UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags

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UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags
Veranstaltungen des Sächsischen Landtags   |   Heft 72   |

    UBILÄUM

1990–2020:
30 Jahre Sächsischer Landtag
UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags
UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags
UBILÄUM
1990–2020:
30 Jahre Sächsischer Landtag
Mit einem Festbeitrag von
Dr. Wolfgang Schäuble,
Präsident des Deutschen Bundestages
UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags
Inhalt

                                                                      »Das demokratische Sachsen lernte wieder laufen«         7
                                                                      Dr. Matthias Rößler,
Impressum:                                                            Präsident des Sächsischen Landtags

Herausgeber:	Sächsischer Landtag
              Verfassungsorgan des Freistaates Sachsen
                                                                      »Österreich grüßt Sachsen – 30 Jahre Landtag
              Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit,           im Freistaat Sachsen«                                   17
              Protokoll und Besucherdienst
              Bernhard-von-Lindenau-Platz 1
                                                                      Mag. Wolfgang Sobotka,
              01067 Dresden                                           Präsident des Österreichischen Nationalrates
	Der Freistaat Sachsen wird in Angelegenheiten
  des Sächsischen Landtags durch den Präsidenten
  Dr. Matthias Rößler vertreten.
                                                                      »Demokratie ist unbequem –
	Telefon: 0351 493-50
                                                                      und das vollkommen zurecht!«                            25
  publikation@slt.sachsen.de                                          Michael Kretschmer,
  www.landtag.sachsen.de
      twitter.com/sax_lt
                                                                      Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
      instagram.com/sachsen_landtag
      YouTube/Sächsischer Landtag
                                                                      »Über eine wirksame Beteiligung des Landtags«           31
V. i .S. d. P.:	Ivo Klatte, Sächsischer Landtag,                     Dr. Matthias Grünberg,
                 Anschrift s. o.
                                                                      Präsident des Verfassungsgerichtshofs
Redakteure:	Katja Ciesluk, Dr. Thomas Schubert,                      des Freistaates Sachsen
             Dr. Daniel Thieme, Sächsischer Landtag,
             Anschrift s. o.
                                                                      FESTBEITRAG
Redaktionsschluss: 11. Dezember 2020                                  »30 Jahre Deutsche Einheit: Zukunft der parlamentarischen
Fotos:	Parlamentsdirektion/PHOTO-SIMONS,                             Demokratie im föderalen Deutschland«                     37
        photothek.net/Sächsische Staatskanzlei,                       Dr. Wolfgang Schäuble,
        I. Jung, Deutscher Bundestag/A. Melde,
        CDU-Fraktion, AfD-Fraktion, Fraktion DIE LINKE,               Präsident des Deutschen Bundestages
        Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD-Fraktion/
        G. Schleser, S. Giersch, K. Thiere, S. Döring,
        M. Hiekel, S. Floss, O. Killig, Archiv Landtag                Zeitstrahl – 30 Jahre Sächsischer Landtag               48

Gestaltung, Satz:   machzwei, Dresden
                                                                      Personen aus 30 Jahren Sächsischer Landtag              50
Druck:              Elbtal Druck & Kartonagen GmbH, Dresden

Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rahmen der
                                                                      Erich Iltgen –
Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Sie ist kostenfrei erhältlich.   Baumeister des sächsischen Parlamentarismus             54
Eine Verwendung für die eigene Öffentlichkeitsarbeit von Parteien,
Fraktionen, Mandatsträgern oder zum Zwecke der Wahlwerbung ist –
ebenso wie die entgeltliche Weitergabe – unzulässig.                  30 Jahre Sächsischer Landtag in Zahlen                  58

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»	Das demokratische Sachsen
 lernte wieder laufen«
 Dr. Matthias Rößler
 Präsident des Sächsischen Landtags

 Vor 30 Jahren versammelten sich, nach Jahrzehnten der        gleichen, die uns als Geburtsort der deutschen Demo-
 Diktatur, erstmals wieder frei gewählte Abgeordnete in       kratie gilt. In Sachsen schloss sich damals ein Kreis, der
 Sachsen. Am Tage der feierlichen Konstituierung des          die christlich-humanistische Idee des Rechtsstaats, der
 1. Sächsischen Landtags am 27. Oktober 1990 saßen sie        Menschenwürde und der Freiheit als einen neuen Spross
 Stuhl an Stuhl, Reihe an Reihe, gemeinsam im Saal der        erblühen ließ.
 Dreikönigskirche in Dresden. Dass uns Parlamentariern
 dieser Raum mit dem ikonografischen Wandbild von             Politische Grundrechte, die sich unter anderem in freien
 Werner Juza zur Verfügung stand, war ein historischer        Wahlen ausdrücken, gehören zu den zentralen Lebens-
 Glücksfall. Schließlich war er nach sechs Jahren Bauzeit     funktionen einer Demokratie. In der DDR waren sie das
 erst kurz vorher fertiggestellt worden.                      Papier nicht wert, auf das sie gedruckt waren. Aus Angst
                                                              vor dem eigenen Volk war der SED jedes Mittel recht, um
 Die Dresdner Dreikönigskirche steht heute als Symbol         die freie Stimmabgabe zu verhindern. Sie bestimmte, wer
 für den Beginn einer neuen politischen Ordnung in            und wie gewählt werden durfte, schüchterte alle ein, die
 Sachsen. In ihr vollende sich die Friedliche Revolution,     anderer Auffassung waren und sie legte auch gleich das
 die 1989 in den schützenden Räumen der Kirchen ihren         gewünschte Ergebnis der Wahl fest. Dieser jahrzehnte-
 Anfang nahm und die auch eine »protestantische Revo-         lange Betrug im Geiste der Diktatur wurde besonders bei
 lution« (Ehrhart Neubert) war. »Kirche als Institution war   den Kommunalwahlen 1989 durch mutige Frauen und
 nicht nur Dach und Schutzraum für die Gruppen der            Männer offengelegt. Sie stellten mit ihrem Handeln die
 Friedlichen Revolution, sondern bot Einübungsräume           fehlende Legitimation der DDR-Führung bloß.
 für Demokratie«, stellte im Rückblick der Pfarrer und
 DDR-Bürgerrechtler Harald Bretschneider fest.                Der Kontrast, den der 1990 frei gewählte Sächsische
                                                              Landtag bot, beruhend auf dem demokratischen Willen
 Es ist deswegen durchaus angebracht, die Dresdner            der sächsischen Bevölkerung, hätte kaum größer sein
 Dreikönigskirche mit der Frankfurter Paulskirche zu ver-     können. Ihm gehörten 160 Abgeordnete an, darunter

                                                                                      Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident   |7|
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viele Ingenieure, Naturwissenschaftler, Handwerker und      unsere geeinte Nation. Besonders jetzt, in diesen Zeiten,
      Theologen. Damals schlug besonders die Stunde derer,        zeigt sich, wie wichtig gemeinsame Symbole für eine
      die sich in der DDR beruflich und privat vom Politischen    Demokratie sind. Die gemeinsame Erinnerung an den
      ferngehalten hatten. Sie besaßen in ihrem Handeln einen     friedlichen Sturz einer Diktatur und den Aufbau des
      unbändigen Willen zur Neugestaltung. Unterstützt durch      wiedergegründeten Landes Sachsen, aus dem in der
      viele Ratgeber und Experten aus Baden-Württemberg           Landesverfassung von 1992 dann wieder ein Freistaat
      und Bayern lernte das demokratische Sachsen durch ihr       wurde, sind das Fundament unserer politischen Kultur
      politisches Wirken wieder laufen.                           in Sachsen. Es ist unsere Symbolik und unsere Tradition!

      Als erster Landtagspräsident beschrieb Erich Iltgen diese   Für den politischen Neubeginn und für alle damit ver-
      frühen Jahre als »intensiven Lernprozess«, den alle Ab-     bundenen Entscheidungen gab es keine Schablone,
      geordneten erfuhren, da bis auf wenige, niemand Erfah-      in Sachsen genauso wenig wie in den anderen Ländern
      rung in der demokratischen Parlamentsarbeit hatte. In       Mitteleuropas, die eine ähnliche Transformation er­
      den vier Jahren der ersten Wahlperiode entstanden           lebten. Ich bin deshalb ausgesprochen dankbar dafür,
      nichtsdestotrotz 189 Gesetze, eine immense Leistung.        dass wir im Sächsischen Landtag bis heute enge und
      Sachsen erhielt zunächst ein Vorschaltgesetz, später eine   gute Kontakte zu unseren europäischen Nachbarn in
      neue Verfassung sowie zahlreiche neue Einrichtungen         Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn pflegen.
      und Institutionen. Es war damals eine politische Gründer-   Besonders ist auch unsere Freundschaft mit Österreich
      zeit, eine Boom-Zeit des staatlichen, wirtschaftlichen      und speziell mit Niederösterreich. Mit ihnen verbindet
      und gesellschaftlichen Neuaufbaus, ein Raum viel­           uns das Band einer weit zurückreichenden und bedeu-
      fältiger Gestaltungsmöglichkeiten. Mit jedem vom            tenden mitteleuropäischen Kultur.
      Landtag beschlossenen Gesetz wuchs Sachsen zu dem
      leistungsfähigen und modernen Freistaat, den wir heute      Ohne eine Vorstellung seiner jahrhundertealten Tradition
      kennen.                                                     kann man auch die Konstituierung des Sächsischen
                                                                  Landtags vor 30 Jahren kaum verstehen. Der von mir
      Jedes Gemeinwesen ist auf politische Symbole und Tra-       geschätzte sächsische Historiker Karlheinz Blaschke
      ditionen angewiesen, die ihm historische Legitimität        beschrieb 1990 die Konstituierung des Sächsischen
      verleihen. So war es auch im Jahr 1989 in Sachsen, als      Landtags als die »Neubelebung einer demokratischen
      beim Besuch Helmut Kohls weiß-grüne und schwarz-            Einrichtung, die in einem großen Zusammenhang euro-
      rot-goldene Fahnen vor der Ruine der Frauenkirche in        päischer Verfassungsgeschichte steht«. Im Mittelalter
      Dresden geschwenkt wurden. Die Friedliche Revolution        rangen einst die Stände den sächsischen Herrschern ein
      ist das Beste, was Deutschland passieren konnte. Sie        Mitspracherecht ab. Auf den Landtagen der Frühen Neu-
      hat dazu beigetragen, die Teilung zu überwinden. Das ist    zeit ging es zumeist um Finanzfragen. Die Landesherren
      identitätsstiftend und eine wunderbare Erzählung für        erhofften sich außerordentliche Steuerbewilligungen

|8|   Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident
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Dr. Matthias Rößler als junger Abgeordneter im reihenbestuhlten Plenum der Dresdner Dreikönigskirche

und akzeptierten im Gegenzug, dass die Stände über                      gebung durch ein Zweikammerparlament, dass seit
die Verwendung der Gelder wachten.                                      1907 im eigens dafür errichteten Sächsischen Stände-
                                                                        haus tagte. Ein freies Wahlrecht für Frauen und Männer
Im Jahre 1831 erhielt das Königreich Sachsen seine erste                existierte freilich ebenso wenig wie eine wirksame
Verfassung. Es war ein Meilenstein in der demokrati-                    Gewaltenteilung. Erst mit dem vorläufigen Grundgesetz
schen Entwicklung unseres Freistaates, doch von einer                   des Jahres 1919 und der republikanischen Verfassung
verfassten parlamentarischen Demokratie, wie wir sie                    des Freistaates Sachsen von 1920 gelangte der demo-
heute kennen, war Sachsen damals noch weit entfernt.                    kratische Parlamentarismus zum Durchbruch. Die junge
Die Verfassung, geprägt vom politischen Geschick des                    sächsische Demokratie endete jedoch bereits 1933
Reformers Bernhard von Lindenau, regelte die Gesetz­                    wieder, das mühsam erkämpfte freie Wahlrecht riss ab.

                                                                                                       Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident   |9|
Bis zur demokratischen Zeitenwende im Jahr 1990 dau-            hat, scheint sie sich totgesiegt zu haben.« Das ist nicht
      erte es eine lange Zeit. Zu den dunkelsten Kapiteln der         ohne Gefahr für unser freies Gemeinwesen.
      deutschen Geschichte zählen dabei die Jahrzehnte der
      beiden Diktaturen. Das wir vor 30 Jahren wieder einen           Man muss also heute mehr denn je fragen, wie wir die
      Rechtsstaat in Sachsen errichten konnten, stellt auch           einst errungene Demokratie bewahren können, wie wir
      vor diesem Hintergrund für unser Land ein großes Glück          unsere offene Gesellschaft für das 21. Jahrhundert moder-
      dar. Unsere Friedliche Revolution brachte neben der             nisieren und weiterentwickeln können. Mir erscheint
      Freiheit zurück, was viele Menschen hier verloren               eine Antwort darauf auch deshalb so wichtig, weil sich
      glaubten – Demokratie und Einheit. Politisch wieder             längst wieder Diktaturen anschicken, ihre autoritären
      mündig und selbstbestimmt, gingen wir den Weg in die            Gesellschaftskonzeptionen als das neue, das moderne
      freiheit­liche Demokratie.                                      Maß der Dinge zu propagieren. Sie preisen den digitalen
                                                                      Überwachungsstaat als funktional und handlungsfähig,
      Es ist bis heute dieser Siegeszug der Demokratie, der           wähnen sich in ihrer kompromisslosen technologischen
      unserem Land Freiheit, Wohlstand und Sicherheit ge-             Art als überlegen. Dem gegenüber bin ich wie schon vor
      bracht hat. Doch die über Jahrhunderte erlangten und            30 Jahren davon überzeugt, dass auch heute die Unver-
      erkämpften Errungenschaften sind weder selbstver-               letzbarkeit der Menschenrechte und die Freiheitsrechte
      ständlich, noch sollte man sorglos meinen, sie seien            des Einzelnen – auch gegenüber dem Staat – das Maß
      unabänderlich. Bereits seit längerer Zeit müssen wir            der Dinge darstellen. Der Soziologe Armin Nassehi
      sehen, dass die repräsentative Demokratie mehr und              macht sehr zutreffend geltend, dass sich gerade die
      mehr unter einem Vertrauens- und Legitimationsverlust           politische Liberalität als Schutzrecht gegen die schein-
      leidet. Der große Liberale Ralf Dahrendorf etwa formu-          bare Organisierbarkeit der gesamten Gesellschaft
      lierte bereits zur Jahrtausendwende: »Zweifellos ist die        durchgesetzt habe. In dieser Hinsicht bleibt die Demo-
      Form der Demokratie, die viele von uns 1989 im Sinn             kratie ohne wahre Alternative, ihre Annahmen sind nicht
      hatten, in ernste und tiefe Schwierigkeiten geraten.«           verhandelbar, jede Abschwächung ihrer Grundprinzipien
                                                                      (Grund- und Bürgerrechte, Volkssouveränität und Min-
      Das Grundvertrauen in unser politisches System weicht           derheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit sowie Gewalten-
      einer zunehmenden Skepsis in seine Leistungsfähigkeit.          teilung und Gewaltenkontrolle) führen geradewegs ins
      Dabei gilt unser Staatsaufbau geradezu als Vorbild für          autoritäre Verderben.
      eine moderne, stabile und funktionale Gewalten­teilung.
      Das Grundgesetz geniest bis heute weltweit hohes                Die Corona-Pandemie bündelt manche gegenwärtige
      Ansehen. Die parlamentarische Demokratie, so sieht es           Krisen-Diagnose wie unter einem Brennglas. Sie stellt
      auch der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme, war            unsere plurale und offene Gesellschaft, die größtmög­
      bis 1990 ein leuchtendes Gegenbild zum bürokratischen           liche individuelle Freiheit in Abwägung mit gesellschaft-
      Totalitarismus. Er stellt aber ebenso fest: »Seit sie obsiegt   licher Verantwortung garantiert, auf die Probe. Es hat im

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Moment den Anschein, als entwickelten sich große            der Parlamentsmehrheit abhängig. Unser Bundestags-
Errungenschaften wie die Freizügigkeit, der Individualis-   präsident Wolfgang Schäuble hat in den vergangenen
mus, die Versammlungsfreiheit, ja sogar die tolerierte      Monaten darauf hingewiesen und wichtige Vorschläge
Widerspenstigkeit, in der Bekämpfung der Pandemie           zur Stärkung der Parlamente öffentlich zur Sprache ge-
zum Nachteil. Ich glaube allerdings, dass sich die Demo-    bracht. Ich unterstütze ihn darin ausdrücklich.
kratie auch in den jetzigen Umständen bewährt, indem
sie Verhältnismäßigkeit wahrt und auf dem Boden der         Nach der Ordnung des Grundgesetzes hat die Gewalten-
Grundrechte handelt. Das birgt manche Mühe, ist aber        teilung nicht nur eine horizontale, sondern auch eine
im Hinblick auf unser demokratisches Gemeinwesen            vertikale Dimension. Wenn wir also über Gewalten­
selbstbewusster Bürger alle Mühen wert.                     teilung sprechen, dann meinen wir damit nicht nur die
                                                            Teilung der Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und
In Krisenzeiten schlägt, so heißt es, die Stunde der Exe-   Judikative, sondern auch die Gliederung des Bundes in
kutive. Die Regierung kann im Rahmen ihrer Möglich­         Länder, die selbst Staatsqualität haben. Die Zuständig-
keiten unmittelbar handeln. Parlamente hingegen benö-       keitsverteilung zwischen Bund und Ländern folgt dabei
tigen für Debatten und Diskussionen Zeit. Doch nur auf      dem Subsidiaritätsprinzip: Was einer nationalen Auf­
diesem Weg können Meinungen und Interessen umfas-           gabe entspricht und deshalb ausdrücklich dem Bund
send abgewogen werden, gedeiht die grundlegende             zugewiesen wurde, soll auch national geregelt werden.
Akzeptanz für politische Entscheidungen. Dazu gehören       Alles andere sollte jedoch Sache der Länder bleiben.
mitunter auch Reibungsverluste und Verzögerungen, die       Diese föderale Struktur hat sich bewährt. Sie ermöglicht
wir als Gesellschaft aushalten müssen.                      flexible und differenzierte Lösungen und verortet die
                                                            politische Verantwortung nahe an den Bürgern. Der
Demokratien stützen sich auf den Willen des Volkes –        Vorrang der kleineren Einheit verspricht gerade jetzt in
das ist eine aus meiner Sicht genauso einfache wie          der Pandemiebekämpfung passfähige Lösungen. Sicher,
zentrale Wahrheit. Gewählte Abgeordnete vertreten das       die Länder stimmen die Maßnahmen miteinander ab,
ganze Volk. Sie sind die sprichwörtlichen Volksvertreter.   sie sind jedoch trotzdem vor Ort für sie verantwortlich.
Demokratie ist daher nicht die Selbstregulierung der        Ich denke da zum Beispiel an die im Moment stark be-
Herrschenden, sondern ist eine anvertraute Herrschaft.      anspruchten kommunalen und landeseigenen Gesund-
Ein selbstbewusstes Parlament muss daher auch in            heitsdienste, die vor Ort jeweils passende Konzepte er-
Krisenzeiten handlungsfähig und souverän bleiben.           arbeiten.
Sein Handeln beschränkt sich nicht darauf, ein verlänger-
ter Arm der Exekutive zu sein. Vielmehr hat es den An-      Die Corona-Pandemie dürfte uns auch im Freistaat
spruch, bei wesentlichen Entscheidungen mitzu­reden,        Sachsen noch eine ganze Weile beschäftigen. Dieses
wenn nicht gar das letzte Wort zu sprechen, und die         ohne Zweifel historische Ereignis sollte im Jubiläums-
Regierung ist in ihrer politischen Existenz letztlich von   jahr 2020 aber nicht den Blick auf unsere sächsische

                                                                                   Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident   | 11 |
Geschichte verstellen. 30 Jahre Landtag, 30 Jahre Freistaat
      Sachsen, 30 Jahre Deutsche Einheit: 1990 war ein Jahr
      von historischer Dimension. Zu den zentralen Akteuren         Zur Person:
      im Prozess der Wiedervereinigung zählte auch Wolfgang
      Schäuble. Er gehört zweifellos zu den prägenden Per-          Dr. Matthias Rößler (*1955 in Dresden) ist seit 2009
      sönlichkeiten unserer jüngeren deutschen Geschichte.          Präsident des Sächsischen Landtags. Er studierte von
      Er sollte den Festvortrag auf der leider entfallenen Feier-   1975 bis 1979 Maschinenbau an der TU Dresden und
      stunde »30 Jahre Sächsischer Landtag« halten. Ich freue       arbeitete anschließend als Assistent sowie als Entwick-
      mich ganz besonders, dass er trotzdem mit einem Fest-         lungsingenieur an der Hochschule für Verkehrswesen in
      beitrag in dieser Publikation vertreten ist.                  Dresden. 1990 Mitglied des Koordinierungsausschusses
                                                                    für die Wiedererrichtung des Freistaates Sachsen, ist er
      Wolfgang Schäuble ist amtierender Präsident des Deut-         seit 1990 Mitglied des Sächsischen Landtags. Der CDU-
      schen Bundestages und gleichfalls dessen dienstältester       Politiker war im Freistaat Sachsen von 1994 bis 2002
      Abgeordneter. Im Jahr 1984 berief ihn Bundeskanzler           Staatsminister für Kultus und von 2002 bis 2004 Staats-
      Helmut Kohl zum Chef des Bundeskanzleramtes. Ein              minister für Wissenschaft und Kunst. Er ist unter anderem
      besonderes Glück für die deutsche Geschichte war es,          Vorsitzender des Kuratoriums des »Forum Mitteleuropa
      dass er im Frühjahr des Jahres 1989 Bundesinnen­              beim Sächsischen Landtag«.
      minister wurde. In diesem Amt verhandelte er den deut-
      schen Einigungsvertrag an zentraler Stelle. Als wenn
      dieses Werk nicht schon ein politisches Leben füllen
      würde, kehrte er im Jahr 2005 noch einmal in die Bundes-
      regierung zurück. Zunächst erneut als Bundesinnen­
      minister, später als Bundesfinanzminister, wo wir ihm in
      der Finanzkrise viel zu verdanken haben.

      Wolfgang Schäuble ist ein Zeuge der deutschen Ge-
      schichte und zugleich ein Politiker der Gegenwart. In
      mehreren Büchern hat er sich zu unterschiedlichen Zeiten
      den Fragen nach der Zukunft der Demokratie und des
      gesellschaftlichen Zusammenlebens gestellt. Seine
      Vorschläge und Impulse zur Stärkung des Parlamentaris-
      mus sind zahlreich und wirkmächtig, das beweist er stets
      aufs Neue und das bringt er auch in seinem hiesigen                                      Sitzung des 1. Sächsischen Landtags
      Beitrag zum Ausdruck. ■                                                             im Festsaal der Dresdner Dreikönigskirche

| 12 | Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident
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»	Österreich grüßt Sachsen –
 30 Jahre Landtag
 im Freistaat Sachsen«
 Mag. Wolfgang Sobotka
 Präsident des Österreichischen Nationalrates

 Der Freistaat Sachsen und die Republik Österreich sind          Im Jahr 1776 schließlich gründete Albert Kasimir von
 auf ganz besondere Weise miteinander verbunden. Diese           Sachsen-Teschen, Schwiegersohn Maria Theresias, eine
 Verbundenheit geht weit zurück in der Geschichte. So            Kunstsammlung, die er zuerst in Preßburg ansiedelte
 hatte August der Starke, Kurfürst von Sachsen und König         und diese dann nach Wien in die später nach ihm
 von Polen, große Pläne, sein Land als europäische Groß-         benannte »Albertina« überführte. Die Albertina wurde
 macht zu etablieren. Er verheiratete seinen Sohn Friedrich      zu einem der wichtigsten Museen in Österreich und
 August II mit der österreichischen Erzherzogin Maria Jo-        beherbergt heute die weltweit größte Sammlung an
 sepha, Tochter von Joseph I, in einer Hochzeitszeremonie,       Grafiken. Unsere Albertina hat somit eindeutig sächsi-
 die eines der größten Feste der damaligen Zeit wurde.           sche Wurzeln.

 Maria Josepha regierte, als ihr Mann Friedrich August II        Sachsen spielte aber auch als Puffer zwischen Öster-
 1733 in Nachfolge seines Vaters als August III zum polni-       reich und dem aufstrebenden Preußen des 18. Jahr­
 schen König gewählt wurde, an der Seite ihres Mannes            hunderts eine wichtige Rolle. Am Wiener Kongress
 mit und galt als politisch sehr interessiert. Nicht nur,        verhinderte Österreich einen vollständigen Anschluss
 dass ihr Mann für die – für die Wettiner politisch wich-        Sachsens an Preußen. In langen Verhandlungen einigte
 tige – Heirat mit Maria Josepha zum katholischen Glauben        man sich unter dem von Preußen betriebenen Aus-
 übertrat, sie war es auch, die ihn 1740 stark unterstützte,     schluss Sachsens, das König Friedrich August I bis
 das Erbe der Habsburger anzutreten. Die Versuche, die           Februar 1815 auf Schloss Friedrichsfelde gefangen hielt,
 Kaiserkrone zu erlangen, waren letztlich vergebens.             auf ein »Kernsachsen«. Sachsen sah diesen in Preßburg
 Die Allianz zwischen Österreich und Sachsen aber war            geschlossen »Frieden- und Freundschaftsvertrag«
 geschmiedet.                                                    zwischen Preußen und Sachsen als einen Diktatfrieden,

                                                               Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates | 17 |
der sowohl wirtschaftliche Interessen Preußens als auch                Architekturpersönlichkeit. Semper hat wie kein anderer
      die militärischen Interessen Österreichs berücksichtigte.              Architekt des Wiener Prachtboulevards Ringstraße den
                                                                             Historismus zum prägenden Architekturstil des aus­
      Diese neuen Grenzen wurden im Laufe der Jahrhunderte,                  gehenden 19. Jahrhunderts gemacht. Heute noch fühlen
      letztmalig in den 1990er-Jahren wieder geändert, so-                   sich deshalb Österreicher wie Sachsen in der Semper­
      dass die nunmehrigen Grenzen des Freistaates Sachsen                   oper in Dresden genauso zu Hause wie im Wiener Burg-
      wesentlich größere Gebiete umschließen, als im Wiener                  theater. Auch die Vielzahl an Touristen spürt die kultu-
      Kongress festgelegt wurde.                                             relle und architektonische Ausstrahlung unseres Mittel-
                                                                             europas.
      Die letzte dynastische Verbindung kam zwischen Erz­
      herzog Otto Franz Joseph von Österreich und Prinzessin                 Neben der Architekturpersönlichkeit Gottfried Semper
      Maria Josepha von Sachsen 1886 zustande, aus der der                   war der Staatsmann und Diplomat Klemens Wenzel
      letzte österreichische Kaiser, Karl I, entstammt. Nicht zu             Lothar von Metternich zu Beginn des 19. Jahrhunderts
      vergessen ist auch, und das ist dem langen, intensiven                 prägend für die Beziehungen zwischen Österreich und
      Bande zwischen den Wettinern und Habsburgern ge-                       Sachsen. Bevor er zu einem der führenden Staatsmänner
      schuldet, die Teilnahme Sachsens 1866 in der Schlacht                  Europas wurde und am Wiener Kongress auch für Sach-
      von Königgrätz an der Seite Österreichs gegen Preußen.                 sen essentiell wichtige Verhandlungen führte, leitete er
                                                                             von 1801 bis 1803 als Gesandter am königlich sächsi-
      Ein Zeichen dieser über Jahrhunderte dauernden Ver­                    schen Hofe die dortige Österreichische Gesandtschaft.
      bindung zwischen Österreich und Sachsen sind auch                      Die Bedeutung von Sachsen für Österreich zeigt sich
      Straßennamen. Der Sachsenplatz, die Dresdner Straße,                   auch dadurch, dass die Gesandtschaft erst 1918 und
      der Leipziger Platz und die Leipziger Straße im 20. Bezirk             somit lange nach Gründung des Deutschen Reiches 1871
      von Wien und die Sachsengasse in Klosterneuburg bei                    aufgelöst wurde.
      Wien sind sichtbare Zeichen der Verbundenheit, ebenso
      wie der Wiener Platz und die Wiener Straße in Dresden.                 Im Bereich Kunst und Kultur funktioniert der Austausch
                                                                             zwischen Österreich und Sachsen gerade auch in jüngs-
      Generell ist das Band zwischen unseren beiden Ländern                  ter Zeit in die entgegengesetzte Richtung. So leitet mit
      gerade im Bereich Kunst und Kultur ein ganz besonde-                   Stephan Koja seit 2016 ein Österreicher die berühmte
      res. So will ich in diesem Zusammenhang nur an einen                   Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden.
      ganz besonderen Architekten und Baumeister erinnern,
      der sich 1871 in Wien angesiedelt hat: Gottfried Semper.               Auch der wirtschaftliche Austausch ist in den letzten
      Das Kunsthistorische Museum, das Naturhistorische                      Jahren zu einem stabilen Standbein unserer Bezieh­
      Museum, die Neue Hofburg sowie das Burgtheater zeu-                    ungen geworden. 2019 exportierte Österreich Waren im
      gen von der Gestaltungskraft dieser beeindruckenden                    Wert von 1,2 Milliarden Euro nach Sachsen und impor-

| 18 | Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates
tierte Waren im Wert von 1,3 Milliarden Euro. Somit ist       Neben vielen Errungenschaften möchte ich aber auch an
Österreich einer der wichtigsten Handelspartner und           Rückschläge erinnern, die wir als demokratische Gesell-
Investoren Sachsens sowie der sechstwichtigste Import-        schaft so nicht hinnehmen dürfen: voller Trauer erinnere
markt.                                                        ich an den antisemitischen Anschlag auf die Synagoge
                                                              in Halle vom 9. Oktober 2019, die Enthauptung eines
Im touristischen Bereich freut es mich, dass immer mehr       Lehrers bei Paris am 16. Oktober 2020 durch einen isla-
Österreicher Sachsen als Reiseziel für sich entdecken         mistischen Extremisten, den Anschlag durch einen
und 2019 157.000 Nächtigungen von österreichischen            weiteren islamistischen Extremisten auf die Basilika von
Touristen in Sachsen gezählt wurden. Auch in die entge-       Nizza mit drei Toten am 29. Oktober 2020 und schließ-
gengesetzte Richtung wird eine touristische Reise nach        lich den islamistischen Terroranschlag in Wien mit vier
Österreich bei Sachsen immer beliebter.                       Toten am 2. November 2020. So fühlen wir uns auch
                                                              verbunden, diesen schmerzlichen Angriffen auf Huma-
Sachsen war in der jüngeren Geschichte eine Region,           nität und unsere Demokratie entschieden entgegenzu-
die nicht am Rande der Geschichte stand, sondern in           treten.
der Weltgeschichte geschrieben wurde. Die Bilder der
Friedlichen Revolution aus Leipzig, die Stadt in der auch     Auch wenn es uns schwerfällt, so dürfen wir nicht in
die Friedensgebete stattfanden, prägen für immer unsere       einer Schockstarre verharren, sondern müssen diese
Erinnerung. Eine Stadt wie Leipzig und ein Bundesland         Anschläge als direkten Auftrag an jeden einzelnen und
wie Sachsen haben ganz wesentlich dazu beigetragen,           jede einzelne von uns sehen, aktiv gegen Antisemitis-
dass sich die Geschichte eines friedlich vereinigten          mus und Islamismus aufzutreten, an jedem Tag und zu
Deutschlands und Europas überhaupt erst entwickeln            jeder Stunde, zu der wir so etwas wahrnehmen!
konnte. Dafür gebührt Sachsen ausdrücklich auch aus
österreichischer Perspektive immer wieder Dank und            Sachsen ist spätestens seit der Wiedervereinigung im
Anerkennung.                                                  Herzen Europas angekommen und kann seit der deut-
                                                              schen Wiedervereinigung seine geografische Lage an
Daher ist Sachsen auch immer ein ganz besonderes Land,        der Schnittstelle mehrerer kulturell, politisch und wirt-
wenn es um die Wende von Diktatur zu Demokratie geht.         schaftlich bedeutsamer Regionen Europas zum Vorteil
Und daher ist es eine besondere Freude und besonders          all seiner Bewohner nutzen. Aber Sachsen ist mehr als
wichtig, das 30-jährige Jubiläum des Sächsischen Land-        nur ein geografisches Bindeglied für Deutschland in die
tags als eine Feier des Sieges der Demokratie über die        Staaten Mitteleuropas. Es hat mit seiner Geschichte und
Diktatur zu verstehen. Wir müssen jeden Tag dafür dank-       seiner Bevölkerung auch das nötige kulturelle Verständnis
bar sein, dass dieser Wandel friedlich stattgefunden hat      und das Bewusstsein, um einen erfolgreichen und ver-
und dürfen diese Freiheit niemals als selbstverständlich      trauensvollen Austausch mit seinen Nachbarn in Mittel-
annehmen.                                                     europa zu garantieren.

                                                            Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates | 19 |
Wie auch in Österreich ist in Sachsen eine autochthone                 auch in Österreich hochgehalten wird. Der Föderalismus
      Minderheit essentieller Teil der Gesellschaft. Die Minder-             ist eines unserer grundlegenden Prinzipien und eint uns
      heit der Sorben, mit ihrem auch Sachsen umfassenden                    auch auf der politischen Ebene. Das Bekenntnis zur
      Siedlungsgebiet, bildet einen wesentlichen Teil der                    Subsidiarität und zu einem Europa, in dem unsere
      sächsischen Identität. Mit ihrer Sprache, Kultur und Ge-               Regionen eine wichtige Rolle spielen, ist Ausdruck einer
      schichte stellen die Sorben ein bereicherndes Element                  gemeinsamen Grundhaltung in Sachsen und in Öster-
      in Sachsen dar.                                                        reich. ■

      Vor allem das Forum Mitteleuropa beim Sächsischen
      Landtag, dessen Gründer Präsident Dr. Rößler ist, ist
      ein Flaggschiff für Kooperation zwischen Regionen und
      Ländern geworden. Ich freue mich daher besonders,
      wenn das kommende Forum Mitteleuropa in der Wiener                     Zur Person:
      Hofburg im Herbst 2021 stattfinden wird. Der Gedanke
      der Vernetzung, des Dialogs zwischen unterschiedlichen                 Mag. Wolfgang Sobotka (*1956 in Waidhofen an der
      gesellschaftlichen Gruppen, fördert das Verständnis                    Ybbs) ist seit 2017 Präsident des Nationalrates der
      füreinander und ermöglicht es, überregionale oder auch                 Republik Österreich. Er studierte Geschichte und Musik
      globale Herausforderungen zu bewältigen. Der Aus-                      in Wien. Zunächst arbeitete er als Lehrer, war Leiter einer
      tausch und die Kooperation zwischen Politikerinnen und                 Musikschule und aktiv in der Österreichischen Volks­
      Politikern verschiedener Länder ist heute wichtiger denn               partei (ÖVP). Nach seiner Tätigkeit als Gemeinderat in
      je, um nationale Engstirnigkeit zu überwinden. Es ist                  seiner Heimatstadt wurde er dort 1996 Bürgermeister.
      eine Zielrichtung des Forums Mitteleuropa, die wir aus                 1998 wurde er dann Landesrat in der niederösterreichi-
      vollster Überzeugung so unterstützen.                                  schen Landesregierung und später (2009) Stellvertreter
                                                                             des Landeshauptmanns. Von 2016 bis 2017 begleitete
      Der Freistaat Sachsen und die Republik Österreich teilen               er das Amt des Bundesministers für Inneres der Republik
      nicht nur sehr viel ihrer Geschichte, auch unsere Politik              Österreich. Seit 2017 ist er Abgeordneter des National-
      basiert auf gemeinsamen Grundwerten. Vor allem der                     rates der Republik Österreich und wurde 2017 sowie
      Ausdruck »Freistaat« zeigt die Länderstruktur auf, die                 2019 zu dessen Präsidenten gewählt.

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»	Demokratie ist unbequem –
 und das vollkommen zurecht!«
 Michael Kretschmer
 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen

 30 Jahre Sächsischer Landtag ist – wie auch die soziale    Im Rückblick wird eines deutlich: Das Hohe Haus hat
 Marktwirtschaft sowie die Meinungs- und Reisefreiheit –    erfolgreich die Höhen und Tiefen des Wiederaufbaus
 eine Folge von 30 Jahren Demokratie und Freiheit im        des Freistaates Sachsen gemeistert. Dafür danke ich be-
 Freistaat Sachsen. Als frei gewählte Volksvertretung ist   sonders den Abgeordneten der ersten Stunde, die in der
 das Parlament nicht nur das Fundament des Staates, son-    spannenden Zeit des Aufbruchs sowohl über das Königs-
 dern zugleich ein zentraler Akteur unserer Demokratie.     recht des Parlaments – die Haushaltsbeschlüsse – als
                                                            auch mit einer klugen und zukunftsweisenden Gesetz-
 Der Landtag ist in all seinen Facetten und Wandlungen      gebung die Weichen für den erfolgreichen Aufbau richtig
 in jeder seiner Legislaturperioden das Abbild der jewei-   gestellt haben.
 ligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Abgeordneten
 sind – neben den kommunalen Verantwortungsträgern –        Mittlerweile hat sich ein vielfältiger Generationswechsel
 in ihren Wahlkreis- und Bürgerbüros die ersten An-         vollzogen. Es gibt kaum noch Abgeordnete der ersten
 sprechpartner der Menschen vor Ort mit ihren Sorgen        Stunde, aber in allen guten und kritischen Phasen,
 und Nöten. Das ist verständlich, werden die Abgeord­       zu welchen etwa die langjährige Aufarbeitung des
 neten doch in Wahlen direkt vom Volk legitimiert. Umso     DDR-Unrechtssystems, die verheerenden Hochwasser-
 größer ist die Erwartungshaltung an sie, Lösungen zu       katastrophen der Jahre 2002 und 2013, die Finanzkrise
 finden und die konkreten Lebensverhältnisse zu gestal-     und die Flüchtlingskrise gehören, hat sich der Sächsi-
 ten. Die damit verbundene Arbeit und die große Verant-     sche Landtag seinen Aufgaben gestellt.
 wortung nötigen ungemeinen Respekt ab. Im Gegenzug
 sind die Gestaltungsmöglichkeiten, der unmittelbare        Wir und zukünftige Generationen sollten uns etwas von
 Kontakt mit den Menschen, die fast täglich neuen Heraus-   dem großartigen Aufbruchsgeist aus der Gründungs­
 forderungen und der Wille, sich mit seiner Überzeugung     zeit des Freistaates bewahren. Auch wir müssen uns
 für die Heimat einzusetzen, eine ständige Antriebskraft    ständig neuen Herausforderungen stellen und mit Kom-
 der Abgeordneten.                                          promissbereitschaft an die Umsetzung herangehen.

                                                               Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen | 25 |
Keine politische Seite ist vor Irrtümern und Fehlern ge-         Demokratie und Freiheit gäbe es dieses Hohe Haus
      feit. Der ständige Austausch zwischen den politischen            heute nicht. Vielen DDR-Bürgern war klar, dass sie mit
      Konkurrenten und mit allen Teilen der Gesellschaft               Flucht oder Demonstration alles aufs Spiel setzten.
      macht eine starke Demokratie erst aus. Demokratie ist            Niemand wusste bei seiner Ausreise, ob und wann er
      sehr arbeitsintensiv und unbequem – und das voll­                nochmals in seine Heimat zurückkehren kann. Die De-
      kommen zurecht! Nur im Diskurs und durch Abwägen                 monstranten wussten, dass die Staatssicherheit unter
      der Argumente kommen wir zu Lösungen, die von weiten             ihnen ist und dass Gefängnis oder Schlimmeres droht.
      Teilen der Gesellschaft mitgetragen werden.                      Dieser Mut und dieses Engagement verdient auch Jahr-
                                                                       zehnte später unsere Hochachtung und muss uns Ver-
      Der Sächsische Landtag ist seit 30 Jahren durch scharfe          pflichtung und Ansporn zugleich sein. ■
      Debatten geprägt. Gerade deshalb konnte sich eine
      funktionierende Demokratie entwickeln. Dies muss
      auch so bleiben! Meinungsfreiheit innerhalb und außer-
      halb des Parlaments darf nicht zu einer leeren Phrase
      mutieren oder zum Schmuckbegriff der Demokratie ver-
      kommen. Meinungsfreiheit muss gelebt und immer                   Zur Person:
      wieder neu eingefordert werden. Deshalb bereitet es mir
      Sorgen, dass der Raum dessen, was zu manchen                     Michael Kretschmer (*1975 in Görlitz) ist seit 2017 Minister-
      Themen gesagt und diskutiert werden darf, eng gewor-             präsident des Freistaates Sachsen. Er studierte nach
      den ist. Dies hinterlässt ein ungutes Gefühl. Die politi-        seiner Ausbildung zum Büroinformationselektroniker
      schen Gegner und unterschiedliche, gar unbequeme                 Wirtschaftsingenieurwesen in Dresden. Seine politische
      Meinungen dürfen nicht ignoriert werden, sondern wir             Karriere begann er 1994 als Stadtrat in Görlitz. Von 2002
      sollten uns anhand überzeugender Argumente mit                   bis 2017 gehörte er dem Deutschen Bundestag an.
      ihnen auseinandersetzen. Ignoranz und Diskussions-               Von 2005 bis 2009 war er hier stellvertretender Vor­
      verbote führen nicht zur Lösung von Problemen, son-              sitzender der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der
      dern zu gegenseitigen Verletzungen und zur Spaltung              CDU/CSU-Fraktion. Von 2009 bis 2017 war er stellver­
      der Gesellschaft. Wir müssen alle daran arbeiten, dies           tretender Fraktionsvorsitzender. Von 2005 bis 2017
      zu verhindern.                                                   Generalsekretär der sächsischen CDU, wurde er 2017
                                                                       zum Landesvorsitzenden der CDU in Sachsen gewählt.
      Ohne die Friedliche Revolution 1989, ohne Volkes Wille           Der Sächsische Landtag wählte ihn 2017 sowie 2019
      und ohne den mutigen Einsatz unserer Menschen für                zum Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen.

| 26 | Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
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»	Über eine wirksame Beteiligung
 des Landtags«
 Dr. Matthias Grünberg
 Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen

 Ein Grußwort aus Anlass des Bestehens und Wirkens              Gebietsreformen, die Organisation des Behördenauf-
 des Sächsischen Landtags seit nunmehr 30 Jahren                baus, das Schul- und Hochschulrecht, das Baurecht und
 bietet Gelegenheit, sich nicht nur die Verdienste in der       das Polizeirecht. Aber auch in den späteren Legislatur-
 vergangenen Zeit zu vergegenwärtigen, sondern auch             perioden erließ der Landtag gerade in den genannten
 die Bedeutung dieses zentralen Verfassungsorgans ge-           Bereichen bedeutsame Neuregelungen. Das ist umso be-
 rade in der heutigen Zeit.                                     merkenswerter als die Gesetzgebungskompetenz eines
                                                                Bundeslandes wie des Freistaates Sachsen nicht nur
 Es würde diesen Rahmen sprengen, auch nur ansatz­              durch die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ein-
 weise aufzuzeigen, welche insbesondere gesetzgeberi-           geschränkt wird, sondern zunehmend Gesetzgebungs-
 schen Leistungen in der Vergangenheit vom Sächsi-              kompetenzen der Länder auf die Europäische Union
 schen Landtag erbracht wurden. Natürlich fällt mir             übertragen und dort auch durchaus wahrgenommen
 zunächst die Sächsische Verfassung aus dem Jahr 1992           werden.
 ein, mit der eine eigenständige und moderne Grundlage
 für das staatliche Leben geschaffen wurde. Nicht von           Ich möchte aber nicht bei einem Blick in die Vergangen-
 ungefähr wurde sie seit ihrem Erlass nur ein einziges Mal      heit stehen bleiben, so lohnenswert das wäre. Nicht von
 ergänzt, mit der Einführung der sogenannten Schulden-          ungefähr wird in diesem Jahr die parlamentarische Kon-
 bremse in Artikel 95 im Jahre 2014, was nach einer             trolle, nein vielmehr die parlamentarische Gestaltung
 beeindruckend intensiven Diskussion über Fraktions-            und Verantwortung des geltenden Rechts in einem beson-
 grenzen hinweg geschah und den Gestaltungswillen               deren Ausmaß diskutiert und eingefordert. Der Anlass
 und die Eigenständigkeit des Sächsischen Landtags              ist natürlich die Covid 19-Pandemie. Die maßgeblichen
 nachdrücklich belegt. Viele Gesetze sind seit 1990 er­         Regelungen zu ihrer Bekämpfung und Eindämmung
 lassen worden, naturgemäß in den ersten Legislatur­            werden bekanntlich durch Rechtsverordnungen der
 perioden, in denen die Grundlagen in vielen Bereichen          Länder und Allgemeinverfügungen getroffen. Der Bundes-
 erst geschaffen wurden – wie etwa die kommunalen               tag war jedenfalls zunächst nur durch eine Ergänzung

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des grundlegenden Infektionsschutzgesetzes beteiligt,                  Die Vorteile eines Gesetzgebungsverfahrens liegen in
      was von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit                      der Qualitätssicherung, etwa durch mehrere Lesungen
      der Mahnung kommentiert wurde, dass der Deutsche                       und Befassung der Ausschüsse und der damit verbun-
      Bundestag die Corona-Politik aktiver gestalten und kon-                denen Aussprache. Sie schaffen damit eine besondere
      trollieren sollte. Im letzten Monat wurde dann auch das                Legitimation. Sie bieten die Chance, dass eine Vielzahl
      Infektionsschutzgesetz überarbeitet und unter anderem                  von Meinungen und Positionen der Bevölkerung in den
      ein neuer Paragraf 28a eingefügt, der einen Katalog                    Gesetzgebungsprozess einfließen. Das schafft nicht nur
      von konkreten Maßnahmen enthält, die in einer Rechts­                  Legitimation, das kann auch Akzeptanz erzeugen. Diese
      verordnung vorgesehen werden können.                                   Vorteile sind bei der kurzen Lebensdauer der zu er­
                                                                             lassenden Regelungen nur eingeschränkt zu gewähr­
      Eine Beteiligung der Länderparlamente, also auch des                   leisten. Das soll uns aber nicht daran hindern, über eine
      Sächsischen Landtags, hat angesichts der Tatsache, dass                wirksame Beteiligung des Landtags nachzudenken.
      die grundlegende gesetzliche Regelung Bundesrecht
      darstellt, nur eingeschränkt stattgefunden. Es stellt sich             Die Kontrolle der vollziehenden Gewalt könnte ein
      die Frage, ob das so bleiben muss.                                     Ansatzpunkt hierfür sein. Hier stehen insbesondere
                                                                             Fragerechte und Informationspflichten zur Verfügung.
      Ausgangspunkt von Überlegungen zur parlamentari-                       Akzeptanz entsteht daraus, dass man die geltenden Re-
      schen Beteiligung ist Art. 39 Abs. 2 der Sächsischen                   gelungen versteht. Rechtsverordnungen werden nicht
      Verfassung. Nach dieser Vorschrift übt der Landtag die                 begründet, anders als Gesetze, die ja darüber hinaus in
      gesetzgeberische Gewalt aus, überwacht die Ausübung                    den protokollierten Beratungen inhaltlich diskutiert wer-
      der vollziehenden Gewalt und ist Stätte der politischen                den. Das ist auch ein Aspekt, der sich bei der gericht­
      Willensbildung. Die Ausübung der gesetzgeberischen                     lichen Überprüfung auswirken kann. Eine von einem
      Gewalt ist vor dem Hintergrund, dass sich das Infektions-              Gericht vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung
      schutzgesetz an den Verordnungsgeber, also an die                      wird sich an einer gesetzgeberischen Begründung anders
      Landesregierungen, richtet, nicht ausgeschlossen. Viel-                ausrichten können.
      mehr ist nach Art. 80 Abs. 4 Grundgesetz ausdrücklich
      vorgesehen, dass statt einer Landesregierung auch der                  Schließlich ist der Sächsische Landtag die Stätte der
      Landesgesetzgeber durch Gesetz aufgrund einer bundes-                  politischen Willensbildung. Die Verfassung misst ihm
      rechtlichen Ermächtigungsgrundlage handeln kann.                       eine besondere Bedeutung bei der Vertretung und Ver-
      Allerdings stellt sich das Problem, dass wegen des stän-               mittlung der verschiedenen Auffassungen und Positio-
      dig wechselnden Infektionsgeschehens nicht nur sehr                    nen in der Bevölkerung, in der Gesellschaft zu. Hier zeigt
      kurzfristig geltende Maßnahmen erforderlich sind, son-                 sich auch ein Unterschied der Sächsischen Verfassung
      dern auch eine die rechtlichen Regelungen begleitende,                 zum Grundgesetz, das die politische Willensbildung in
      ständige Beobachtungs- und Anpassungspflicht besteht.                  erster Linie den Parteien überlässt. Willensbildung

| 32 | Dr. Matthias Grünberg, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen
heißt, dass im Landtag alle Fragen des Landes und alle
Themen von öffentlichem Interesse diskutiert werden
können und hierzu ein politischer Wille gebildet werden      Zur Person:
kann. Das ist gerade vor dem Hintergrund der großen
Differenzen in der Bevölkerung über die Notwendigkeit        Dr. Matthias Grünberg (*1961 in Mannheim) ist seit
und Angemessenheit der geltenden Regelungen zur              2020 Präsident des Verfassungsgerichtshofes des
Bekämpfung von Covid 19 nicht zu unterschätzen. Die in       Freistaates Sachsen. Nach einer Ausbildung zum Bank-
diesem Hause bereits stattgefundenen Debatten bestä-         kaufmann studierte er in Freiburg und München Rechts-
tigen diese Diagnose.                                        wissenschaften. Auf das Zweite Juristische Staats­examen
                                                             im Jahr 1990 folgte die Promotion an der Universität
Sehr geehrte Abgeordnete, nicht nur in der Vergangen-        Mannheim. Zunächst Referent und Referatsleiter im
heit hat dieser Landtag seine Aufgaben, die die Sächsi-      Sächsischen Staatsministerium der Justiz sowie Richter
sche Verfassung ihm stellt, im besonderen Maße erfüllt.      an Verwaltungsgerichten in Karlsruhe und Dresden,
Ich bin mir gewiss, dass dies auch in Zukunft der Fall       wurde er 1998 Richter am Sächsischen Oberverwaltungs-
sein wird. Ich wünsche Ihnen hierzu alles Gute! ■            gericht, dessen Vizepräsident er seit 2008 ist. 2007 er-
                                                             folgte erstmals seine Wahl zum Mitglied des Verfassungs-
                                                             gerichtshofes des Freistaates Sachsen (Wiederwahl 2016),
                                                             dessen Präsident er seit 2020 ist.

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FESTBEITRAG

»	30 Jahre Deutsche Einheit:
 Zukunft der parlamentarischen
 Demokratie im föderalen
 Deutschland«
 Dr. Wolfgang Schäuble
 Präsident des Deutschen Bundestages

 Nur 30 Jahre Sächsischer Landtag!? Die parlamentari-         die Einheit der deutschen Nation wieder her, sondern
 sche Demokratie hat schließlich nicht erst am 27. Oktober    berücksichtigte auch ihre charakteristische regionale
 1990 in Sachsen Fuß gefasst. Landtage gab es in Sach-        Vielfalt. Sachsen gilt seitdem als ein sogenanntes
 sen bereits, als im benachbarten Preußen die Könige          »neues« Bundesland. Was für eine Verdrehung histori-
 noch absolutistisch regierten. Sachsen war ein Zentrum       scher Tatsachen! Schließlich ist Sachsen älter als so
 der 1848er-Revolution, später eine Wiege der deutschen       manches angeblich »alte« Bundesland. Das zeigt sich
 Sozialdemokratie – und übrigens auch der Frauenbewe-         im Vergleich mit dem Partnerland Baden-Württemberg,
 gung. Und ohne die mutigen Demonstranten in Leipzig          meiner Heimat, die bei der Konstituierung des Sächsi-
 und Dresden wäre die Friedliche Revolution in der DDR        schen Landtags vor 30 Jahren mit Rat und Tat zur Seite
 kaum möglich gewesen. Über 150 Jahre hinweg haben            gestanden hat. Als Baden-Württemberg 1952 nach
 Sachsen deutsche Demokratiegeschichte geschrieben.           einem Volksentscheid gegründet wurde, vereinigte es
                                                              drei Gebiete, von denen zwei ihrerseits Bindestrich­
 Ebenfalls in Sachsen mischte sich ab November 1989           länder waren: Baden, Württemberg-Baden und Württem-
 der Ruf nach nationaler Einheit in den Ruf nach Demo-        berg-Hohenzollern. Die Erfahrung in meiner badischen
 kratie und Freiheit. Die Wiedervereinigung war die logi-     Heimat zeigt, dass es mit der inneren Einheit auch
 sche Folge der Demokratisierung. Sie stellte nicht nur       70 Jahre nach der Fusion gelegentlich noch hapert …

                                                     FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages | 37 |
In Sachsen war es umgekehrt: Trotz jahrzehntelanger       Über die allererste Sitzung des neuen Landtags notierte
      erzwungener Teilung in drei Bezirke haben die Men-        Kurt Biedenkopf in seinem Tagebuch: »Den neu gewähl-
      schen nie vergessen, woher sie kamen – und wohin sie      ten Parlamentariern fällt es schwer, sich an Mehrheits­
      wieder wollten. Auf den Straßen Dresdens und Leipzigs     entscheidungen zu gewöhnen, auch in den Reihen der
      sah man 1989 nicht nur die schwarz-                                            Mehrheit selbst.« Er schob gleich
      rot-goldene Flagge, sondern auch                                               eine Erklärung hinterher: »Bisher
      die weiß-grüne Bikolore. Sachsen            Demokratie lebt zwar               musste man sich um Konsens be-
      war für viele Menschen Heimat. Die          vom Streit, doch beruht            mühen, denn für Mehrheiten am
      1990 wieder­gegründeten Länder              sie auch auf Konsens.              Runden Tisch gab es keine instituti-
      haben in den ersten Jahren allge-                                              onellen Vorkehrungen. So be-
      mein zur Akzeptanz des zwar von                                                schwört man diese Praxis auch jetzt
      den meisten gewollten, aber fremden Systems beige­        und lässt die Auffassung erkennen, dass Mehrheiten,
      tragen. »Unbehaust im vereinigten Deutschland, aber       die ohne Konsens entscheiden, im Grunde undemokra-
      doch in ihrem Land zu Hause«: So hat es der aus Froh-     tisch handeln und an die überwundene Vorherrschaft
      burg stammende Richard Schröder beschrieben. Das          einer Partei erinnern.«
      gerät in unseren Debatten über den Osten schnell in
      Vergessenheit.                                            Die Gegnerschaft zur Partei hatte die Menschen in der
                                                                DDR vereint und sie auf die Straßen getrieben. Der Herr-
      Einer der ersten Beschlüsse des neu konstituierten        schaft der SED hatten sie den mutigen Ruf »Wir sind das
      Landtags war es, Sachsen zum Freistaat zu erklären.       Volk« entgegengesetzt. Mit Erfolg! Ab dem 27. Oktober
      Genauer: wieder zum Freistaat zu erklären. Bereits 1919,  1990 herrschte in Sachsen wieder das Volk. In Gestalt
      nach der Abdankung der Fürsten, hatten die Sachsen        seiner damals 160 Volksvertreter. Die Revolution endete
      einen Freistaat ausgerufen. 1990 verband sich mit dem     mit einer friedlichen Machtübergabe – nicht zuletzt
      neuen alten Namen eine politische Botschaft: die Ab-      dank Vermittlung der Runden Tische, der Dresdner
      grenzung zur erzwungenen Einheitlichkeit in der DDR-      »Gruppe der 20« und ähnlicher Gruppen in anderen
      Diktatur.                                                 sächsischen Städten.

      Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende und Bürger-                   Mit der Revolution endeten auch ihre ungeschriebenen
      rechtler Karl-Heinz Kunckel sprach es offen an. Die Be-             Regeln. Der Kampf gegen die Diktatur gebot Einigkeit.
      zeichnung Freistaat zeige, »daß wir weit weg sind von               Die Demokratie fordert Konflikt. Sie braucht alternative
      einer Zentralregierung«. Darin drückte sich die Lehre               Politikentwürfe, sie lebt vom Streit. In der Demokratie
      aus, die längst nicht nur die Bürgerrechtler aus der DDR            zeigt sich, dass es das Volk nicht gibt. Nur widerstrei-
      gezogen hatten: Regionale Selbstbestimmung schützt                  tende Interessen, Erfahrungen, Perspektiven. Ein Volks-
      vor totalitärer Macht, Föderalismus sichert Freiheit.               wille entsteht, wenn überhaupt, erst im Wettstreit der

| 38 | FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages
Meinungen. Und in den Verfahren der parlamentari-           westdeutsche Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis
schen Demokratie. Der Politikwissenschaftler Jan Werner     1974 – vor dem Hintergrund der sozialliberalen Koalition,
Müller spitzt diese Einsicht zu: »Wenn es keine Spaltung    die anfangs neu und unerhört war. Aus heutiger Sicht
gäbe, brauchten wir auch keine Demokratie.«                 waren die damaligen Verhältnisse im Deutschen Bundes-
                                                            tag übersichtlich. Es gab nur drei Fraktionen. Mittlerweile
Am Ende entscheidet die Mehrheit. Das ist keineswegs        hat sich ihre Zahl verdoppelt. Mit dem gesellschaftlichen
selbstverständlich. In einem tieferen Sinne war die         Wandel ändert sich das Parteiensystem: Es fragmentiert
Skepsis der Bürgerrechtler gegen »Mehrheiten ohne           sich, die Ränder werden stärker. Das stellt uns Parla-
Konsens« berechtigt. Demokratie lebt zwar vom Streit,       mentarier vor neue Herausforderungen.
doch beruht sie auch auf Konsens. Erst ein Konsens
über Prinzipien, über gemeinsam geteilte Normen und         Die Mehrheitsfindung wird schwieriger. Nach der letzten
Werte ermöglicht den Meinungsstreit. Die Demokratie         Bundestagswahl hat es Monate gedauert, bis Deutsch-
braucht eine Kultur des Respekts vor dem Anderen.           land wieder eine vom Bundestag gewählte Regierung
Die Bereitschaft, gegnerische Positionen als legitim an-    hatte. Auch hier im Sächsischen Landtag musste sich ein
zuerkennen. Zugleich müssen Minderheiten vor einer          ungewohntes Bündnis bilden, um zu einer tragfähigen
»Tyrannei der Mehrheit« geschützt werden: durch unver-      Regierungsmehrheit zu kommen. In Thüringen ist das
äußerliche Grundrechte – und durch Regeln und Verfah-       nicht gelungen. Dort wurde mit den Regeln und Verfah-
ren, die es den Minderheiten von heute ermöglichen,         ren der parlamentarischen Demokratie auf fahrlässige
die Mehrheit von morgen zu werden. Erst das macht           Weise gespielt – mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Mehrheitsentscheide akzeptabel.
                                                            Ein Parlament repräsentiert beides: die Vielfalt und
Den demokratischen Konsens kann die Demokratie nicht        Verschiedenheit einer Gesellschaft ebenso wie ihren
erzwingen. Das macht sie voraussetzungsreich. Und ver-      demokratischen Grundkonsens. Die Abgeordneten reprä-
letzlich. Wenn Gegner zu Feinden erklärt werden, wenn       sentieren nicht nur ihre Wähler. Sie sind Vertreter des
das Volk gegen Minderheiten in Stellung gebracht wird,      ganzen Volkes. Das sagt unser Grundgesetz, das sagt
wenn Minderheiten Entscheidungen der Mehrheit als           die thüringische genauso wie die sächsische Landes­
verräterisch denunzieren, dann spaltet das die Gesell-      verfassung. Die Abgeordneten tragen staatspolitische
schaft – am Ende würde Demokratie unmöglich. Wir sind       Verantwortung. Sie haben vom Wähler einen Gestal-
alle gefordert, die Werte, Normen und Regeln der Demo-      tungsauftrag bekommen. Es ist ihre Aufgabe, eine Regie-
kratie aktiv zu verteidigen.                                rung zu bilden. Oder, wenn es anders nicht geht, eine
                                                            Minderheitsregierung zuzulassen.
Das parlamentarische Regierungssystem der Bundes­
republik ändert mit jeder Parteien- und Koalitionskons-     Minderheiten tragen ebenfalls Verantwortung für die par-
tellation seinen Charakter. Diese Feststellung traf der     lamentarische Demokratie. Aus dem britischen Parlamen-

                                                   FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages | 39 |
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