ASF AKTUELL - ASF BADEN-WÜRTTEMBERG

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ASF AKTUELL - ASF BADEN-WÜRTTEMBERG
Ausgabe 1/2021

  Informationen der Arbeitsgemeinschaft
  sozialdemokratischer Frauen (ASF)
  Baden-Württemberg

                  ASF aktuell
            RECHT Interview mit Justizministerin Christine Lambrecht - ab Seite 2
            LEBEN Alltag in der Pandemie - ab Seite 4
            GEWALT Nicht wegschauen - ab Seite 10

WIR SIND MÜTEND!
ZWISCHENBILANZ NACH EINEM JAHR PANDEMIE
Liebe Leserin,
lieber Leser,
wir schreiben April 2021 und von Entspannung in der Pande-
mie keine Spur. Seit Wochen warten wir auf eine vernünftige
Teststrategie oder den Plan einer flächendeckenden Impfung.
Stattdessen planen wir von Lockdown zu Lockdown. Lediglich
die Bezeichnungen wechseln. Notbremse, Ausgangssperren,
Schließungen des Einzelhandels, Kultur und Gastronomie
am Boden und an den Schulen das reinste Chaos. Unser
Alltags-Management ist geprägt von Inzidenzzahlen und dem
Wechselbad der Gefühle, wenn sich wieder eine neue Coro-
na-Verordnung tagelang über die Presse ankündigt, bevor die
Ministerpräsident*innen mit der Kanzlerin diese beschließen.
Mit „mütend“ zieht ein neues Wort in unsere Köpfe ein, welches
genau beschreibt, wie sich die meisten Menschen gerade wohl
fühlen: Müde und wütend!
Müde, weil das Leben brach zu liegen scheint. Es fehlt das
SOZIALE. Kontakte, Kneipenbesuche, Freunde treffen, Kunst-
genuss oder einfach ausgedrückt: Alltag in der Gemeinschaft.
Wütend, weil wir täglich Versprechungen erhalten, dass es flä-   IN DIESER AUSGABE
chendeckende Test geben wird und eine Impfstrategie kommt,
dass alle Willigen bis zum Sommer beide Impfungen erhalten       Editorial						Seite 1
haben. Wir hören die Botschaft, doch die Realität sieht leider   Interview mit Christine Lambrecht			 Seite 2
ganz anders aus.                                                 Alleinerziehend im Lockdown			       Seite 4
Und unsere Gesellschaft verändert sich. Der Großteil der Men-    Zwischen den Zeilen				              Seite 5
schen hält sich an die Regeln und versucht das Beste daraus      Ein Jahr Corona					Seite 6
zu machen. Frauen halten den Laden am Laufen und in vie-         Buchhinweis					Seite 7
len Landkreisen und Kommunen, wird jetzt gehandelt, um die       Positionspapier der ASF Mannheim			  Seite 8
Menschen vor Ort zu testen und zu impfen.                        Gewalt geschieht vor unseren Augen		 Seite 10
                                                                 Mehr Scheidungen				Seite 12
Leider gibt es mittlerweile beunruhigende Berichte und Statis-   Wir sagen Tschüss					Seite 12
tiken, welche Gruppe proportional am meisten unter der Krise     Pressemitteilungen				Seite 13
zu leiden hat: die Frauen! Die Gewalt gegenüber Frauen und       Impressum					Seite 14
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Kindern nimmt deutlich zu. Hotlines verzeichnen exorbitante             Eine Lektüre, die auffordert, sich politisch einzumischen und
Anstiege der Kontakte. Im öffentlichen wie politischen Alltag           für Gleichstellungspolitik zu kämpfen. Zuschauen alleine reicht
von Frauen ziehen verbale Attacken und sexistische Anfein-              nicht mehr aus. Denn, überall da, wo Frauen angegriffen wer-
dungen an! Die Koordination von Homeschooling, Homeoffice,              den, ist das ein Angriff auf unsere Demokratie!
Haushalt und Kinderbetreuung sorgen für den Anstieg psychi-             Also, lasst uns aufstehen, für eine echte Gleichstellungspolitik
scher Belastungen, so dass hier oftmals keine Kraft mehr da             kämpfen und die Demokratie schützen! Jetzt!
ist, nach sich selber zu schauen und sich zu wehren.
                                                                        Mischen wir uns ein!
Wir widmen uns in dieser Ausgabe nochmals auf die „system-
relevant“ gefeierten Frauen und was nach einem Jahr Pande-              Sonja Elser
mie noch davon übrig ist!                                               ASF-Landesvorsitzende

INTERVIEW MIT CHRISTINE LAMBRECHT
GEWALT GEGEN FRAUEN NIMMT ZU

Liebe Christine, die Gewalt gegen Frauen nimmt seit ge-
raumer Zeit kontinuierlich zu und die Corona-Pandemie
verschärft die Situation noch zusätzlich. Wie stellt sich
denn diese Entwicklung für Dein Ressort dar?
Es ist eine furchtbare Tatsache, dass für viele Frauen das eige-
ne Zuhause zu einem Ort des Schreckens werden kann. Durch
die Verlagerung des Lebens in die eigenen vier Wände in der
Coronapandemie hat sich die Lage noch verschärft. Nach den
Zahlen des BKA zur Partnerschaftsgewalt ist im Jahr 2019 sta-
tistisch betrachtet an fast jedem dritten Tag eine Frau durch die
Tat ihres Partners oder Ex-Partners gestorben. Durchschnitt-
lich wird alle 45 Minuten eine Frau durch ihren Partner oder
Ex-Partner verletzt oder angegriffen. Das Dunkelfeld ist groß,
da viele Taten nicht angezeigt werden und im Verborgenen in
der eigenen Wohnung begangen werden.
Wir dürfen uns damit niemals abfinden und müssen alles tun,
um die betroffenen Frauen besser zu schützen. Deshalb ha-
ben wir als Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher-                                Christine Lambrecht MdB, Bundesministerin der Jusitz
schutz die Entwicklung einer versteckten Smartphone-App, die                                         und für Verbraucherschutz (© Thomas Köhler)
sogenannte „inkognito App“ für von häuslicher Gewalt bedroh-
ten Frauen, mit insgesamt 1.698.000 Euro gefördert.
Die „inkognito App“ ist auf dem Smartphone nicht ohne weite-            sind für die betroffenen Frauen nicht folgenlos, wirken meist
res erkennbar und ermöglicht einen lautlosen Notruf in akuten           wie psychische Gewalt. Nicht zuletzt beginnen häufig Frauen
Gefahrensituationen. Betroffene Frauen können ein versteck-             ihr Selbstbild in Folge von öffentlichen Beleidigungen ihrer Per-
tes Gewalttagebuch führen und Verletzungen in einem gesi-               son zu ändern. Sie verlieren das Vertrauen in sich, aber auch
cherten Protokoll gerichtsfest dokumentieren. Ebenso bietet             in andere Personen. Diese schweren Folgen, die Frauen durch
die App einen Wegweiser sowie soziale, juristische und psy-             Beleidigungen ihrer Person in der Öffentlichkeit erleben, sollen
chologische Informationen.                                              sich nun auch in dem erhöhten Strafmaß widerspiegeln.
                                                                        Wir nehmen aber auch die Sozialen Netzwerke, wie Facebook,
In Pandemiezeiten verlagert sich viel Hass und Gewalt in                Twitter, Instagram und Co. in die Pflicht: Künftig müssen sie
die Soziale Medien. Auch Angriffe gegen Frauen. Was kön-                strafbare Postings nicht mehr nur löschen, sondern in be-
nen wir, was kannst Du tun?                                             stimmten Fällen auch dem Bundeskriminalamt melden, um die
Frauen erleben Gewalt nicht nur im Alltag, sondern auch im              strafrechtliche Verfolgung zu ermöglichen. Diese Meldepflicht
Netz. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremis-                 gilt unter anderem für Bedrohungen mit Verbrechen gegen die
mus und der Hasskriminalität werden Hetze und Drohungen                 sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit
auch gegen Frauen im Netz künftig härter und effektiver er-             oder die persönliche Freiheit. Was die Beleidigungen betrifft,
folgt. Während bislang nur die Bedrohung mit einem Verbre-              werden die Sozialen Netzwerke künftig angehalten, die Nut-
chen – meist die Morddrohung – strafbar war, sind nun auch              zerinnen und Nutzer darüber zu informieren, wie und wo sie
Drohungen mit Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung,                Strafanzeige und erforderlichenfalls Strafantrag stellen kön-
die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit straf-         nen.
bar. Auch verschärfen wir den Straftatbestand der Beleidigung.          Das sind wichtige gesetzliche Änderungen im Kampf gegen
Wer öffentlich im Netz andere beleidigt, kann künftig mit bis zu        Hetze und Drohungen gegen Frauen im Netz – sowohl im prä-
zwei statt mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden        ventiven Bereich als auch im Bereich der Strafverfolgung.
können. Öffentliche Beleidigungen sind laut und aggressiv. Sie

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Eine Umfrage unter Bundestagsabgeordneten hat erge-                      Aber auch was unsere Parlamente betrifft, haben wir es uns
ben, dass die frauenfeindlichen Übergriffe stark zugenom-                zum Ziel gesetzt, dass hier gleich viele Frauen wie Männer
men haben, seit die AfD im Bundestag vertreten ist. Du                   vertreten sind. Im Bundestag liegt aktuell er Frauenanteil bei
hast als Ministerin nun gesetzliche Veränderungen ange-                  nur 31 Prozent und das nach 36,5 Prozent in der vergangenen
kündigt. Was genau dürfen wir denn erwarten?                             Legislaturperiode. Daran merken wir: Der Anteil von Frauen im
Jede zehnte Frau wird in Deutschland mindestens einmal in ih-            Bundestag ohne ein Gegensteuern verbleibt nicht nur bei ei-
rem Leben Opfer von Stalking oder sexuell herabwürdigender               nem ohnehin geringen Prozentsatz, sondern sinkt sogar noch
Belästigungen und Beleidigungen – im Internet, auf der Straße            weiter. Dem gilt es entschieden entgegenzuwirken: Darum
oder auch im Job, auch hier im Deutschen Bundestag. Es ist               setzen wir uns für Paritätsgesetze für den Bundestag, die Län-
für mich unfassbar, welche Verhaltensweisen hier mittlerweile            der und Kommunen ein. Denn die Zusammensetzung unserer
an den Tag gelegt werden.                                                Gesellschaft muss sich auch in unseren Parlamenten endlich
                                                                         widerspiegeln. Als SPD sind wir hier viel weiter als andere: In
Daher habe ich bereits zu Beginn des Jahres angekündigt, zu              der SPD leben wir die Parität. Es ist für uns selbstverständlich,
prüfen, ob in diesem Bereich rechtliche Anpassungen erforder-            in allen Landesverbänden Wahllisten mit dem Reißverschluss-
lich sind. Es muss klar sein, dass wir als Gesellschaft solche           verfahren aufzustellen. Deswegen haben wir in der SPD-Frak-
Handlungen nicht hinnehmen und strikt ablehnen.                          tion im Bundestag auch einen so hohen Frauenanteil. Da wür-
Mit dem von mir in der letzten Kabinettssitzung am 24.03.2021            de ich mir auch in anderen Parteien ein Umdenken wünschen.
vorgelegten Gesetzesentwurf zur effektiveren Bekämpfung von
Nachstellungen und besserer Erfassung des Cyberstalkings
reagieren wir auf die bisher bestehenden hohen Hürden des
Straftatbestandes der Nachstellung – des Stalkings, der nur
                                                                           Christine Lambrecht
beharrliches Täterverhalten sowie schwerwiegende Eingriffen
                                                                           geb. 1965 in Mannheim.
in das Leben der Betroffenen erfasste. Diese Hürden werden
mit dem Gesetzesentwurf nun abgesenkt. Künftig soll es für                 1984 bis 1992 Studium der Rechtswissenschaften an den
eine Verurteilung wegen Stalkings ausreichen, wenn den Tä-                 Universitäten Mannheim und Mainz; erstes juristisches
tern „wiederholtes“ Stalking nachgewiesen wird und sie das                 Staatsexamen.
Leben des Opfers „nicht unerheblich“ beeinträchtigen. Bislang              1992-1995 Referendariat am Landgericht Darmstadt;
mussten „beharrliches“ Nachstellen und eine „schwerwiegen-                 zweites juristisches Staatsexamen.
de“ Beeinträchtigung des Opfers vorliegen. Außerdem sieht                  1992-1998 Dozentin für Handels- und Gesellschaftsrecht
der Entwurf eine Neuregelung für besonders schwere Fälle,                  an der Berufsakademie Mannheim.
z.B. für Nachstellungen über lange Zeiträume und solche, die               1995-1996 Aufbaustudiengang zur Magistra der Verwal-
Gesundheitsschädigungen hervorrufen, vor. Hier kann eine                   tungswissenschaften an der Deutschen Verwaltungs-
Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren ausgesprochen werden.               hochschule in Speyer.
Aber auch die im Netz sowie über Apps verübte Straftaten,                  Seit 1995 Rechtsanwältin.
werden mit dem Gesetzesentwurf als digitales Stalking nun                  SPD-Mitglied seit 1982.
auch unter Strafe gestellt. Stalking ist für Betroffene schreckli-         1985-2008 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung
cher Psychoterror – mit traumatischen Folgen. Stalker verfol-              Viernheim.
gen, belästigen und bedrohen Menschen oft Tag und Nacht,                   1989-1997 Mitglied des Kreistags Bergstraße.
und das über lange Zeit. Die Übergriffe reichen bis hin zu kör-            Seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags.
perlicher und sexualisierter Gewalt. Mit dem Gesetzesentwurf               1998-2013 Mitglied des Rechtsausschusses.
sorgen wir für einen besseren Schutz der Betroffenen, indem                2005-2009 und 2013-2017 Mitglied im Ältestenrat des
Täter konsequent zur Verantwortung gezogen werden.                         Deutschen Bundestags.
                                                                           2009-2011 Sprecherin der Arbeitsgruppe Rechtspolitik
Wir wählen in diesem Jahr noch den nächsten Bundestag.
                                                                           der SPD-Bundestagsfraktion, Mitglied des Fraktionsvor-
Was sind denn für die Bundesministerin der Justiz wichti-
                                                                           stands der SPD-Bundestagsfraktion.
ge gleichstellungspolitische Forderungen?
                                                                           2007-2017 Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Bergstra-
Ich setze mich bereits seit langem für die Frauenquote ein.                ße, Vorstandsmitglied des hessischen SPD-Landesver-
Umso mehr freut es mich, dass auf Vorschlag von Franziska                  bands.
Giffey und mir Anfang des Jahres das Kabinett das zweite Füh-              Seit 2009 Stellv. Vorsitzende des SPD-Bezirksvorstands
rungspositionengesetz beschlossen hat. Das Gesetz sieht vor,               Hessen-Süd.
dass in Vorständen börsennotierter und paritätisch mitbestimm-             2011-2013 Stellv. Vorsitzende der SPD-Bundestagsfrak-
ter Unternehmen, die aus mehr als drei Mitgliedern bestehen,               tion.
künftig eine Frau vertreten sein muss. Denn qualifizierte Frau-            2013-2017 Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der
en in Führungspositionen bereichern das Wirtschafts- und Ar-               SPD-Bundestagsfraktion.
beitsleben, sie sind Vorbilder und machen einen Unterschied                Seit 2017 Mitglied im Vorstand der SPD Bergstraße.
für alle Mitarbeiter*innen. An der Frauenquote wollen wir weiter           Seit 2017 Stellv. Vorsitzende der SPD-Bundestagsfrakti-
festhalten, sie weiterentwickeln und ggf. verbessern.                      on.
                                                                           2018-2019 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bun-
Aber das ist noch nicht alles: Wir wollen Unternehmen und
                                                                           desminister der Finanzen.
Verwaltungen verpflichten, Löhne und Gehälter im Sinne der
                                                                           Seit Juni 2019 Bundesministerin der Justiz und für Ver-
Geschlechtergerechtigkeit zu überprüfen und Verfahren fest-
                                                                           braucherschutz.
legen, mit denen festgestellte Ungleichheit bei der Entlohnung
beseitigt wird. Denn das Prinzip des gleichen Lohns für die                Seit 2010 Vizepräsidentin der THW-Bundesvereinigung
gleiche und gleichwertige Arbeit muss selbstverständlich auch              e.V.
zwischen den Geschlechtern gelten.

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ALLEINERZIEHEND IM LOCKDOWN
WIR MÜSSEN DA IRGENDWIE DURCH

Das einzige, was diese Corona-Pandemie an Neuem gebracht
hat, war ein Virus. Alles was ansonsten privat und politisch in
der Pandemie zum größeren Problem geworden ist, war bei
genauerem Hinsehen nichts Neues: zu wenig Personal in In-
tensivstationen, schlechte Internetverbindungen, ungleiche
Verteilung der Care-Arbeit, nicht genügend digitale Endgerä-
te für alle Kinder, Präsenzkultur oder eben alleinerziehend zu
sein.
Ein Alltag alleinerziehend mit zwei Jungs im Grundschulalter
ist eine Herausforderung. Eine besondere Herausforderung ist
es, in dieser Konstellation den Pandemie-Alltag ohne größere
Schäden an der Wohnungseinrichtung und ohne Tote zu meis-
tern. Denn „alleinerziehend“ ist eigentlich ein Sammelbegriff.
Im Lockdown steht er für: allein-die-kinder-zum-aufstehen-be-
wegend-obwohl-die-denken-dass-sie-nicht-in-die-Schule-ge-
hen-müssen-Ferien-bedeutet, allein-frühstückmachend, allein-
die-zeit-im-blick-behaltend-bis-das-erste-kind-in-die-videokon-
ferenz-muss, allein-den-Streit-zwischen-Brüdern-schlichtend,
allein-herausfindend-wie-die-Schul-App-funktioniert,             allein-
herausfindend-welche-aufgaben-heute-für-welches-kind-                          was fehlt. Das geht uns allen so, nicht nur Alleinerziehenden.
anliegen, allein-alle-fünf-sekunden-fragen-zu-den-aufgaben-                    Das blöde ist: Wir können es nicht ändern. Wir müssen da ir-
beantwortend, allein-den-Streit-zwischen-Brüdern-schlichtend,                  gendwie durch. Und wann es mal wirklich zu Ende ist, ist leider
allein-die-zeit-im-blick-behaltend-bis-das-zweite-kind-in-die-                 immer noch nicht so richtig absehbar.
videokonfernz-muss, allein-mit-dem-Erstklässler-lesen-übend,                   Was hilft nun also dabei, es halbwegs unbeschadet durch die
allein-die-kinder-vom-Fernsehen-abhaltend, allein-den-Streit-                  Pandemie zu schaffen?
zwischen-Brüdern-schlichtend, allein-die-kinder-aus-der-eige-
nen-videokonferenz-wegschickend, allein-den-Streit-zwischen-                   Es würde mir helfen, wenn die politischen Rahmenbedingun-
Brüdern-schlichtend,allein-die-ins-Bett-hüpfenden-kinder-wegscheuchend,        gen besser wären. Es würde mich beruhigen, wenn ich das
allein-den-Streit-zwischen-Brüdern-schlichtend, allein-die-kin-                Gefühl hätte, dass die Entscheider*innen eine stringente Stra-
der-davon-abhaltend-im-Wohnzimmer-Wasserschlacht-zu-machen,                    tegie gegen das Virus verfolgen und wenn sie Maßnahmen
allein-den-Streit-zwischen-Brüdern-schlichtend, allein-die-kin-                ergreifen würden, deren Sinn ich nachvollziehen kann. Wenn
der-doch-fernsehen-lassen-damit-die-eigene-videokonferenz-                     sie nicht die Verantwortung vom Bund auf die Länder und die
gemacht-werden-kann,              allein-die-kinder-an-die-frische-luft-       Kommunen im Kreis herum schieben würden. Wenn sie das
scheuchend, allein-den-Streit-zwischen-Brüdern-schlichtend                     große Ganze im Blick behalten würden und nicht bloß einzelne
und schließlich: allein-ins-Bett-bringend.                                     Maßnahmen wie die Öffnung von Friseuren oder Reisen nach
                                                                               Mallorca. Und es würde mir helfen, wenn mehr Weitsicht an
Und daneben bin ich noch alleinkochend, alleinaufräumend,                      den Tag gelegt werden würde und die Probleme, die sich auf-
alleineinkaufend, allein-die-spülmaschine-ausräumend und al-                   tun auch angepackt werden würden und wenn es im zweiten
leinorganisierend. Es ist keiner da, zu dem man sagen kann:                    Lockdown dann digitale Endgeräte und tragfähige Unterrichts-
„Du erklärst ihm das jetzt und ich mache in der Zeit Essen.“                   konzepte für alle Schulkinder geben würde und genug Per-
oder „Ich bringe sie ins Bett und Du räumst in der Zeit auf.“                  sonal auf den Intensivstationen. Wenn die Entscheider*innen
oder „Ich habe jetzt eine Videokonferenz. Sorg‘ dafür, dass ich                ihren Job machen würden und wohlabgewogene Entscheidun-
die nächsten beiden Stunden nicht gestört werde.“ Oder nie-                    gen treffen, anstatt zu hoffen, dass Wissenschaftler*innen ih-
mand, der zu einem sagt: „Lass, Schatz! Ich mache das. Du                      nen sagen, was zu tun ist.
siehst aus, als könntest Du etwas Erholung gebrauchen.“
                                                                               Privat hat es mir geholfen, mich von der Erwartung zu verab-
Das ist als Alleinerziehende natürlich immer so, nicht nur im                  schieden, dass ich das alles super und locker-flockig hinbe-
Lockdown. Aber normalerweise fällt jede Menge Lagerkoller                      komme. Die Situation ist nun einmal doof und belastend und
weg, weil ich ins Büro gehe und die Kinder in die Schule. Nor-                 sehr fordernd. Da ist es normal, das alles dann auch so richtig
malerweise gibt es auch mehr Möglichkeiten an Aktivitäten.                     doof zu finden. Als ich angefangen habe, darüber zu sprechen,
Ich bin häufig unterwegs, bei der Partei, beim Sport oder ich                  habe ich festgestellt, dass ich nicht allein bin. Allen anderen
treffe mich mit Freunden und gehe an den Abenden ohne die                      geht es ganz genauso und jeder hat etwas, das schon vor-
Kinder essen, ins Kino oder etwas trinken. Im Lockdown sind                    her da und doof war und was die Pandemie jetzt deutlicher
Sportvereine, Kinos, Bars und Restaurants geschlossen und                      gemacht hat. Es geht darum, jeden Tag das Beste daraus zu
weil die Kontakte eingeschränkt werden sollen, überlegen sich                  machen. Das klappt mal besser und mal schlechter.
auch viele meiner Freunde dreimal ob und mit wem sie sich
treffen sollen.                                                                Ich versuche, mehr das Positive zu sehen: Die Kinder sind im
                                                                               Grunde toll und manchmal hören sie sogar auf mich und hüp-
Die Pandemie reduziert das gesamte Leben auf das, was wirk-                    fen nicht mehr vom Fensterbrett ins Bett, wenn ich das sage.
lich da ist. Sie führt auch deutlich vor Augen, was doof ist und               Ich muss mir keine Sorgen um mein Einkommen und mei-

                                                                           4
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nen Job machen. Ich kann unproblematisch im Home-Office
arbeiten, also nutze ich auch die Flexibilität, die ich dadurch
gewonnen habe. So kann ich mich tagsüber etwas mehr um
die Kinder kümmern und arbeite abends noch. Außerdem ist
es vollkommen in Ordnung, die Notbetreuung in Anspruch zu
nehmen. Dazu ist sie da. Ich habe tolle Nachbarn, die mir Klo-
papier und Mehl besorgen, wenn es das nirgendwo mehr zu
kaufen gibt. Ich habe Freunde, die mich trotz Infektionsgefahr
umarmen (manchmal ist das bitter nötig) und die mich in der
Ausgangssperre nicht um 19.30 Uhr zurück nach Hause schi-
cken, sondern sagen: „Bleib solange Du willst, gern auch über
Nacht!“
Der Lockdown zeigt im persönlichen wie auch im politischen,
was wirklich da ist. Privat wie politisch ist nicht alles schlecht
und es hilft, das Gute sehen. Es spricht aber gar nichts dage-
gen, daran zu arbeiten, die Dinge zu verändern, die nicht so
                                                                                                                       Christiane Albrecht
gut sind – noch nicht.

Christiane Albrecht
Mitglied im ASF-Landesvorstand

ZWISCHEN DEN ZEILEN
EINBLICK IN DEN ALLTAG EINER EXAMINIERTEN
ALTENPFLEGERIN IN DER MOBILEN PFLEGE

Vor der Pandemie galt die „Zeit“ als größte Herausforderung              der Pandemie haben sie wichtige Ankerpunkte wie den Seni-
in der ambulanten Pflege. Wie wird heute der Verkehr sein?               orennachmittag, den Spaziergang mit Gleichgesinnten oder
Komme ich pünktlich zu meinem nächsten Einsatz? Wie hole                 den Kaffee mit Musik in der Gemeindehalle verloren. Sie ver-
ich die Verspätungen nur wieder rein ohne Überstunden aufzu-             einsamen zusehends und mit einem Lächeln durch die Mas-
bauen, die ich nicht machen darf? Wer holt denn heute meine              ke, nur mit den Augen, ist auf Dauer alles, nur kein Ersatz.
Kinder von der KiTa, wenn es wieder länger dauert? Warum                 Fragen, wie lange das blöde Virus noch da sein wird, oder wie
hatte ich heute keine Zeit für ein Gespräch, welches ein paar            sie an einen Impftermin kommen, wechseln sich ab.
Minuten länger dauert? Alles eine Fragen der ZEIT, die wir nie           Bereits beim zweiten Kunden des Tages steigt innerlich lang-
haben…eigentlich!                                                        sam Beklemmung auf. Der ältere Herr ist verbittert. Ihm fehlt
Und heute ist „Zeit“ fast relativ. Vor den Einsätzen sind die Au-        die Ansprache und mit sich selber reden ist auf Dauer langwei-
tos zu desinfizieren, die Schutzanzüge bereitzustellen, FFP2-            lig. Es seien immer dieselben alten Geschichten. Wir lachen
Masken einzupacken und noch schnell einen Antigen-Test                   ein wenig verhalten den Schmerz weg. Die ersten Tränen des
machen. Im persönlichen Ablagefach liegt die neuste Corona-              Tages und es werden nicht die Letzten sein.
Verordnung des Landes und die passende Hausmitteilung der                Im nächsten Haushalt scheint die Situation erfreulicher, bis
Pflegedienstleitung – gelesen wird im Feierabend. Die Kon-               sich die ältere Dame getraut zu äußern, dass sie sich wieder
takte mit den Kolleginnen und Kollegen ist auf ein Minimum               die ganze Nacht gestritten haben. Sie erkennt ihren Mann nicht
reduziert und langsam stellt sich der fehlende persönliche Aus-          wieder, und er lässt immer mehr Dinge einfach so fallen. Seine
tausch als echte Belastung dar. Die unterschiedlichen Gruppen            Prognosen waren doch so gut, und nun weiß sie nicht, was sie
auf den Smartphones sind nur ein schaler Ersatz, der ledig-              machen soll. Es kommt ja niemand, der ihn begutachtet, schil-
lich das Wichtigste abdeckt, nie und nimmer aber die Gefühle             dert sie unter Tränen. Ein kurzer Moment Verständnis, dann
transportiert, die wir im Alltag verspüren.                              geht’s leider weiter.
So, noch die Medikamente für die Tour richten, die Pflegeta-             Am Ende der Tour ist der Gefühlsrucksack prall gefüllt. Kundin-
sche auf Vollständigkeit überprüfen, den Arbeitsplatz reinigen           nen und Kunden mit Schmerzen, Arzneimittelunverträglichkeit,
und desinfizieren und dann geht es endlich los. Zeitverbrauch            schlechter Laune, mürrische Ansprachen und viel Angst vor
ohne Kontakt zu unserer Kundschaft: 25 Minuten!                          der Zukunft.
Die Tour startet und bereits bei der ersten Kundin ist klar, hier        Allerdings auch eine Tour voller Dankbarkeit und Freude, we-
geht es ein bisschen länger als sonst. Menschen, die häus-               nigstens ein paar Minuten ZEIT gehabt zu haben.
liche Pflege in Anspruch nehmen, haben in der Regel eh
schon wenige Ansprechpersonen um sich herum. Und mit                     Was hat sich denn nun verändert?

                                                                     5
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ZEIT ist leider immer noch der bestimmende Faktor. Mit dem             Wenn wir gefragt werden,
Beifall und dem Pflegebonus dachten wir alle eigentlich, jetzt         natürlich zu wenig. Aber
wird erkannt, welchen Knochenjob wir leisten. Wie wichtig wir          leider fragt uns ja keiner.
für die Menschen sind, die im häuslichen Kontext so lang wie           Und am Ende des Tages
möglich selbstbestimmt leben möchten. Systemrelevant eben.             kümmern wir uns um un-
Heute kommen, zu allen oben genannten Herausforderungen,               seren Corona-Alltag im
noch psychische wie physische Belastungen oben drauf. FFP2-            Privaten. Hoffen auf Bes-
Masken 8 Stunden zu tragen hinterlassen ebenso Spuren wie              serung und in wenig mehr
die zusätzlichen Desinfektionen der Hände und Oberflächen.             Normalität.
Der Schutz für sich selbst und andere durch die Antigen-Tes-
tungen sind wichtig, so dass die Reizungen der hinteren Na-            Für   die   Pflegesparte
senschleimhäute zwar unangenehm sind, aber das halten wir              wünschten wir uns neben
alle auch noch aus.                                                    der wohlwollenden Auf-
                                                                       merksamkeit die Verbes-
Psychisch gestaltet sich die anhaltende Corona-Pandemie al-            serung der strukturellen
les andere als leicht. Seit Monaten sind wir oft die einzigen          Rahmenbedingungen.
Kontakte der Menschen. Zu sehen, wie sie zum Teil körperlich
wie seelisch abbauen, leiden, mutlos wie ratlos sind, geht nicht       Kurz zusammengefasst:
spurlos an einem vorbei.                                               Mehr ZEIT – bessere Be-
                                                                       zahlung – gute Arbeitsbe-
Wenn nur mehr ZEIT wäre, sich auch um die seelischen Be-               dingungen!
dürfnissen der Menschen zu kümmern.
                                                                       Ein verbindlicher, flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege
Doch leider unterliegt alles der Bemessung von Leistung –              wäre ein guter Anfang!
Betrag – Zeit, die wahrlich nichts mit den Realitäten der Men-
schen zu tun haben.                                                    Petra S.
Im Durchschnitt hat die examinierte Altenpflegefachkraft 8
Minuten pro Einsatz. Je nach Pflegegrad kann das auch mal
mehr, allerdings auch weniger sein.

EIN JAHR CORONA
AUSWIRKUNGEN AUF DIE (ERWERBS-)ARBEIT

Wenn jemand mit diesem Gewerkschaftshintergrund wie ich                Aspekte der Frauen- (Erwerbs-) Arbeit ineinander greifen und
ihn habe, sich auf den Weg macht, einen Artikel zum Thema              sich gegenseitig beeinflussen. Und darüber hinaus finde ich,
„Ein Jahr Corona – Auswirkungen auf die (Erwerbs-) Arbeit“ zu          dass in dem Vorwort von Prof’in Dr. Bettina Kohlrausch zum
schreiben, ist einer der ersten Schritte die Suche nach aktu-          Report des WSI knackig Inhalt und Folgen auf den Punkt ge-
ellem Datenmaterial auf den einschlägigen Homepages. Aus               bracht sind. Daher endet hier mein Teil dieses Artikels, ich zi-
den verschiedenen Quellen werden dann in der Regel die „Ein-           tiere das Vorwort aus dem Report und hoffe, dass dieses so
zelfundstücke“ mit den gewünschten Schwerpunkten zusam-                viel Interesse an den Daten und Grafiken dazu weckt, dass
mengetragen und in einen Faden, mit einer Leitidee formuliert.         möglichst viele dem Link am Ende des Artikels folgen – die 28
Nicht so bei diesem Artikel hier. Bei der Recherche stieß ich          Seiten sind dann schon um das Vorwort reduziert.
bei der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) auf den Report Nr. 64
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI)          „VORWORT
mit dem Titel „STAND DER GLEICHSTELLUNG - Ein Jahr                     Wo stehen wir in Sachen Gleichberechtigung nach einem Jahr
mit Corona“ von Aline Zucco und Yvonne Lott, veröffentlicht            Corona-Krise? Haben sich Geschlechterungleichheiten ver-
im März 2021. Aktuellere Daten sind ja nun kaum möglich um             schärft oder haben sich beispielsweise durch Arbeitszeitreduk-
den Fragen, wie sich die Krise auf die Geschlechterungleich-           tionen der Väter in Kurzarbeit sowie mehr Arbeitszeitflexibilität
heit ausgewirkt hat und welche Entwicklung bei Gender Pay              im Homeoffice sogar neue Möglichkeiten für eine gleichberech-
Gap, Gender Time Gap und Gender Care Gap zu erwarten                   tigte Partnerschaft ergeben?
bzw. zu befürchten sind nachzugehen. Als ich dann den Re-              Diese Fragen wurden im vergangenen Jahr teilweise hitzig
port der beiden Kolleginnen näher durchsah, stellte ich schnell        diskutiert. Hinter dieser Debatte steht die grundsätzliche Fra-
fest, dass dies genau die Themen des Reports sind und sich             ge nach den Strukturen von Geschlechterverhältnissen in
dort mein Leitgedanke komplett widerspiegelt. Das warf nun             Deutschland, dessen sozialstaatlichen Arrangements und be-
ein ganz anderes Problem auf: wie kürze ich die 28 Seiten,             trieblichen Praktiken sich lange Zeit an dem Leitbild des männ-
was will ich weglassen? Die schlichte Antwort ist: Nichts davon        lichen Familienernährers orientiert haben und es – schaut man
sollte weggelassen werden oder zu stark verkürzt werden, da            beispielsweise auf das Ehegattensplitting – immer noch tun.
aus meiner Sicht so deutlich wird, wie verzahnt die einzelnen          Vor dem Hintergrund dieser Strukturen war und ist die „doppel-

                                                                   6
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te Vergesellschaftung“ von Frauen in Arbeitsmarkt und Familie
nach wie vor mit vielen Widersprüchen verbunden. Wie das
WSI bereits in vergangenen Gleichstellungsreporten anschau-
lich gezeigt hat, führen diese Widersprüche zu einer größeren
Verantwortung von Frauen für Sorgearbeit (Gender Care Gap),
häufigerer Teilzeitarbeit (Gender Time Gap) und schlechterer
Entlohnung (Gender Pay Gap).
Wie Aline Zucco und Yvonne Lott in diesem umfassenden
Bericht über den Stand der Gleichstellung von Männern und
Frauen in der Krise zeigen, scheint es zunächst nicht so als
würden sich diese Strukturen durch den Schock der Corona-
Krise grundlegend verändern. Sie führen aber dazu, dass die
Maßnahmen zur Eindämmung der Krise, insbesondere die
Schließung von Schulen und Kitas einerseits und die Instru-
mente zur Abfederung der sozialen Folgen der Krise anderer-
seits, unterschiedliche geschlechtsspezifische Folgen haben.
Aufgrund des Ehegattensplittings und des schon vor der Krise
bestehenden Gender Pay Gaps, profitieren Frauen beispiels-
weise in geringerem Maße von den Lohnersatzleistungen des             allem Paare, bei denen der Vater im Homeoffice und/oder auf
Kurzarbeiter*innengeldes.                                             einer geringen Stundenbasis arbeitet.
Im Hinblick auf die Verteilung der Sorgearbeit zeigt sich bei         In der Gesamtschau spricht also vieles dafür, dass sich die be-
den meisten Paaren zunächst einmal eine große Stabilität. 70          reits vor der Krise existierenden Ungleichheitsstrukturen in der
% der Paare haben ihre Arbeitsverteilung nicht verändert. Un-         Krise verschärfen und damit auch langfristig zu einer wachsen-
ter den Bedingungen der Krise bedeutet das aber auch, dass            den Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führen könnten,
Frauen zumindest während der Schul- und Kitaschließungen              wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird. Gleichzeitig kön-
mehr Sorgearbeit leisten müssen, was wiederum Konsequen-              nen wir durch die Erfahrungen der Krise lernen, welche Fak-
zen für den Gender Time Gap hat, weil Frauen in der Krise häu-        toren eine egalitäre Verteilung der Sorgearbeit ermöglichen:
figer als Männer ihre Arbeitszeit wegen der Kinderbetreuung           mehr Arbeit im Homeoffice und ein geringeres Arbeitszeitvo-
verkürzt haben. Während Männer ein verbrieftes Recht darauf           lumen sind wichtige Säulen einer gerechteren Geschlechter-
haben, aus der Kurzarbeit zu ihrem vorherigen Arbeitsvolumen          ordnung.“ (Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Di-
zurückzukehren, besteht dies für Frauen, die ihre Arbeitszeit         rektorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
häufiger aufgrund von Kinderbetreuung verkürzt haben, mög-            der Hans-Böckler-Stiftung)
licherweise nicht im selben Ausmaß. Hier besteht die Gefahr           Wer mehr wissen möchte und sich den vollständigen Bericht
eins negativen Momentums und der dauerhaften Verschärfung             anschauen möchte findet diesen hier: https://www.boeckler.de/
von Geschlechterungleichheiten. Gleichzeitig eröffnen sich für        de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-007964
einen geringen Teil der Paare in der Krise Möglichkeiten hin
zu einer egalitäreren Verteilung der Sorgearbeit. Dies sind vor       Andrea Schiele

HINWEIS
BUCH VON DOROTHEE BECK

„Konkurrenz für das Alphamännchen?                                    gekommen‹, oder fühlen sie sich nach wie vor ausgeschlossen
Politische Repräsentation und Geschlecht“                             aus den Machtzentren eines weiterhin androzentrischen Um-
Wie steht es um die politische Repräsentation von Frauen* in          feldes? Ist die Quote am Ende? Welche Erkenntnisse gewinnt
Parteien und Parlamenten? Wie haben sich Konstruktionen               man über die Konstruktion von Geschlecht im politischen Feld,
von Geschlecht in politischen Institutionen verändert? In einem       wenn man in intersektionaler Perspektive das Merkmal Mig-
Sammelband von Dorothee Beck und Annette Henninger (Hg.)              ration einbezieht? Und wie ist die Sichtbarkeit von Frauen in
werden die Geschlechterverhältnisse in der Politik einer kriti-       rechtsextremen Parteien zu interpretieren?
schen Bilanz unterzogen – aus Sicht der Wissenschaft, aber            Infos zum Buch, in dem es auch ein Interview mit Ute Vogt gibt,
auch der politischen Praxis. Der Blick ist auf Deutschland ge-        sind auf der Internetseite des Ulrike-Helmer-Verlags erhältlich.
richtet, ergänzt um teils utopische Außenansichten.
Hat das Alphamännchen als Rollenmodell für männliche Poli-
tiker* ausgedient? Sind Frauen* tatsächlich in der Politik ›an-

                                                                  7
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WARUM DIE CORONA-PANDEMIE FRAUEN HÄRTER TRIFFT
POSITIONSPAPIER DER ASF MANNHEIM

Das folgende Positionspapier zur Situation von Frauen in der
Corona-Pandemie basiert auf den Ergebnissen eines gemeins-
amen Online-Workshops der ASF und der AfA Mannheim, es
wurde maßgeblich entwickelt von Heike List und Nazan Kapan.

Die Corona-Pandemie trifft uns alle. Der Ausnahmezustand
ist ein globaler und die Bewältigung der Pandemie liegt an uns
allen. Von wo auch immer wir unseren Beitrag leisten, wir müs-
sen und wollen uns und andere schützen und das Bestmögli-
che daraus machen.
Zugleich zeigt sich, dass Corona uns sehr unterschiedlich trifft:

•   Die Pandemie trifft Länder, Regionen und Städte höchst
    unterschiedlich. Dies betrifft die Fähigkeit, elementare
    öffentliche Güter wie Gesundheitsversorgung, Ordnung,
    soziale Sicherheit, Nahrungsmittel, Transparenz und In-
    formationen bereit zu stellen.
•   Arbeitslosigkeit durch Corona ist in einem Land ohne jeg-
    liche sozialstaatliche Absicherung besonders schlimm.
    Ausgangssperren durch Corona treffen Tagelöhner*innen               Die Corona-Krise trifft vor allem Frauen besonders hart!
    aus den Armenvierteln zahlreicher Regionen existentiell.            Die Corona-Krise trifft auch nach Ansicht der Bundesministe-
    Besonders international, aber auch im eigenen Land zeigt            rin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Franziska Gif-
    sich, dass die Menschen unterschiedlich, von sehr hart bis          fey, viele Frauen besonders hart, weil der Frauenanteil in den
    wenig betroffen und von kaum bis umfänglich abgesichert             aktuell besonders herausgeforderten „systemrelevanten“ Be-
    sind.                                                               rufsgruppen bei knapp 75 Prozent liegt. (In Krankenhäusern
•   Im akademischen Umfeld freuten sich Etablierte darüber,             arbeiten 76 Prozent Frauen, im Einzelhandel 72,9 Prozent, in
    mehr Zeit zum Forschen und Bücher Lesen zu haben,                   Kindergärten und Vorschulen 92 Prozent).
    andere fanden kaum Schlaf , weil sie unter sehr hohem
    Druck und in permanenter Wachsamkeit als Verwaltungs-               Die Corona-Krise trifft viele Frauen besonders hart, weil Frau-
    und Sicherheitsbeamte oder als medizinisches Personal               en häufiger in kleineren Dienstleistungsbetrieben ohne Tarif-
    Notpläne für die schlimmsten Krisenszenarien entwickeln             vertrag arbeiten. Nur 20 Prozent der Beschäftigten in der Pfle-
    mussten.                                                            ge arbeiten zu tariflichen Bedingungen.
•   Angestellte haben eine andere Absicherung als Solo-Selb-            Die Corona-Krise trifft viele Frauen besonders hart, weil sich
    ständige oder freischaffende Künstler*innen.                        bereits vorhandene geschlechtsspezifische Ungerechtigkei-
•   Besserverdienenden Familien mit großem Haus und Gar-                ten noch stärker ausgeprägt haben und durch die Krise weiter
    ten muss es leichter fallen, zu Hause zu bleiben, als Fami-         verhärten: Pflege- und Sorgezeiten in Europa werden überwie-
    lien in kleinen Wohnungen ohne Balkon.                              gend von Frauen geleistet.
•   Junge und Gesunde haben weniger zu befürchten als Alte
    und Vorerkrankte oder jene, die auch schon vor der Pan-             Auch wenn sich viel getan hat und junge Paare ohne Kinder
    demie suchtkrank waren oder häusliche Gewalt erlitten               erst einmal zwei Schritte nach vorn in Richtung gleichverteilter
    haben.                                                              Arbeitsaufgaben gehen (fast die Hälfte dieser Frauen verdie-
                                                                        nen 50% oder mehr des Haushaltseinkommens): Spätestens
Bestimmte gesellschaftliche Gruppen spüren die sozialen                 nach dem ersten Kind gehen sie einen bis eineinhalb Schritte
Auswirkungen der Krise härter als andere!                               zurück! Von den Elternpaaren, die sich die Erziehungsarbeit
Gleichen wir die Alltagsbeobachtungen mit ersten repräsenta-            zuvor ungefähr gleich aufgeteilt haben, tun das nur noch rund
tiven Erhebungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ab,               62 Prozent auch während der Krise. Beispielsweise reichen
ergibt sich, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen die so-           Nachwuchswissenschaftlerinnen mit Betreuungsverpflichtun-
zialen Auswirkungen der Krise schlechter abfedern können als            gen für junge Kinder derzeit weniger Publikationen ein und das
andere. Ergebnisse einer Online-Befragung, für die im Auftrag           in einer für ihren weiteren Verlauf entscheidenden und zeitlich
der Hans-Böckler-Stiftung 7.677 Erwerbstätige in Deutschland            begrenzten Karrierephase.
interviewt wurden, zeigen: Generell sind bei uns Beschäftig-            Insbesondere Frauen mit geringerem Einkommen reduzieren
te mit niedrigeren Einkommen, in Betrieben ohne Tarifvertrag            aktuell ihre Arbeitszeit häufiger, um sich um die Kinder zu küm-
oder Betriebsrat sowie Frauen derzeit überproportional belas-           mern, da Homeoffice im Niedriglohnsektor oft weniger oder gar
tet.                                                                    nicht möglich scheint. Damit einher geht die Gefahr, dass sich
Dieses Ergebnis kann unabhängig vom Geschlecht nach Be-                 aktuelle Nachteile und Teilzeitreduzierungen auch nach der
rufsgruppen und Branchen weiter ausdifferenziert werden. Mit            Krise ungewollt verfestigen.
Blick auf die Frauen zeigt sich jedoch, dass soziale Ungleich-          Die Corona-Krise trifft besonders in struktur- und einkom-
heit und Geschlechtszugehörigkeit besonders eng miteinander             mensschwachen Ländern Frauen härter: Wissenschaftliche
verflochten sind:

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ASF aktuell 1/2021

Untersuchungen zur Ebola-Krise 2014, dem Zika-Virus 2015-              ihrem Leitbild 2030 strategische Ziele zur Umsetzung globaler
2016, Ausbrüchen von SARS, der Schweine- oder Vogelgrippe              Nachhaltigkeitspolitik. Die Einschränkung der öffentlich orga-
zeigen, dass diese Krisen langfristige Auswirkungen auf Ge-            nisierten Kinderbetreuung zeigt, wie groß die Errungenschaf-
schlechtergerechtigkeit haben: Das Gehalt von Frauen stieg             ten durch diese Einrichtungen auf allen Ebenen bereits sind!
nach der Krise weniger schnell auf die ursprüngliche Höhe, als         Die Bedeutung gut funktionierender Betreuungsinfrastruktur
das der Männer. 70% der Kleinstunternehmer*innen z.B. in Li-           und guter Entlohnung von Erziehungsarbeit ist für die Öffent-
beria sind Frauen und waren wirtschaftlich besonders von den           lichkeit klarer denn je. Als weitere Instrumente zu nennen sind
jeweiligen Pandemiemaßnahmen betroffen. Zum Beispiel in                der Notfall-Kinderzuschlag (KiZ), die Aufwertung der sozialen
Sierra Leone gab es während der Ebola-Epidemie infolge von             Berufe, Modelle zur partnerschaftlichen Aufteilung der Sorge-
Schulschließungen mehr Vergewaltigungen und mehr Teenie-               arbeit etwa beim ElterngeldPlus, der Kampf gegen Gewalt an
Schwangerschaften als zuvor. Viele betroffene junge Frauen             Frauen, die Forderung nach mehr Frauen in Vorständen. Auch
brachen ihre schulische Ausbildung deshalb ab.                         das Design des Lohnersatzes, der jeweils zehn Wochen für
                                                                       Mütter und zehn Wochen für Väter gezahlt wird, kann die Part-
Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf bestehen-
                                                                       nerschaftlichkeit in Beziehungen fördern.
de und miteinander verflochtene Ungleichheiten und ver-
stärkt sie. Aber für Gerechtigkeit können wir kämpfen!                 Gut ist auch: Bei unseren nun anstehenden weiteren Anstren-
Die Corona-Pandemie muss nicht in einem „Desaster für den              gungen, um die Krise zu bewältigen und zu gestalten, dürfen
Feminismus“ enden, sondern kann im Gegenteil ein Treiber für           wir hoffen: Auf eine wiedererlangte Einsicht in die Bedeutung
die Gleichstellung und eine sozialdemokratische Frauenpolitik          staatlicher Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge, die
sein.                                                                  strukturell und nachhaltig politische Veränderungen ermög-
                                                                       lichen und absichern. Zu hoffen ist auch auf ein neues Ver-
Statt eine ausschließliche Opferperspektive einzunehmen,
                                                                       trauen in Demokratie, Politik und Verwaltung, in Politiker*innen
wollen wir, wie es Franziska Giffey tut, mit Selbstbewusstsein
                                                                       und Verwaltungsbeamte, die auf allen Ebenen mit Hochdruck
und aller Deutlichkeit gerade in der Corona-Pandemie zeigen,
                                                                       gearbeitet haben. Dies schwächt hoffentlich auch eine ande-
dass Frauen auf allen Ebenen den Laden mit am Laufen hal-
                                                                       re bleibende und sehr reale gesellschaftliche Gefahr für die
ten.
                                                                       Gleichstellung: das bisherige Erstarken der neonazistischen
Die Gelegenheit nutzen und jetzt neue Rahmenbedingun-                  Rechten!
gen gestalten!
                                                                       Wir fordern daher jetzt, die Krise nicht nur gesundheitlich
Wir wollen die Gelegenheit nutzen: Nicht nur die Relevanz von          und wirtschaftlich, sondern verstärkt auch sozial und öko-
Kämpfen wird aktuell sichtbarer, wie Spiegel Kolumnistin Mar-          logisch, familien-, kinder- sowie geschlechtergerecht zu
garete Stokowski schreibt, sondern auch die Chance auf eine            bewältigen und zu gestalten!
breite gesellschaftliche Resonanz frauenpolitischer Themen:
94 Prozent der Befragten in der Böckler Studie unterstützen            FORDERUNGEN IM EINZELNEN:
die Forderung nach besserer Bezahlung und besseren Arbeits-
                                                                       Wir fordern eine frauenpolitische Perspektive und unter-
bedingungen für Beschäftigte in „systemrelevanten“ Berufen
                                                                       stützen die allgemeinen Forderungen des deutschen Frau-
wie Pflege oder Einzelhandel.
                                                                       enrats:
Vereinzelt wird auch schon von einem Einstellungswandel
                                                                       •   Wir fordern die flächendeckende Einführung einer gleich-
durch die Krise berichtet: Frauen wollen zunehmend die Fami-
                                                                           stellungsorientierten Haushaltssteuerung auf kommuna-
lien mit absichern und auch sich selbst absichern. „Wer weiß,
                                                                           ler, Landes- und Bundesebene, insbesondere auch als
ob mein Mann noch meine Rente mitfinanzieren kann“ habe
                                                                           Anforderung an aktuelle und zukünftige Corona-Hilfen.
sie vor drei Jahren noch nicht gehört. „Jetzt ständig“, schreibt
                                                                       •   Wir fordern die Realisierung einer geschlechtergerechten,
eine Berufsberaterin. Gleichzeitig könnte Homeoffice für Män-
                                                                           paritätischen Besetzung entscheidungsgebender politi-
ner zu einem besseren (Selbst-)Verständnis berufstätiger Vä-
                                                                           scher Gremien, insbesondere auch bei der Krisenbewäl-
ter führen.
                                                                           tigung sowie die
Aber als Sozialdemokrat*innen wissen wir auch: Statt auf einen         •   Umsetzung aller gleichstellungspolitischen Vorhaben aus
Einstellungswandel zu hoffen und lediglich an eine Kultur der              dem Koalitionsvertrag: z.B. die Abstimmung einer verbind-
Solidarität und des Zusammenhalts in der Krise zu appellie-                lichen ressortübergreifenden Gleichstellungsstrategie und
ren, ist es wichtig und nachhaltiger, strukturelle Anreize durch           Reform des Führungspositionengesetzes.
bessere Institutionen und einen politisch klar handelnden Staat
                                                                       Wir fordern arbeitsmarkt- und sozialpolitisch:
zu schaffen. Denn je nach Rahmenbedingungen verharren
oder verändern sich traditionelle Geschlechterbeziehungen.             •   einen Mindestlohn, der zum Leben reicht
Die Soziologien Daniela Grunow zeigt im Vergleich mit so-              •   klarere gesetzliche Vorgaben hinsichtlich der Regulierung
zialdemokratisch organisierten skandinavischen Ländern: Mit-               und Erfassung von Arbeitszeiten im Home Office, hinsicht-
tellange Elternzeiten und umfangreiche Kinderbetreuungsein-                lich der Kostenerstattung für den häuslichen Arbeitsplatz
richtungen fördern eine geschlechtergerechte Aufteilung von                durch den/die Arbeitgeber*in und die gesetzliche Gleich-
Erwerbs- Haus- und Familienarbeit in Partnerschaften.                      stellung mit den betrieblichen Arbeitsplätzen
                                                                       •   Corona-Elterngeld - Lohnfortzahlung für Eltern - ggf. unte-
Wir stehen nicht am Anfang: Vorhandene Instrumente ken-
                                                                           re Lohngruppen stärker fördern
nen und weiterentwickeln!
                                                                       •   Lohnersatzzahlung für Eltern, die aufgrund der Kinderbe-
Hierbei stehen wir nicht am Anfang, sondern haben bereits                  treuung nur reduziert arbeiten konnten, soll unabhängig
zahlreiche Werkzeuge in der Hand und erfolgreich im Einsatz:               von Urlaubstagen und Home Office-Möglichkeit gewährt
Das Nachhaltigkeitsziel 5 der Vereinten Nationen lautet Ge-                werden
schlechtergleichstellung und ist mit umfassenden Program-              •   Corona-Rentenbonus für diejenigen, die aufgrund der
men sowohl auf Bundesebene als auch in zahlreichen Kom-                    Pandemie nicht oder nur eingeschränkt berufstätig sein
munen fest verankert. So setzt sich die Stadt Mannheim mit                 können/konnten

                                                                   9
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•   Elterngeld+ flexibler gestalten, nicht mehr nur en bloc,                     Gewalt betroffen sind. Dies
    sondern Splitting möglich - auch kurzfristig                                 würde sicherstellen, dass be-
•   Flächendeckende Tarifverträge in der Pflegearbeit                            stehende und neu zu schaf-
•   Ausweitung, Flexibilisierung und Vereinfachung von                           fende Unterstützungsange-
    Brückenteilzeit                                                              bote wie etwa Frauenhäuser
•   Nutzung der Krise als Qualifizierungsoffensive hinsichtlich                  langfristig finanziell abgesi-
    Digitalisierung, Transformation und Elektrifizierung                         chert werden.
•   Verlängerung des Transferkurzarbeiter*innengeldes auf                    •   Die Schaffung weiterer Frau-
    24 Monate                                                                    enhausplätze. Es fehlen in
•   Einführung und Vereinheitlichung von Pandemieplänen für                      Deutschland knapp 15.000
    das Erziehungswesen und Kinderbetreuung                                      Plätze in Frauenhäusern.
•   Mehr Personal für Kitas & bessere Zahlung                                    Das ergeben Berechnungen
                                                                                 nach der Istanbul-Konven-
Wir fordern wissenschaftspolitisch:
                                                                                 tion, dem Übereinkommen
•   Mittel zur Erforschung und Evaluation von politischen                        des Europarats gegen Ge-
    Maßnahmen und Steuerungsinstrumenten, die für mehr                           walt gegen Frauen. Vorhan-
    Geschlechtergerechtigkeit eingesetzt werden - auch als                       den sind nur knapp 7.000
    Aufarbeitung der Pandemiemaßnahmen (z.B. zur Anzahl                          Plätze. In Zeiten der Pande- Dr. Claudia Schöning-Kalender
    vs. Bedarfe Notbetreuungsplätze, langfristige Effekte                        mie erhöht sich dieses Defi- Stadträtin, ASF-Vorsitzende
    auf die Rentenversorgung und Arbeitsplatzsituation von                       zit. Neben dem steigenden Mannheim, Mitglied im ASF-Lan-
    Frauen, Anstiegsfaktoren häuslicher Gewalt und Reakti-                       Bedarf an Plätzen, sind die desvorstand, Stellv. ASF-Bundes-
    onsmöglichkeiten der Behörden in der Pandemie) sowie                         beengenden Verhältnisse in vorsitzende
    allgemeine Mittel für die Genderforschung.                                   vielen Frauenhäusern eine
•   Die Berücksichtigung und Einforderung von Gender-                            weitere Herausforderung. Für eine Umsetzung von
    perspektiven bei öffentlichen Ausschreibungen von For-                       sinnvollen Schutzmaßnahmen in Rahmen von Pan-
    schungsprojekten.                                                            demieplänen werden die Belegungen in Frauenhäu-
•   Verlängerung der Vertragslaufzeiten für die Dauer der                        sern reduziert.
    Pandemie-Maßnahmen für Wissenschaftler*innen in der                      •   Eine bessere Ausstattung von Frauenhäusern und
    frühen Karrierephase bzw. bei Einstellungsentscheidun-                       Beratungsstellen für den Auf- und Ausbau der Online-
    gen analog zur Elternzeit                                                    Beratungsangebote.
Wir fordern schul- und bildungspolitisch:                                    •   Die bundesweite einheitliche Einstufung der Frauen-
                                                                                 häuser und Beratungsstellen als systemrelevant.
•   Einführung und Vereinheitlichung von Pandemieplänen für                  •   Zusätzliche Finanzmittel für die erhöhte Bedarfe in
    das Bildungswesen bis hin zu zusätzlichem Unterricht in                      Pandemie- oder sonstigen Krisensituationen z.B. für
    Ferienzeiten                                                                 zusätzliche Notunterkünfte, Betreuungs- und Bera-
•   Eine einheitliche Schul-Cloud für BaWü                                       tungspersonal.
•   Bessere digitale Ausbildung und digitale Ausstattung für                 •   Umfassende Kampagnen über die bestehenden
    Lehrer*innen und Schüler*innen                                               Hilfsangebote für Betroffene und Sensibilisierung der
Wir fordern für die Frauenhäuser und Frauenberatungs-                            Öffentlichkeit.
stellen:
    •    Grundsätzlich einen individuellen Rechtsanspruch
         auf Schutz und Beratung für alle Menschen, die von

GEWALT GESCHIEHT VOR UNSEREN AUGEN
WIR DÜRFEN NICHT WEGSCHAUEN!

Ich hätte es mir als junges Mädchen niemals vorstellen können,           Eindruck erweckt, er könne brutal und gewalttätig werden. Ich
seelisch und körperlich gewalttätig von einem Mann verletzt              habe es jedenfalls nicht erkannt und von meiner Familie, die
zu werden. Doch mein Schicksal meinte, ich dürfe schon am                versuchte mich vor diesem Menschen zu schützen, wurde ich
eigenen Leib erfahren, wovon ich jetzt schreibe. Das fällt mir           ferngehalten.
nicht leicht, fordert es von mir, mich nochmal in meine junge Er-        Ich bin sehr behütet aufgewachsen, komplett von meiner Fami-
wachsenenzeit hineinzuversetzen und meine persönliche Ge-                lie abgeschirmt zu werden, zu sehen, wie ein Mensch in seiner
schichte Revue passieren zu lassen. Es geschieht so schnell              emotionalen Verrohung ohne Probleme einen Keil zwischen
und leicht, sich auf einen Menschen einzulassen, der nicht den           bis dahin gut funktionierende und herzliche Familienbande

                                                                    10
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treiben konnte, hat mich verändert. Der Akt der körperlichen             eines Mannes, einer
Gewalt, gerade in dem Moment, als ich ausbrechen wollte, of-             Frau, eines Kindes!
fenbarte mir ohnmächtig, dass ich gegen die körperliche Kraft            Wir alle sind gleich
dieses Menschen nicht ankommen würde. Ich musste aushar-                 und wir alle sind
ren, um zu überleben. Eine Flucht in ein Frauenhaus war mir              gleich viel wert.
damals nicht möglich. Es war überfüllt und es gab keinen freien          Wir glauben, dass
Platz für mich. Ich habe überlebt, fühle aber immer noch nach            körperliche und see-
35 Jahren das Stigma, das sich in mein Leben eingebrannt hat.            lische Übergriffe vor
Gewalt hat so viele Gesichter und zum Glück haben sich mir               unserer      Haustüre
selbst nur einige vorgestellt.                                           nicht     geschehen?
Da gibt es die Verletzung der körperlichen und seelischen Un-            Die     kriminalstatis-
antastbarkeit, das Verbot der sozialen Kontaktpflege, das Mob-           tische Auswertung
bing, die Verweigerung der finanziellen Unabhängigkeit, den              der Partnerschafts-
sexuellen Missbrauch in der Beziehung, die digitale Beschimp-            gewalt durch das
fung, die Ausbeutung der Arbeitskraft, die Zwangsheirat, die             Bundeskriminal-
Nichtanerkennung der Gleichstellung, die Einschränkung der               amt         beleuchtet
freien Bewegung (Stalking), die Genitalverstümmelung, den                ein ganz anderes
vermeintlichen Minderwert des Geschlechts, die Hautfarbe, die            Bild: In 2019 gab
ethnische Herkunft, die sogenannten Ehrenmorde, den unab-                es in Deutschland
dingbaren Machtanspruch einer Religion, eines Staates, eines             115.000      weibliche
Volkes.                                                                  Opfer! Fast 70.000
Überall dort, wo wir uns nicht sicher sind, ob die Regeln des            Frauen wurden vor-
menschlichen Miteinanders eingehalten werden, dürfen wir                 sätzlich, einfach kör-
nicht tatenlos zusehen.                                                  perlich verletzt, fast
                                                                         12.000      gefährlich.
Das bedeutet zu allererst hinschauen, das Gespräch mit den               Von Bedrohung über
Betroffenen suchen und keine Scheu zu haben, den Kontakt zu              Stalking und Nöti-
den ärztlichen und sozialen Anlaufstellen aufzunehmen.                   gung waren knapp
Es ist mutig und offenbart unsere Menschlichkeit und unsere              29.000 Frauen be-
Empathie, den ersten vorsichtigen und doch zugleich nötigen              troffen. Ihrer Freiheit
Schritt zu gehen.                                                        wurden über 1.500
                                                                         Frauen         beraubt
Leid und Leidensdruck werden übermächtig, wenn sie im Ver-               und über 300 Frau-
borgenen bleiben, aus Scham, aus Angst, durch Minderwertig-              en wurden getötet.
keitsgefühle, aus der Hilflosigkeit des Alleinseins, aufgrund des        Wohlgemerkt       sind
Desinteresses oder der Oberflächlichkeit der Mitmenschen.                dies nur die Fälle,
Schlimmer noch, oftmals haben die Misshandelten das Gefühl,              die zur Anzeige ge-
nichts Besseres verdient zu haben. Kennen sie zum Teil aus ih-           bracht wurden. Die
rer eigenen Kindheit keinen anderen Umgang miteinander und               europäische Grundrechteagentur hat in ihrer Befragung ver-
fügen sich still in ihr Schicksal.                                       zeichnet, dass jede dritte Frau in Deutschland körperliche oder
Ich hatte großes Glück, da ich durch meine familiäre Prägung             sexuelle Übergriffe ab dem 16. Lebensjahr angegeben hat. Ich
genau wusste, dass mir Unrecht angetan wurde.                            habe meinen Fall vor 35 Jahren nicht zur Anzeige gebracht.

Wie oft wachsen Kinder in von Gewalt beherrschten Familien-              Der Zugang zu Hilfe muss einfach und unbürokratisch sein, es
verhältnissen auf. Was geschieht mit ihnen? Zerbrechen sie               müssen genügend freie Plätze für die Aufnahme von Opfern in
an dem Gesehenen oder den womöglich auch selbst erlebten                 Frauen- und Kinderhäusern vorhanden sein. Die Gewaltspirale
körperlichen Übergriffen? Werden sie später wieder zu Opfern             lässt sich nur durchbrechen, wenn die Opfer vor den Tätern in
oder entwickeln sie sich zu Tätern, da ungezügelter Zorn, Wut            eine sichere Obhut fliehen können.
und Ungerechtigkeit zur eigenen Alltagsnormalität geworden               Und unser Gesetz kann nur dort einschreiten, wo die Gewalt
sind? Was, wenn Frauen aus Angst auch ihren Kindern gegen-               offenbar wird. Darum, wir müssen bei Kenntnis von Gewalt den
über schweigen, womöglich um sie vor Gewaltausbrüchen zu                 Betroffenen Mut machen, ihr Schweigen zu brechen! Zu Weni-
schützen? Wie können Kinder gequälter Seelen unbeschwert                 ge der Leidtragenden haben die Kraft sich selbst zu schützen.
aufwachsen? Was wenn Betroffene so traumatisiert sind, dass              Und letztlich benötigen auch diejenigen, die Gewalt verüben,
sie nicht mehr sprechen können? Was wenn das Geschehene                  Hilfe. Dafür braucht es starke, mutige Frauen. Deshalb: Wir
unverarbeitet bleibt?                                                    dürfen nicht wegschauen!
Wir müssen vorher ansetzen. Gewalt, egal in welcher Form
sind untragbar für jede menschliche Gesellschaft. Wir alle ste-          Anja Lotz
hen in der Verantwortung uns mit aller Macht dagegenzustel-
len. Es gibt keinen Minder- oder Mehrwert eines Menschen,

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