrtstag in Lissabon erwarten“, hatte SEA CLOUD CRUISES vor drei Tagen den Reiseteilnehmern mitgeteilt. „Die derzeit vorherrschenden starken Winde stellen selbst die wettererprobte SEA CLOUD vor Herausforderungen und gefährden den Fahr- und Zeitplan des Schiffes.“ Selbstfindung auf hoher See – Ein anderes Leben auf der SEA CLOUD? Der Hafen Portimão biete bessere Startbedingungen für die Transatlantiküberquerung, hieß es aus Hamburg. Doch zu den Passagieren aus Österreich war diese Änderung nicht durchgedrungen. Und so wartete ein mit Passagieren vollbesetzter Bus vor einem Hotel in Lissabon auf den Beginn der knapp dreistündigen Fahrt an die Algarve. Man telefonierte mit SEA CLOUD CRUISES in Hamburg, die die beiden über Handy schließlich beim Bummel in Lissa- bon erreichten. „Wir kommen gleich!“ Es sollte fast eine Stunde vergehen, doch egal – Segelreisen sind ein Ge- meinschaftserlebnis und so fiel kein böses Wort. Etwas Gutes hatte die Verzögerung auch noch: Mitreisende aus USA erhielten während der Wartezeit ihr medizini- sches Gerät zurück – sie hatten es beim Transfer zum Treffpunkt in einem Taxi liegen lassen: „Simon, here is your breathing masc“, sagt die Frau Gemahlin mit strengem Blick. Dann trudelte auch das Ehepaar endlich ein und los geht’s.
Endlich: Vier hell erleuchtete Masten werden gesichtet. „Seht, da ist das Schiff“, schallt es durch den Bus. Die SEA CLOUD – irgendwie mehr als nur ein Schiff. Sie ist Balsam für die Seele, sie steht für die im hektischen Be- rufsleben verloren gegangene gute alte Zeit. „Das Schöne ist, dass man hier an Bord für gute zwei Wochen ein anderes Leben realisiert“, erklärt ein Al- leinreisender sein Motiv für diese Reise, als schließlich alle beim Abendessen sitzen. Ein anderes Leben – das gilt auch für die Bordunterhaltung. Showeinlagen At your Service. Hausdame Katja Knopp sind nicht zu erwarten, hier genügt der Schwertfisch auf dem Büfett. Außer- begrüßt die Gäste der Transatlantik- dem gibt es ja noch Simon, den Hoteldirektor mit Entertainerqualitäten. Fern- Crossing mit zwei ihrer Kollegen vom seher an Bord – Fehlanzeige. Internet ist nicht vorgesehen und kein Mobilte- Hotelpersonal an Bord. Foto: Lyle Lawson lefon nervt. Die einzigen Stars an Bord sind das nautische Personal und die Servicecrew natürlich. Sie werden bei der kurzen Vorstellung von den ausge- lassenen Passagieren wie Rockstars mit Freudenpfiffen und Beifall bedacht. So viel ist sicher: An guter Stimmung an Bord wird es nicht mangeln. Dazu tragen nicht zuletzt auch die Reisenden selbst bei. „O sole mio“, – der Siemens-Schiffsingenieur a.D. singt gemeinsam mit einer Italienerin – letztendlich unterstützt durch die gesamte abendliche Tafelrunde – zum Nachtisch ein Ständchen. Das ist in der stimmlichen Aus- gestaltung so schräg und in der emotionalen Verbundenheit des Duos so Erst einmal warm werden. Zur Einschif- harmonisch, dass es manchen zu Tränen rührt. Hat da jemand Caruso ge- fung in Portimão (Portugal) gibt es den sagt? obligatorischen Begrüßungsdrink. Bei 15 Grad Celsius lehnt kein Passagier das Angebot von Barkeeperin Marlene ab. Foto: Lyle Lawson Seegang und Stimmung steigen proportional. Proportional zur Stimmung nimmt der Seegang zu. Das Schiff fängt langsam an leicht zu rollen, die Türen im Restaurant klappen zu, in der Kabine sucht sich der Obstkorb auf dem Mahagonischreibtisch einen neuen Standort. Die Küste – inzwischen ein kaum sichtbarer heller Streifen am Horizont. Eine Alleinreisende hofft, dass es bald richtig losgeht mit der Schaukelei. „Spätes- tens, wenn wir auf der Höhe Afrikas sind, müssten wir ohne Motorunterstüt- zung unterwegs sein“, sagt sie. Das sei bei 60 Prozent der Überfahrten so gewesen. Oha, eine erfahrene Seebärin offenbar. Die meisten Fans des Großseglers, die hier ihr jährliches Aufgeräumter Champagner-Empfang. Die Kabinen zeigen, wozu die Hotellerie an Stelldichein zelebrieren, freuen sich über die Verlegung des Abfahrtshafens – Bord in der Lage ist. „desto eher sind wir in wärmeren Gewässern“. Immerhin habe man den Foto: Lyle Lawson einen Tag Fahrzeit von Lissabon nach Portimão nun gespart. Es wird Nacht. Zeit für die Prophylaxe, jedenfalls für den, der sie nötig hat. Zeit, den Gleichgewichtssinn außer Kraft zu setzen. Man weiß ja nie. Der Möglichkeiten sind viele. Zum Beispiel kann man „Arlevert“ nehmen, dreimal täg- lich. Es enthält die Wirkstoffe Cinnarizin und Dimenhydrinat, das auch in „Vomex“ enthalten ist. Die Tipps von Mitrei- senden sind so zahlreich wie die Liste der Arzneien gegen Seekrankheit lang ist. Schiffsärztin Angelika Aßmann hatte mal einen Passagier an Bord, der über und über mit Pflastern gegen Seekrankheit beklebt war. „Sah zwar
nicht schick aus und er wusste auch nicht, welches Pflaster welche Wirkstoffe enthielt“, sagt sie, „ihm hat’s aber geholfen.“ Die schlechten Wetterbedingungen vor der Abreise sind wie weggeblasen. Die Satellitenbilder zeigten zwar am Mitt- woch und Donnerstag einige Tiefs vor der portugiesischen Küste, doch Stürme waren nicht in der Vorhersage. Im Gegenteil, allem Anschein nach ist jetzt über dem Atlantik ein Hoch im Anmarsch. Die vorausschauende Fürsorge der Reederei bei der Kursverlegung hat schon etwas Beruhigendes. Was Janice Jakait wohl gegen Seekrankheit nimmt? Auch die 34-jährige Deutsche ist auf dem Weg nach Antigua. Der ehemaligen IT-Beraterin ist die moderne Welt zu schnell geworden. Sie will die 6500 Kilometer lange Strecke bis in die Karibik allein mit Hilfe ihrer Muskelkraft (und einiger Solarpaneele) bewältigen. Im Ruderboot. Wie wir ist auch sie in Portimão aufgebrochen. Ihr Hightech-Ruderboot ist für Stürme mit Zwölf-Meter-Wellen ebenso gerüstet, wie für eine Kollision mit einem 400 Meter langen Tanker. Heißt es. „Endlich kann ich meinen Traum leben, auf den ich so lange hingearbeitet habe“, hatte sie vor ihrer Abreise am 23. November gesagt. Das würde wohl auch mancher auf der luxuriösen SEA CLOUD von sich sagen können. Bis März oder April kann die Wagemutige auf hoher See verbringen. Sie hat nicht nur Zeit, sondern auch 250 Kilogramm Lebensmittel dabei – vom Schokoriegel bis zur Spezialnahrung. Wir Luxusleute auf der SEA CLOUD werden in den kommenden Tagen mal nach Janice Jakait Ausschau halten. Oder haben wir sie vielleicht schon überholt?
Reisetagebuch, Tag 2 Sonnabend, 3. Dezember 2011 „Nice and speedy“ Position (Mittag): 35 Grad 23.6 Minuten Nord, 10 Grad 46.1 Minuten West Zirka 300 Seemeilen nordöstlich von Madeira Kein Schiff nirgends, nicht mal ein Ruderboot. Einfach nichts Schwimmendes zu sehen auf dem Atlantik. Die SEA CLOUD scheint hier auf ihrer Reise in wärmere Gefilde allein unterwegs zu sein. Immerhin: Am Morgen sind viele Kondensstreifen von Flugzeugen am strahlend blauen Himmel und zwei niedrig fliegende Möwen zu sehen: Ferien- flieger wohl allesamt – auf dem Weg nach Madeira oder zu den Kanarischen Inseln. Unser Ziel hingegen ist die Karibik: St. John’s auf Antigua. Fast alle „Lappen“ sind gesetzt und wir machen den gesamten Tag über ordentlich Fahrt. „Ich bin fast von meiner Wasserflasche erschlagen worden“, berichtet ein Mitreisender von seiner durch- wachten Nacht. Und nicht nur die Flasche habe sich selbstständig gemacht. Neptun hatte ihn auch ohne Unterlass von einer Seite seiner Matratze auf die andere bewegt. Ein „Rolling Home“ der besonderen Art. „Das Bild hängt schief“ – an diesen Loriot-Sketch musste wohl mancher deutsche Reisende an Bord denken. Hier rutschen Bücher von der Ablage, dort liegt eine Zahnbürste auf dem Boden. Wird es in der kommenden Nacht wieder so sein, wird das Wetter womöglich schlechter? Laut Vorhersage soll es jedoch erst einmal bleiben wie es ist. Ideales Segelwetter. Windstärken um die 6 plus, in der Spitze sogar 7 Beaufort aus Nord/Nordost. Nicht jeder Frühstückstisch ist heute besetzt. Hier und dort genügt auch eine halbe Kiwifrucht oder eine Banane, um diesen Tag zu beginnen. Ein Hoch über dem Atlantik beschäftigt jeden auf eine andere Art und Weise. Wir laufen zwischen acht und zehn Knoten über Grund bei einem Seegang von fünf bis sechs. „Das ist immer an den weißen Käppchen auf den Wellen zu erkennen“, sagt Christian Haas, der Erste Offizier der SEA CLOUD. Der Horizont zeichnet sich nicht als Linie ab, sondern ist gezeichnet wie der gezackte Rand von Büttenpapier. Das sind Wellenberge. Je weißer die See werde, desto rauer, sagt Haas. Vier Meter sind die Wellen heute im Mittel hoch. In der Bordbar auf dem Lidodeck sind einige Flaschen zu Boden und – schade, schade – auch zu Bruch gegangen. Das ist jetzt so richtiges Atlantikwetter. Wenn viele Segel gesetzt sind – wie heute auf der SEA CLOUD – rollt das Schiff allerdings deutlich weniger. Wenn es keine Kreuzseen gibt, ist der Seegang gleichförmig und tatsächlich gut erträglich. Das Deck schaukelt wie ein alter amerikanischer Straßenkreuzer, in dem die Stoßdämpfer defekt sind. Sehr gemütlich. 13,5 Knoten sind die bisher erreichte Spitzengeschwindigkeit der 80-jährigen alten Windjammer-Legende, die allein uncharmante Landratten als „Mo- torsegelyacht“ bezeichnen würden. „Es gibt nicht so viele Segelschiffe auf der Welt, die diese Geschwindigkeit machen“, sagt Haas, der 1968 auf der „Gorch Fock“, dem Segelschulschiff der Bundesmarine, gedient hat. Es liegt wohl am Clipper-Rumpf, dass die SEA CLOUD so schnell sein kann. Sie wurde 1931 als Privatyacht mit Motor auf Kiel gelegt, ist also nicht als Lastensegler ausge- legt. Eigentlich ist sie eine Segelmotoryacht. „Die „Gorch Fock“ dagegen ist ein Schwerwettersegler, der kommt mit seinem Gewicht erst bei zehn Wind- Alle mal mit anfassen. Bei Windstärke 7 stärken richtig in Bewegung“, sagt Haas. Wie unser Kapitän Vladimir Pushka- kann auf dem Vordeck schon mal was rev ist auch Haas ein Mann von stämmiger Wucht und freundlichem Gemüt. ins Rutschen kommen, wie zum Beispiel diese Stahlplatten. Auch das Fotografie- Einer, den man bei einem Schiffbruch gerne in der Nähe hätte. ren wird schwieriger – leichte Unschärfen sind nicht mehr auszuschließen. Foto: Reinhart Bünger
30 Minuten dauern Segelsetzen und Trimmen auf der SEA CLOUD. Die „Lappen“ geben gelegentlich Geräusche von sich, als würden da einige Meter über Deck feuchte Handtücher ausgeschlagen. „Ist es nicht wie früher, zu Auswandererzeiten?“, fragt da ein Passagier einen der Amerikaner, die diesen Törn schon oft gemacht haben, weil die Vorfahren wie in diesem Fall aus Irland kamen. „Oh ja, und auf die alten Zeiten bewegen wir uns wieder zu.“ Die Amerikaner, so kommt einem unwillkürlich in den Sinn, waren und sind uns öfter mal einen Schritt voraus. Und so lässt die Euro-Krise auch an Bord der SEA CLOUD grüßen. Eine Rückbesinnung auf die Segelschifffahrt wäre indes das Schlechteste nicht – und umweltfreundlich obendrein. Trotz eingeholter Segel bleibt das Schiff ordentlich in Bewegung. Zwar bemühen sich die Passagiere um einen auf- rechten Gang, festhalten müssen sich aber schon. Breitbeinig locker sind allein die Besatzungsmitglieder unterwegs. Ach ja, Seemann müsste man sein… wenigstens für ein paar Schritte. Aber es geht, im wahrsten Wortsinn, einfach nicht. Und deshalb lädt der Kapitän heute Abend auch nicht – wie vorgesehen – zum Champagner ein. Auch das vorgesehene Gala-Dinner mit Pushkarev ist auf einen noch unbestimmten weil unbestimmbaren Zeitpunkt verscho- ben. Als Dresscode ist heute Abend daher wieder „casual“ angesagt. Die Küchencrew wird auch dankbar sein, dass sie nicht all ihre Schätze auf schwankenden Planken zu präsentieren hat. Bei diesem Seegang bleibt auch keine feuchte Seife an ihrem Platz, und das Wasser steht länger als gewohnt in der Duschtasse, weil der Ablauf in der Mitte ist. Klassischer Fall von Fehlkonstruktion für Segelschiffe, denkt die Landratte. Fein essen gehen. Eigentlich sollte heute Abend Kapitän Vladimir Pushkarev sind „Willkommens Din- ner“ geben. Doch das muss abgeblasen werden. Es ist zu windig, das Schiff schaukelt zu stark. Die für diesen Abend vorgesehene festliche Kleidung könnte in Mitleidenschaft gezogen werden. Küchenchef Mathias Leischnig und sein Team zaubern trotz gelegentlich erschwerter Bedingungen jeden Abend tolle Menüs. Foto: Reinhart Bünger Trotz moderner Navigationsinstrumente, geschlossener, „unsinkbarer“ Rettungsboote und einer erfahrenen Crew bleibt bei dieser Art von Atlantiküberquerung, fernab von Schifffahrtsstraßen, ein Restrisiko. Im Fall des Falles käme uns wohl kein Schiff rasch zu Hilfe. Und mal kurz mit 25 Knoten einer Schlechtwetterzone ausweichen, das können wir mit den der SEA CLOUD auch nicht. Derartige Geschwindigkeiten sind mit den Hilfsdieseln des Segelschiffes einfach nicht zu erreichen. Dennoch: Wer zwei Wochen (und wie einige Gäste noch länger) auf dem Viermaster gebucht hat, dem ist Seegang lieber als Landgang. Es ist dies eines der letzten fühlbaren Abenteuer für Kreuzfahrer – ohne Stabilisatoren und Geschmacksverstärker. Wann denn nun endlich die Maschine ausgeschaltet werde, will ein Mitreisender beim Erklären der Segelmanöver auf dem Lidodeck vom Kapitän wissen. Die SEA CLOUD hat zwei Hilfsmotoren, zwei Wellen und zwei Propeller. Der Kapitän muss laut lachen – viel zu gerne ist der Russe mit seinem großen weißen Spielzeug ohne Motorkraft unterwegs, was auch ganz im Sinne des Reeders ist. „Das ist doch nur der Generator, den Sie hören“, sagt er, „Sie wollen doch Licht haben und funktionierende Steckdosen.“ Jaaa, natürlich. Das Getucker aus dem Schornstein wirkt auch gleich schon viel leiser. Schon seit dem Morgen laufen wir nur mit Windkraft. Höchste Zeit für die Rettungsübung. Alarm: Sieben Mal kurz, ein Mal lang! Schließlich sind wir schon einen halben Tag unterwegs. Und die Seenotrettungsübung ist aufgrund internationaler Sicherheitsbestimmungen binnen 24 Stunden nach dem Ablegen obligatorisch. Allein Kabine 24 muss nicht mitmachen. Hier hat es beim Aufrufen der Namen keine Rückmeldung gegeben. Doch die Mitreisenden dürfen in diesem (Übungs-)Fall in der Kabine bleiben, weil vermutlich unpässlich. Immerhin: Sie sind noch an Bord und das ist die Hauptsache. „Wir wollen ja alle gemein- sam schwimmen gehen, wenn wir schwimmen gehen müssen“, sagt der Erste Offizier Haas zur Einleitung. „Hier wird auch keiner vergessen.“ Soll heißen: Wir sitzen alle in einem Boot. Und deshalb wird nicht nur beim Not- son-
dern auch im Übungsfall nachgesehen, wo die Gäste sind und was mit ihnen los ist. „Wenn der Alarm ertönt, hören Sie auf zu denken, atmen aber weiter und kommen mit Ihrer Rettungsweste hierher auf das Lidodeck im Heck“, doziert Haas. Der Rest seiner nun folgenden Demonstration zum Anlegen der Schwimmweste werde sein wie im Flugzeug, „nur schöner“. Was passiert, wenn einer über Bord geht? „Dann werfen Sie ihm einen Rettungsring hinterher oder etwas anderes Schwimmbares über Bord – diesen Stuhl hier zum Beispiel“, demonstriert der Offizier. Kork ginge auch prima. Hat aber gestern niemand dran gedacht, als wir zwei Stunden lang von Lissabon aus auf dem Weg an die Algar- ve durch Plantagen mit tausenden von Korkeichen gefahren sind. Moderne Ret- tungsringe sind allerdings nicht mehr aus diesem Material. Haas wiederholt seine Einweisung noch einmal auf Englisch und weist – aus Erfahrung klug – darauf hin, dass die an den Rettungswesten befestigten Pfeifen keine Souvenirs, sondern im Notfall Überlebensmittel sind. Zum Abschluss noch ein Appell an Seenotrettungsübung. Aufgrund alle: „Keep your fingers crossed that we’ll keep this weather until the end of our internationaler Sicherheitsbestim- trip.” Na, dann hoffen wir mal, dass es nicht noch heftiger wird. mungen ist diese Übung für alle Gäste an Bord obligatorisch. Mit der Rettungsweste geht es um 10 Uhr Kurz vor Sonnenuntergang schaut Haas erneut ins Wetter. „Jetzt ist es Zeit, die zum Sammelpunkt auf das Lidodeck, Segelfläche zu reduzieren“, sagt er. Nachts in die Wanten zu klettern, das müsse wo den Gästen Rettungsboote zuge- ja nicht unbedingt sein, zumal bei dem vorherrschenden Seegang. „Als Vorberei- wiesen werden. Das Kommando über tung für die Nacht nehmen wir die obersten beiden Segel an den drei großen das Rettungsboot Nr. 1 führt der 3. Offizier Grzegorz Chroscicki. Er ist Masten weg, für den Fall, dass der Wind springt“, erklärt uns „der Erste“. Man zugleich der Sicherheitsoffizier auf wisse ja trotz der Wettervorhersage nie so ganz genau, was komme. „Und ohne dieser Transatlantikfahrt. Sehr beruhi- Not muss man da ja nachts nicht hinauf – auch wenn wir das bei der „Gorch gend mit ihm in einem Boot zu sitzen. Fock“ immer so gemacht haben.“ „Übrigens: Frauen gehören da oben nicht hin“, Foto: Lyle Lawson meint er noch. Windstärke 7. Die Seeleute sprechen hier auch von „steifem Wind“, der eine sehr grobe See verursacht. Der weiße Schaum von den brechenden Wellenköpfen legt sich in Schaumstreifen in die Windrichtung. Bei Windstärke 7 müssen die drei obersten Segel gerefft werden. Fotos: Reinhart Bünger
Reisetagebuch, Tag 3 Sonntag, 4. Dezember 2011 Vor Madeira einen Haken schlagen Position um 8 Uhr morgens: Position um 12 Uhr mittags: 34 Grad, 8 Minuten Nord 33 Grad, 58.5 Minuten Nord 13 Grad, 0 Minuten West 14 Grad, 18,5 Minuten West 300 Seemeilen westlich von Casablanca (Marokko) 130 Seemeilen nordöstlich von Porto Santo (Porto Santo liegt 42 km nordöstlich von Madeira und gehört zur portugiesischen Inselgruppe Madeira) Wassertiefe: 3650 Meter Seegang aus Nordost Stärke 4 Durchschnittliche Fahrt 8,4 Knoten Gesegelte Gesamtdistanz bis 8 Uhr früh seit Abfahrt: 202 Seemeilen Wind: stetig über Nordost mit gerade noch Stärke 5. In der Nacht zum Montag werden die Uhren wegen Passierens der nächsten Zeitgrenze eine Stunde zurückgestellt. Allgemeine Erleichterung an Bord – zumindest unter den Passagieren: Die Schaumkronen auf den Wellen sind über Nacht zu Schaumhäubchen geschrumpft. Zunächst sieht es so aus, als müsse der Hilfsdiesel angeworfen werden. Doch nun weht der Wind stetig und treibt die SEA CLOUD bei bedecktem Himmel auf den sonnigen Horizont zu. Vorfreude auf die noch weit entfernten Passatwinde macht sich breit: Es hat den Anschein, als werde es wärmer. Der zunächst graue, dann zunehmend tiefblaue Atlantik verliert für uns Landratten langsam seinen Schrecken, Ent- spannung macht sich breit. Jetzt kann man mal so richtig den Blick schweifen lassen. Hallo, könnte der weiße Schaum dort achtern etwa das Auftauchen eines Wals gewesen sein? Doch so weit sind wir noch nicht. Zunächst einmal geht es darum, die SEA CLOUD östlich an Madeira (Portugal) vorbeizumanövrieren. Die wie ein Strich gezogene Ideallinie für unsere Route von Portimão (Portugal) nach St. John’s (Antigua) ist nämlich nicht zu halten. Jedenfalls nicht, wenn der 80 Jahre alte Edel-Oldtimer segelnd, also ohne Maschinenkraft, dorthin bewegt werden soll. Dem Wind hat wohl niemand etwas von der Ideallinie verraten. Und so muss auf der Seekarte immer wieder mal ein Haken gezeichnet werden, um die richtige Brise aus der richti- gen Richtung einzufangen. Früher war es bei Atlantiküberquerungen nicht üblich, Mannschaft und Passagieren zu sagen, wo man sich auf See befindet. Möglichen Pa- nikattacken unter den Passagieren oder einer Meuterei der Besatzung sollte so der Wind aus den Segeln genommen werden. Auf einem Schiff wie der SEA CLOUD darf und muss das anders sein. „Ja, wo sind wir denn eigentlich inzwischen?“ Diese Frage wird öfter im heute gut besuchten Frühstücksraum gestellt. Pünktlich um 9.30 Uhr soll es jetzt jeden Morgen ein Briefing über unsere momentane Position in Raum und Zeit geben. Der erste Offizier Christian Haas hat dafür 9 Uhr – Segel setzen. Kapitän Vladimir Pushkarev heute Vormittag die für jede „Landratte“ verständlichen Worte gefun- (rechts) und der 1. Offizier Christian Haas erklären auf dem Lido Deck die einzelnen Segel und das den. „Um schneller die Passatwinde zu erreichen, die nördlich und Segelmanöver. südlich des Äquators wehen, werden wir das Röckchen hochheben und Foto: Lyle Lawson bei fünf bis sechs Windstärken die nördlich geplante Route verlassen.“
Die vor der vergangenen Nacht eingeholten Segel „Groß Royal“, „Groß-Oberbram“, „Fock Royal“ und „Fock Bram“ sind wieder gesetzt und so laufen wir zeitweise flotte 9,5 Knoten. „Wir setzen den Blinker rechts raus“, sagt Haas, „und suchen immer noch die richtige Ecke, um an Madeira vorbei zu kommen. Noch 200 Meilen, dann wird es wärmer.“ – „Na dann kann ich ja schon mal den Bikini rauslegen“, witzelt eine warm eingepackte Mitreisende. Gegen Mittag haben wir 222 Meilen seit unserer Abfahrt am Freitagabend zurückge- legt. Die SEA CLOUD ist eben eher ein Vergnügungsschiff, kein Rennboot. Außerdem wird die Route so gestaltet, dass keiner auf die Idee kommt, wegen Seekrankheit bei Madeira um einen Transfer zum Flughafen zu bitten. Denn auf der Höhe der portugiesi- schen Insel sind wir wieder in der Reichweite von Hubschraubern, deren Hilfe jedoch nur in absoluten medizinischen Notfällen in Anspruch genommen wird. Zudem wäre es ein ziemlich aufwendiges Manöver, schließlich kann auf einem Viermaster kein Hub- schrauber landen. „Wir müssten das schnelle Schlauchboot zu Wasser lassen und mit dem Patienten auf das offene Meer hinausfahren“, sagt Schiffsärztin (und Notfallmedi- zinerin) Angelika Aßmann. „Das ist ab Windstärke 5 schon nicht ohne, zumal der Pati- ent ja auch noch auf einer Krankenliege transportiert werden würde.“ Das Festland ist jedenfalls mit dem Hubschrauber seit gestern Abend nicht mehr zu erreichen. Das haben wir inzwischen auch mental verkraftet. In den vier Stunden von 12 bis 16 Uhr hat 3. Offizier Grzegorz Chroscicki Brückendienst – das Kommando liegt dabei natürlich weiterhin in den Händen von Kapitän Vladimir Pushkarev, ganz gleich ob er schläft oder wacht. Zum heutigen Dienstantritt wirkt Chroscicki etwas ratlos. Soll er nun die Maschinen anwerfen oder nicht? „The answer my friend is blowing in the wind“, möchte man kalauern. Wir machen jedenfalls kaum noch Fahrt, wobei der Fahrplan natürlich eingehalten werden muss. Gerade einmal 4,5 Knoten über Grund zeigt das neue technische Gerät noch an. Doch Chroscicki traut dem nicht so richtig. „Der elektronische Windmesser ist vorne am Mast angebracht, ziemlich weit unten, der zeigt mir nicht, ob und was achtern weht.“ Am liebsten wohl würde sich Chroscicki den mobilen Windmesser schnappen, und sehen wie viel Wind- stärken die Masten hinter der Brücke einfangen. Erst einmal steht jetzt jedoch eine Brückenführung für die englischsprachigen Gäste an. Hau-ruck. Das morgendliche Die SEA CLOUD dümpelt ohnehin – mehr den Kurs suchend, denn findend – im At- Segelsetzen gehört zu den lantik, da kann Chroscicki dem Autopiloten die Schiffsführung auch gleich ganz für ein schönsten Erlebnissen einer paar Minuten überlassen. „Wir fahren 1000 nautische Meilen Südwest – das ist unser Reise mit der SEA CLOUD. Plan“, sagt er. Man werde sehen, inwieweit das durchzuhalten sei. Fotos: Reinhart Bünger Seinen Weg auf die Brücke eines Schiffes begann der Pole als einfacher Fischer. Nach seiner Ausbildung zum nautischen Offizier fuhr er dann zunächst auf Containerschiffen. Seit zwei Jahren ist er nun – mit Urlaubsunterbrechungen, versteht sich – auf den SEA CLOUD-Schiffen ganz vorne unterwegs. Noch sechs Wochen sind es bis zu seinem nächsten Urlaub. Der dritte Offizier bevorzugt – mit den vielen Stammgästen, die auf dieser Transatlantikfahrt unterwegs sind – den Oldtimer. Die SEA CLOUD II sei natürlich auch ein sehr schönes Schiff, sagt er. Dann muss er allerdings doch etwas grinsen: „Im Vergleich zu diesem Schiff hat die SEA CLOUD II den Bootskörperbau einer Ente – und Enten wackeln nun einmal auf dem Wasser ein wenig mehr.“ Der Rumpf der SEA CLOUD II ist rundlich geformt, jener der SEA CLOUD eher wie ein Keil – und so ist Letztere weniger anfällig bei Seegang.
Auf der Brücke der SEA CLOUD sei in diesem Jahr ziemlich viel los gewesen, erzählt Chroscicki weiter. Im doppelten Wortsinn. Denn es wurde während der Generalüberholung des Schiffes im Frühjahr viel abgeschraubt und umgebaut, um das Schiff einerseits in den technisch aktuellsten Stand zu versetzen, also die modernsten nautischen Errungenschaften an Bord zu bringen. Andererseits wurde in Bremerhaven endlich der Original-Maschinentelegraf (Baujahr 1931) wieder funktionsfähig gemacht. Dessen Kette hinunter in den Maschinenraum war irgendwo gebrochen. Demjenigen, der das Ding reparieren könne, müsse man ein Denkmal setzen, dachte sich Kapitän Pushkarev. Gesagt getan: Eric Arndt hatte genügend Geschick, dem Teil aus Messing zu neuem technischen Glanz zu verhelfen. Nun klebt eine kleine Plakette auf dem Maschinentelegrafen: „Restored by Eric Arndt“. Er ist der 1. Ingenieur der SEA CLOUD. Nach den Reparaturen und dem Austausch des nautischen Geräts kamen da- Maschine stopp. Der während des mals die Inspektoren an Bord, zum Beispiel aus Malta, unter dessen Flagge das Werftaufenthaltes der SEA CLOUD Schiff läuft. Etwas mitleidig wohl beäugten sie die Originalanlage, mit der die 2011 reparierte Maschinentelegraf Schotten über eine Messingkurbel und ein Hydrauliksystem von der Brücke aus ist wieder voll funktionsfähig und geschlossen werden können, wenn das Schiff Wasser macht. Dass es funktio- das Glanzstück auf der Brücke. Der nierte, war keineswegs selbstverständlich. „Es kostet viel Arbeit, ein so altes Hebelapparat übermittelt Maschi- nenkommandos von der Komman- Segelschiff in Fahrt zu halten“, sagt der 3. Offizier, der übrigens dem nassen dobrücke in den Maschinenraum. Element auch in seiner Freizeit verbunden bleibt: Dann taucht er nämlich ab, am Mit ihm wird nicht der Antrieb direkt liebsten unter dem Eis der Seen in seinem Heimatland Polen. Seine arme Freun- gesteuert, sondern lediglich der din sieht ihn nur selten, wenn er an Land ist. Sagt er selbst. gewünschte Geschwindigkeitsbe- reich und die Drehrichtung übermit- telt: Damit das Personal im Maschi- Zum zweiten Mal auf dieser Reise wird aus gegebenem Anlass in der Lido Bar nenraum weiß, wohin die Reise abends eine Flasche Champagner an Deck entkorkt. Kapitän Pushkarev hat zum geht. Die gängigsten Kommandos, Willkommens-Drink eingeladen, um seine Crew förmlich vorzustellen. Wie am die damit angezeigt werden sind ersten Abend an Bord gibt es Beifallsstürme für den Bartender, den Ersten Offi- meist volle Fahrt voraus, halbe Fahrt, langsame Fahrt, Stopp, zier, den Hoteldirektor – und für die Pianistin Gaynor Trammer, von der in den langsame Fahrt zurück, halbe Fahrt kommenden Tagen viel erwartet wird. „As time goes by“ zum Beispiel oder an- zurück und volle Fahrt zurück. dere Weisen, die zu einer „Sentimental journey“ passen. Weiß doch der ein oder Foto: Reinhart Bünger andere Passagier nicht, ob er im kommenden Jahr wieder die körperliche und finanzielle Kraft hat, noch einmal eine Atlantik-Überquerung mit diesem Schiff zu meistern. Und so überrascht es zu guter Letzt nicht, dass sich am Ende des Dinners („Gratiniertes Rinderfilet auf Portweinjus mit Zwiebelstampf und Gemüsebouquet“) ein Stammgast aus Finnland erhebt, um einen Toast auf Schiff und Kapitän auszusprechen: „The best ships are friendships“, sagt er mit erhobenem Glas. Wer wollte da widersprechen? Vom Feinsten. Nachdem sich das Wetter beruhigt hat, ist heute der richtige Zeitpunkt für das Gala Dinner mit Kapitän Vladimir Pushkarev.
Reisetagebuch, Tag 4 Montag, 5. Dezember 2011 Bring back! Tagsüber segeln, nachts unter Motor vorankommen – das ist auf hoher See der Reiserhythmus des Windjammers. Position um 8 Uhr morgens: Position um 12 Uhr mittags: 31 Grad, 54 Minuten Nord 31 Grad, 37.3 Minuten Nord 17 Grad, 27 Minuten West 17 Grad, 23.9 Minuten West Wassertiefe: 4076 Meter Stärke des Seegangs: 3 Plus Durchschnittliche Fahrt: 6 bis 6,5 Knoten Gesegelte Gesamtdistanz bis 8 Uhr früh seit Abfahrt: 546 Seemeilen Windstärke: 3 bis 4 aus Ost/Nordost. Entfernung bis zum Fahrtziel St. John’s (Antigua): 2686 Seemeilen. Gesegelte Entfernung von Sonntag, 4.12.2011 (8 Uhr) bis Montag, 5.12.2011 (8 Uhr): 214 Seemeilen Kurs Süd/Südwest „Wir legten 240 Seemeilen in Tag- und Nachtfahrt zurück, mit einer Stundengeschwindigkeit von zehn Seemeilen; allein ich verzeichnete nur 192 Seemeilen, damit die Mannschaft wegen der bloßen Länge der Fahrt nicht unwillig werde.“ Christoph Kolumbus in seinem Bordbuch mit den Aufzeichnungen seiner ersten Entdeckungsfahrt nach Amerika unter dem Datum des 10. September 1492 nachdem er die Kanarischen Inseln hinter sich gelassen hatte. Beide Maschinen der SEA CLOUD liefen in der vergangenen Nacht in voller Fahrt voraus. So sind am Montagmor- gen gut 210 nautische Meilen zurückgelegt. Ein aus Sicht der Passagiere gottlob nur kleiner Schritt auf dem Weg zum Ziel in der Karibik, ein großer Sprung für die SEA CLOUD mit Blick auf die bisher zurückgelegte Distanz. Der Nostalgie-Großsegler muss auf eine durchschnittliche Tagesgeschwin- digkeit von 8,5 Knoten kommen, um im Zeitplan zu bleiben. Deshalb sind wir in den dunklen Stunden unter Motoren 11 bis 11,5 Knoten die Stunde gelau- fen und haben so die geringe Geschwindigkeit am gestrigen Tage wieder wettgemacht. Immerhin, die Hälfte der bisherigen Streckenabschnitte wurde allein unter Segeln bewältigt. Tagsüber segeln, nachts unter Motor voran- Foto: Reinhart Bünger kommen – das ist unser Reiserhythmus. In der Frühe werden alle Segel gesetzt, an Madeira laufen wir gegen fünf Uhr im Abstand von fünf Seemeilen vorbei; das Eiland ist zum Sonnenaufgang um 6:56 Uhr noch in der Ferne zu erkennen. Um mehr Fahrt zu machen, werden auch die Besansegel am letzten hinteren (Besan-)Mast gesetzt. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang sind bereits viele Passagiere an Deck – schließlich war die vergangene Nacht eine Stunde länger, da wir die Greenwich-Zeitzone überfahren haben. Für die Frühaufsteher wird jeden Tag ab zirka 6.30 Uhr ein eigenes Frühstücksbüfett an Deck aufgebaut: Kaffee, heißes Wasser für Tee, Croissants und Hefestücke helfen auf die Sprünge in einen neuen Tag, der sich zunächst bedeckt hält.
Heute werden zum ersten Mal auch die Besansegel im Heck gesetzt. Das Wort Besan ist niederländisch und vom arabischen Wort „mazan“ abgeleitet und bedeutet Mast. Segelschiffe wer- den damit in gleichmäßiger Fahrt gehalten. Fotos: Lyle Lawson (links und Mitte); Reinhart Bünger (rechts) Zum morgendlichen Briefing mit dem 1. Offizier Christian Haas hat ein amerikanischer Passagier sein „SEA CLOUD-Reisetagebuch“ von vor zwei Jahren mitgebracht. Am Tag 4 der Transatlantiküberquerung, so stellt er unter dem Gejohle der Mitreisenden fest, sei die SEA CLOUD damals kaum 6 Knoten gelaufen. Von unserer derzeitigen Position sind es noch 540 Seemeilen bis zu einem Kurswechsel, so der 1. Offizier. „Wir drehen dann scharf nach rechts ab in der Hoffnung, dass die Passatwinde uns dann schieben.“ Das könnte in zwei bis zweieinhalb Tagen der Fall sein. Die Passagiere, die zum Briefing gekommen sind, sagen: „Ihr könnt Euch auch noch mehr Zeit lassen.“ Langsam nur verschwindet der Alltag am Horizont achtern. Gegen Mittag zerreißt die Sonne die Wolkendecke und siehe da: Der Atlantik wird immer blauer und die Sonnen- strahlen wärmen richtig. In den luxuriösen Kabinen im Rumpf fühlen sich Mitreisende bei etwas stärkerer See immer wieder für ein paar Augenblicke wie in einem Tiefseeaquarium, wenn sie aus den Bullaugen schauen. Spätestens heute sind die Passagiere der SEA CLOUD auf „ihrem“ Schiff richtig angekommen. Mit den Gegebenheiten ist man schon länger vertraut, nun ist man es auch – im Großen und Ganzen – mit den Mitreisenden an Bord. Jetzt heißt es nur noch, den richtigen Platz und Rhythmus für sich selbst zu finden. Einer der schönsten – weil bisher von den meisten Passagieren unentdeckten – Plätze befinden sich über der Brücke. Hier, zwischen Schornstein und Fock- mast, öffnet sich eine Fläche von rund zwanzig Quadratmetern mit einer fantastischen, fast ungestörten Rundum- sicht über das Schiff. Eine steile Treppe führt hinauf. Doch der elegante Viermaster bietet überall an Deck ausrei- chend Platz. Es findet sich immer ein freier Liegestuhl – wahlweise allein stehend und/oder verborgen oder gereiht mit der Option zum Gespräch mit dem Liegestuhlnachbarn. Neben der Möglichkeit, einfach nur zu träumen oder die kulinarischen Angebote wahrzunehmen, gibt es tagsüber auch – mal in Englisch, mal auf Deutsch gehaltene – Vorträge über das Sonnensystem mit Lektor Erich Übelacker, der von 1975 bis 2000 Leiter des Hamburger Planetariums war. Es gibt Brückenbesichtigungen, einen Malkurs und „Pilates mit Gabi“, der Cruise-Direktorin. Dabei geht’s keineswegs um Bekämpfung von Langeweile. Die hat hier keiner. Von Animation mag man schon gar nicht reden. Vielmehr sind alle Angebote eher taugliche Versuche, Seele, Geist und Körper in Einklang zu bringen. Um 12 Uhr 30 ist das Mittagsbuffet angerichtet. Mit jedem neuen Tag wird es jetzt wärmer an Bord. Wenn es Wind und Wellen zulassen, nehmen wir unser Essen nun gerne im Freien ein. Hoteldirektor Simon Kwinta wacht aufmerk- sam über das breite Angebot. Fotos: Lyle Lawson
Ohnehin ergibt sich für die Passagiere alles ganz zwanglos. Jeder geht seiner Wege, hängt seinen Gedanken nach, unterhält sich mit diesem oder jenen, döst, liest, gönnt sich zum Sonnenuntergang ein Gläschen Wein oder schläft einfach mal unter freiem Himmel ein wie in einem großen schaukelnden Kinderwagen. Warm eingepackt in eine Decke geht das auf der Kissenlandschaft der „Blauen Lagune“ auf dem Achterdeck besonders gut. Die Mannschaft ist – vom Servicepersonal abgesehen – weitgehend unsichtbar. Es sei denn, Segel werden gesetzt oder eingeholt (die obersten wegen der Stabilität des Schiffes immer zuerst). Allerdings gibt es Sondereinsätze für die Mannschaft. Heute zum Beispiel zucken die Passagiere zusammen. Der Oldtimer SEA CLOUD tutet, als sei er das Schwesterschiff der „Titanic“. Feueralarm! „Auch wenn uns das Wasser bereits bis hier steht“, sagt Hoteldirektor Simon Kwinta und deutete mit der Handkante auf seinen Hals, die Mannschaft müsse stets mit gutem Beispiel voran gehen. Der versammelten (Teil-)Mannschaft erklärt er auf dem Lidodeck, „Ihr bleibt freundlich, wenn wir aussteigen müssen. Sagt den Gästen, dass alles in bester Ordnung ist. Alles bestens, nicht vergessen! Und achtet bei Familien darauf, dass die einzelnen Familienmitglieder an einem Platz zusammenkommen und auch zusammenbleiben.“ – „Aye-aye, Sir!“ Geordneter als dieses Schiff würde keines jemals untergehen, so viel ist gewiss. Doch dazu wird es nie kommen. Die 80- jährige Geschichte des Viermasters – Einsatz im 2. Weltkrieg inklusive – zeigt: Dieses Schiff segelt unter guten Sternen bis zum „Kreuz des Südens“ und weit darüber hinaus. An Sicherheitstechnik mangelt es nicht. Die SEA CLOUD hat allein zwei von einander unabhängige Radarsysteme, die bei der technischen Überholung im Frühjahr nagelneu an Bord kamen. Überdies gibt es drei UHF-Funkgeräte, über die das Brückenpersonal Notsignale absetzen kann. Zwar ist das beste System nur so gut, wie der schlechteste Bediener. Aber dann gibt es auch auf einem Nostalgie-Segelschiff, das gelegentlich nur dieselt und dann wieder segelt, einen, der die Sache im Zweifelsfalle regelt: „Der Master“, Kapitän Vladimir Pushkarev. Heute muss auch die Mannschaft Der Russe ist durchaus in der Lage, auch einen gar nicht so gefühligen „Alten“ zum Sicherheitstraining antreten. zu geben. Als ein Passagier das Brückenpersonal am frühen Abend auf den Hoteldirektor Simon Kwinta gibt die Kommandos. leicht im Wind schlagenden Queerbaum des Besanmastes hinweist, schießt Fotos: Lyle Lawson Pushkarevs Blutdruck auf 180. Drei, vier Anweisungen mit dem Walkie-Talkie und der 3. Offizier bewegt sich mit einer kleinen Truppe im Laufschritt zum Heck. Zunächst werden die Besansegel eingeholt („Hau-Ruck“), dann wird der Queer- baum neu befestigt. Dieses Teamwork gibt dann auch dem Shantieabend, der diesen Tag beschließt, die besondere Note. Pianistin Gay- nor Trammer hatte im Vorfeld Blut und Wasser geschwitzt, ob sie den Erwartungen voll und ganz entsprechen kön- ne. Denn sie hatte zur Vorbereitung nur Texte der ihr weitgehend unbekannten Seemannslieder erhalten. Der „Ham- burger Veermaster“ gehört in den USA schließlich zu den eher seltener gespielten Stücken. Doch die Amerikanerin hat sich zu helfen gewusst. Über ein Computerprogramm ließ sie den Songs Notenkleider schneidern. Das klingt jetzt so, als habe sie mehrere hundert Jahre an der deutschen Nordseeküste gelebt. „My Breakfast is over the ocean“, singt der Mannschaftschor unter Leitung von Hoteldirektor Simon Kwinta. „Bring back, bring back, bring back my Breakfast to me“, schallt das Echo der Passagiere. Well done, Gaynor!
Großer Auftritt des Shanty Chors: „My Breakfast is over the ocean“, singt die Mannschaft unter Leitung von Hoteldirektor Simon Kwinta. „Bring back, bring back, bring back my Breakfast to me“, schallt das Echo der Passagiere. Das ist ganz nah am Text und – Neptun sei Dank – ganz weit weg von der Wirklichkeit.
Reisetagebuch, Tag 5 Dienstag, 6. Dezember 2011 (Nikolaus) Kommt Zeit, kommt Wind Tagesmotto der SEA CLOUD CRUISES für den heutigen Tag: „Ich wünsche uns den Mut, unsere Richtung neu zu finden, wenn wir ohne Orientierung sein sollten.“ Position um 8 Uhr morgens: Exakt 30 Grad Nord 20 Grad, 40 Minuten West Wassertiefe: ca. 4800 Meter Stärke des Seegangs: 3 Plus Außentemperatur: 21 Grad Celsius Wassertemperatur: 21 Gras Celsius Luftdruck: ziemlich konstant um 1020 hp Durchschnittliche Fahrt tagsüber unter Segeln: 5,5 bis 6,5 Knoten Gesegelte Gesamtdistanz bis 8 Uhr früh seit Abfahrt: 765 Seemeilen Streckenlänge Portugal–Las Palmas/ Gran Canaria (zum Vergleich): 650 Seemeilen Wind unverändert aus Nordost mit Stärken 4 bis 5. Entfernung bis zum Fahrtziel St. John's (Antigua): 2480 Seemeilen. Gesegelte Entfernung von Montag, 5.12.2011 (8 Uhr) bis Dienstag, 6.12.2011 (8 Uhr): 229,3 Seemeilen Durchschnittsgeschwindigkeit der SEA CLOUD seit Abfahrt: 8,9 Knoten Sternenklare Nächte auf See – ein Traum. Diese Zeit ist für die Passagiere noch Verheißung, doch die romantischen Stunden kommen so sicher wie der Sonnenuntergang vor dem Bug der SEA CLOUD. Der heutige Sonnenaufgang um 7.02 Uhr ist bereits spektakulär. Plötzlich schießt die feuerrote Zauberkugel förmlich über dem Heck aus ihrem Versteck hinter dem Horizont. Auf dem Hauptdeck beobachten die Frühaufsteher bei Kaffee oder Tee dieses schier unglaubliche Schauspiel am Himmel. Warum sind diese Menschen eigentlich auf der SEA CLOUD, dieser mit viel Patina überzogenen, vergleichsweise puristischen Schwester der größeren SEA CLOUD II? Was sucht ein Passa- gier auf diesem aus der Zeit gefallenen 80-jährigen Großsegler? Menschen, die 16 Tage mit der SEA CLOUD auf Transatlantikpassage gehen, sind nun wahrlich nicht darauf aus, rasch von A nach B zu gelangen. Es ist auch – Überraschung – niemand an Bord, der mit einer Fahrt auf dem Flaggschiff der Hansa Treuhand protzen möchte – goldene Wasserhähne hin oder her. Die wurden ohnehin, so heißt es, von der ersten Besitzerin Marjorie Merriweather Post nur deshalb angeschafft, weil Messing schwieriger zu put- zen ist. Es geht auch nicht vorrangig um touristisches Interesse. Das ließe sich auf anderen Törns weitaus besser befriedigen. Auch werden an Bord kaum Kameras gezückt, keine Camcorder laufen heiß. Und schon gar nicht fragt jemand: „Können Sie mich mal hier an der Reling beim Sonnenuntergang fotografieren?“ Die Erinnerungsbilder, die hier an Bord entstehen, werden woanders gespeichert, nicht auf Chips oder Festplatten. Von den 46 Gästen auf dieser Überfahrt kommen 11 aus den USA, jeweils drei Paare aus Finnland, Italien und der Schweiz. Die übrigen Mitreisenden stammen aus Deutschland, wenngleich dort nicht mehr alle ihren Wohnsitz ha- ben. Bei den amerikanischen Gästen mögen bei der ersten Buchung Motive wie „back to the roots“ eine Rolle ge- spielt haben, wenn sie den Spuren der ausgewanderten Vorfahren aus Irland oder anderen europäischen Staaten folgen wollten. Doch viele der Amerikaner an Bord sind überzeugte „Wiederholungstäter“, „Repeater“ im Branchen- jargon. Warum buchen sie wieder und wieder, die zum Beispiel teuerste Eigner-Kabine Nr. 1 (Listenpreis: 10.795 Euro), die bei Seegang auch nicht weniger schaukelt als andere? „This ship makes me feel at home.“ Okay, so einfach kann die Antwort sein. Das Gefühl des Geborgenseins mag auch viele Alleinreisende zur Atlantikfahrt bewo-
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