UBILÄUM - 1990-2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag - Veranstaltungen des Sächsischen Landtags
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Veranstaltungen des Sächsischen Landtags | Heft 72 | UBILÄUM 1990–2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag
UBILÄUM 1990–2020: 30 Jahre Sächsischer Landtag Mit einem Festbeitrag von Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages
Inhalt »Das demokratische Sachsen lernte wieder laufen« 7 Dr. Matthias Rößler, Impressum: Präsident des Sächsischen Landtags Herausgeber: Sächsischer Landtag Verfassungsorgan des Freistaates Sachsen »Österreich grüßt Sachsen – 30 Jahre Landtag Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit, im Freistaat Sachsen« 17 Protokoll und Besucherdienst Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 Mag. Wolfgang Sobotka, 01067 Dresden Präsident des Österreichischen Nationalrates Der Freistaat Sachsen wird in Angelegenheiten des Sächsischen Landtags durch den Präsidenten Dr. Matthias Rößler vertreten. »Demokratie ist unbequem – Telefon: 0351 493-50 und das vollkommen zurecht!« 25 publikation@slt.sachsen.de Michael Kretschmer, www.landtag.sachsen.de twitter.com/sax_lt Ministerpräsident des Freistaates Sachsen instagram.com/sachsen_landtag YouTube/Sächsischer Landtag »Über eine wirksame Beteiligung des Landtags« 31 V. i .S. d. P.: Ivo Klatte, Sächsischer Landtag, Dr. Matthias Grünberg, Anschrift s. o. Präsident des Verfassungsgerichtshofs Redakteure: Katja Ciesluk, Dr. Thomas Schubert, des Freistaates Sachsen Dr. Daniel Thieme, Sächsischer Landtag, Anschrift s. o. FESTBEITRAG Redaktionsschluss: 11. Dezember 2020 »30 Jahre Deutsche Einheit: Zukunft der parlamentarischen Fotos: Parlamentsdirektion/PHOTO-SIMONS, Demokratie im föderalen Deutschland« 37 photothek.net/Sächsische Staatskanzlei, Dr. Wolfgang Schäuble, I. Jung, Deutscher Bundestag/A. Melde, CDU-Fraktion, AfD-Fraktion, Fraktion DIE LINKE, Präsident des Deutschen Bundestages Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD-Fraktion/ G. Schleser, S. Giersch, K. Thiere, S. Döring, M. Hiekel, S. Floss, O. Killig, Archiv Landtag Zeitstrahl – 30 Jahre Sächsischer Landtag 48 Gestaltung, Satz: machzwei, Dresden Personen aus 30 Jahren Sächsischer Landtag 50 Druck: Elbtal Druck & Kartonagen GmbH, Dresden Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rahmen der Erich Iltgen – Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Sie ist kostenfrei erhältlich. Baumeister des sächsischen Parlamentarismus 54 Eine Verwendung für die eigene Öffentlichkeitsarbeit von Parteien, Fraktionen, Mandatsträgern oder zum Zwecke der Wahlwerbung ist – ebenso wie die entgeltliche Weitergabe – unzulässig. 30 Jahre Sächsischer Landtag in Zahlen 58 |4|
» Das demokratische Sachsen lernte wieder laufen« Dr. Matthias Rößler Präsident des Sächsischen Landtags Vor 30 Jahren versammelten sich, nach Jahrzehnten der gleichen, die uns als Geburtsort der deutschen Demo- Diktatur, erstmals wieder frei gewählte Abgeordnete in kratie gilt. In Sachsen schloss sich damals ein Kreis, der Sachsen. Am Tage der feierlichen Konstituierung des die christlich-humanistische Idee des Rechtsstaats, der 1. Sächsischen Landtags am 27. Oktober 1990 saßen sie Menschenwürde und der Freiheit als einen neuen Spross Stuhl an Stuhl, Reihe an Reihe, gemeinsam im Saal der erblühen ließ. Dreikönigskirche in Dresden. Dass uns Parlamentariern dieser Raum mit dem ikonografischen Wandbild von Politische Grundrechte, die sich unter anderem in freien Werner Juza zur Verfügung stand, war ein historischer Wahlen ausdrücken, gehören zu den zentralen Lebens- Glücksfall. Schließlich war er nach sechs Jahren Bauzeit funktionen einer Demokratie. In der DDR waren sie das erst kurz vorher fertiggestellt worden. Papier nicht wert, auf das sie gedruckt waren. Aus Angst vor dem eigenen Volk war der SED jedes Mittel recht, um Die Dresdner Dreikönigskirche steht heute als Symbol die freie Stimmabgabe zu verhindern. Sie bestimmte, wer für den Beginn einer neuen politischen Ordnung in und wie gewählt werden durfte, schüchterte alle ein, die Sachsen. In ihr vollende sich die Friedliche Revolution, anderer Auffassung waren und sie legte auch gleich das die 1989 in den schützenden Räumen der Kirchen ihren gewünschte Ergebnis der Wahl fest. Dieser jahrzehnte- Anfang nahm und die auch eine »protestantische Revo- lange Betrug im Geiste der Diktatur wurde besonders bei lution« (Ehrhart Neubert) war. »Kirche als Institution war den Kommunalwahlen 1989 durch mutige Frauen und nicht nur Dach und Schutzraum für die Gruppen der Männer offengelegt. Sie stellten mit ihrem Handeln die Friedlichen Revolution, sondern bot Einübungsräume fehlende Legitimation der DDR-Führung bloß. für Demokratie«, stellte im Rückblick der Pfarrer und DDR-Bürgerrechtler Harald Bretschneider fest. Der Kontrast, den der 1990 frei gewählte Sächsische Landtag bot, beruhend auf dem demokratischen Willen Es ist deswegen durchaus angebracht, die Dresdner der sächsischen Bevölkerung, hätte kaum größer sein Dreikönigskirche mit der Frankfurter Paulskirche zu ver- können. Ihm gehörten 160 Abgeordnete an, darunter Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident |7|
viele Ingenieure, Naturwissenschaftler, Handwerker und unsere geeinte Nation. Besonders jetzt, in diesen Zeiten, Theologen. Damals schlug besonders die Stunde derer, zeigt sich, wie wichtig gemeinsame Symbole für eine die sich in der DDR beruflich und privat vom Politischen Demokratie sind. Die gemeinsame Erinnerung an den ferngehalten hatten. Sie besaßen in ihrem Handeln einen friedlichen Sturz einer Diktatur und den Aufbau des unbändigen Willen zur Neugestaltung. Unterstützt durch wiedergegründeten Landes Sachsen, aus dem in der viele Ratgeber und Experten aus Baden-Württemberg Landesverfassung von 1992 dann wieder ein Freistaat und Bayern lernte das demokratische Sachsen durch ihr wurde, sind das Fundament unserer politischen Kultur politisches Wirken wieder laufen. in Sachsen. Es ist unsere Symbolik und unsere Tradition! Als erster Landtagspräsident beschrieb Erich Iltgen diese Für den politischen Neubeginn und für alle damit ver- frühen Jahre als »intensiven Lernprozess«, den alle Ab- bundenen Entscheidungen gab es keine Schablone, geordneten erfuhren, da bis auf wenige, niemand Erfah- in Sachsen genauso wenig wie in den anderen Ländern rung in der demokratischen Parlamentsarbeit hatte. In Mitteleuropas, die eine ähnliche Transformation er den vier Jahren der ersten Wahlperiode entstanden lebten. Ich bin deshalb ausgesprochen dankbar dafür, nichtsdestotrotz 189 Gesetze, eine immense Leistung. dass wir im Sächsischen Landtag bis heute enge und Sachsen erhielt zunächst ein Vorschaltgesetz, später eine gute Kontakte zu unseren europäischen Nachbarn in neue Verfassung sowie zahlreiche neue Einrichtungen Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn pflegen. und Institutionen. Es war damals eine politische Gründer- Besonders ist auch unsere Freundschaft mit Österreich zeit, eine Boom-Zeit des staatlichen, wirtschaftlichen und speziell mit Niederösterreich. Mit ihnen verbindet und gesellschaftlichen Neuaufbaus, ein Raum viel uns das Band einer weit zurückreichenden und bedeu- fältiger Gestaltungsmöglichkeiten. Mit jedem vom tenden mitteleuropäischen Kultur. Landtag beschlossenen Gesetz wuchs Sachsen zu dem leistungsfähigen und modernen Freistaat, den wir heute Ohne eine Vorstellung seiner jahrhundertealten Tradition kennen. kann man auch die Konstituierung des Sächsischen Landtags vor 30 Jahren kaum verstehen. Der von mir Jedes Gemeinwesen ist auf politische Symbole und Tra- geschätzte sächsische Historiker Karlheinz Blaschke ditionen angewiesen, die ihm historische Legitimität beschrieb 1990 die Konstituierung des Sächsischen verleihen. So war es auch im Jahr 1989 in Sachsen, als Landtags als die »Neubelebung einer demokratischen beim Besuch Helmut Kohls weiß-grüne und schwarz- Einrichtung, die in einem großen Zusammenhang euro- rot-goldene Fahnen vor der Ruine der Frauenkirche in päischer Verfassungsgeschichte steht«. Im Mittelalter Dresden geschwenkt wurden. Die Friedliche Revolution rangen einst die Stände den sächsischen Herrschern ein ist das Beste, was Deutschland passieren konnte. Sie Mitspracherecht ab. Auf den Landtagen der Frühen Neu- hat dazu beigetragen, die Teilung zu überwinden. Das ist zeit ging es zumeist um Finanzfragen. Die Landesherren identitätsstiftend und eine wunderbare Erzählung für erhofften sich außerordentliche Steuerbewilligungen |8| Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident
Dr. Matthias Rößler als junger Abgeordneter im reihenbestuhlten Plenum der Dresdner Dreikönigskirche und akzeptierten im Gegenzug, dass die Stände über gebung durch ein Zweikammerparlament, dass seit die Verwendung der Gelder wachten. 1907 im eigens dafür errichteten Sächsischen Stände- haus tagte. Ein freies Wahlrecht für Frauen und Männer Im Jahre 1831 erhielt das Königreich Sachsen seine erste existierte freilich ebenso wenig wie eine wirksame Verfassung. Es war ein Meilenstein in der demokrati- Gewaltenteilung. Erst mit dem vorläufigen Grundgesetz schen Entwicklung unseres Freistaates, doch von einer des Jahres 1919 und der republikanischen Verfassung verfassten parlamentarischen Demokratie, wie wir sie des Freistaates Sachsen von 1920 gelangte der demo- heute kennen, war Sachsen damals noch weit entfernt. kratische Parlamentarismus zum Durchbruch. Die junge Die Verfassung, geprägt vom politischen Geschick des sächsische Demokratie endete jedoch bereits 1933 Reformers Bernhard von Lindenau, regelte die Gesetz wieder, das mühsam erkämpfte freie Wahlrecht riss ab. Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident |9|
Bis zur demokratischen Zeitenwende im Jahr 1990 dau- hat, scheint sie sich totgesiegt zu haben.« Das ist nicht erte es eine lange Zeit. Zu den dunkelsten Kapiteln der ohne Gefahr für unser freies Gemeinwesen. deutschen Geschichte zählen dabei die Jahrzehnte der beiden Diktaturen. Das wir vor 30 Jahren wieder einen Man muss also heute mehr denn je fragen, wie wir die Rechtsstaat in Sachsen errichten konnten, stellt auch einst errungene Demokratie bewahren können, wie wir vor diesem Hintergrund für unser Land ein großes Glück unsere offene Gesellschaft für das 21. Jahrhundert moder- dar. Unsere Friedliche Revolution brachte neben der nisieren und weiterentwickeln können. Mir erscheint Freiheit zurück, was viele Menschen hier verloren eine Antwort darauf auch deshalb so wichtig, weil sich glaubten – Demokratie und Einheit. Politisch wieder längst wieder Diktaturen anschicken, ihre autoritären mündig und selbstbestimmt, gingen wir den Weg in die Gesellschaftskonzeptionen als das neue, das moderne freiheitliche Demokratie. Maß der Dinge zu propagieren. Sie preisen den digitalen Überwachungsstaat als funktional und handlungsfähig, Es ist bis heute dieser Siegeszug der Demokratie, der wähnen sich in ihrer kompromisslosen technologischen unserem Land Freiheit, Wohlstand und Sicherheit ge- Art als überlegen. Dem gegenüber bin ich wie schon vor bracht hat. Doch die über Jahrhunderte erlangten und 30 Jahren davon überzeugt, dass auch heute die Unver- erkämpften Errungenschaften sind weder selbstver- letzbarkeit der Menschenrechte und die Freiheitsrechte ständlich, noch sollte man sorglos meinen, sie seien des Einzelnen – auch gegenüber dem Staat – das Maß unabänderlich. Bereits seit längerer Zeit müssen wir der Dinge darstellen. Der Soziologe Armin Nassehi sehen, dass die repräsentative Demokratie mehr und macht sehr zutreffend geltend, dass sich gerade die mehr unter einem Vertrauens- und Legitimationsverlust politische Liberalität als Schutzrecht gegen die schein- leidet. Der große Liberale Ralf Dahrendorf etwa formu- bare Organisierbarkeit der gesamten Gesellschaft lierte bereits zur Jahrtausendwende: »Zweifellos ist die durchgesetzt habe. In dieser Hinsicht bleibt die Demo- Form der Demokratie, die viele von uns 1989 im Sinn kratie ohne wahre Alternative, ihre Annahmen sind nicht hatten, in ernste und tiefe Schwierigkeiten geraten.« verhandelbar, jede Abschwächung ihrer Grundprinzipien (Grund- und Bürgerrechte, Volkssouveränität und Min- Das Grundvertrauen in unser politisches System weicht derheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit sowie Gewalten- einer zunehmenden Skepsis in seine Leistungsfähigkeit. teilung und Gewaltenkontrolle) führen geradewegs ins Dabei gilt unser Staatsaufbau geradezu als Vorbild für autoritäre Verderben. eine moderne, stabile und funktionale Gewaltenteilung. Das Grundgesetz geniest bis heute weltweit hohes Die Corona-Pandemie bündelt manche gegenwärtige Ansehen. Die parlamentarische Demokratie, so sieht es Krisen-Diagnose wie unter einem Brennglas. Sie stellt auch der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme, war unsere plurale und offene Gesellschaft, die größtmög bis 1990 ein leuchtendes Gegenbild zum bürokratischen liche individuelle Freiheit in Abwägung mit gesellschaft- Totalitarismus. Er stellt aber ebenso fest: »Seit sie obsiegt licher Verantwortung garantiert, auf die Probe. Es hat im | 10 | Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident
Moment den Anschein, als entwickelten sich große der Parlamentsmehrheit abhängig. Unser Bundestags- Errungenschaften wie die Freizügigkeit, der Individualis- präsident Wolfgang Schäuble hat in den vergangenen mus, die Versammlungsfreiheit, ja sogar die tolerierte Monaten darauf hingewiesen und wichtige Vorschläge Widerspenstigkeit, in der Bekämpfung der Pandemie zur Stärkung der Parlamente öffentlich zur Sprache ge- zum Nachteil. Ich glaube allerdings, dass sich die Demo- bracht. Ich unterstütze ihn darin ausdrücklich. kratie auch in den jetzigen Umständen bewährt, indem sie Verhältnismäßigkeit wahrt und auf dem Boden der Nach der Ordnung des Grundgesetzes hat die Gewalten- Grundrechte handelt. Das birgt manche Mühe, ist aber teilung nicht nur eine horizontale, sondern auch eine im Hinblick auf unser demokratisches Gemeinwesen vertikale Dimension. Wenn wir also über Gewalten selbstbewusster Bürger alle Mühen wert. teilung sprechen, dann meinen wir damit nicht nur die Teilung der Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und In Krisenzeiten schlägt, so heißt es, die Stunde der Exe- Judikative, sondern auch die Gliederung des Bundes in kutive. Die Regierung kann im Rahmen ihrer Möglich Länder, die selbst Staatsqualität haben. Die Zuständig- keiten unmittelbar handeln. Parlamente hingegen benö- keitsverteilung zwischen Bund und Ländern folgt dabei tigen für Debatten und Diskussionen Zeit. Doch nur auf dem Subsidiaritätsprinzip: Was einer nationalen Auf diesem Weg können Meinungen und Interessen umfas- gabe entspricht und deshalb ausdrücklich dem Bund send abgewogen werden, gedeiht die grundlegende zugewiesen wurde, soll auch national geregelt werden. Akzeptanz für politische Entscheidungen. Dazu gehören Alles andere sollte jedoch Sache der Länder bleiben. mitunter auch Reibungsverluste und Verzögerungen, die Diese föderale Struktur hat sich bewährt. Sie ermöglicht wir als Gesellschaft aushalten müssen. flexible und differenzierte Lösungen und verortet die politische Verantwortung nahe an den Bürgern. Der Demokratien stützen sich auf den Willen des Volkes – Vorrang der kleineren Einheit verspricht gerade jetzt in das ist eine aus meiner Sicht genauso einfache wie der Pandemiebekämpfung passfähige Lösungen. Sicher, zentrale Wahrheit. Gewählte Abgeordnete vertreten das die Länder stimmen die Maßnahmen miteinander ab, ganze Volk. Sie sind die sprichwörtlichen Volksvertreter. sie sind jedoch trotzdem vor Ort für sie verantwortlich. Demokratie ist daher nicht die Selbstregulierung der Ich denke da zum Beispiel an die im Moment stark be- Herrschenden, sondern ist eine anvertraute Herrschaft. anspruchten kommunalen und landeseigenen Gesund- Ein selbstbewusstes Parlament muss daher auch in heitsdienste, die vor Ort jeweils passende Konzepte er- Krisenzeiten handlungsfähig und souverän bleiben. arbeiten. Sein Handeln beschränkt sich nicht darauf, ein verlänger- ter Arm der Exekutive zu sein. Vielmehr hat es den An- Die Corona-Pandemie dürfte uns auch im Freistaat spruch, bei wesentlichen Entscheidungen mitzureden, Sachsen noch eine ganze Weile beschäftigen. Dieses wenn nicht gar das letzte Wort zu sprechen, und die ohne Zweifel historische Ereignis sollte im Jubiläums- Regierung ist in ihrer politischen Existenz letztlich von jahr 2020 aber nicht den Blick auf unsere sächsische Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident | 11 |
Geschichte verstellen. 30 Jahre Landtag, 30 Jahre Freistaat Sachsen, 30 Jahre Deutsche Einheit: 1990 war ein Jahr von historischer Dimension. Zu den zentralen Akteuren Zur Person: im Prozess der Wiedervereinigung zählte auch Wolfgang Schäuble. Er gehört zweifellos zu den prägenden Per- Dr. Matthias Rößler (*1955 in Dresden) ist seit 2009 sönlichkeiten unserer jüngeren deutschen Geschichte. Präsident des Sächsischen Landtags. Er studierte von Er sollte den Festvortrag auf der leider entfallenen Feier- 1975 bis 1979 Maschinenbau an der TU Dresden und stunde »30 Jahre Sächsischer Landtag« halten. Ich freue arbeitete anschließend als Assistent sowie als Entwick- mich ganz besonders, dass er trotzdem mit einem Fest- lungsingenieur an der Hochschule für Verkehrswesen in beitrag in dieser Publikation vertreten ist. Dresden. 1990 Mitglied des Koordinierungsausschusses für die Wiedererrichtung des Freistaates Sachsen, ist er Wolfgang Schäuble ist amtierender Präsident des Deut- seit 1990 Mitglied des Sächsischen Landtags. Der CDU- schen Bundestages und gleichfalls dessen dienstältester Politiker war im Freistaat Sachsen von 1994 bis 2002 Abgeordneter. Im Jahr 1984 berief ihn Bundeskanzler Staatsminister für Kultus und von 2002 bis 2004 Staats- Helmut Kohl zum Chef des Bundeskanzleramtes. Ein minister für Wissenschaft und Kunst. Er ist unter anderem besonderes Glück für die deutsche Geschichte war es, Vorsitzender des Kuratoriums des »Forum Mitteleuropa dass er im Frühjahr des Jahres 1989 Bundesinnen beim Sächsischen Landtag«. minister wurde. In diesem Amt verhandelte er den deut- schen Einigungsvertrag an zentraler Stelle. Als wenn dieses Werk nicht schon ein politisches Leben füllen würde, kehrte er im Jahr 2005 noch einmal in die Bundes- regierung zurück. Zunächst erneut als Bundesinnen minister, später als Bundesfinanzminister, wo wir ihm in der Finanzkrise viel zu verdanken haben. Wolfgang Schäuble ist ein Zeuge der deutschen Ge- schichte und zugleich ein Politiker der Gegenwart. In mehreren Büchern hat er sich zu unterschiedlichen Zeiten den Fragen nach der Zukunft der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenlebens gestellt. Seine Vorschläge und Impulse zur Stärkung des Parlamentaris- mus sind zahlreich und wirkmächtig, das beweist er stets aufs Neue und das bringt er auch in seinem hiesigen Sitzung des 1. Sächsischen Landtags Beitrag zum Ausdruck. ■ im Festsaal der Dresdner Dreikönigskirche | 12 | Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident
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» Österreich grüßt Sachsen – 30 Jahre Landtag im Freistaat Sachsen« Mag. Wolfgang Sobotka Präsident des Österreichischen Nationalrates Der Freistaat Sachsen und die Republik Österreich sind Im Jahr 1776 schließlich gründete Albert Kasimir von auf ganz besondere Weise miteinander verbunden. Diese Sachsen-Teschen, Schwiegersohn Maria Theresias, eine Verbundenheit geht weit zurück in der Geschichte. So Kunstsammlung, die er zuerst in Preßburg ansiedelte hatte August der Starke, Kurfürst von Sachsen und König und diese dann nach Wien in die später nach ihm von Polen, große Pläne, sein Land als europäische Groß- benannte »Albertina« überführte. Die Albertina wurde macht zu etablieren. Er verheiratete seinen Sohn Friedrich zu einem der wichtigsten Museen in Österreich und August II mit der österreichischen Erzherzogin Maria Jo- beherbergt heute die weltweit größte Sammlung an sepha, Tochter von Joseph I, in einer Hochzeitszeremonie, Grafiken. Unsere Albertina hat somit eindeutig sächsi- die eines der größten Feste der damaligen Zeit wurde. sche Wurzeln. Maria Josepha regierte, als ihr Mann Friedrich August II Sachsen spielte aber auch als Puffer zwischen Öster- 1733 in Nachfolge seines Vaters als August III zum polni- reich und dem aufstrebenden Preußen des 18. Jahr schen König gewählt wurde, an der Seite ihres Mannes hunderts eine wichtige Rolle. Am Wiener Kongress mit und galt als politisch sehr interessiert. Nicht nur, verhinderte Österreich einen vollständigen Anschluss dass ihr Mann für die – für die Wettiner politisch wich- Sachsens an Preußen. In langen Verhandlungen einigte tige – Heirat mit Maria Josepha zum katholischen Glauben man sich unter dem von Preußen betriebenen Aus- übertrat, sie war es auch, die ihn 1740 stark unterstützte, schluss Sachsens, das König Friedrich August I bis das Erbe der Habsburger anzutreten. Die Versuche, die Februar 1815 auf Schloss Friedrichsfelde gefangen hielt, Kaiserkrone zu erlangen, waren letztlich vergebens. auf ein »Kernsachsen«. Sachsen sah diesen in Preßburg Die Allianz zwischen Österreich und Sachsen aber war geschlossen »Frieden- und Freundschaftsvertrag« geschmiedet. zwischen Preußen und Sachsen als einen Diktatfrieden, Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates | 17 |
der sowohl wirtschaftliche Interessen Preußens als auch Architekturpersönlichkeit. Semper hat wie kein anderer die militärischen Interessen Österreichs berücksichtigte. Architekt des Wiener Prachtboulevards Ringstraße den Historismus zum prägenden Architekturstil des aus Diese neuen Grenzen wurden im Laufe der Jahrhunderte, gehenden 19. Jahrhunderts gemacht. Heute noch fühlen letztmalig in den 1990er-Jahren wieder geändert, so- sich deshalb Österreicher wie Sachsen in der Semper dass die nunmehrigen Grenzen des Freistaates Sachsen oper in Dresden genauso zu Hause wie im Wiener Burg- wesentlich größere Gebiete umschließen, als im Wiener theater. Auch die Vielzahl an Touristen spürt die kultu- Kongress festgelegt wurde. relle und architektonische Ausstrahlung unseres Mittel- europas. Die letzte dynastische Verbindung kam zwischen Erz herzog Otto Franz Joseph von Österreich und Prinzessin Neben der Architekturpersönlichkeit Gottfried Semper Maria Josepha von Sachsen 1886 zustande, aus der der war der Staatsmann und Diplomat Klemens Wenzel letzte österreichische Kaiser, Karl I, entstammt. Nicht zu Lothar von Metternich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vergessen ist auch, und das ist dem langen, intensiven prägend für die Beziehungen zwischen Österreich und Bande zwischen den Wettinern und Habsburgern ge- Sachsen. Bevor er zu einem der führenden Staatsmänner schuldet, die Teilnahme Sachsens 1866 in der Schlacht Europas wurde und am Wiener Kongress auch für Sach- von Königgrätz an der Seite Österreichs gegen Preußen. sen essentiell wichtige Verhandlungen führte, leitete er von 1801 bis 1803 als Gesandter am königlich sächsi- Ein Zeichen dieser über Jahrhunderte dauernden Ver schen Hofe die dortige Österreichische Gesandtschaft. bindung zwischen Österreich und Sachsen sind auch Die Bedeutung von Sachsen für Österreich zeigt sich Straßennamen. Der Sachsenplatz, die Dresdner Straße, auch dadurch, dass die Gesandtschaft erst 1918 und der Leipziger Platz und die Leipziger Straße im 20. Bezirk somit lange nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 von Wien und die Sachsengasse in Klosterneuburg bei aufgelöst wurde. Wien sind sichtbare Zeichen der Verbundenheit, ebenso wie der Wiener Platz und die Wiener Straße in Dresden. Im Bereich Kunst und Kultur funktioniert der Austausch zwischen Österreich und Sachsen gerade auch in jüngs- Generell ist das Band zwischen unseren beiden Ländern ter Zeit in die entgegengesetzte Richtung. So leitet mit gerade im Bereich Kunst und Kultur ein ganz besonde- Stephan Koja seit 2016 ein Österreicher die berühmte res. So will ich in diesem Zusammenhang nur an einen Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. ganz besonderen Architekten und Baumeister erinnern, der sich 1871 in Wien angesiedelt hat: Gottfried Semper. Auch der wirtschaftliche Austausch ist in den letzten Das Kunsthistorische Museum, das Naturhistorische Jahren zu einem stabilen Standbein unserer Bezieh Museum, die Neue Hofburg sowie das Burgtheater zeu- ungen geworden. 2019 exportierte Österreich Waren im gen von der Gestaltungskraft dieser beeindruckenden Wert von 1,2 Milliarden Euro nach Sachsen und impor- | 18 | Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates
tierte Waren im Wert von 1,3 Milliarden Euro. Somit ist Neben vielen Errungenschaften möchte ich aber auch an Österreich einer der wichtigsten Handelspartner und Rückschläge erinnern, die wir als demokratische Gesell- Investoren Sachsens sowie der sechstwichtigste Import- schaft so nicht hinnehmen dürfen: voller Trauer erinnere markt. ich an den antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle vom 9. Oktober 2019, die Enthauptung eines Im touristischen Bereich freut es mich, dass immer mehr Lehrers bei Paris am 16. Oktober 2020 durch einen isla- Österreicher Sachsen als Reiseziel für sich entdecken mistischen Extremisten, den Anschlag durch einen und 2019 157.000 Nächtigungen von österreichischen weiteren islamistischen Extremisten auf die Basilika von Touristen in Sachsen gezählt wurden. Auch in die entge- Nizza mit drei Toten am 29. Oktober 2020 und schließ- gengesetzte Richtung wird eine touristische Reise nach lich den islamistischen Terroranschlag in Wien mit vier Österreich bei Sachsen immer beliebter. Toten am 2. November 2020. So fühlen wir uns auch verbunden, diesen schmerzlichen Angriffen auf Huma- Sachsen war in der jüngeren Geschichte eine Region, nität und unsere Demokratie entschieden entgegenzu- die nicht am Rande der Geschichte stand, sondern in treten. der Weltgeschichte geschrieben wurde. Die Bilder der Friedlichen Revolution aus Leipzig, die Stadt in der auch Auch wenn es uns schwerfällt, so dürfen wir nicht in die Friedensgebete stattfanden, prägen für immer unsere einer Schockstarre verharren, sondern müssen diese Erinnerung. Eine Stadt wie Leipzig und ein Bundesland Anschläge als direkten Auftrag an jeden einzelnen und wie Sachsen haben ganz wesentlich dazu beigetragen, jede einzelne von uns sehen, aktiv gegen Antisemitis- dass sich die Geschichte eines friedlich vereinigten mus und Islamismus aufzutreten, an jedem Tag und zu Deutschlands und Europas überhaupt erst entwickeln jeder Stunde, zu der wir so etwas wahrnehmen! konnte. Dafür gebührt Sachsen ausdrücklich auch aus österreichischer Perspektive immer wieder Dank und Sachsen ist spätestens seit der Wiedervereinigung im Anerkennung. Herzen Europas angekommen und kann seit der deut- schen Wiedervereinigung seine geografische Lage an Daher ist Sachsen auch immer ein ganz besonderes Land, der Schnittstelle mehrerer kulturell, politisch und wirt- wenn es um die Wende von Diktatur zu Demokratie geht. schaftlich bedeutsamer Regionen Europas zum Vorteil Und daher ist es eine besondere Freude und besonders all seiner Bewohner nutzen. Aber Sachsen ist mehr als wichtig, das 30-jährige Jubiläum des Sächsischen Land- nur ein geografisches Bindeglied für Deutschland in die tags als eine Feier des Sieges der Demokratie über die Staaten Mitteleuropas. Es hat mit seiner Geschichte und Diktatur zu verstehen. Wir müssen jeden Tag dafür dank- seiner Bevölkerung auch das nötige kulturelle Verständnis bar sein, dass dieser Wandel friedlich stattgefunden hat und das Bewusstsein, um einen erfolgreichen und ver- und dürfen diese Freiheit niemals als selbstverständlich trauensvollen Austausch mit seinen Nachbarn in Mittel- annehmen. europa zu garantieren. Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates | 19 |
Wie auch in Österreich ist in Sachsen eine autochthone auch in Österreich hochgehalten wird. Der Föderalismus Minderheit essentieller Teil der Gesellschaft. Die Minder- ist eines unserer grundlegenden Prinzipien und eint uns heit der Sorben, mit ihrem auch Sachsen umfassenden auch auf der politischen Ebene. Das Bekenntnis zur Siedlungsgebiet, bildet einen wesentlichen Teil der Subsidiarität und zu einem Europa, in dem unsere sächsischen Identität. Mit ihrer Sprache, Kultur und Ge- Regionen eine wichtige Rolle spielen, ist Ausdruck einer schichte stellen die Sorben ein bereicherndes Element gemeinsamen Grundhaltung in Sachsen und in Öster- in Sachsen dar. reich. ■ Vor allem das Forum Mitteleuropa beim Sächsischen Landtag, dessen Gründer Präsident Dr. Rößler ist, ist ein Flaggschiff für Kooperation zwischen Regionen und Ländern geworden. Ich freue mich daher besonders, wenn das kommende Forum Mitteleuropa in der Wiener Zur Person: Hofburg im Herbst 2021 stattfinden wird. Der Gedanke der Vernetzung, des Dialogs zwischen unterschiedlichen Mag. Wolfgang Sobotka (*1956 in Waidhofen an der gesellschaftlichen Gruppen, fördert das Verständnis Ybbs) ist seit 2017 Präsident des Nationalrates der füreinander und ermöglicht es, überregionale oder auch Republik Österreich. Er studierte Geschichte und Musik globale Herausforderungen zu bewältigen. Der Aus- in Wien. Zunächst arbeitete er als Lehrer, war Leiter einer tausch und die Kooperation zwischen Politikerinnen und Musikschule und aktiv in der Österreichischen Volks Politikern verschiedener Länder ist heute wichtiger denn partei (ÖVP). Nach seiner Tätigkeit als Gemeinderat in je, um nationale Engstirnigkeit zu überwinden. Es ist seiner Heimatstadt wurde er dort 1996 Bürgermeister. eine Zielrichtung des Forums Mitteleuropa, die wir aus 1998 wurde er dann Landesrat in der niederösterreichi- vollster Überzeugung so unterstützen. schen Landesregierung und später (2009) Stellvertreter des Landeshauptmanns. Von 2016 bis 2017 begleitete Der Freistaat Sachsen und die Republik Österreich teilen er das Amt des Bundesministers für Inneres der Republik nicht nur sehr viel ihrer Geschichte, auch unsere Politik Österreich. Seit 2017 ist er Abgeordneter des National- basiert auf gemeinsamen Grundwerten. Vor allem der rates der Republik Österreich und wurde 2017 sowie Ausdruck »Freistaat« zeigt die Länderstruktur auf, die 2019 zu dessen Präsidenten gewählt. | 20 | Mag. Wolfgang Sobotka, Präsident des Österreichischen Nationalrates
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» Demokratie ist unbequem – und das vollkommen zurecht!« Michael Kretschmer Ministerpräsident des Freistaates Sachsen 30 Jahre Sächsischer Landtag ist – wie auch die soziale Im Rückblick wird eines deutlich: Das Hohe Haus hat Marktwirtschaft sowie die Meinungs- und Reisefreiheit – erfolgreich die Höhen und Tiefen des Wiederaufbaus eine Folge von 30 Jahren Demokratie und Freiheit im des Freistaates Sachsen gemeistert. Dafür danke ich be- Freistaat Sachsen. Als frei gewählte Volksvertretung ist sonders den Abgeordneten der ersten Stunde, die in der das Parlament nicht nur das Fundament des Staates, son- spannenden Zeit des Aufbruchs sowohl über das Königs- dern zugleich ein zentraler Akteur unserer Demokratie. recht des Parlaments – die Haushaltsbeschlüsse – als auch mit einer klugen und zukunftsweisenden Gesetz- Der Landtag ist in all seinen Facetten und Wandlungen gebung die Weichen für den erfolgreichen Aufbau richtig in jeder seiner Legislaturperioden das Abbild der jewei- gestellt haben. ligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Abgeordneten sind – neben den kommunalen Verantwortungsträgern – Mittlerweile hat sich ein vielfältiger Generationswechsel in ihren Wahlkreis- und Bürgerbüros die ersten An- vollzogen. Es gibt kaum noch Abgeordnete der ersten sprechpartner der Menschen vor Ort mit ihren Sorgen Stunde, aber in allen guten und kritischen Phasen, und Nöten. Das ist verständlich, werden die Abgeord zu welchen etwa die langjährige Aufarbeitung des neten doch in Wahlen direkt vom Volk legitimiert. Umso DDR-Unrechtssystems, die verheerenden Hochwasser- größer ist die Erwartungshaltung an sie, Lösungen zu katastrophen der Jahre 2002 und 2013, die Finanzkrise finden und die konkreten Lebensverhältnisse zu gestal- und die Flüchtlingskrise gehören, hat sich der Sächsi- ten. Die damit verbundene Arbeit und die große Verant- sche Landtag seinen Aufgaben gestellt. wortung nötigen ungemeinen Respekt ab. Im Gegenzug sind die Gestaltungsmöglichkeiten, der unmittelbare Wir und zukünftige Generationen sollten uns etwas von Kontakt mit den Menschen, die fast täglich neuen Heraus- dem großartigen Aufbruchsgeist aus der Gründungs forderungen und der Wille, sich mit seiner Überzeugung zeit des Freistaates bewahren. Auch wir müssen uns für die Heimat einzusetzen, eine ständige Antriebskraft ständig neuen Herausforderungen stellen und mit Kom- der Abgeordneten. promissbereitschaft an die Umsetzung herangehen. Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen | 25 |
Keine politische Seite ist vor Irrtümern und Fehlern ge- Demokratie und Freiheit gäbe es dieses Hohe Haus feit. Der ständige Austausch zwischen den politischen heute nicht. Vielen DDR-Bürgern war klar, dass sie mit Konkurrenten und mit allen Teilen der Gesellschaft Flucht oder Demonstration alles aufs Spiel setzten. macht eine starke Demokratie erst aus. Demokratie ist Niemand wusste bei seiner Ausreise, ob und wann er sehr arbeitsintensiv und unbequem – und das voll nochmals in seine Heimat zurückkehren kann. Die De- kommen zurecht! Nur im Diskurs und durch Abwägen monstranten wussten, dass die Staatssicherheit unter der Argumente kommen wir zu Lösungen, die von weiten ihnen ist und dass Gefängnis oder Schlimmeres droht. Teilen der Gesellschaft mitgetragen werden. Dieser Mut und dieses Engagement verdient auch Jahr- zehnte später unsere Hochachtung und muss uns Ver- Der Sächsische Landtag ist seit 30 Jahren durch scharfe pflichtung und Ansporn zugleich sein. ■ Debatten geprägt. Gerade deshalb konnte sich eine funktionierende Demokratie entwickeln. Dies muss auch so bleiben! Meinungsfreiheit innerhalb und außer- halb des Parlaments darf nicht zu einer leeren Phrase mutieren oder zum Schmuckbegriff der Demokratie ver- kommen. Meinungsfreiheit muss gelebt und immer Zur Person: wieder neu eingefordert werden. Deshalb bereitet es mir Sorgen, dass der Raum dessen, was zu manchen Michael Kretschmer (*1975 in Görlitz) ist seit 2017 Minister- Themen gesagt und diskutiert werden darf, eng gewor- präsident des Freistaates Sachsen. Er studierte nach den ist. Dies hinterlässt ein ungutes Gefühl. Die politi- seiner Ausbildung zum Büroinformationselektroniker schen Gegner und unterschiedliche, gar unbequeme Wirtschaftsingenieurwesen in Dresden. Seine politische Meinungen dürfen nicht ignoriert werden, sondern wir Karriere begann er 1994 als Stadtrat in Görlitz. Von 2002 sollten uns anhand überzeugender Argumente mit bis 2017 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. ihnen auseinandersetzen. Ignoranz und Diskussions- Von 2005 bis 2009 war er hier stellvertretender Vor verbote führen nicht zur Lösung von Problemen, son- sitzender der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der dern zu gegenseitigen Verletzungen und zur Spaltung CDU/CSU-Fraktion. Von 2009 bis 2017 war er stellver der Gesellschaft. Wir müssen alle daran arbeiten, dies tretender Fraktionsvorsitzender. Von 2005 bis 2017 zu verhindern. Generalsekretär der sächsischen CDU, wurde er 2017 zum Landesvorsitzenden der CDU in Sachsen gewählt. Ohne die Friedliche Revolution 1989, ohne Volkes Wille Der Sächsische Landtag wählte ihn 2017 sowie 2019 und ohne den mutigen Einsatz unserer Menschen für zum Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen. | 26 | Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
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» Über eine wirksame Beteiligung des Landtags« Dr. Matthias Grünberg Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen Ein Grußwort aus Anlass des Bestehens und Wirkens Gebietsreformen, die Organisation des Behördenauf- des Sächsischen Landtags seit nunmehr 30 Jahren baus, das Schul- und Hochschulrecht, das Baurecht und bietet Gelegenheit, sich nicht nur die Verdienste in der das Polizeirecht. Aber auch in den späteren Legislatur- vergangenen Zeit zu vergegenwärtigen, sondern auch perioden erließ der Landtag gerade in den genannten die Bedeutung dieses zentralen Verfassungsorgans ge- Bereichen bedeutsame Neuregelungen. Das ist umso be- rade in der heutigen Zeit. merkenswerter als die Gesetzgebungskompetenz eines Bundeslandes wie des Freistaates Sachsen nicht nur Es würde diesen Rahmen sprengen, auch nur ansatz durch die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ein- weise aufzuzeigen, welche insbesondere gesetzgeberi- geschränkt wird, sondern zunehmend Gesetzgebungs- schen Leistungen in der Vergangenheit vom Sächsi- kompetenzen der Länder auf die Europäische Union schen Landtag erbracht wurden. Natürlich fällt mir übertragen und dort auch durchaus wahrgenommen zunächst die Sächsische Verfassung aus dem Jahr 1992 werden. ein, mit der eine eigenständige und moderne Grundlage für das staatliche Leben geschaffen wurde. Nicht von Ich möchte aber nicht bei einem Blick in die Vergangen- ungefähr wurde sie seit ihrem Erlass nur ein einziges Mal heit stehen bleiben, so lohnenswert das wäre. Nicht von ergänzt, mit der Einführung der sogenannten Schulden- ungefähr wird in diesem Jahr die parlamentarische Kon- bremse in Artikel 95 im Jahre 2014, was nach einer trolle, nein vielmehr die parlamentarische Gestaltung beeindruckend intensiven Diskussion über Fraktions- und Verantwortung des geltenden Rechts in einem beson- grenzen hinweg geschah und den Gestaltungswillen deren Ausmaß diskutiert und eingefordert. Der Anlass und die Eigenständigkeit des Sächsischen Landtags ist natürlich die Covid 19-Pandemie. Die maßgeblichen nachdrücklich belegt. Viele Gesetze sind seit 1990 er Regelungen zu ihrer Bekämpfung und Eindämmung lassen worden, naturgemäß in den ersten Legislatur werden bekanntlich durch Rechtsverordnungen der perioden, in denen die Grundlagen in vielen Bereichen Länder und Allgemeinverfügungen getroffen. Der Bundes- erst geschaffen wurden – wie etwa die kommunalen tag war jedenfalls zunächst nur durch eine Ergänzung Dr. Matthias Grünberg, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen | 31 |
des grundlegenden Infektionsschutzgesetzes beteiligt, Die Vorteile eines Gesetzgebungsverfahrens liegen in was von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit der Qualitätssicherung, etwa durch mehrere Lesungen der Mahnung kommentiert wurde, dass der Deutsche und Befassung der Ausschüsse und der damit verbun- Bundestag die Corona-Politik aktiver gestalten und kon- denen Aussprache. Sie schaffen damit eine besondere trollieren sollte. Im letzten Monat wurde dann auch das Legitimation. Sie bieten die Chance, dass eine Vielzahl Infektionsschutzgesetz überarbeitet und unter anderem von Meinungen und Positionen der Bevölkerung in den ein neuer Paragraf 28a eingefügt, der einen Katalog Gesetzgebungsprozess einfließen. Das schafft nicht nur von konkreten Maßnahmen enthält, die in einer Rechts Legitimation, das kann auch Akzeptanz erzeugen. Diese verordnung vorgesehen werden können. Vorteile sind bei der kurzen Lebensdauer der zu er lassenden Regelungen nur eingeschränkt zu gewähr Eine Beteiligung der Länderparlamente, also auch des leisten. Das soll uns aber nicht daran hindern, über eine Sächsischen Landtags, hat angesichts der Tatsache, dass wirksame Beteiligung des Landtags nachzudenken. die grundlegende gesetzliche Regelung Bundesrecht darstellt, nur eingeschränkt stattgefunden. Es stellt sich Die Kontrolle der vollziehenden Gewalt könnte ein die Frage, ob das so bleiben muss. Ansatzpunkt hierfür sein. Hier stehen insbesondere Fragerechte und Informationspflichten zur Verfügung. Ausgangspunkt von Überlegungen zur parlamentari- Akzeptanz entsteht daraus, dass man die geltenden Re- schen Beteiligung ist Art. 39 Abs. 2 der Sächsischen gelungen versteht. Rechtsverordnungen werden nicht Verfassung. Nach dieser Vorschrift übt der Landtag die begründet, anders als Gesetze, die ja darüber hinaus in gesetzgeberische Gewalt aus, überwacht die Ausübung den protokollierten Beratungen inhaltlich diskutiert wer- der vollziehenden Gewalt und ist Stätte der politischen den. Das ist auch ein Aspekt, der sich bei der gericht Willensbildung. Die Ausübung der gesetzgeberischen lichen Überprüfung auswirken kann. Eine von einem Gewalt ist vor dem Hintergrund, dass sich das Infektions- Gericht vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung schutzgesetz an den Verordnungsgeber, also an die wird sich an einer gesetzgeberischen Begründung anders Landesregierungen, richtet, nicht ausgeschlossen. Viel- ausrichten können. mehr ist nach Art. 80 Abs. 4 Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen, dass statt einer Landesregierung auch der Schließlich ist der Sächsische Landtag die Stätte der Landesgesetzgeber durch Gesetz aufgrund einer bundes- politischen Willensbildung. Die Verfassung misst ihm rechtlichen Ermächtigungsgrundlage handeln kann. eine besondere Bedeutung bei der Vertretung und Ver- Allerdings stellt sich das Problem, dass wegen des stän- mittlung der verschiedenen Auffassungen und Positio- dig wechselnden Infektionsgeschehens nicht nur sehr nen in der Bevölkerung, in der Gesellschaft zu. Hier zeigt kurzfristig geltende Maßnahmen erforderlich sind, son- sich auch ein Unterschied der Sächsischen Verfassung dern auch eine die rechtlichen Regelungen begleitende, zum Grundgesetz, das die politische Willensbildung in ständige Beobachtungs- und Anpassungspflicht besteht. erster Linie den Parteien überlässt. Willensbildung | 32 | Dr. Matthias Grünberg, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen
heißt, dass im Landtag alle Fragen des Landes und alle Themen von öffentlichem Interesse diskutiert werden können und hierzu ein politischer Wille gebildet werden Zur Person: kann. Das ist gerade vor dem Hintergrund der großen Differenzen in der Bevölkerung über die Notwendigkeit Dr. Matthias Grünberg (*1961 in Mannheim) ist seit und Angemessenheit der geltenden Regelungen zur 2020 Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Bekämpfung von Covid 19 nicht zu unterschätzen. Die in Freistaates Sachsen. Nach einer Ausbildung zum Bank- diesem Hause bereits stattgefundenen Debatten bestä- kaufmann studierte er in Freiburg und München Rechts- tigen diese Diagnose. wissenschaften. Auf das Zweite Juristische Staatsexamen im Jahr 1990 folgte die Promotion an der Universität Sehr geehrte Abgeordnete, nicht nur in der Vergangen- Mannheim. Zunächst Referent und Referatsleiter im heit hat dieser Landtag seine Aufgaben, die die Sächsi- Sächsischen Staatsministerium der Justiz sowie Richter sche Verfassung ihm stellt, im besonderen Maße erfüllt. an Verwaltungsgerichten in Karlsruhe und Dresden, Ich bin mir gewiss, dass dies auch in Zukunft der Fall wurde er 1998 Richter am Sächsischen Oberverwaltungs- sein wird. Ich wünsche Ihnen hierzu alles Gute! ■ gericht, dessen Vizepräsident er seit 2008 ist. 2007 er- folgte erstmals seine Wahl zum Mitglied des Verfassungs- gerichtshofes des Freistaates Sachsen (Wiederwahl 2016), dessen Präsident er seit 2020 ist. Dr. Matthias Grünberg, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen | 33 |
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FESTBEITRAG » 30 Jahre Deutsche Einheit: Zukunft der parlamentarischen Demokratie im föderalen Deutschland« Dr. Wolfgang Schäuble Präsident des Deutschen Bundestages Nur 30 Jahre Sächsischer Landtag!? Die parlamentari- die Einheit der deutschen Nation wieder her, sondern sche Demokratie hat schließlich nicht erst am 27. Oktober berücksichtigte auch ihre charakteristische regionale 1990 in Sachsen Fuß gefasst. Landtage gab es in Sach- Vielfalt. Sachsen gilt seitdem als ein sogenanntes sen bereits, als im benachbarten Preußen die Könige »neues« Bundesland. Was für eine Verdrehung histori- noch absolutistisch regierten. Sachsen war ein Zentrum scher Tatsachen! Schließlich ist Sachsen älter als so der 1848er-Revolution, später eine Wiege der deutschen manches angeblich »alte« Bundesland. Das zeigt sich Sozialdemokratie – und übrigens auch der Frauenbewe- im Vergleich mit dem Partnerland Baden-Württemberg, gung. Und ohne die mutigen Demonstranten in Leipzig meiner Heimat, die bei der Konstituierung des Sächsi- und Dresden wäre die Friedliche Revolution in der DDR schen Landtags vor 30 Jahren mit Rat und Tat zur Seite kaum möglich gewesen. Über 150 Jahre hinweg haben gestanden hat. Als Baden-Württemberg 1952 nach Sachsen deutsche Demokratiegeschichte geschrieben. einem Volksentscheid gegründet wurde, vereinigte es drei Gebiete, von denen zwei ihrerseits Bindestrich Ebenfalls in Sachsen mischte sich ab November 1989 länder waren: Baden, Württemberg-Baden und Württem- der Ruf nach nationaler Einheit in den Ruf nach Demo- berg-Hohenzollern. Die Erfahrung in meiner badischen kratie und Freiheit. Die Wiedervereinigung war die logi- Heimat zeigt, dass es mit der inneren Einheit auch sche Folge der Demokratisierung. Sie stellte nicht nur 70 Jahre nach der Fusion gelegentlich noch hapert … FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages | 37 |
In Sachsen war es umgekehrt: Trotz jahrzehntelanger Über die allererste Sitzung des neuen Landtags notierte erzwungener Teilung in drei Bezirke haben die Men- Kurt Biedenkopf in seinem Tagebuch: »Den neu gewähl- schen nie vergessen, woher sie kamen – und wohin sie ten Parlamentariern fällt es schwer, sich an Mehrheits wieder wollten. Auf den Straßen Dresdens und Leipzigs entscheidungen zu gewöhnen, auch in den Reihen der sah man 1989 nicht nur die schwarz- Mehrheit selbst.« Er schob gleich rot-goldene Flagge, sondern auch eine Erklärung hinterher: »Bisher die weiß-grüne Bikolore. Sachsen Demokratie lebt zwar musste man sich um Konsens be- war für viele Menschen Heimat. Die vom Streit, doch beruht mühen, denn für Mehrheiten am 1990 wiedergegründeten Länder sie auch auf Konsens. Runden Tisch gab es keine instituti- haben in den ersten Jahren allge- onellen Vorkehrungen. So be- mein zur Akzeptanz des zwar von schwört man diese Praxis auch jetzt den meisten gewollten, aber fremden Systems beige und lässt die Auffassung erkennen, dass Mehrheiten, tragen. »Unbehaust im vereinigten Deutschland, aber die ohne Konsens entscheiden, im Grunde undemokra- doch in ihrem Land zu Hause«: So hat es der aus Froh- tisch handeln und an die überwundene Vorherrschaft burg stammende Richard Schröder beschrieben. Das einer Partei erinnern.« gerät in unseren Debatten über den Osten schnell in Vergessenheit. Die Gegnerschaft zur Partei hatte die Menschen in der DDR vereint und sie auf die Straßen getrieben. Der Herr- Einer der ersten Beschlüsse des neu konstituierten schaft der SED hatten sie den mutigen Ruf »Wir sind das Landtags war es, Sachsen zum Freistaat zu erklären. Volk« entgegengesetzt. Mit Erfolg! Ab dem 27. Oktober Genauer: wieder zum Freistaat zu erklären. Bereits 1919, 1990 herrschte in Sachsen wieder das Volk. In Gestalt nach der Abdankung der Fürsten, hatten die Sachsen seiner damals 160 Volksvertreter. Die Revolution endete einen Freistaat ausgerufen. 1990 verband sich mit dem mit einer friedlichen Machtübergabe – nicht zuletzt neuen alten Namen eine politische Botschaft: die Ab- dank Vermittlung der Runden Tische, der Dresdner grenzung zur erzwungenen Einheitlichkeit in der DDR- »Gruppe der 20« und ähnlicher Gruppen in anderen Diktatur. sächsischen Städten. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende und Bürger- Mit der Revolution endeten auch ihre ungeschriebenen rechtler Karl-Heinz Kunckel sprach es offen an. Die Be- Regeln. Der Kampf gegen die Diktatur gebot Einigkeit. zeichnung Freistaat zeige, »daß wir weit weg sind von Die Demokratie fordert Konflikt. Sie braucht alternative einer Zentralregierung«. Darin drückte sich die Lehre Politikentwürfe, sie lebt vom Streit. In der Demokratie aus, die längst nicht nur die Bürgerrechtler aus der DDR zeigt sich, dass es das Volk nicht gibt. Nur widerstrei- gezogen hatten: Regionale Selbstbestimmung schützt tende Interessen, Erfahrungen, Perspektiven. Ein Volks- vor totalitärer Macht, Föderalismus sichert Freiheit. wille entsteht, wenn überhaupt, erst im Wettstreit der | 38 | FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages
Meinungen. Und in den Verfahren der parlamentari- westdeutsche Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis schen Demokratie. Der Politikwissenschaftler Jan Werner 1974 – vor dem Hintergrund der sozialliberalen Koalition, Müller spitzt diese Einsicht zu: »Wenn es keine Spaltung die anfangs neu und unerhört war. Aus heutiger Sicht gäbe, brauchten wir auch keine Demokratie.« waren die damaligen Verhältnisse im Deutschen Bundes- tag übersichtlich. Es gab nur drei Fraktionen. Mittlerweile Am Ende entscheidet die Mehrheit. Das ist keineswegs hat sich ihre Zahl verdoppelt. Mit dem gesellschaftlichen selbstverständlich. In einem tieferen Sinne war die Wandel ändert sich das Parteiensystem: Es fragmentiert Skepsis der Bürgerrechtler gegen »Mehrheiten ohne sich, die Ränder werden stärker. Das stellt uns Parla- Konsens« berechtigt. Demokratie lebt zwar vom Streit, mentarier vor neue Herausforderungen. doch beruht sie auch auf Konsens. Erst ein Konsens über Prinzipien, über gemeinsam geteilte Normen und Die Mehrheitsfindung wird schwieriger. Nach der letzten Werte ermöglicht den Meinungsstreit. Die Demokratie Bundestagswahl hat es Monate gedauert, bis Deutsch- braucht eine Kultur des Respekts vor dem Anderen. land wieder eine vom Bundestag gewählte Regierung Die Bereitschaft, gegnerische Positionen als legitim an- hatte. Auch hier im Sächsischen Landtag musste sich ein zuerkennen. Zugleich müssen Minderheiten vor einer ungewohntes Bündnis bilden, um zu einer tragfähigen »Tyrannei der Mehrheit« geschützt werden: durch unver- Regierungsmehrheit zu kommen. In Thüringen ist das äußerliche Grundrechte – und durch Regeln und Verfah- nicht gelungen. Dort wurde mit den Regeln und Verfah- ren, die es den Minderheiten von heute ermöglichen, ren der parlamentarischen Demokratie auf fahrlässige die Mehrheit von morgen zu werden. Erst das macht Weise gespielt – mit schwerwiegenden Konsequenzen. Mehrheitsentscheide akzeptabel. Ein Parlament repräsentiert beides: die Vielfalt und Den demokratischen Konsens kann die Demokratie nicht Verschiedenheit einer Gesellschaft ebenso wie ihren erzwingen. Das macht sie voraussetzungsreich. Und ver- demokratischen Grundkonsens. Die Abgeordneten reprä- letzlich. Wenn Gegner zu Feinden erklärt werden, wenn sentieren nicht nur ihre Wähler. Sie sind Vertreter des das Volk gegen Minderheiten in Stellung gebracht wird, ganzen Volkes. Das sagt unser Grundgesetz, das sagt wenn Minderheiten Entscheidungen der Mehrheit als die thüringische genauso wie die sächsische Landes verräterisch denunzieren, dann spaltet das die Gesell- verfassung. Die Abgeordneten tragen staatspolitische schaft – am Ende würde Demokratie unmöglich. Wir sind Verantwortung. Sie haben vom Wähler einen Gestal- alle gefordert, die Werte, Normen und Regeln der Demo- tungsauftrag bekommen. Es ist ihre Aufgabe, eine Regie- kratie aktiv zu verteidigen. rung zu bilden. Oder, wenn es anders nicht geht, eine Minderheitsregierung zuzulassen. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundes republik ändert mit jeder Parteien- und Koalitionskons- Minderheiten tragen ebenfalls Verantwortung für die par- tellation seinen Charakter. Diese Feststellung traf der lamentarische Demokratie. Aus dem britischen Parlamen- FESTBEITRAG – Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages | 39 |
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