Mainzer Kontaktstudium Geographie 19 - Geographien der Gewalt: Die USA am Wendepunkt - Geographische Perspektiven - Johannes Gutenberg ...

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Mainzer Kontaktstudium Geographie 19 - Geographien der Gewalt: Die USA am Wendepunkt - Geographische Perspektiven - Johannes Gutenberg ...
Mainzer Kontaktstudium Geographie 19

            Geographien der Gewalt:
Die USA am Wendepunkt – Geographische Perspektiven
       Mit 125 Abbildungen, 10 Karten und 39 Tabellen

                    Herausgegeben von
      Volker Wilhelmi, Elmar Theveßen und Florian Pfeil

                Geographisches Institut
         Johannes Gutenberg-Universität Mainz
                     Mainz 2021
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
 Wilhelmi, V., E. Theveßen und F. Pfeil (Hrsg.): Geographien der Gewalt: Die USA am Wen-
 depunkt – Geographische Perspektiven.

 Beiträge von: Becker, Johanna; Dorst Alonso, Claudia; Escher, Anton J.; Gödecke, Elisa-
 beth-Carolin; Karner, Marie Johanna; Keßler, Viola; Lehr, Janina Vera; Massold, Angelina;
 Ölke, Melanie; Pfeil, Florian; Schmidt, Christoph; Schmidt, Katharina; Theveßen, Elmar;
 Villain, Nele; Wilhelmi, Volker; Zimmermann, Julie / Hrsg. von Volker Wilhelmi, Elmar
 Theveßen und Florian Pfeil

 Mainz: Geographisches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2021
 (Mainzer Kontaktstudium Geographie; 19)

 ISBN: 978-3-88250-314-2

© 2021

Redaktion: Volker Wilhelmi, Alica Nicole Tonkowski, Lisa-Kathrin Wienzkowski
Satz/Layout/Gestaltung: Alica Nicole Tonkowski, Lisa-Kathrin Wienzkowski
Lektorat: Alica Nicole Tonkowski, Lisa-Kathrin Wienzkowski
Druck: Zentraldruckerei der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Inhaltsverzeichnis
VOLKER WILHELMI
Vorwort ………………………………………………………………………………………...……... 1

Basisbausteine

VOLKER WILHELMI
Geographien der Gewalt konkret: Die USA am Scheideweg 2020/21
Politische Bildung mit geographischem Fokus …………………………………………...……………. 3

ELMAR THEVEßEN
Der Januar 2021 …………………………………………………….……………..………..…..…… 17

ELMAR THEVEßEN
American Voices – Amerika am Abgrund des Autoritarismus …………...……..…………..…… 23

FLORIAN PFEIL
„I’ve Seen The Promised Land.”
Black Lives Matter und das Erbe der US-Bürgerrechtsbewegung ………………………………..…. 34

ANTON J. ESCHER
„We are still here!“ American Indians, Indian Tribes und Indian Nations in den USA. ………… 47

MARIE JOHANNA KARNER
“One Nation Under God“ – Die Bedeutung und Veränderung von Ethnic Churches in der US-
amerikanischen Gesellschaft…………………………………..……………………………...…..… 72

Unterrichtsbausteine

VIOLA KEßLER
United States of Fear – die politische Instrumentalisierung der Angst anhand Trumps Flüchtlings-
politik ……………………………..………………………………………………………………….. 98

NELE VILLAIN
Gewollt – Geduldet – Überwunden?!
Der Rassismus in den USA als Spiegel seiner Zeit …………………………..………………………. 109

ELISABETH-CAROLIN GÖDECKE
Bibeltreue Supermacht?! – Religiöse Wertvorstellungen als Einflussfaktoren auf soziale und po-
litische Entwicklungen …………………………………………………………..……………...…. 119

ANGELINA MASSOLD
Verschwörungstheorien – Der Sturm auf das Kapitol am 06.01.2021 …………………..…....…. 129

KATHARINA SCHMIDT
Wirtschaftskrieg USA – EU: Wie du mir, so ich dir
Die Auswirkungen eines Handelsstreits im Zeitalter der Globalisierung am Beispiel des Wirtschafts-
krieges USA – EU …………………………..…………………………………………………..…… 141

MELANIE ÖLKE
Corona und Globalisierung…………………………………...………………………...…………. 153

JOHANNA BECKER
Die Macht der Sprache – wozu Sprache im geopolitischen Kontext fähig ist … …...................... 164

                                                                                                    V
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JANINA VERA LEHR
Manipulierte Videos – Wie gefährlich sind Deep Fakes?
Ausarbeitung einer Unterrichtsstunde für die Sekundarstufe II ……………………..………….…… 174

CLAUDIA DORST ALONSO
Sozial Media als Nachrichtenquelle
Am Beispiel der USA ………………………....…………………………………………………….. 183

CHRISTOPH SCHMIDT
Die Reportage als Spiegel einer Gesellschaft? ………………………………...………….………. 196

JULIE ZIMMERMANN
Microtargeting in Social Media – eine Gefahr für die Demokratie? …………………….………. 206

VI
WILHELMI, Volker, Elmar THEVEßEN und Florian PFEIL (Hrsg.): Geographien der Gewalt: Die USA am
     Wendepunkt – Geographische Perspektiven. Mainz 2021: 72–97 (= Mainzer Kontaktstudium Geographie,
     Bd. 19)

                                    MARIE JOHANNA KARNER
     “One Nation Under God” – Die Bedeutung und Veränderung von
        Ethnic Churches in der US-amerikanischen Gesellschaft

1     Einheit aus der Vielfalt

Die Vereinigten Staaten von Amerika verstehen           Pluralismus durch und gewann in den 1970er
sich als “Nation of Immigrants” und zählen ne-          Jahren an Popularität. Es bringt zum Ausdruck,
ben Kanada und Australien zu den klassischen            dass sich kulturelle Elemente in eine nationale
angelsächsischen Einwanderungsländern. An-              Kultur einfügen und zu einem gemeinsamen
ders als europäische Länder, deren Nationalis-          Ganzen beitragen können, in dem Unterschiede
mus in der Regel auf eine geteilte Geschichte und       jedoch noch deutlich zu erkennen sind.2 Dies
Traditionen zurückzuführen ist, basiert der Grün-       spiegelt auch das im Jahr 1782 entworfene offi-
dungsmythos beziehungsweise die Leitidee der            zielle Siegel der Vereinigten Staaten mit dem la-
US-amerikanischen Gesellschaft auf der Idee ei-         teinischen Spruch “E pluribus unum” („Aus vie-
nes Melting Pot (PARK 1928: 890).1 Die fort-            len eines“) wider (STÖVER 2012: 281), das heute
schreitende Vermischung von Zuwander:innen              als Staatsmotto auf vielen symbolträchtigen Ob-
unterschiedlicher geographischer Herkunft, eth-         jekten zu finden ist (z. B. Air Force One, Half
nischer Zugehörigkeit und kultureller Praktiken         Dollar-Münze).3 In diesem Sinne setzte sich die
führe, so die These, zur Auflösung der kulturel-        Vorstellung durch, dass die Bewahrung einer
len und ethnischen Eigenständigkeit. Ergebnis           ethnischen Identität und die Einbindung in Fami-
dieses Verschmelzungsprozesses sei eine ge-             lien, Ethnic Churches, Gemeinschaften und
meinsame amerikanische Kultur als Basis einer           transnationale Netzwerke für die wirtschaftliche
neuen Nation. Gegen das Melting-Pot-Konzept             und soziale Eingliederung von Einwander:innen
werden Einwände erhoben, da dieser Entwurf              und ihren Kindern von Vorteil ist, insbesondere
des Zusammenlebens weniger eine gleichberech-           für „nicht-weiße Gruppen“ (KURIEN 2012: 449).
tigte Integration, sondern vielmehr eine Assimi-
                                                        Für die dynamisch wachsende, heterogene ame-
lierung an die protestantische, weiße, angelsäch-
                                                        rikanische Siedlergesellschaft hat Glaube und
sische Mehrheitskultur verlangt. Mit Blick auf
                                                        Religion eine integrative Funktion. Die Solidari-
die Lebenswelt wird an der Metapher kritisiert,
                                                        tät innerhalb von religiösen Gemeinschaften, de-
dass sie die Realität der heterogenen Gesellschaft
                                                        ren Mitglieder ethnische Identitätselemente tei-
nicht adäquat abbildet (LÖFFLER 2001: 28).
                                                        len, stellt ein Gegengewicht zum voranschreiten-
Das Bild der Salad Bowl setzte sich im Rahmen           den Individualismus dar (PRÄTORIUS 2003: 192).
der Debatte über das Konzept des kulturellen

1                                                       2
  Das Bild der USA als Schmelztiegel wurde durch          Auch die Metapher der Salad Bowl wird der Dyna-
das Theaterstück “The Melting Pot” des britischen       mik kulturell vielfältiger Gesellschaften nicht gerecht
Schriftstellers Israel Zangwill populär. Im Jahr 1908   (WERSICH 2013: 134).
                                                        3
fand die Uraufführung seines Stücks in Washington,        Der Spruch bezog sich im 18. Jahrhundert auf die zu
D.C. statt. Die Metapher Melting Pot wurde das erste    schützende Eigenart der verschiedenen Gemeinschaf-
Mal vom französisch-amerikanischen Autor Michel-        ten (“pluribus”), sofern die christliche Grundentschei-
Guillaume Jean de Crèvecoeur in seiner Sammlung         dung (“unum”) gewahrt wurde (PRÄTORIUS 2003: 44).
“Letters from an American Farmer” gebraucht, die im     Heute wird er auf die verschiedenen ethnischen Grup-
Jahr 1782 veröffentlicht wurde.                         pen bezogen und steht für „Einheit aus der Vielfalt“.
72
Die Relevanz von Ethnic Churches wird in die-              Viele der frühen Siedler deuteten die gemein-
sem Aufsatz am Beispiel zweier maronitischer4              same Erfahrung der Auswanderung, die Ansied-
Gemeinden in den USA verdeutlicht. Einführend              lung in unbekannten Gebieten und die Gründung
wird der Forschungsstand zu Religion im Kon-               von Kirchengemeinden als „Auserwähltheit
text von Zuwanderung zusammengefasst, ein                  durch Gott“. Sie fühlten sich berufen, eine Kol-
Themenkomplex, der bis in die 1990er Jahre von             lektivordnung im Sinne des göttlichen Auftrags
Sozialwissenschaftler:innen       vernachlässigt           zu errichten (PRÄTORIUS 2003: 44). Vor allem
wurde (EBAUGH 2003: 226). Zur Kontextualisie-              die Puritaner verfolgten die reformatorische Vi-
rung wird anschließend die Entwicklung maroni-             sion, als auserwähltes Volk ein „neues Jerusa-
tischer Einrichtungen in den USA skizziert, um             lem“ zu errichten, um ein authentisches Christen-
die empirischen Beispiele in nationale Dynami-             tum wiederzubeleben (RIESEBRODT 1990a: 472).
ken einordnen zu können.
                                                           In der Bill of Rights (1789), dem ersten Verfas-
                                                           sungszusatz, wurde festgeschrieben, dass die in-
                                                           dividuelle und kollektive Religionsausübung
2    Glaube und Religion in den USA                        nicht durch Gesetze behindert und keine Staats-
                                                           religion eingeführt werden darf. Das Gleichbe-
                                                           handlungsgebot wurde im Jahr 1870 wirksam,
In den USA geben gegenwärtig 53 Prozent der                das staatlich unterstützte religiöse Diskriminie-
Bevölkerung an, dass Religion eine große Be-               rung verbot.
deutung in ihrem Leben einnimmt (HACKETT et
al. 2018: 52).5 Nicht nur die ausgeprägte Religi-          Wenn man von den kolonialen Anfängen der Ka-
osität der US-amerikanischen Bevölkerung, son-             tholiken in Maryland absieht, ist die katholische
dern auch die religiöse Vielfalt sind ein Erbe der         Kirche in Amerika ein Produkt der zwei großen
kolonialen Gründungsgeschichte. Anglikaner,                Einwanderungswellen des 19. Jahrhunderts. Mit
Puritaner, puritanische Separatisten, Hollän-              Rückwanderungsraten von 25 bis 40 Prozent war
disch-Reformierte, Katholiken, Baptisten, Lu-              die katholische Bevölkerung aus Ost- und Süd-
theraner, Mennoniten, Quäker u. a. siedelten in            europa allerdings zunächst von einer hohen Fluk-
unterschiedlichen Regionen des Landes. „Diese              tuation geprägt. Die Wohnviertel und Gemein-
Bekenntnisvielfalt verstärkte sich seit der Grün-          den von Katholiken stabilisierten sich erst im
dung der Republik durch immer neue Einwande-               Zuge der restriktiveren Einwanderungspolitik
rungswellen von Katholiken, Lutheranern, Ju-               der USA nach dem ersten Weltkrieg (Emergency
den, u. a., durch den Import neuer protestanti-            Quota Act von 1921, Immigration Act von 1924)
scher Strömungen überwiegend aus England (…)               und der Weltwirtschaftskrise zum Ende der
sowie durch inneramerikanische Sektenbildun-               1920er und im Verlauf der 1930er Jahre
gen“ (RIESEBRODT 1990a: 470).                              (BIRNBAUM 1990: 486, 488).
Ein Großteil dieser ersten europäischen Siedler
war aus Ländern mit Staatskirchentum (z. B. Ita-           2.1 Die integrative Funktion von
lien, England, Russland) gekommen und wurde
                                                               religiösen Gemeinden
zum Teil religiös verfolgt6 (PRÄTORIUS 2003:
29). In der „Neuen Welt“, die ihnen ökonomi-               Wo Glaubensanhänger in räumlicher Nähe sie-
sche Möglichkeiten versprach, wollten sie ihre             delten, gründeten sie Kirchengemeinden als
religiösen Überzeugungen, Traditionen und Le-              Herzstück ihres sozialen Lebens (SMITH 1978:
bensmodelle etablieren (STÖVER 2012: 282).                 1182). Bis in die 1960er Jahre wurde von ihnen

4
  Die maronitische Kirche ist eine seit dem 12. Jahr-      mit dem höheren Maß an sozialer Sicherheit durch
hundert mit Rom unierte katholische Ostkirche west-        den kanadischen Wohlfahrtsstaat zusammen: “With
syrischen/antiochenischen Ursprungs, die ihren Na-         relatively high existential security, the society
men vom Heiligen Maroun (arab. Mar Maroun) ablei-          remains resistant to the economic forces that drive
tet. Sie teilt die Lehre der katholischen Kirche und       heightened religious values” (MARGER 2013: 79).
                                                           6
erkennt den Papst als Oberhaupt an.                          Religiöse Verfolgung zählt nicht zu den ausschlag-
5
  In Kanada trifft dies auf 27 Prozent und in Australien   gebenden Gründen, weshalb Maronit:innen aus dem
auf 18 Prozent der Bevölkerung zu (HACKETT et al.          heutigen Libanon auswanderten. Die Motive waren
2018: 52, 64), wobei sich die Bedeutung der Religio-       vielmehr ökonomisch und persönlich oftmals verbun-
sität in Kanada und den USA in unterschiedliche            den mit dem Vorhaben einer baldigen Rückkehr
Richtungen entwickelt. Die Annäherung der kanadi-          (NAFF 1992: 145).
schen Werte an westeuropäische Verhältnisse hängt
                                                                                                            73
erwartet, dass sie zur Assimilation ihre Sprache      participatory democracy” (ECK 2001: 336). Die
und kulturellen Praktiken anpassen. Mithilfe der      angeeigneten Civic Skills sind für die Partizipa-
Religion konnten sie jedoch ihre gemeinschaft-        tion an der amerikanischen Demokratie aus-
lichen Traditionen bewahren: “The children of         schlaggebend. Darüber hinaus motivieren religi-
European immigrants were expected to assimi-          öse Gemeinden Einwander:innen zu zivilgesell-
late by becoming de-ethnicized and individual-        schaftlichem Engagement, das über die eigene
ized in the secular and public sphere, but were       Gruppe hinausgeht (FOLEY und HOGE 2007: 151
able to retain their ethnic communities, language,    ff.). Die Angebote der Weiterbildung von Kir-
and traditions in the sphere of religion” (KURIEN     chengemeinden unterstützen zudem die soziale
2012: 465).                                           Mobilität von Mitgliedern. Aus diesen Gründen
                                                      werden Ethnic Churches als fördernd für die ge-
Die gegründeten Ethnic Churches erfüllen seit-
                                                      sellschaftliche Integration angesehen (FONER
dem einen doppelten Zweck: Durch Sprachunter-
                                                      und ALBA 2008: 363 ff.).
richt, Arbeits- und Wohnungsvermittlung sowie
Seminare fördern sie einerseits die Integration
ankommender Einwander:innen in die amerika-
nische Gesellschaft; andererseits werden kultu-
                                                      2.2 Die Verflechtung von religiöser,
relle und religiöse Praktiken des Herkunftslandes         ethnischer und nationaler Identität
reproduziert und Traditionen neu entdeckt,            Bis in die 1960er Jahre betonten Einwander:in-
wodurch ethnische Identitäten (re-)konstruiert        nen besonders ihre Religion, da Glaube und reli-
werden (EBAUGH und CHAFETZ 2000): “Whe-               giöses Bekenntnis nicht nur gesellschaftlich ak-
ther celebrating secular holidays in a religious      zeptiert sind, sondern erwartet wurde: “The
setting, reorganizing ethnically specific religious   newcomer is expected to change many things
holidays, or replicating ethnically distinctive ob-   about him as he becomes American – nationality,
jects and ways of worship, immigrant congrega-        language, culture. One thing, however, he is not
tions often formally recognize, support, and          expected to change – and that is his religion”
thereby reinforce ethnic identity and cultural        (HERBERG 1983: 23 Herv. i. Orig.). Häufig ver-
continuity. In the process, they help immigrants      drängte die religiöse Identität die ethnische Iden-
to feel more ‘at home’ in their strange land”         tität. Dabei wurde die Bekundung einer religiö-
(EBAUGH und CHAFETZ 2000: 390).                       sen Identität für Immigrant:innen wichtiger als in
Zwar pflegt jede Konfession ihre eigenen Tradi-       ihrem Herkunftsland (EBAUGH 2003: 230), da sie
tionen, Liturgie und Theologie in den USA; die        nationale Identität stiftet: “(…) [R]eligion helps
ausgebildeten Organisationsstrukturen sind da-        to turn immigrants into Americans and gives
gegen ähnlich (KURIEN 2012: 449). Als primäre         them and their children a sense of belonging or
Form hat sich der Kongregationalismus durchge-        membership in the United States” (FONER und
setzt, bei dem die Autonomie von religiösen Ge-       ALBA 2008: 365).
meinden oberste Priorität hat. Nach dem Modell        Im Zuge des Ethnic Revivals und der zunehmen-
der protestantischen und katholischen Vorgän-         den politischen Anerkennung von Differenz, ge-
gergemeinden wurde Wert auf freiwillige Mit-          wann die Betonung ethnischer Identitätsele-
gliedschaft, gewählte lokale Laiengremien, die        mente als Ausdruck der Zugehörigkeit zur ame-
Einbindung von Mitgliedern in Verwaltungsauf-         rikanischen Gesellschaft an Bedeutung.7 Sie
gaben und die Vergrößerung von Gebetsstätten          ermöglichte Einwander:innen, an der multikultu-
zu Gemeindezentren gelegt. Finanziert werden          rellen Gesellschaft teilzuhaben: “Immigrants in-
die Gemeinden fast ausschließlich durch ihre          tegrate by remaining ethnic and group-identified,
Mitglieder, da eine Kirchensteuer aufgrund der        but religion is viewed as a personal quest“
historisch gewachsenen strikten Trennung von          (KURIEN 2012: 447). Für viele Immigrant:innen
Staat und Religion in den USA nicht denkbar ist       und deren Nachkommen zählen religiöse Identi-
(EBAUGH 2003: 227, 232 f.).                           tät und Traditionen bis heute untrennbar zu ihrer
Mitglieder, die Ämter innerhalb ihrer Gemeinden       ethnischen Identität (KURIEN 2012: 450).
übernehmen, werden mit sozialer Anerkennung           Die zunehmende Diversität der Herkunftsländer
belohnt und erwerben politische Kompetenzen:          (insb. Staaten in Asien und Südamerika) seit
“(…) [T]these religious associations provide for      1965, dem Jahr als liberalere Bestimmungen die
immigrants one of their first training grounds in

7
  Die steigende Identifikation mit einer ethnischen   USA beschreibt KHATER (2005) in seinem Aufsatz
Gruppe oder einem bestimmten Herkunftsland in den     “Becoming ‘Syrian’ in America.”
74
bis dahin gültige Quotenregelung der Einwande-           2.3 Tendenzen der Ent-Ethnisierung und
rung ablösten, ging mit einem Anstieg der religi-            Transnationalisierung
ösen Vielfalt in den USA einher (EBAUGH 2003:
225 f.).8 Dem Islam und anderen nicht-westli-            Konfessionen haben als Kategorie sozialer
chen Religionen (z. B. Buddhismus, Hinduismus,           Grenzziehung in den USA an Bedeutung verlo-
Zoroastrismus, Sikhismus und Vodou) wurde                ren, weshalb die Entwicklung hin zu einer „post-
mit einer größeren Offenheit begegnet, was sich          denominationalen Gesellschaft“ (MILLER 1998)
in der Errichtung neuer Kirchen, Moscheen9 und           prognostiziert wird. Dies zeichnete sich zwi-
Tempeln manifestiert. Dazu beigetragen haben             schen Protestanten, Katholiken und Juden bereits
vor allem die Debatten um Multikulturalismus10           seit den 1950er Jahren ab und drückt sich in der
der 1960er und 1970er Jahre. Sie kamen nach der          Zunahme von Mischehen aus (PUTNAM 2007:
Bürgerrechtsbewegung (1955 – 1968) auf, als              160 f.).12
ethnische Minderheiten in den USA Forderungen            Gegenwärtig weisen besonders evangelikale
der Black, Indigenous and People of Color (BI-           Mega-Kirchen und katholische Gemeinden eine
PoC) aufgriffen. Die steigende Akzeptanz des             hohe Integration unterschiedlicher ethnischer
ethno-religiösen Pluralismus ermöglichte es Im-          Identitäten auf: “(…) [T]his undoing of past seg-
migrant:innen, gleichzeitig „different“ und ame-         regation is due, at least in part, to the construction
rikanisch zu sein (LEVITT 2007: 18).                     of religiously based identities that cut across
Trotz der wachsenden gesellschaftlichen Tole-            (while not effacing) conventional racial identi-
ranz sehen sich besonders Asiaten, Personen la-          ties” (PUTNAM 2007: 161). Sie bieten religiöse
teinamerikanischer Herkunft und BIPoC mit                Erfahrungen, ohne dass von Mitgliedern Engage-
Stigmatisierung, Diskriminierung und rassistisch         ment und die Pflege sozialer Beziehungen gefor-
motivierten Straftaten konfrontiert (FONER und           dert wird (PRÄTORIUS 2003: 190). Mega-Kir-
ALBA 2008: 376, 384). Seit den Terroranschlä-            chen ziehen besonders Mitglieder der zweiten
gen vom 11. September 2001 richten sich Vorur-           Einwanderergeneration an, wenn deren Ethnic
teile und Angriffe besonders gegen Muslim:in-            Churches kein ansprechendes Angebot für sie
nen11, die in den USA einen vergleichsweise ho-          bereithalten (KURIEN 2012: 451, 465).
hen sozioökonomischen Status haben (HADDAD               Parallel dazu nehmen lokale Kirchen neue Im-
2009: 255, 267 ff.).                                     migrant:innen in der Nachbarschaft auf. Derar-
Zusammenfassend wurde bis in die 1960er Jahre            tige Prozesse der Öffnung lösen nicht selten Ge-
die Assimilation von Einwander:innen erwartet.           fühle der Bedrohung bei langjährigen Gemeinde-
Die Idee des Multikulturalismus erlaubte es              mitgliedern aus. Damit verbundene Spaltungs-
ihnen, ihre ethnische Identität in säkularen Kon-        und Konfliktlinien innerhalb von Gemeinschaf-
texten und unterstützt von Ethnic Churches zu            ten zeigen sich in Debatten um die bevorzugte
(re-)produzieren (KURIEN 2012: 465), die sich            Sprache, religiöse und soziale Bräuche sowie
ebenfalls, wie dieser Aufsatz verdeutlichen wird,        Schutzheilige, besonders wenn unterschiedliche
transformiert haben.                                     ethnische Gruppen in einer Gemeinde aktiv sind
                                                         (EBAUGH 2003: 226, 228).

8                                                        10
   Konversionen von Immigrant:innen in den USA              In den USA wurde anders als in Kanada und Aust-
zum Christentum kommen gegenwärtig zwar vor              ralien der Multikulturalismus nicht als nationale Po-
(FOLEY und HOGE 2007: 79), sind aber nicht bestim-       licy festgeschrieben (KURIEN 2012: 449).
                                                         11
mend.                                                       Im Zuge des Immigration and Nationality Act von
9
  Erste Moscheen wurden in den USA von Einwan-           1965 kam es zu einer Zunahme von Migrant:innen aus
dernden aus dem Libanon in den späten 1920er Jahren      arabischen Ländern (ORFALEA 2006), darunter viel-
gebaut. Vor dem Zweiten Weltkrieg kamen nur drei         fach gut ausgebildete Muslim:innen mit säkularer Ori-
weitere hinzu. Die geringere Anzahl ankommender          entierung. Zuvor waren vorwiegend vertriebene Pa-
Muslim:innen im Vergleich zu Christ:innen trug dazu      lästinenser:innen infolge des ersten Palästinakriegs im
bei, dass erstere die arabische Sprache häufig nicht     Jahr 1948 in die USA migriert, nachdem ein Großteil
gebrauchten, christliche Namen übernahmen und            zuvor in die Nachbarländer Palästinas geflohen war
Nicht-Muslime heirateten. Von Drusen aus dem heu-        (SULEIMAN 1992: 194).
                                                         12
tigen Libanon wurden keine Gotteshäuser in den USA          Der Katholizismus und Judaismus zählen seit Mitte
errichtet, da religiöse Leader nicht migrieren oder im   des 20. Jahrhunderts zu den drei Hauptreligionen des
Ausland ausgebildet werden dürfen (NAFF 1992:            protestantisch geprägten Landes (HERBERG 1983).
152).
                                                                                                             75
Die Entwicklung hin zu multi-ethnischen religi-       2.4 Zivilreligion als „Brücke“ zwischen
ösen Gemeinden charakterisiert MULLINS (1987:             den Bürger:innen und der Nation
327) als „Ent-ethnisierung“, die sich an der Ver-
änderung der angewandten Sprache ablesen lässt.       Neben den unterschiedlichen Glaubensgemein-
Die erste Phase, in der die Sprache des Her-          schaften entwickelte sich nach BELLAH (1967)
kunftslandes dominant ist, wird von einer Phase       eine sogenannte Civil Religion13 in den USA. Die
der Bilingualität abgelöst. Sie mündet in den aus-    religiöse Deutung der nationalen Identität steht
schließlichen Gebrauch der Sprache des Resi-          mit dem Grundsatz des getrennten Verhältnisses
denzlandes (MULLINS 1987: 324).                       von Staat und Religion in einem Spannungsver-
                                                      hältnis. Seine These besagt, dass die Souveräni-
Seit dem Ende der 1960er Jahre setzen sich zu-        tät beim Volk liegt, die ultimative Souveränität
dem Fernsehkirchen (Electronic Churches)              aber implizit und oft auch explizit Gott zuge-
durch, die im Zuge der Expansion von Sende-           schrieben wird (BELLAH 1967: 4): “(…) [R]eli-
möglichkeiten besonders von konservativen             gious Americans gain affirmation of the im-
Gruppen (Evangelikale, Fundamentalisten und           portance of their faith when they hear political
Pentecostals) professionell genutzt wurden.           leaders publicly call on God, when they use cur-
Fernsehprediger verwenden das Massenmedium            rency that reads ‘In God We Trust,’14 and when
Fernsehen und betreiben eigene private Sender,        they repeat the Pledge of Allegiance, which pro-
um ihre religiösen Botschaften zu verbreiten und      claims the existence of one nation ‘under god’”
Spenden einzutreiben (RIESEBRODT 1990a: 477).         (FOWLER et al. 2014: 302).
Darüber hinaus bieten einige Sender religiöse         Zivilreligion kann in den USA als eine Art „Brü-
Fernsehprogramme in der Muttersprache von             cke“ zwischen den Bürger:innen und der Nation
Immigrant:innen an, die u. a. bei spanischspra-       verstanden werden. Ihre kohäsive Kraft und in-
chigen Communities in den USA beliebt sind.           tegrative Funktion beruht darauf, dass sie die mo-
Einwander:innen konsumieren zudem religiöse           ralischen Regeln der pluralistischen Gesellschaft
Radioprogramme der Herkunftsländer, um mit            aufrechterhält und nationale Identität sowie Soli-
den dortigen Gemeinschaften verbunden zu blei-        darität stiftet (CRISTI 2001: 70 ff.): “In the US, to
ben (TAYLOR und CHATTERS 2011: 450 f.).               be religious is to be in synch with prevailing
Mit Blick auf die Geschichte der Glaubensge-          mainstream American norms” (FONER und
meinschaften macht LEVITT (2007: 18 f.) darauf        ALBA 2008: 376). Gemeinsame moralische
aufmerksam, dass Transnationalismus kein              Überzeugungen, die von der Religion ausgehen,
neues Phänomen ist, sondern historische Wur-          spielen demzufolge eine wichtige Rolle bei der
zeln hat. Es prägte bereits die religiöse Identität   Regelung         öffentlicher     Angelegenheiten
und Praxis der ersten Siedler aus Europa: “The        (HAMMER 2015: 28).
Christianity they brought with them was neither       Die Verschmelzung von Religion und Nation
completely homegrown nor simply transplanted          zeigt sich auch in der US-amerikanischen Ideo-
but inherently transnational.” Dank der fort-         logie und Rhetorik von “Manifest Destiny”, die
schreitenden globalen und mobilen kommunika-          im 19. Jahrhundert geprägt wurde. Die territori-
tiven Konnektivität haben die Kommunikations-         ale Expansion verstanden „weiße Siedler“ als
flüsse von ethno-religiösen Gemeinschaften zu-        göttliche Aufgabe und göttliches Geschenk, ohne
genommen (HEPP 2008: 169 f.). Die potenziell          Rücksicht auf die indigene Bevölkerung. In Fort-
mögliche höhere Quantität und Geschwindigkeit         führung dieser Idee „wurden auch die politisch-
austauschbarer Informationen muss allerdings          ökonomischen Grundlagen der amerikanischen
nicht bedeuten, dass Mitglieder dauerhaft trans-      Gesellschaft, der Kapitalismus und die Demo-
nationale      Beziehungen        aufrechterhalten    kratie, religiös überhöht. Sie wurden zu Zeichen
(KARNER 2021: 383).                                   der Auserwähltheit Amerikas und Inhalt seiner
                                                      göttlichen Mission in der Welt“ (RIESEBRODT
                                                      1990a: 472).

13                                                    14
   Der Begriff der Zivilreligion stammt von              Bereits während des amerikanischen Bürgerkriegs
ROUSSEAU (1762) und ist ein Produkt der Aufklärung.   (1861 – 1865) wurden Geldmünzen mit dem Spruch
Etwa 70 Jahre später wurde diese Theorie von TOC-     “In God We Trust” geprägt. Seit dem Jahr 1957 ist er
QUEVILLE (2004, Orig. von 1835/1840) auf Amerika      als Antwort auf den Kommunismus auf jedem Dollar-
bezogen.                                              schein abgedruckt (GARDELLA 2014: 113).
76
3    Einwanderung aus dem heutigen                    eine kurze Zeit aktiv waren. Sie sollten Bedürf-
     Libanon in die USA und die                       tige unterstützen und bei der Beisetzung Verstor-
                                                      bener helfen. Außerdem förderten sie die engli-
     Gründung maronitischer                           sche Sprache, die Einbürgerung und den ameri-
     Einrichtungen                                    kanischen Patriotismus. Im Identifikationsort
                                                      finanzierten Organisationen von Familien oder
                                                      Personen des gleichen Herkunftsortes den Bau
Die ersten Personen aus dem heutigen Libanon,         von Schulen, Krankenhäusern, Waisenhäusern
die in die USA migrierten, waren vornehmlich          und neuen Kirchen. Mit diesen Initiativen sollten
Christ:innen aus ländlichen Regionen. Zwischen        – unabhängig vom bekundeten Ziel – die Solida-
1860 und 1915 migrierten sie aufgrund des Preis-      rität, kollektive Identität und der Fortbestand der
verfalls von Seide, schlechter Ernten und eines       eigenen Community gesichert werden.
massiven Bevölkerungswachstums (WIRTH
1965: 270). Nicht nur das Marketing von Schiff-       Andere Clubgründungen waren von den politi-
fahrtsunternehmen bekräftigt ihre Auswande-           schen Kontroversen um die Errichtung des Staa-
rungsentscheidungen, sondern auch die westli-         tes Großlibanon im Jahr 1920 motiviert, die al-
chen Missionare15, darunter vor allem amerikani-      lerdings bereits Ende der 1920er Jahre von neuen
sche Presbyterianer, die ein Bild vom                 Clubs abgelöst wurden. Sie wurden von jüngeren
aufblühenden Amerika vermittelten (KHATER             Mitgliedern, die sich als „amerikanisiert“ ver-
2001: 52 ff.): “Christians (…) were therefore         standen und interne Streitigkeiten überwinden
more receptive to undertake the adventure when        wollten, ins Leben gerufen (NAFF 1992: 152 f.).
American opportunity beckoned” (NAFF 1992:            Diese sozialen Clubs und ihre Community Lea-
143). Die Vereinigten Staaten, die sich zur welt-     der waren für die Gründung weiterer Kirchen
weit führenden Wirtschaftsmacht entwickelt hat-       verantwortlich. Mithilfe von Abendessen, Ku-
ten, versprachen ihnen einen Ausweg aus der           chenverkäufen und Gewinnspielen akquirierten
drohenden Armut (KHATER 2001: 42, 59).                sie Spenden für den Kauf und Umbau von Got-
                                                      teshäusern (LABAKI 1993).
Bereits in den frühen 1890er Jahren wurde eine
maronitische, eine melkitische und eine östlich-      Die im Jahr 1964 gegründete National Aposto-
orthodoxe Kirche in New York gegründet. Im            late of Maronites (NAM) verfolgt das Ziel, die
Anschluss unterstützten Geistliche und Missio-        maronitischen Bischöfe in den USA und die
nare die ersten Einwandernden bei der Errich-         Gläubigen zu vereinen und Traditionen zu be-
tung von 37 maronitischen Kirchen (LABAKI             wahren. Zwei Jahre später gründete man die erste
1993). Insgesamt wurden bis in die 1930er Jahre       maronitische Eparchie, um die hohe Anzahl von
112 Ostkirchen gegründet. Als Standorte wählte        Personen mit einer Lebanese Ancestry, die insbe-
man sogenannte “Peddling Settlements” im Os-          sondere von römisch-katholischen Kirchen auf-
ten der USA, wo sich Angehörige der gleichen          genommen wurden, für maronitische Gemeinden
Familien, Herkunftsorte und Konfessionen kon-         zu gewinnen. Diese Rückholversuche maroniti-
zentrierten (i.d.R. mindestens 50 Familien) (vgl.     scher Bischöfe blieben jedoch oftmals ohne Er-
Karte 1). Gestärkt durch den Nachzug von Ehe-         folg (NAFF 1992: 151).16 Vor diesem Hinter-
frauen aus dem Libanon formierten sich Gemein-        grund beziehen sich die Ausführungen in diesem
schaften innerhalb von gemischten Zuwanderer-         Artikel nicht auf alle Personen mit einer Leba-
vierteln, die der ethnisch-religiösen Fragmentie-     nese Ancestry, sondern nur auf solche, die sich
rung der Gesellschaft ihres Herkunftslandes stark     bis heute mit einer maronitischen Gemeinschaft
ähneln (NAFF 1992: 149 ff.).                          identifizieren.
Zusätzlich gründeten Personen mit einer Leba-         Gegenwärtig gibt es in den USA zwei Eparchien,
nese Ancestry demokratisch geführte wohltätige        66 maronitische Kirchengemeinden mit insge-
Clubs in den USA, von denen viele allerdings nur      samt 79.000 Mitgliedern (2017), 21 Missionen,

15                                                    16
   Mit der Strategie des Teach and Heal (YOUNIS         Im Unterschied dazu konnten viele Anhänger:innen
1995: 73) sollten christliche Gemeinden der Levante   der orthodoxen Ostkirche, die amerikanische Epi-
zum Protestantismus bekehrt werden. Dies erfolgte     skopalkirchen besuchten, dazu bewegt werden, den 40
nicht vorrangig durch Glaubenssätze, sondern basie-   neu gegründeten orthodoxen Ostkirchen beizutreten.
rend auf Bildung und der Bereitstellung von medizi-   Bereits im Jahr 1904 wurde ihr erster Bischof in den
nischer Versorgung (ESCHER 2006: 56). Bereits im      USA ernannt (NAFF 1992: 151).
frühen 19. Jahrhundert wurden in der Region Klöster
und Schulen errichtet (WIRTH 1965: 269).
                                                                                                       77
Karte 1: Maronitische Einrichtungen in den USA im Jahr 2020 und die Anzahl libanesischer Einwohner:innen in den USA
nach Bundesstaaten im Jahr 1930

78
ein Priesterseminar (seit 1961), fünf Klöster so-      meinden beantwortet werden: Wie sichern ma-
wie ein Maronite Heritage Institute seit dem Jahr      ronitische Gemeinschaften ihre ethnische
2012 (vgl. Karte 1).17                                 Identität und ihren Fortbestand? Folgende
                                                       Unterfragen lassen sich mit Blick auf die USA
In den 1970er und 1980er Jahren hatten die Ost-
                                                       ausdifferenzieren:
kirchen Schwierigkeiten, ihre ethnische Begren-
zung zu überwinden und ihre Bedeutung zu stei-             - Wie behalten maronitische Gemeinden eine
gern. Sie werden auf der einen Seite „kaum noch              Bedeutung für nachkommende Generatio-
durch neue Einwanderer belebt (…) und [schwe-                nen, die vollständig in die amerikanische
ben] so in der Gefahr (…), einen musealen Cha-               Gesellschaft integriert sind?
rakter anzunehmen und die jüngere Generation
                                                           - Warum finden Prozesse der Öffnung statt
nicht mehr zu erreichen“ (RIESEBRODT 1990b:
                                                             und wie bewahren Ethnic Churches, die sich
498). Auf der anderen Seite erfuhren sie durch
                                                             transformieren, ihre kulturelle Differenz?
die wenigen Neuankömmlinge, die während des
libanesischen Bürgerkriegs (1975 – 1990)18 aus             - Welche Rolle spielen gruppeninterne
dem Libanon migrieren, neue Impulse: “(…)                    Trennlinien bei maronitischen Gemein-
[B]ecause of them, more Arabic is returned to the            schaften?
long-anglicized liturgies. In addition, church so-     Die Untersuchung der Relevanz und Dynamik
cials, invigorated by traditional dance, music,        von ethno-religiösen Gemeinschaften ist mit der
and an outpouring of native joviality attract pre-     Schwierigkeit verbunden, dass viele Aspekte
viously indifferent Lebanese Americans” (NAFF
                                                       imaginär bzw. unsichtbar und damit schwer zu
1992: 163).                                            bestimmen sind: “It is as much, if not more,
Lebanese Americans gelten als gut in die ameri-        about individualized, interior, informal practices
kanische Gesellschaft integriert, führen oftmals       and beliefs as it is about formal, collective mani-
erfolgreiche Unternehmen und wirken als aktive         festations of faith carried out in institutional set-
und engagierte Bürger an der Gestaltung der Ge-        tings” (LEVITT 2003: 869). Aus diesem Grund
sellschaft mit. Bereits die Nachkommen der ers-        müssen geeignete empirische Methoden Anwen-
ten libanesischen Einwanderergeneration galten         dung finden.
als amerikanisiert in Bezug auf ihre alltäglichen
Praktiken und individuelle Lebensweise, ohne
dass Werte wie familiärer Zusammenhalt und             4      Methodisches Vorgehen
kulturelle Elemente (z. B. libanesische Speisen,
religiöse Feste) aufgegeben wurden. Die Interak-
tion mit Amerikaner:innen und die ökonomisch           Um die Rolle maronitischer Gemeinden in der
notwendige Einbindung von Frauen in den ame-           Lebenswelt von Lebanese Americans zu verste-
rikanischen Arbeitsmarkt haben zur Auflösung           hen, wählte ich die Städte Easton (Pennsylvania)
traditioneller Rollenbilder und patriarchalischer      und Providence (Rhode Island) in der USA aus.
Machtverhältnisse bei Lebanese Americans ge-           An diesen Orten zeigen sich unterschiedliche
führt (NAFF 1992: 156, 159 f.).                        Dynamiken, die mit der heute differenten ethni-
                                                       schen Zusammensetzung der Gemeinden und
Aufbauend auf diesen Beobachtungen und den
                                                       den lokalen Rahmenbedingungen in Verbindung
vorherigen Ausführungen zur Veränderung von
                                                       stehen. Die Stadt Easton hat im Jahr 2018 rund
Ethnic Churches soll folgende zentrale Frage-
                                                       27.200 Einwohner:innen und unterscheidet sich
stellung mit Blick auf zwei maronitische Ge-

17
   Die Staaten der Ostküste zählen zur Eparchie St.    und 1980 migrierten 11,6 Prozent (32.000) in die USA
Maron, die im Jahr 1966 gegründet wurde, seit dem      und 6,5 Prozent (18.000) nach Australien, indem sie
Jahr 1977 ihren Sitz in Brooklyn hat und der 36 Kir-   in der Regel ihr familiäres Netzwerk nutzten (LABAKI
chengemeinden und zehn Missionen angehören             1992: 608 ff.). Aus diesem Grund eignen sich die in
(Eparchy of Saint Maron of Brooklyn 2020). Das üb-     Karte 1 angegebenen Werte der Anzahl libanesischer
rige Territorium mit 30 Kirchengemeinden und elf       Einwohner:innen nach Bundesstaaten aus dem Jahr
Missionen wird seit dem Jahr 1994 von der Eparchie     1930, als vorwiegend Christ:innen aus dem Libanon
Our Lady of Lebanon Los Angeles in St. Louis (Mis-     einwanderten, auch für eine Abschätzung der heuti-
souri) verwaltet (Eparchy OLOL Los Angeles 2019).      gen Verteilung maronitischer Lebanese Americans in
18
   Während des libanesischen Bürgerkriegs (1975 –      den USA.
1990) verließen 990.000 Menschen und damit 40 Pro-
zent der Bevölkerung den Libanon. Zwischen 1975
                                                                                                         79
damit von der Stadt Providence, die in einer Met-         Diese qualitativen Methoden ergänzte ich durch
ropolregion mit einer Bevölkerung von knapp               die Beobachtung und Analyse digitaler Kommu-
179.400 liegt.                                            nikationsplattformen. Facebook-Gruppen wie
                                                          Our Lady of Lebanon Church - Easton (OLOL)
Die empirischen Erhebungen19 in den USA fan-
                                                          (gegründet 18.08.2010, 1.992 Abonnent:innen)
den in Easton im Juli 2015 und November 2018
                                                          und Kfarsghab Lebanon (KL) (gegründet
und in Providence im Januar 2018 statt, um an
                                                          12.05.2012, 1.790 Mitglieder)21 beobachtete ich
wichtigen Ereignissen wie den Lebanese Heri-
                                                          regelmäßig und durchsuchte sie nach relevanten
tage Days in Easton oder dem 200 Club Lunch in
                                                          Stichworten. Webseiten und Blogs, die in den
Providence teilnehmen zu können.
                                                          2000er Jahren an Popularität gewonnen haben,
Das empirische Material umfasst aufgezeichnete            liefern weitere Informationen. Gleiches gilt für
qualitative Interviews mit 50 maronitischen Ge-           Zeitungsartikel, Gedenkhefte, historische Doku-
meindemitgliedern, 17 Expert:innen (z. B. Pries-          mente und Fotografien sowie die Vereinszeit-
ter, Vereinspräsidenten, Konsuln) und zwei                schrift AKLA News22 (Australian Kfarsghab Le-
Gruppeninterviews, die ich in englischer Sprache          banese Association News, AN).
durchgeführte. Der Kontakt zu einem Großteil
                                                          Interviewtranskripte und Dokumente wertete ich
der Gesprächspartner:innen konnte über das
                                                          im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse mit
Netzwerk bereits interviewter Schlüsselpersonen
                                                          Blick auf die Bedeutung maronitischer Gemein-
hergestellt werden.20 Ich bezog nicht nur beson-
                                                          den und Diskurse um Grenzziehung in den USA
ders aktive Mitglieder ein, sondern auch Perso-
                                                          aus. Das Kategoriensystem generierte ich induk-
nen, die sich explizit nicht mehr zu maroniti-
                                                          tiv aus den Daten und differenzierte es mithilfe
schen Gemeinden in Easton und Providence zäh-
                                                          von MAXQDA weiter aus.
len, um deren Innen-Außenperspektive zu
erfassen (vgl. Anhang 9).
Auf Basis von individuell zugeschnittenen, me-            5    Die Praxis und Dynamik der
morierten Leitfäden konnte ich Inter-                          maronitischen Kirchengemeinden
viewpartner:innen motivieren, über ihre Biogra-
phie, Aufgaben innerhalb der Kirchengemeinde,
                                                               in Easton und Providence
Eingebundenheit in andere Gemeinschaften,
Freizeitaktivitäten, Religiosität, Erfahrungen und
                                                          An den Orten Easton (Pennsylvania) und Provi-
Erlebnisse sowie Erinnerungen und Wünsche in
                                                          dence (Rhode Island) hat sich die Praxis und eth-
Bezug auf ihre Lebensverwirklichung zu spre-
                                                          nische Zusammensetzung der maronitischen Ge-
chen. Darüber hinaus fließen Gedächtnisproto-
                                                          meinden auf unterschiedliche Weise verändert.
kolle von 25 Veranstaltungen und Versammlun-
                                                          Sogenannte Kfarsghabis23 haben vor Ort erhebli-
gen ein, bei denen ich formale Reden hörte und
                                                          chen Einfluss auf die Gründung und Entwicklung
emotionale Praktiken beobachtete. Dazu zählen
                                                          von Ethnic Churches genommen und bestimmen
u. a. Messen, Vorstandstreffen, familiäre
                                                          die Diskussionen um Grenzziehung maßgeblich
Zusammenkünfte und Feste.
                                                          mit. Sie beziehen ihre imaginierte Herkunft auf

19                                                        21
   Die empirischen Daten wurden im Rahmen des                Die genannten Mitgliederzahlen beziehen sich auf
DFG-Projektes zu „libanesischen globalen Dorfge-          den 07.02.2021.
                                                          22
meinschaften“, deren Mitglieder sich mit unterschied-        Von 49 Ausgaben konnte ich 43 mit Blick auf In-
lichen Orten im Norden des Libanon identifizieren         formationen zu den Communities in den USA auswer-
(vgl. Karte 2), im Zeitraum von 2014 bis 2018 erho-       ten. Historische Informationen, die den AKLA News
ben. Eine ausführliche Dokumentation der Erhebun-         entnommen sind, werden mit dem Kurznachweis
gen ist in meiner Dissertation zu finden (siehe KAR-      „AN“ und Angaben zur Ausgabe gekennzeichnet.
                                                          23
NER 2021).                                                   Gegenwärtig leben etwa 90 Prozent der Kfarsghabis
20
   Forschungsaufenthalte an unterschiedlichen Orten,      im Ausland, deren absolute Zahl auf 16.000 bis
an denen Verwandte und Bekannte von Gemeindemit-          20.000 geschätzt wird. Im Jahr 1977 sollen 8.000
gliedern aus Easton und Providence leben (z. B.           Kfarsghabis in Australien, 2.000 in den USA, 500 in
Kfarsghab, Sydney, Dubai), erzeugten eine Vertrau-        anderen Ländern und 1.000 in Kfarsghab gelebt haben
ensbasis, die sich positiv auf die empirische Arbeit in   (AKLA 1977: 11). Diese Angaben können als über-
den USA auswirkte. Um für alle potenziellen Ge-           trieben gewertet werden, da die aktuelle E-Mail-Liste
sprächspartner:innen anschlussfähig und nicht von in-     der Australian Kfarsghab Association (AKA) in Syd-
ternen sozialen Dynamiken beeinflusst zu sein, mie-       ney nur 1.296 Haushalte umfasst.
tete ich an allen Orten geeignete Unterkünfte (z. B.
Hotel, Kloster, Apartment).
80
den Ort Kfarsghab24, der im Norden des Libanon         Etwa 25 Prozent fanden in lokalen Industriebe-
im Wadi Qadisha (Heiliges Tal)25 liegt (vgl.           trieben (insb. Eisen-, Stahl- und Strumpffabrik)
Karte 2).                                              Beschäftigung (SMITH und SCARPATO 2010:
                                                       132).
Die folgenden vier Analysedimensionen machen
deutlich, wie (1) materielle Infrastruktur und         In den ersten drei Dekaden nach ihrer Ankunft in
Symbolik angepasst, (2) spirituelle und kultu-         Easton besuchten Kfarsghabis zunächst die loka-
relle Praktiken (re-)produziert werden (3), die Ju-    len römisch-katholischen Kirchen St. Bernhard
gend eingebunden wird und Grenzen gezogen              (Irish Church), St. Joseph (German Church) und
und wie (4) soziale Pflichten und Solidarität ge-      St. Anthony (Italian Church). Dort wurden auch
lebt werden. Die vergleichende Analyse der bei-        Andachten und Messen von maronitischen Be-
den Standorte ermöglicht differenzierte Aussa-         suchspriestern in arabischer Sprache abgehalten.
gen über die Transformationsprozesse sowie die         Im Jahr 1929 erwarben Kfarsghabis die St.
heutige Relevanz maronitischer Gemeinden.              Anthony’s Church in der 323 Lehigh Street, die
                                                       der italienischen Gemeinde zu klein geworden
                                                       war. Nach Renovierungsarbeiten konnte sie zwei
5.1 Materielle Infrastruktur und                       Jahre später mit dem Namen Our Lady of Le-
    Symbole                                            banon Maronite Catholic Church (OLOL) eröff-
                                                       net werden. In den Folgejahren wurden das Pfarr-
In den USA lebt ein Großteil der Familien, die         haus erweitert, ein Jugendzentrum eröffnet und
sich mit Kfarsghab identifizieren, in der Klein-       eine Küche und Bar an den Gemeindesaal ange-
stadt Easton (350 Familien)26, wo die erste            baut (FRANGOS und SASSINE 1987).
Gruppe im Jahr 1901 eintraf.27 Nach ihrer An-
kunft auf Ellis Island (New York) seien sie von        Diese erste maronitische Kirche befand sich in
einem syro-libanesischen Geschäftsmann28 per           der sogenannten “Lebanese Town” im Zentrum
Zug nach Easton begleitet worden: “Easton was          von Easton. Von Kfarsghabis wird die damalige
chosen as the destination for the group from           multi-ethnische Nachbarschaft als Melting Pot
Kfarsghab simply because Faour had no sellers          (AN 1999/1: 20) erinnert, da sie dort gemeinsam
in the area” (KARAM 1998). Er stellte ihnen Wa-        mit Italoamerikanern, People of Color (PoC) und
ren (z. B. Nadeln, Garn, Knöpfe, Kämme, Bürs-          anderen Gruppen lebten (SMITH und SCARPATO
ten, Rosenkränze, Schuhe) bereit, die sie an           2010: 131). Das Viertel wurde von ihnen als fa-
Landwirte in ländlichen Regionen verkauften.           miliär, solidarisch, lebhaft, integriert und sicher
Bereits in den 1920er Jahren waren nur noch 40         empfunden. Aus diesen Gründen setzten sie sich
Prozent als Hausierer:innen29 tätig. Knapp ein         gegen Projekte zur Innenstadtsanierung ein,
Drittel hatte eigene Geschäfte in Easton zum           konnten den Abriss der “Lebanese Town” und
Verkauf von Kurzwaren oder Früchten eröffnet.          ihrer Kirche im Jahr 1969 aber nicht aufhalten
                                                       (SMITH und SCARPATO 2010: 134 f., 145).

24
   Die Bewohner:innen von Kfarsghab pendeln saiso-     Easton leben (IP185 zit. nach TATU 2019). Von den
nal zwischen dem Bergort und Morh Kfarsghab (vgl.      350 Familien, die der maronitischen Gemeinde ange-
Karte 2). Dieser küstennahe Ort und seine umliegen-    hören, gelten 170 Familien als aktiv (IP147).
                                                       27
den Ländereien wurden Mitte des 18. Jahrhunderts zur      Bereits ab dem Jahr 1884 ließen sich Gruppen aus
landwirtschaftlichen Nutzung (insb. Olivenanabau)      Kfarsghab in New Orleans, Peoria, Pittsburg und St.
von Kfarsghabis erworben. Der Standort unterschei-     Louis nieder (vgl. Karte 1); in manchen Fällen mit
det sich durch sein mediterranes Klima mit milden,     Zwischenstationen in karibischen Ländern (AN
feuchten Wintern und aufgrund des flachen Terrains     2000/1: 29 f.).
                                                       28
von dem Sommerfrischeort Kfarsghab. Kfarsghab ist         Hinweise sind in vielen Manifesten von Schiffen zu
ein wichtiger Treffpunkt von Bewohner:innen und        finden, die Anfang des 20. Jahrhunderts Ellis Island
Auslandslibanes:innen, die dort am 27. August das      erreichten. Viele Personen aus dem heutigen Libanon
Fest zu Ehren von Mar Awtel feiern.                    und Syrien nannten den Nachnamen des Geschäfts-
25
   Dieses Tal diente den Maronit:innen bereits seit    manns (Faour) als Bestimmungsort (ELIAS 2011: 37).
                                                       29
dem späten siebten Jahrhundert als Rückzugsort. Als       Diese Tätigkeit, Waren von Haus zu Haus zu ver-
christliche Gruppe unter Schutz Frankreichs genossen   kaufen, wurde häufig von Frauen ausgeführt: “Most
sie Sonderrechte in dem autonomen Bezirk Mount Le-     of their means of support was the womenfolk… Some
banon des Osmanischen Reiches (WIRTH 1965).            of the items they would sell were sheets, pillow cases,
26
    Im Jahr 1976 schätzte man die Anzahl der           spreads, blankets, and curtains, and a large variety of
Kfarsghabi in Easton auf 1.300 (AN 1976: 17). Ge-      dry goods” (DOUMATO 1985: 107).
genwärtig sollen rund 3.000 Lebanese Americans in
                                                                                                           81
heute der wichtigste Treffpunkt von Gemeinde-
                                                           mitgliedern, die mehrheitlich in die Vororte Eas-
                                                           tons (insb. Forks, Palmer) gezogen sind. Bei um-
                                                           fassenden Renovierungsarbeiten in den 2000er
                                                           Jahren ersetzte man das Dach, den Boden, den
                                                           Altar und Statuen in der Kirche. Der Gemeindes-
                                                           aal erhielt eine moderne Großküche und neues
                                                           Mobiliar. Auf dem Parkplatz ließ der Priester ei-
                                                           nen Basketballkorb und andere Spielgeräte für
                                                           Kinder aufstellen (KARAM 2015).
                                                           In der Kirche fallen neben christlichen Symbolen
                                                           (z. B. Kruzifix, Marienstatue, Tafel mit Zehn Ge-
Abbildung 1: Die Our Lady of Lebanon Church (OLOL)
in Easton (Pennsylvania) (Aufnahme: Marie Karner           boten), Abbilder maronitischer Heiliger (z. B.
23.07.2015)                                                Kirchenfenster mit Mar Charbel) und das maro-
                                                           nitische Kreuz mit drei Balken an jeder Sitzbank
Es folgte eine Verlegung der maronitischen Kir-            ins Auge. Im Eingangsbereich des Gemeinde-
che in ein bestehendes Kirchengebäude, das sich
                                                           saals ist eine Panoramaaufnahme des Ortes
zwei Häuserblocks entfernt in der 4th/Ferry
                                                           Kfarsghab angebracht (vgl. Abb. 2), mit dem ein
Street nahe des Centre Square befand. Nachdem
                                                           Großteil der Mitglieder in Easton seine Herkunft
sie diese Kirche in den 1970er Jahren vergrößert
                                                           verbindet.
und im Jahr 1978 den angrenzenden Parkplatz
kauften, errichteten30 sie im Jahr 1986 eine grö-          Initiatoren des sog. Kfarsghab Clubs erwarben
ßere Kirche am gleichen Standort (vgl. Abb. 1),            kürzlich ein Clubhaus in einem nahegelegenen
finanziert durch Spenden ($300.000): “This                 Wohngebiet. Das zweistöckige Gebäude wird für
church and hall comprise the first complex that            profane Veranstaltungen genutzt: “We have an o-
was entirely their own from the beginning since            pen meeting space, a social space, on the first
the two previous churches were purchased from              floor. And there’s a youth room upstairs for kids
other congregations” (FRANGOS und SASSINE                  to play games in” (IP151).
1987). Die Kirche verfügt über 400 Sitzplätze              In den 1960er Jahren pflanzten Kfarsghabis im
mit einem angrenzenden Gemeindesaal für 500                Centre Square in Easton einen Zedernbaum als
Personen und einem Pfarrhaus auf der gegen-                Symbol ihrer Identifikation mit Mount Lebanon
überliegenden Straßenseite. Dieser Ort ist bis             (vgl. Abb. 3). Als der Bürgermeister von Easton

Abbildung 2: Panoramaaufnahme des Ortes Kfarsghab im Libanon im Eingangsbereich der Our Lady of Lebanon Church
(OLOL) in Easton (Aufnahme: Marie Karner 24.07.2015)

30
  Während der Bauphase konnten maronitische Mes-
sen in der St. Joseph’s Kirche abgehalten werden
(FRANGOS und SASSINE 1987).
82
bei der offiziellen Eröffnung der Heritage Days          Dazu bauten sie ein Wohnhaus, das $7.000 kos-
im Jahr 2015 verspricht, dort erneut eine Zeder          tete, in eine Kirche mit 120 Sitzplätzen31 um. Es
anzupflanzen, schlägt ein Kfarsghabi vorlaut vor,        folgten umfangreichen bauliche Veränderungen
dies am nördlichen Punkt des Kreisverkehrs zu            nach romanischem Vorbild in den Jahren 1926
verwirklichen. Sein Vorschlag bezieht sich auf           und 1927.32 Die Kosten von $30.000 waren erst
die Lage des Ortes Kfarsghab (vgl. Karte 2) im           im Jahr 1944 abbezahlt, nachdem Mitglieder
Norden des Libanon. In der Nähe befinden sich            zahlreiche Bingo-Abende, Tombolas und andere
die sogenannten “Cedars of God” (bei Bcharre),           Spendenaktionen organisiert hatten.
die zu den letzten Zedernbeständen des Landes
                                                         Als sich die Gemeinde auf 210 aktive Familien33
zählen. Im Anschluss an die Reden des Bürger-
                                                         vergrößert hatte, erwarben sie im Jahr 1977 eine
meisters und des maronitischen Priesters wird die
                                                         alte Steinkirche in der angrenzenden, neun Kilo-
libanesische Nationalflagge, die im Zentrum eine
                                                         meter entfernten Stadt Pawtucket (50 Main
Zeder zeigt, auf dem Centre Square in Easton ge-
                                                         Street). Zur dortigen St. George Maronite Ca-
hisst. Bei offiziellen Anlässen wie diesem wird
                                                         tholic Holy Trinity Church gehörte ein Gemein-
zudem die amerikanische Nationalhymne ge-
                                                         desaal (Hobeika Hall) mit Pfarrhaus34, der ge-
meinschaftlich gesungen, gefolgt von der libane-
                                                         meinsam mit der Kirche renoviert wurde. Bereits
sischen.
                                                         im Jahr 1983 waren die Kosten von $80.000
                                                         durch das Engagement von Mitgliedern abbe-
                                                         zahlt, die ihre Kirche zu schätzen wussten: “After
                                                         four generations in America, the churches have
                                                         emerged as a fulcrum of stability in a world in
                                                         which changing addresses pull apart families and
                                                         separate people from their ethnic roots. The gen-
                                                         erations meet in the churches. Families whose
                                                         children have scattered reunite in the church at
                                                         holiday time” (DOUMATO 1985: 114).

Abbildung 3: Der gepflanzte Zedernbaum im Centre Squ-
are in Easton (Archiv einer Kfarsghabi Familie)

Symbole, die auf den Ort Kfarsghab verweisen,
sind in der Kirche in Providence hingegen nicht
zu finden. Dort waren Kfarsghabis nur eine von
vielen ankommenden maronitischen Gruppen,
die aus unterschiedlichen Dörfern (u. a. Bcharre,
Ehden, Hadchit, Blouza) (vgl. Karte 2) stammen.          Abbildung 4: St. George Maronite Catholic Church in
Rund zehn Jahre nachdem der erste Maronit zwi-           Cranston bei Providence (Rhode Island) (Aufnahme: Marie
schen 1889 und 1894 Providence erreicht hatte,           Karner 20.01.2018)
ließen sich weitere um die Jahrhundertwende im           Die Kirche und der Gemeindesaal, die für 28
Stadtteil Federal Hill nieder und wurden u. a. von       Jahre den bedeutendsten Treffpunkt bildeten,
ihm mit Waren versorgt (DOUMATO 1985: 104,               brannten im Jahr 2005 mit irreparablem Schaden
107). In den ersten Jahren besuchten sie trotz der       ab, was bis heute als kollektive Tragödie erinnert
Sprachbarriere die dortigen römisch-katholi-             wird. Während die Gemeinde übergangsweise
schen Kirchen (insb. St. John, Holy Ghost,               die St. Raymond Kirche in Providence für acht
Mount Caramel), bevor sie im Jahr 1911 ihre ei-          Jahre mietete, kaufte sie im Jahr 2007 ein Grund-
gene St. George Maronite Catholic Church mit             stück in Lincoln, um eine neue Kirche zu bauen
Pfarrbüro in der 85 America Street gründeten.            (BUDWAY 2014). Als sich dieses Vorhaben als zu

31                                                       33
   In den frühen 1920er Jahren zählte die maronitische      Weitere 200 maronitische Familien lebten zu der
Gemeinde etwa 260 Erwachsene und 200 Kinder zu           Zeit in Rhode Island, die zu den inaktiven Mitgliedern
ihren Mitgliedern (DOUMATO 1985: 111).                   gezählt wurden (HOOGLUND 1985: 111).
32
    Die Mitglieder besuchten die St. John’s Kirche       34
                                                            Das Pfarrhaus wurde seit dem Jahr 1986 und erneut
während der Umbaumaßnahmen.                              ab 1996 in größere Gebäude in Pawtucket verlegt.

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