VDK-FORUM MEGATHEMA PFLEGE - REICHEN NEUE AKZENTE ODER BRAUCHEN WIR EINEN NEUSTART?
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VdK-Forum Megathema Pflege Reichen neue Akzente oder brauchen wir einen Neustart? VdK-Forum München 5. März 2020
Herausgeber: Sozialverband VdK Bayern e. V. Schellingstraße 31 80799 München Telefon: 089 / 2117-0 Telefax: 089 / 2117-258 eMail: info@vdk.de Internet: www.vdk-bayern.de Für die Beiträge sind die jeweiligen Autoren verantwortlich. Alle Fotos © Sozialverband VdK Bayern, außer: Verena Bentele © Susie Knoll (Seite 8) Dr. Cornelia Heintze © privat (Seite 20) Druck: Druckerei Dimetria-VdK gemeinnützige GmbH Rennbahnstraße 48 94315 Straubing Telefon: 09421 / 9290-100 Telefax: 09421 / 9290-109 eMail: info@dimetria.de Internet: www.dimetria.de
VdK-Forum München 5. März 2020 VdK-Forum Inhalt Michael Pausder Begrüßung S. 5 – 7 Verena Bentele Grußwort S. 8 – 11 Dr. Frank Berner Was müssen Kommunen in der Pflege leisten? – Erkenntnisse aus dem Siebten Altersbericht der Bundesregierung S. 12 – 19 Dr. Cornelia Heintze Der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem – Welche Impulse liefert der Vergleich? S. 20 – 46 Hermann Imhof Herausforderungen in der Pflege – Bestandsaufnahme aus bayerischer Sicht S. 47 – 54 Prof. Dr. Stefan Greß/Christian Jesberger Perspektiven für die Pflegeversicherung S. 55 – 64 3
VdK-Forum München 5. März 2020 Die Expertenrunden des sozialpolitischen Forums des Sozialverbands VdK Bayern. Von links: VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher, Dr. Frank Berner, VdK-Präsidentin Verena Bentele, VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder, Dr. Cornelia Heintze, Prof. Dr. Stefan Greß Von links: stv. VdK-Landesvorsitzender Hermann Imhof, VdK-Präsidentin Verena Bentele, MdL Bernhard Seidenath, VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher, MdL Ruth Waldmann, Dr. Cornelia Heintze, VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder, Prof. Dr. Stefan Greß, Moderator Nikolaus Nützel 4
VdK-Forum München 5. März 2020 Michael Pausder Landesgeschäftsführer des Sozialverbands VdK Bayern e.V. München Begrüßung Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserem VdK-Forum zum Megathema Pflege mit dem Untertitel „Reichen neue Akzente oder brauchen wir einen Neustart?“ Ein völliger Neustart wäre wohl übertrie- wollten sie keinen unkalkulierbaren Anste- ben, aber kleinere Reformen reichen sicher ckungs-Risiken aussetzen, wie es Menschen- auch nicht mehr aus. Da brauchen wir schon ansammlungen mit vielen Tausend Teilneh- gravierendere Eingriffe ins Pflegesystem, um mern mit sich bringen können. den künftigen Herausforderungen gerecht zu werden, ähnlich wie bei der Rente, bei In der Demo-Vorbereitung steckte richtig der wir mit Nachdruck einen Systemwech- viel Arbeit drin. sel hin zu einer Erwerbstätigenversicherung Mein besonderer Dank gilt deshalb hier fordern, in die auch Selbstständige, Beamte zunächst allen rund 60 heute anwesen- und Abgeordnete einzahlen. den ehren- und hauptamtlichen VdK-Mit- arbeiterinnen und Mitarbeitern, die in den Und gerade dafür wollten wir am 28. März vergangenen Monaten in ihren Bezirken, 2020 hier in München auf die Straße gehen. Kreis- und Ortsverbänden unglaublich viele Höhere Gewalt in Form des Coronavirus Menschen für die geplante Demo „Soziales hat uns nun einen Strich durch die Rech- Klima retten!“ mobilisiert haben. nung gemacht. Schweren Herzens haben Über 300 voll besetzte Busse waren bereits wir uns am Montag für eine Absage unserer angemeldet. Demo entschieden. Sie haben wirklich alles dafür getan, damit viele Tausende VdKlerinnen und VdKler und An erster Stelle stehen für uns die Gesund- andere Interessierte gekommen wären. heit und der Schutz unserer Mitglieder und aller Demonstrationsteilnehmer, unter denen Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben: viele Senioren sowie Menschen mit chroni- Unsere Großdemonstration werden wir schen Erkrankungen gewesen wären. Wir zu gegebener Zeit nachholen. Das Corona- 5
VdK-Forum München 5. März 2020 virus wird hoffentlich bald wieder ver- 2020 ist nun nicht nur das von der WHO schwunden sein, die sozialen Missstände in ausgerufene „Internationale Jahr der Pfle- unserem Land werden es leider nicht sein. genden und Hebammen“, sondern auch das Wachsende Altersarmut, ungerechte Ren- Jahr, in dem Gesundheitsminister Jens Spahn tenbesteuerung, unbezahlbare Mieten und für Mitte des Jahres einen Vorschlag ange- Pflege, die arm macht – das sind alles Grün- kündigt hat, wie die künftige Finanzierung de, um dieses oder nächstes Jahr auf die der Pflege aussehen kann. Straße zu gehen. Fakt ist, dass unsere Pflegebedürftigen und Doch jetzt zum heutigen Fachforum: Pflegenden in Deutschland persönlich, finan- Das Thema Pflege bildet für den VdK schon ziell und personell unzumutbaren Belastun- seit Jahrzehnten ein Schwerpunktthema. gen ausgesetzt sind. Immer mehr pflegende Die gesetzliche Pflegeversicherung als fünf- Angehörige müssen die Erfahrung machen, te Säule der Sozialversicherung ist 1995 dass Pflege krank und arm macht. nicht zuletzt auch wegen des jahrelangen Ein „Weiter so!“ kann keinesfalls die Lösung hartnäckigen Drängens des VdK eingeführt sein. Es sind weitreichende und nachhaltige worden. Änderungen notwendig, und zwar an erster Stelle die Einführung einer Pflegevollversi- Die letzten beiden größeren Reformen hat cherung. ebenfalls der VdK mit angeschoben mit sei- ner Kampagne „Pflege geht jeden an“ im Wir haben für unser heutiges Forum wie- Jahr 2011 sowie mit seiner weiteren Kam- der einmal anerkannte Fachleute gewinnen pagne „Große Pflegereform jetzt!“ im Jahr können, die ich an dieser Stelle gerne be- 2014. grüßen möchte. Wir haben uns durchgesetzt mit unserer Den Auftakt macht heute die Präsidentin langjährigen Forderung nach Einführung ei- des Sozialverbands VdK Deutschland und nes neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der stellvertretende Landesvorsitzende des endlich dafür sorgte, dass seit 2017 demen- Sozialverbands VdK Bayern und ehemalige ziell Erkrankte nicht mehr durchs Raster der Beauftragte der Bundesregierung für die gesetzlichen Pflegeversicherung fallen. Belange von Menschen mit Behinderung. Herzlich willkommen, Verena Bentele! 2014 haben wir auch öffentlichkeitswirksam Verfassungsbeschwerde für menschenwür- Wir freuen uns auch auf die Ausführungen dige Bedingungen in allen Pflegeheimen von Dr. Frank Berner vom Deutschen Zen- erhoben. Diese wurde zwar vom Bundes- trum für Altersfragen und der dort angesie- verfassungsgericht nicht angenommen, delten Geschäftsstelle für die Altersberichte hat aber sicher mit dazu beigetragen, dass der Bundesregierung. Sein Vortrag lautet Rahmenbedingungen in stationären Einrich- „Was müssen Kommunen in der Pflege tungen zum Wohle pflegebedürftiger Men- leisten? – Erkenntnisse aus dem Siebten schen verbessert wurden. Altersbericht der Bundesregierung“. Auch Sie, Herr Dr. Berner, heißen wir ganz herz- lich willkommen! 6
VdK-Forum München 5. März 2020 Ebenso herzlich begrüßen wir die Polito- Wir kennen uns mittlerweile seit über 20 login Dr. Cornelia Heintze aus Leipzig. Sie Jahren. Im Jahr 2000 haben Sie für den BR wird uns den skandinavischen Weg zu ei- und für dpa einen Hintergrundbericht über nem zeitgemäßen Pflegesystem vorstellen, die im Vergleich zu anderen Organisationen und wir werden sehen, ob Deutschland sich ungewöhnlich gute Mitgliederentwicklung davon nicht einiges abschauen könnte. Wir des VdK Bayern gemacht. sind schon sehr gespannt auf Ihre Ausfüh- rungen, Frau Dr. Heintze! Damals hatten wir gerade das 400.000. Mit- glied aufgenommen. Nach dem Mittagessen wird Hermann Im- Heute sind es über 714.000, und täglich hof, stellvertretender Landesvorsitzender kommen zwischen 150 und 200 neue Mit- des Sozialverbands VdK Bayern und frühe- glieder dazu. Das freut uns, vor allem auch, rer Landtagsabgeordneter und Patienten- weil es unsere Schlagkraft und politische und Pflegebeauftragter der Bayerischen Durchsetzungsfähigkeit erhöht. Staatsregierung, die Herausforderungen in der Pflege aus bayerischer Sicht analysieren. Lieber Herr Nützel, ich freue mich sehr, dass Herzlich willkommen, lieber Hermann Im- Sie als ausgewiesener Gesundheits- und hof! Pflegeexperte des Bayerischen Rundfunks heute die Moderation übernehmen. Vielen Der weitere Verlauf des Nachmittags wird Dank. dann unter der Fragestellung stehen, welche Änderungen in der Pflegeversicherung und insbesondere in der Pflegefinanzierung not- wendig und möglich sind. Einen Impuls dazu werden wir von Prof. Dr. Stefan Greß von der Hochschule Fulda be- kommen. Anschließend werden wir diese Frage mit ihm sowie unserer Landesvorsitzenden Ul- rike Mascher, dem Landtagsabgeordneten und Vorsitzenden des Gesundheits- und Pflegeausschusses des Bayerischen Land- tags, Bernhard Seidenath von der CSU, sowie der stellvertretenden Ausschussvor- sitzenden, Ruth Waldmann von der SPD, in einer Diskussionsrunde erörtern. Herzlich willkommen Ihnen allen. Besonders begrüßen möchte ich noch den heutigen Moderator Nikolaus Nützel vom Bayerischen Rundfunk. 7
VdK-Forum München 5. März 2020 Verena Bentele Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland e.V. Berlin Grußwort Ich freue mich sehr, dass wir heute über das große Thema Pflege sprechen können: Viele Fragen sind offen, und es gibt meines Er- achtens oft noch zu wenig Lösungen und Erkenntnisse, darauf möchte ich in meiner Rede eingehen. Beim sozialpolitischen Fo- rum geht es darum, sich innerverbandlich und mit Expertinnen und Experten auszu- tauschen, sowie um Impulse aus der Wis- dass Sie heute alle hier sind und mit uns ins senschaft. In diesem Zusammenhang freut Gespräch kommen. Aus gegebenem Anlass es mich sehr, die Referentinnen und Refe- möchte ich ein paar Worte zu unserer lei- renten des Tages begrüßen und willkommen der abgesagten Großdemonstration sagen. heißen zu dürfen: Dr. Frank Berner vom „Soziales Klima retten!“, dieser Slogan ist Deutschen Zentrum für Altersfragen in und bleibt aktueller denn je. Der VdK bleibt Berlin, Dr. Cornelia Heintze, Stadtkämmerin bei seinen Ankündigungen, und wir werden a. D. und Politologin in Leipzig, unseren stell- daher unser Engagement gegen Altersar- vertretenden Landesvorsitzenden und ehe- mut und für eine gerechte Rente aufrecht- maligen Patienten- und Pflegebeauftragten erhalten und die Demonstration nachholen. der Bayerischen Staatsregierung, Hermann Nur gemeinsam können wir etwas für eine Imhof, und von der Hochschule Fulda Prof. gute Rente und auch für bessere Bedingun- Dr. Stefan Greß. Außerdem möchte ich gen in der Pflege erreichen. unsere weiteren Podiumsteilnehmer des Nachmittages begrüßen. Neben unserer Damit komme ich zu unserem heutigen Ehrenpräsidentin und Landesvorsitzenden Thema, nämlich der Pflege. Wir wissen alle, Ulrike Mascher sind dies die Landtagsab- in den Familien wird Unglaubliches geleistet. geordneten Bernhard Seidenath und Ruth Diese Worte hat auch unsere Bundeskanz- Waldmann. lerin Frau Dr. Angela Merkel benutzt, und diesen Worten kann ich mich nur mit voller Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Überzeugung anschließen. VdKlerinnen und VdKler, in diesen bewegten Zeiten möchte ich zu- Aktuell gehen wir davon aus, dass Angehö- nächst allen hier im Raum danken. Danke, rige nicht nur Unglaubliches leisten, sondern 8
VdK-Forum München 5. März 2020 dass sie es fast nicht mehr bewältigen kön- und Enkel, nicht mit den Kosten der Pflege nen. Pflegebedürftige Personen sind teils un- im Pflegeheim belasten. Deshalb werden in terversorgt und pflegende Angehörige sind Deutschland und auch in Bayern mehr als oft überfordert. Das hören wir tagtäglich 70 % der Pflegebedürftigen zu Hause ent- von unseren Mitgliedern – viele von ihnen weder durch Angehörige oder zusammen sind Menschen, die selbst Pflege benötigen mit ambulanten Pflegediensten gepflegt. oder Angehörige pflegen. Kürzlich hat uns eine Frau, die ihren Ehemann pflegt, erzählt, Die Zahl der ambulanten Pflegedienste dass sie eigentlich selbst dringend in die steigt stetig an, sodass es heute mehr ambu- Reha müsste, diese aber absagen musste, lante Pflegedienste als Pflegeheime in Bay- weil kein Kurzzeitpflegeplatz zu bekommen ern gibt. Obwohl es immer mehr Dienste war. Solche Nachrichten stimmen uns sehr gibt, sind es trotzdem noch viel zu wenig besorgt und sind für uns als Sozialverband – sie können längst nicht mehr all das leis- VdK einerseits ein Grund, warum wir heute ten und abdecken, was eigentlich von den das Forum zum Thema Pflege machen, wa- pflegebedürftigen Menschen in Bayern ge- rum wir uns aber andererseits auch in der braucht wird. Es gibt sogar Regionen in Bay- Zukunft neben den Megathemen Alters- ern, wie zum Beispiel Fürstenfeldbruck, wo armut und Rente weiter intensiv mit der man mehr als ein halbes Jahr auf die Unter- Pflege beschäftigen wollen. stützung durch einen Pflegedienst warten muss. Und dann keineswegs immer zu den Pflegende Angehörige beuten sich selbst oft eigenen Vorstellungen. psychisch und physisch so aus, dass sie wäh- Für die pflegenden Angehörigen sind dies rend oder nach der Pflege von Angehörigen riesige Herausforderungen, aber in erster häufig selbst zum Pflegefall werden. Linie für die Pflegebedürftigen selbst. Denn auch pflegebedürftige Menschen haben na- Und das Problem wird immer größer. Die türlich ihren eigenen und für viele Jahre hin- Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt weg gelebten Lebensrhythmus. Sie können immer weiter an. Vor 20 Jahren gab es zwei und wollen beispielsweise weiterhin früh Millionen pflegebedürftige Menschen in aufstehen und nicht aus Gründen der Fle- Deutschland, heute sind es schon 1,4 Mil- xibilität oder der Nichterreichbarkeit eines lionen mehr. Pflegedienstes morgens bis 10 oder 11 Uhr Fest steht, die meisten Menschen wollen bei im Bett bleiben. Krankheit und Pflegebedürftigkeit in den ei- genen vier Wänden versorgt werden – sie Für mich ist es wirklich eine der spannen- wollen ihr gewohntes Umfeld nicht verlas- den Fragen, wie wir die Pflege flexibel zu sen. Zu Hause sind die Strukturen bekannt, Hause so organisieren können, dass es für und dort fühlt man sich wohl, geborgen und die Menschen, die Pflege brauchen, auch vertraut. Ein anderer Grund ist aber sicher- praktikabel ist – sie sich einerseits gut ver- lich auch ein finanzieller, nämlich, dass für sorgt fühlen, aber andererseits auch die viele Menschen Pflege in einer Einrichtung Rahmenbedingungen für pflegende Ange- schlichtweg nicht zu finanzieren ist. Viele hörige stimmen. Die Herausforderungen wollen ihre Angehörigen, vor allem Kinder für pflegende Angehörige sind vielfältig: Sie 9
VdK-Forum München 5. März 2020 bekommen zu wenig Unterstützung, und auch ein Stück weit zugunsten von Quali- Kurzzeitpflegeplätze sind knapp. Ein großes tät und Versorgung einschränken kann. All Problem ist auch die Vereinbarkeit von Pfle- diese Entscheidungen sind für unsere poli- ge, Alltag, Beruf und eigener Gesundheit. Für tisch Verantwortlichen zugegebenermaßen all diese Herausforderungen sind neue und schwierig zu treffen. individuelle Lösungen dringend nötig und erforderlich. Genau aus diesem Grund hat sich der VdK zum Ziel gesetzt, nach 25 Jahren Pflegever- Die zentrale Forderung des VdK ist deshalb sicherung für wichtige und wesentliche Im- schon seit Langem eine Pflegevollversiche- pulse zu sorgen, wie die Pflegeversicherung rung. Die Pflegevollversicherung soll eine umgebaut werden könnte, was in der Pfle- Versicherung sein, die so funktioniert wie ge notwendig ist, um Menschen besser zu die Krankenversicherung. Das bedeutet, unterstützen, und was für unsere Mitglieder, dass alle pflegerischen Leistungen von der für die Pflegebedürftigen selbst und deren Pflegevollversicherung abgedeckt werden Angehörige die richtige, gute Unterstützung müssen, was heute so nicht zutrifft. wäre, damit sie in der eigenen Häuslichkeit oder wo sie sonst Pflege wollen, gute Un- Um konkret fordern und einschätzen zu terstützung bekommen. können, was eine Pflegevollversicherung abdecken sollte, brauchen wir mehr Wis- Wie sieht die Situation in der ambulanten sen über die Bedarfe und Bedürfnisse in der Pflege in Deutschland wirklich aus? Was ambulanten Pflege. Die Pflegeversicherung brauchen die Millionen pflegebedürftigen besteht seit gut 25 Jahren, aber Forschungs- Menschen, die zu Hause gepflegt werden, felder in der ambulanten Pflege gibt es und die pflegenden Angehörigen? Besteht kaum. Die Versorgungssituation ist weitge- eher ein pflegerischer Bedarf, ein Bedarf im hend unbekannt, und wissenschaftliche Er- Haushalt oder in der Begleitung? Braucht kenntnisse sind dringend notwendig. es finanzielle Unterstützung, wie ein per- sönliches Budget für die Pflege, das je nach Meiner Meinung nach hat die Politik aller- Bedarf, z. B. in familiären Notsituationen, dings nur ein begrenztes Interesse daran, eingesetzt werden kann, oder sind andere mehr Wissen und wissenschaftliche Er- Wege besser? kenntnisse zu haben. Denn jeder von uns weiß, wer Erkenntnisse hat, müsste auch Um diese Fragen zu beantworten, führt der handeln: Nach Erkenntnis kommt Hand- VdK in Kooperation mit der Hochschule lungsdruck. Für Politikerinnen und Politiker Osnabrück unter der Leitung von Prof. Dr. ist der schwierig auszuhalten. Sie müssten Andreas Büscher eine groß angelegte Studie dann natürlich auch Konzepte dafür ha- durch. Was die Regierung seit über 20 Jahren ben, wie man Menschen gewinnt, die in versäumt hat, nehmen wir jetzt in die Hand. der Pflege arbeiten, wie man tatsächlich die Wir nutzen unsere Ressourcen und das Wis- bisherigen Systeme in den Einrichtungen sen unserer Mitglieder, die selbst einen Pfle- auf neue Füße stellen kann, und wie man gebedarf haben oder pflegende Angehörige den Gewinn, der in der Pflege erzielt wird, sind. Wir wollen wissenschaftlich bestätigen, 10
VdK-Forum München 5. März 2020 was unseren Sozialrechtsberaterinnen und die so wichtige Informationen zusammen- -beratern und den Zuständigen am Pflege- tragen und auswerten – und genau diese telefon tagtäglich begegnet: dass es sich näm- Informationen sind für eine zukunftsfeste lich nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass Pflegeversicherung wesentlich. strukturelle Probleme vorliegen. Zum Schluss ist es für mich heute auch noch Fest steht, das System stößt trotz der bis- mal wichtig, all denen zu danken, die durch herigen Reformen inhaltlich, personell und ihre Rechtsberatung, durch die Beratung am finanziell an seine Grenzen. Deshalb muss Pflegetelefon und in vielen Gesprächen mit eine Reform so gestaltet werden, dass sie Mitgliedern den pflegenden Angehörigen die Menschen miteinbezieht, die betroffen und den Pflegebedürftigen selbst sehr viel sind. Für die Pflege braucht es daher muti- Mut für die tagtäglichen Herausforderungen ge Konzepte: Um eine bessere Situation für machen. viele Menschen zu ermöglichen, reicht es sicherlich nicht aus, nur an kleinen Schräub- Die häusliche Pflege ist wie erwähnt sicher- chen zu drehen. Mit ein paar neuen Stellen lich immer eine individuelle Sache. Für viele in der Pflege, die ja auch schon schwer ge- Menschen ist die Situation zwar vielleicht nug zu besetzen sind, werden wir die immer theoretisch absehbar, aber praktisch, wenn größer werdenden Herausforderungen und man in die Situation kommt und Pflegebe- den wachsenden Pflegebedarf in unserer darf im näheren Umfeld hat, kommen dann Gesellschaft nicht bewältigen können. doch ganz viele Probleme auf, die vorher so gar nicht planbar waren. Und dass wir Mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu heute nach den vielen Kampagnen, mit aus unserer Untersuchung werden wir un- denen wir die Pflegereformen mitinitiiert seren politischen Forderungskatalog kon- haben, auch den Auftakt bei unserem Pfle- kretisieren und uns für genau solche Refor- geforum bieten, das macht mir dann doch men einsetzen. wieder Mut und stimmt mich optimistisch, Beispielsweise könnten diese Erkenntnisse dass wir auch für die Pflege neue und wich- die weitere Diskussion zu einer Pflegevoll- tige Impulse setzen können. Vielen Dank an versicherung ankurbeln bzw. präzisieren. Sie alle, die heute einen Input geben und uns könnten aber auch unabhängig davon einen aus wissenschaftlicher und politischer Sicht Beitrag zur Weiterentwicklung ambulanter bereichern. Versorgungsstrukturen und Unterstützung von Pflegehaushalten leisten. Eine zentrale Ich freue mich sehr darauf und bin gespannt, Forderung des VdK war immer, dass speziell was wir heute von Ihnen allen noch zu hö- für die häusliche Pflege Pflegearrangements ren kriegen. Ich glaube, dass wir tatsächlich ermöglicht werden müssen, die eine passge- nur gemeinsam bei Themen wie Alters- naue und individuelle Pflege und Betreuung armut und Pflege wirklich etwas erreichen in der eigenen Häuslichkeit sichern. können, egal ob heute bei unserem Forum oder in ein paar Monaten bei einer Demo. Mit dieser Studie haben wir die Karten in Dies ist für mich immer eine große Motiva- der Hand, weil wir damit die Einzigen sind, tion, hier im VdK kräftig mitzuarbeiten. 11
VdK-Forum München 5. März 2020 Dr. Frank Berner Deutsches Zentrum für Altersfragen Geschäftsstelle für die Altersberich- te der Bundesregierung Berlin Was müssen Kommu- nen in der Pflege leisten? Erkenntnisse aus dem Siebten Altersbericht der Bundesregierung Je älter ein Mensch wird, desto kleiner wird Zugleich wird es aufgrund des sozialen oft sein Aktionsradius und desto mehr wird Wandels immer weniger selbstverständlich, sein Wohnort zum Lebensmittelpunkt. Für dass Unterstützung und Pflege für alte Men- ältere Menschen hat der Wohnort deshalb schen von Familienangehörigen erbracht mehr noch als für jüngere Menschen eine werden. Im Ergebnis steht das familiale Pfle- besondere Bedeutung. Im Umfeld der Woh- gepotenzial zunehmend unter Druck. Diese nung sind sie unterwegs, hier versorgen sie Situation wird durch einen sich bereits ab- sich mit Gütern ihres täglichen Bedarfs, hier zeichnenden Fachkräftemangel in der pro- nehmen sie Dienstleistungen in Anspruch, fessionellen Pflege noch verschärft. hier verbringen sie große Teile ihrer Freizeit. Viele ältere Menschen engagieren sich vor Aus diesen Gründen ist es zu einer zen- Ort für das Gemeinwohl und übernehmen tralen Frage geworden, wie vor Ort die Mitverantwortung. Auch die praktische Un- Versorgung derjenigen Menschen sicherge- terstützung sowie die Versorgung und Pfle- stellt werden kann, die aus gesundheitlichen ge gesundheitlich eingeschränkter älterer Gründen auf Unterstützung, Hilfe oder Menschen ist räumlich weitgehend an ihren Pflege angewiesen sind. Die Sachverständi- Wohnort gebunden. Teilhabe und Lebens- genkommission zur Erstellung des Siebten qualität im Alter hängen also nicht nur von Altersberichts der Bundesregierung (die bundesweit einheitlich geregelten Struktu- Siebte Altersberichtskommission) wurde ren (etwa der sozialen Pflegeversicherung) von der Bundesregierung beauftragt, sich ab, sondern in großem Maße auch von der mit dieser Frage zu befassen und einen lokalen Infrastruktur und den sozialen Net- Bericht zum Thema „Sorge und Mitverant- zen am Wohn- und Lebensort. wortung in der Kommune – Aufbau und 12
VdK-Forum München 5. März 2020 Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ Regionen die Mobilität der älteren Men- zu erstellen.1 Sie sollte in ihrem Bericht he- schen und die Erreichbarkeit der medizini- rausarbeiten, an welche lokalen Vorausset- schen Versorgung ein brennendes Thema, in zungen die gesellschaftliche Teilhabe und Ballungsräumen stehen hingegen eher die eine möglichst lange selbstständige Lebens- Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum, führung alter Menschen geknüpft sind. Sie die Gestaltung von Quartieren und die sollte außerdem zeigen, unter welchen Be- Belebung von Nachbarschaften im Vorder- dingungen und auf welche Weise die Kom- grund. munen und die lokale Politik Strukturen der Zur räumlichen Ungleichheit zwischen Sorge und Mitverantwortung aufbauen und verschiedenen Kommunen und Regionen gestalten können, und entsprechende Emp- kommt die soziale Ungleichheit innerhalb fehlungen an die Politik formulieren. Der der Gruppe der älteren Menschen. Große Siebte Altersbericht der Bundesregierung Teile der älteren Bevölkerung verfügen der- wurde im November 2016 veröffentlicht zeit über ausreichende finanzielle, gesund- (Deutscher Bundestag 2016). heitliche und soziale Ressourcen, um ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Es gibt Ein modernisiertes Verständnis von jedoch auch viele ältere Frauen und Män- Daseinsvorsorge ner, die finanziell, gesundheitlich und sozial Im Siebten Altersbericht wird zunächst he- benachteiligt sind. Viele Studien zeigen, dass rausgearbeitet, dass es zwischen den Regi- sozial benachteiligte Menschen weniger an onen, Kreisen, Gemeinden und Quartieren partizipativen Planungs- und Entscheidungs- in Deutschland hinsichtlich verschiedener prozessen sowie am freiwilligen Engage- wirtschaftlicher und demografischer Indika- ment teilnehmen und tendenziell kleinere toren große Unterschiede gibt. Vieles deu- tet darauf hin, dass sich manche dieser regi- 1 Die Altersberichterstattung der Bundesregierung onalen Unterschiede in Zukunft sogar eher geht zurück auf einen Beschluss des Deutschen Bun- destages aus dem Jahr 1994. Dieser Beschluss gibt der noch vergrößern statt verkleinern werden. Bundesregierung auf, dem Bundestag in jeder Legisla- Auch aus diesem Grund wird in der letzten turperiode einen Bericht zur Lebenssituation der älte- Zeit vermehrt diskutiert, ob und wie die ren Menschen in Deutschland vorzulegen. Erarbeitet werden die Berichte von unabhängigen Sachverständi- durch das Grundgesetz als Politikziel vor- genkommissionen, die mit Expertinnen und Experten gegebene Gleichwertigkeit der Lebensver- unterschiedlicher Fachrichtungen besetzt werden. Die hältnisse in den verschiedenen Teilen und Altersberichte der Bundesregierung prägen die öffent- liche Diskussion zu Fragen der Politik für ältere Men- Räumen Deutschlands überhaupt erreicht schen wesentlich mit. (vgl. 2019) oder erhalten werden kann.2 Die regionalen Unterschiede prägen die Gestaltungs- und 2 Siehe: Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige Handlungsspielräume der Kommunen und Lebensverhältnisse überall. Schlussfolgerungen von Bundesminister Horst Seehofer als Vorsitzendem wirken sich auf die Lebenslagen und Le- sowie Bundesministerin Julia Klöckner und Bun- bensbedingungen der dort lebenden Men- desministerin Dr. Franziska Giffey als Co-Vorsit- schen aus. Jede Kommune steht spezifischen zenden zur Arbeit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ (http://www.bmi.bund.de/Shared- Herausforderungen gegenüber und braucht Docs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat- dementsprechend angepasste Lösungen. integration/schlussfolgerungen-kom-gl.pdf?__blob= So ist beispielsweise in vielen ländlichen publicationFile&v=1)[Zugriff am 31. August 2020]. 13
VdK-Forum München 5. März 2020 und weniger belastbare soziale Netzwerke dardisieren. Die Ausgestaltung der Daseins- haben als Menschen aus besser gestellten so- vorsorge sollte vielmehr von den vor Ort zialen Schichten. Maßnahmen und Projekte festgestellten Bedarfen abgeleitet werden zur Stärkung von Unterstützungsnetzwer- und kann sich deshalb von Kommune zu ken (Verantwortungsgemeinschaften oder Kommune unterscheiden. sorgende Gemeinschaften), zur Beteiligung Angesichts einer zunehmenden Komple- an Planungs- und Entscheidungsprozessen xität der verschiedenen gesellschaftlichen (Partizipation) und zur Beteiligung am frei- Handlungsfelder hält die Altersberichts- willigen Engagement müssen sich deshalb kommission es zudem für sinnvoll, dass daran messen lassen, wie gut es ihnen gelingt, mehr und mehr Ziele der Daseinsvorsorge benachteiligte Menschen zu erreichen und im Zusammenwirken verschiedener Ak- einzubinden, etwa Menschen mit sehr nied- teure erreicht werden (gemischte Produkti- rigem Einkommen, zurückgezogen leben- on von Daseinsvorsorge). Im Idealfall wirken de Menschen, Menschen mit Mobilitätsein- dabei Kommune, Unternehmen, Verbände, schränkungen oder Menschen mit Sprach- Vereine, Netzwerke sowie einzelne Bür- barrieren. gerinnen und Bürger gemeinwohlbezogen zusammen. Es gehört zu den Aufgaben Aus Sicht der Siebten Altersberichtskom- der Kommunen, relevante Akteure in die mission erfordern die sozialräumliche Un- gemeinschaftliche Produktion von Daseins- gleichheit sowie die Vielfalt von Lebensent- vorsorge einzubinden und ihr Zusammen- würfen und Lebenslagen ein erweitertes wirken zu organisieren. Die kommunale Verständnis von kommunaler Daseinsvor- Verwaltung muss dazu ihr eigenes Rollen- sorge: Daseinsvorsorge sollte nicht mehr verständnis erweitern: Zu ihren Aufgaben nur im klassischen Sinne verstanden werden gehört es auch, Entwicklungen anzustoßen, als die staatliche Erbringung von Gütern und Prozesse zu moderieren, Akteure zu akti- Dienstleistungen, mit denen die Menschen vieren, miteinander zu vernetzen und ihre als Leistungsempfängerinnen und Leistungs- Zusammenarbeit zu koordinieren. empfänger versorgt werden. Die kommu- nale Daseinsvorsorge sollte darüber hinaus Kommunalisierung der Pflege die Menschen vor Ort in die Lage versetzen Diese Grundsätze einer erweiterten Da- (Befähigung), ein gutes Leben eigenständig seinsvorsorge können auch auf den Bereich und selbstbestimmt zu führen, in Selbst- und der pflegerischen Versorgung übertragen Mitverantwortung am gesellschaftlichen Le- werden: Die Landschaft der pflegerischen ben teilzuhaben und dieses mitzugestalten. Versorgungsangebote sollte an die lokale Dieser Befähigungsansatz berücksichtigt Situation und die Bedarfe vor Ort ange- ausdrücklich soziale Ungleichheiten sowie passt werden, zu diesem Zweck sollten die die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Kommunen die Vernetzung und die Koope- und Anforderungen in verschiedenen Regi- ration pflegerelevanter lokaler Akteure vo- onen und Kommunen. Es ist kaum möglich, rantreiben. die Leistungen der Daseinsvorsorge für alle Kommunen und Bevölkerungsgruppen Mit der Einführung der sozialen Pflegever- allgemeingültig zu definieren und zu stan- sicherung Mitte der 1990er-Jahre wurde 14
VdK-Forum München 5. März 2020 die Steuerung des Leistungsrechts beim gekassen mit der Sicherstellung der pflege- Bund zentralisiert, zugleich wurde für die rischen Versorgung betraut und ein Markt Entwicklung von Versorgungsangeboten ein für die Steuerung der Angebotslandschaft wettbewerblich gesteuerter Pflegemarkt eingerichtet. Als Folge haben die Kommu- geschaffen. Inzwischen zeigt sich in vieler nen nur noch wenige Funktionen in der Hinsicht, dass diese Konstruktion die realen Pflegepolitik, ihnen sind keine starken hie- Bedarfe pflegebedürftiger Menschen und rarchischen Instrumente zur Gestaltung ihrer Angehörigen nicht decken kann. Ein der Pflegelandschaft geblieben (Brüker u.a. deutliches Indiz dafür ist die zunehmende 2017; Brettschneider 2020). In der Folge Zahl von aus anderen Ländern kommen- haben viele Kommunen auch selbst den den 24-Stunden-Haushaltskräften (Care Anspruch aufgegeben, die Pflege mitzu- Migrants) in Pflegehaushalten: Viele Familien, gestalten. Auch das im Jahr 2017 in Kraft in denen die Angehörigen die Pflege und getretene Pflegestärkungsgesetz III hat in Betreuung nicht leisten können oder wollen, dieser Hinsicht keine wesentlichen Verän- und die dennoch einen Umzug des pflege- derungen angestoßen, obwohl es eigentlich bedürftigen Familienmitglieds in eine statio- zum Ziel hatte, die Rolle der Kommunen in näre Einrichtung vermeiden wollen, wissen der Pflege zu stärken. Nichtsdestotrotz kön- sich offenbar nicht anders zu helfen, als au- nen Kommunen auch unter den gegebenen ßerhalb des formalen Pflegesystems (soziale Rahmenbedingungen mit einer Vielzahl von Pflegeversicherung) transnationale Haus- kleinen Stellschrauben Einfluss nehmen. Die halts- oder Pflegekräfte zu beschäftigen. Ergebnisse eines Forschungsprojekts an der Universität Potsdam zeigen dies eindrück- Damit die von der sozialen Pflegeversiche- lich (Plazek und Schnitger 2016). rung finanzierten Angebote der pflegeri- schen Versorgung besser auf die Bedarfe In diesem Forschungsprojekt wurden Er- der Menschen vor Ort zugeschnitten wer- klärungen dafür gesucht, dass der Anteil den können, hat die Siebte Altersberichts- der ambulant versorgten pflegebedürfti- kommission dem Bund und den Ländern in gen Personen an allen pflegebedürftigen ihrem Bericht empfohlen, den Kommunen Personen (der sogenannte ambulante Ver- eine stärkere Rolle in der Gestaltung der sorgungsanteil) in verschiedenen Kommu- pflegerischen Versorgungslandschaft einzu- nen unterschiedlich hoch ist. In der Studie räumen. Auch andere Akteure fordern eine konnten vier Steuerungsansätze identifiziert Kommunalisierung der Pflege (z. B. Schar- werden, mit denen Kommunen Einfluss auf fenberg 2017; DEVAP 2018; Pitschas und den ambulanten Versorgungsanteil nehmen Thiele 2018; Klie 2020). können: Die Rolle der Kommunen in der 1) Die Kommune baut effektive Gremien Pflege zur Vernetzung der lokalen Pflegeakteu- Mit der Einführung der Sozialen Pflegever- re auf. Solche Vernetzungsgremien haben sicherung wurden Steuerungskompetenzen sich als besonders wirkungsvoll erwiesen, für das Leistungsrecht weitgehend an den wenn die Gremien und die entspre- Bund und die Länder übertragen, die Pfle- chenden Netzwerke offen und inklusiv 15
VdK-Forum München 5. März 2020 sind, wenn die Kommune eine aktive alle Kommunen in einer Region an einem Koordinationsrolle im Netzwerk ein- Strang ziehen. nimmt, wenn gemeinsame Zielvorstel- 4) Die Kommune unterstützt den Aufbau lungen vereinbart werden und wenn die von Tagespflegeeinrichtungen. Durch Ge- Wohlfahrtsverbände vor Ort kooperati- spräche mit und Beratung von potenziel- onsbereit sind. len Trägern können Kommunen den Auf- 2) Die Kommune nutzt aktiv ihre vorhan- bau oder Ausbau von Angeboten der Ta- denen Gestaltungsmöglichkeiten. Die gespflege und der Kurzzeitpflege ent- Kommune kann Einfluss auf die Land- scheidend voranbringen. Pflegende An- schaft der Versorgungsformen nehmen, gehörige können dadurch wesentlich wenn die Sozialdezernentin oder der entlastet, der ambulante Versorgungssek- Sozialdezernent sowie die kommunale tor kann damit gestärkt werden. Verwaltung den Anspruch und den Wil- len entwickeln, ihre bestehenden Mög- lichkeiten zur Steuerung der Versor- Insgesamt zeigt die Studie, dass die Kommu- gungslandschaft bestmöglich zu nutzen. ne „eine entscheidende Rolle als Initiatorin Weil die Kommunen nicht verpflichtet und Moderatorin von kommunalen Steu- sind, sich in der Pflegepolitik wesentlich erungsprozessen“ bei der Gestaltung der zu engagieren, hängt das Ausmaß des Versorgungslandschaft vor Ort zukommt kommunalen Engagements in diesem (Platzek und Schnitgert 2016: 74). Bereich vor allem davon ab, welche Pri- orität die Verwaltungsspitzen diesem In gewissen Grenzen können die Kommu- Thema geben. Unter anderem können nen also auch unter den gegebenen Rah- die folgenden Möglichkeiten genutzt menbedingungen Anstöße geben, um im werden: die Koordination von Vernet- Zusammenspiel mit anderen lokalen Ak- zungsgremien (siehe Punkt 1), die Eta- teuren die pflegerische Versorgungsland- blierung partizipativer Pflegeplanungen, schaft vor Ort mitzugestalten. Die Siebte der Aufbau von Beratungsangeboten.Vo- Altersberichtskommission fordert die Ver- raussetzung dafür sind ausreichende antwortlichen in den Kommunen auf, einen Personalressourcen sowie planerische entsprechenden Gestaltungsanspruch und und koordinierende Kompetenzen in der Gestaltungswillen zu entwickeln und die Verwaltung. (begrenzten) Möglichkeiten zu nutzen. Da- 3) Die Kommune berät Investoren und Trä- rüber hinaus fordert die Kommission den ger. Trotz des grundsätzlich freien Markt- Bund und die Länder auf, den Einfluss der zugangs für alle Träger können die Kom- Kommunen auf die Gestaltung der Versor- munen durch eine entsprechende Be- gungsstrukturen grundsätzlich zu stärken, ratung von Investoren und Trägern am- die Pflegepolitik also stärker zu „verörtli- bulante Versorgungsformen stärken und chen“. Dazu ist es nötig, den Kommunen im die Ansiedlung stationärer Versor- Bereich der Pflege mehr Mitwirkungsrechte gungseinrichtungen erschweren. Vo- und bessere Steuerungsinstrumente an die raussetzung dafür ist, dass alle beteiligten Hand zu geben. Um sie vor Überforderung Verwaltungsstellen und am besten auch und Überlastung zu schützen, dürfen Kom- 16
VdK-Forum München 5. März 2020 munen allerdings nur dann mehr Verant- als lokale Sorgestrukturen bezeichnet wer- wortung und neue Aufgaben zugewiesen den. „Sorge“ geht über die pflegerische Ver- werden, wenn sie gleichzeitig ausreichend sorgung hinaus und „bezieht die Breite der mit den nötigen Kompetenzen und finanzi- (gegenseitigen) Unterstützung und Lebens- ellen Mitteln ausgestattet werden. Die Sieb- gestaltung ein“ (Klie 2020: 267). Erst durch te Altersberichtskommission schlägt vor, die gegenseitige Sorge erleben Menschen die finanziellen Handlungsspielräume der auch soziale und emotionale Unterstützung Kommunen mithilfe einer neuen Gemein- und erfahren Zugehörigkeit. schaftsaufgabe „Daseinsvorsorge für struk- Die folgende Abbildung zeigt exemplarisch, turschwache Kommunen“ zu erweitern. Vor aus welchen Akteuren lokale Netzwerke allem für kleine Kommunen mit kleinen Ver- der gegenseitigen Sorge und Mitverant- waltungen wäre es zudem hilfreich, von den wortung bestehen oder bestehen können. Ländern strategische Unterstützung und Sorgestrukturen funktionieren dann am Beratung zu bekommen.3 besten, wenn sich Familienangehörige, pro- fessionelle Fachkräfte, Nachbarinnen und Lokale Sorgestrukturen Nachbarn, Freundinnen und Freunde sowie Ein gutes Älterwerden auch bei zunehmen- freiwillig Engagierte zusammen um einen dem Unterstützungsbedarf hängt jedoch Menschen kümmern. Ältere Menschen sind nicht nur von der Gestaltung und den An- dabei nicht nur diejenigen, um die andere geboten der pflegerischen Versorgung im sich sorgen und kümmern, sondern oftmals engeren Sinne ab. Wie Menschen aller Al- tersgruppen haben auch ältere Menschen vielfältige Bedarfe, die nur im Zusammen- 3 Einige Bundesländer haben bereits entsprechen- de Strukturen etabliert, etwa Rheinland-Pfalz. Siehe: wirken verschiedener Akteure angemessen https://www.lzg-rlp.de/de/servicestelle-fuer-kommunale- befriedigt werden können. Solche Netzwer- pflegestrukturplanung-und-sozialraumentwicklung. ke oder Konstellationen von Akteuren aus html [Zugriff am 31. August 2020]. verschiedenen Handlungsfeldern können Pflege Gesundheit Familien- professionelle Hauswirtschaft angehörige Fachkräfte älter werdender 24-Stunden- Mensch mit zunehmendem Haushaltshilfen Unterstützungsbedarf oder -Pflegekräfte Nachbarschaft freiwillig und Freundeskreis Engagierte 17
VdK-Forum München 5. März 2020 sind es ältere Menschen, die sich auf viel- meisterin oder eines Bürgermeisters). Selbst fältige Weise (etwa als Familienangehörige, wenn eine Kommune einen entsprechen- Freunde/-innen, Nachbarn/-innen oder frei- den Gestaltungsanspruch entwickelt, ist es willig Engagierte) um andere sorgen und jedoch oft schwierig, entsprechende Stellen kümmern – häufig auch noch dann, wenn für Netzwerkarbeit oder Moderationsrollen bei ihnen selbst der Bedarf an Unterstüt- zu finanzieren. Die Kommunen sollten des- zung größer wird. Lokale Sorgestrukturen, halb von Bund und Ländern in die Lage ver- in denen Akteure aus verschiedenen Hand- setzt werden, quartiersbezogene Konzepte lungsfeldern koordiniert zusammenwirken, zu entwickeln und umzusetzen. Die Siebte können pflegende Angehörige entlasten Altersberichtskommission empfiehlt der und können alltagspraktische, soziale und Bundesregierung, die Möglichkeit zu prüfen, emotionale Unterstützung leisten, die im kommunale Investitionen in die Entwicklung Leistungsspektrum der sozialen Pflegever- von Quartieren und zum Aufbau von Sor- sicherung gar nicht vorgesehen sind oder gestrukturen aus der Sozialversicherung zu von dieser nur ungenügend erbracht wer- refinanzieren. den können. Sie sind deshalb kein Ersatz für die soziale Pflegeversicherung oder sollen Fazit deren Unzulänglichkeiten nicht als Lücken- Bei der Gestaltung des Lebens vor Ort büßer ausgleichen, sondern sie ergänzen die unter den Bedingungen des demografi- Pflegeversicherung, sodass Menschen mit schen Wandels kommt es entscheidend Unterstützungsbedarf in all ihren sozialen auf die Kommunen an! Auch mit Blick auf und emotionalen Sinnbezügen angespro- das Leben im Alter müssen die Kommunen chen werden. „Motoren im Sozialraum“ werden, wie es Es ist eine wichtige Aufgabe der lokalen in der Strategie „Quartier 2020“ des Lan- Politik und Verwaltung, solche lokalen Sor- des Baden-Württemberg heißt.4 Die Siebte gestrukturen systematisch zu fördern und Altersberichtskommission fordert in ihrem aufzubauen. Die Kommune sollte dabei Bericht den Bund und die Länder dazu auf, diejenigen Organisationen im Gemeinwe- die Kommunen in die Lage zu versetzen sen, die im weitesten Sinne im Bereich der und darin zu unterstützen, „den spezifischen Altenhilfe aktiv sind, miteinander vernet- Bedingungen und Herausforderungen der zen. Dies kann am besten sozialraum- oder Sorge und Pflege vor Ort zu begegnen, quartiersbezogen erfolgen: Die Erfahrung Einfluss auf die Infrastrukturentwicklung zeigt, dass tragfähige Sorgestrukturen vor zu nehmen und gemeinsam mit zivilgesell- allem dann entstehen und gefestigt werden schaftlichen Akteuren wohnortnahe Sorge- können, wenn in einer Kommune die Quar- arrangements zu fördern“ (Deutscher Bun- tiersentwicklung oder die sozialraumbezo- destag 2016: 294). gene Gestaltung des demografischen Wan- dels zu einer prioritären Aufgabe gemacht wurde. Oftmals ist dies die Entscheidung eines oder einer einzelnen Schlüsselperson 4 https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/ mit Entscheidungsbefugnis (z. B. einer Land- soziales/quartiersentwicklung/ [Zugriff am 31. August rätin oder eines Landrats bzw. einer Bürger- 2020]. 18
VdK-Forum München 5. März 2020 Literatur Brettschneider, Antonio (2020): Die Rol- Plazek, Michael und Moritz Schnitger (2016): le der Kommunen: Ziele, Handlungsfelder Demographie konkret – Pflege kommunal und Gestaltungsmöglichkeiten kommunaler gestalten. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Pflegepolitik. In: Klaus Jacobs u. a. (Hrsg.): Stiftung. Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher? Berlin und Scharfenberg, Elisabeth (2017): Mehr Mut Heidelberg: Springer: 219-238. zum Querdenken. Autorenpapier zur Pfle- gepolitik. Brüker, Daniela, Petra Kaiser, Simone Leiber http://www.elisabeth-scharfenberg.de/ und Sigrid Leitner (2017): Die Rolle der daten/downloads/Autorenpapier%20zur Kommunen in der Pflegepolitik. Zeitschrift %20Pflegepolitik.pdf [Zugriff am 31. August für Sozialreform 63 (2): 301-332. 2020]. Deutscher Bundestag (2016): Siebter Be- richt zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Auf- bau und Sicherung zukunftsfähiger Gemein- schaften. Bundestags-Drucksache 18/10210 vom 02.11.2016. Deutscher Evangelischer Verband für Al- tenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP) (2018): Kommunale Strukturplanung Alter und Pflege. https://www.devap.de/fileadmin/ Mediathek/02_Unsere_Positionen/pdf/ DEVAP_Position_kommunale_Strukturpla nung_Alter_und_Pflege.pdf [Zugriff am 31. August 2020]. Klie, Thomas (2020): Pflege und Sorge – Gleichwertige Lebensbedingungen, Pflegever- sicherung und die neue Bedeutung von Kom- munen. Sozialer Fortschritt 69 (4): 265-277. Pitschas, Rainer und Günter Thiele (2018): Re-Kommunalisierung der Pflege durch so- zialräumliches Infrastruktur-Management. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge 98 (2): 86-88. 19
VdK-Forum München 5. März 2020 Dr. Cornelia Heintze Stadtkämmerin a. D., Politologin Leipzig Der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem – Welche Impulse liefert der Vergleich? Während die Aufwertung pflegerischer Auch im skandinavischen Raum erfolgte Berufe in Deutschland nur sehr schlep- die Aufwertung der Pflege keineswegs im pend (Entlohnung, Personalbemessung) bis Selbstlauf. Es bedurfte zahlreicher politi- gar nicht (grundständige Akademisierung) scher Kämpfe und Streiks, um die Wertig- vorankommt,1 startete der Prozess im keit der pflegerischen Profession sowie die skandinavischen Raum bereits vor 40 Jah- ren. Bei der Anhebung der Ausbildung auf Hochschulniveau war Schweden führend. Ohne eine Unterteilung in Kranken- und 1 Das VdK-Forum fand zu einem Zeitpunkt statt, als Altenpflege vorzunehmen, wurde die aka- das Ende 2019 in der chinesischen Provinz Hubei ausgebrochene neuartige Coronavirus SAR-CoV-2 demische Pflegeausbildung bereits 1977 bereits dabei war, sich auch in Deutschland auszubrei- eingeführt. Die anderen vier nordisch-skan- ten. Mitte März 2020 reagierte der Staat mit massiven dinavischen Länder folgten in der Art eines Eingriffen in das öffentliche Leben bei gleichzeitigem Aufspannen eines Schutzschildes zur Abfederung der Geleitzuges. Wie auch bei der Hebam- wirtschaftlichen Folgen. Der Shutdown verfolgt das menausbildung, wo Deutschland erst jetzt Ziel, die Ausbreitung des Virus so zu verlangsamen, und damit als letztes europäisches Land dass das deutsche Gesundheitssystem der Belastung die grundständige Akademisierung auf den standhält. Die in besonderer Weise geforderten und belasteten Pflegekräfte werden nun als systemisch Weg gebracht hat, steht Gleiches auch für wichtige Berufsgruppe mit viel Applaus bedacht; Bo- die Pflege zu befürchten. Gegen eine sub- nuszahlungen sind in Vorbereitung. Sofern dies jedoch stanzielle Aufwertung stehen mächtige In- nur eine nette Geste bleibt und nicht einmündet in eine echte Aufwertung der Pflege mit Durchsetzung teressen; ärztliche Standesorganisationen auch besserer Entgeltstrukturen bereits während der und die auf Gewinnerzielung ausgerichte- Corona-Krise, wird sich der bereits vor der Krise be- ten Trägerfraktionen des Gesundheits- und stehende Pflegenotstand in und nach der Krise weiter verschärfen. Es gibt dann nämlich noch weniger Grün- Pflegesystems spielen hierbei mit den po- de, im Beruf zu bleiben respektive sich für einen pfle- litischen Entscheidungsträgern über Bande. gerischen Beruf zu entscheiden. 20
VdK-Forum München 5. März 2020 Arbeitsbedingungen der Pflegefach- und Das hohe berufliche Selbstbewusstsein und -assistenzkräfte auf ein Niveau zu bringen, der hohe Organisationsgrad fiel in besonde- das ein selbstständiges Agieren als eine der rer Weise auf. Frank Ahrend schreibt: „Am zentralen Säulen der Gesundheitsversor- meisten beeindruckt hat mich die Arbeit auf gung ermöglicht. Davon, dass dies nicht nur Augenhöhe zwischen Pflegekraft und Arzt, das der Identifikation mit dem Beruf dient, son- Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis dern für Patienten vielfältig Nutzen stiftet, der Pflegeprofis sowie der hohe Organisations- können sich Delegationen aus Deutschland grad der Berufsgruppe.“ Ähnlich Jessica Senf: immer wieder ein Bild machen. „Insbesondere die innere Haltung der Pfle- So 2018 etwa die Teilnehmer/-innen einer gekräfte in Dänemark und Schweden ist mir von der AOK organisierten Studienreise. positiv aufgefallen. Pflegeprofis dort sind stolz Die in Schweden und Dänemark gemach- auf ihre Arbeit und wissen, welche wichtige ten Erfahrungen wurden in einem Bericht Rolle sie einnehmen. Für sie ist es eine Selbst- für die September-Ausgabe 2018 der verständlichkeit, Patienten ganzheitlich zu be- Zeitschrift „Gesundheit und Gesellschaft“ trachten und sie entsprechend zu behandeln.“ (G+G) festgehalten (T. Hommel 2018). Der Der Reisegruppe blieb nicht verborgen, Bericht verdeutlicht, wie die Pflege im Nor- dass der Norden mit ähnlichen Versor- den auf Augenhöhe mit der Medizin agiert. gungsproblemen kämpft wie Deutschland. „So erledigen Pflegeprofis im Norden Europas „Interessant fand ich vor allem, dass in den Aufgaben, die in Deutschland in der Regel Ärz- skandinavischen Ländern letztlich dieselben ten vorbehalten sind: Sie besuchen kranke, äl- Versorgungsprobleme wie bei uns bestehen: tere Menschen zu Hause, lotsen die Patienten Multimorbidität, Chronizität und steigender an Haus- und Fachärzte oder an Kliniken und Pflegebedarf. Die Pflegeprofession ist bei der Gesundheitszentren weiter, beraten und schu- Lösung dieser Probleme aber deutlich verant- len chronisch Kranke und verordnen mitunter wortungsvoller und eigenständiger eingebun- selbstständig Medikamente.“ Daraus resul- den als bei uns“, schreibt dazu Martina Sitte. tieren innovative Versorgungskonzepte. Über den Besuch in einem dänischen Ge- Die Bezugnahme auf die AOK-Studienrei- sundheitszentrum für chronisch Kranke se habe ich gewählt, um Sie einzustimmen heißt es: „Geleitet werden die Einrichtungen, auf meine nachfolgenden Ausführungen. die an Freizeitclubs (…) erinnern, von speziali- Ich gliedere meinen Vortrag in zwei große sierten Pflegerinnen und Pflegern. Nach Ärzten Blöcke. Im ersten Block will ich darlegen, sucht man hier vergebens. In Einzelgesprächen dass der demografische Wandel gleiche und Gruppensitzungen beraten die Pflegepro- Herausforderungen bedingt, denen trotz fis Patienten, die an Diabetes, Übergewicht, annähernd gleicher Qualitätsversprechen Atemwegserkrankungen (COPD) oder ande- jedoch unterschiedlich begegnet wird. Wo- ren chronischen Erkrankungen laborieren. (…) rin die Unterschiede gründen und worin sie In einem Aufnahmegespräch, das etwa ein- sich hauptsächlich äußern, stelle ich – un- einhalb Stunden dauert, wird die persönliche terlegt mit einigen empirischen Daten – im Krankengeschichte besprochen.“ Auf der On- Überblick dar. Der zweite Block vertieft das lineseite von G+G finden sich kurze State- Thema „Integration“ mit Blick nicht nur auf ments der Studienreiseteilnehmer/-innen. „integrierte Versorgungswege“, sondern 21
VdK-Forum München 5. März 2020 auch auf die Art der Finanzierung. Finanzie- Skandinavien von durchschnittlich 4,1 Pro- rung und Leistungserbringung erfolgen in zent (1995) nur auf 4,9 Prozent (2019) –, Skandinavien weitgehend aus einer Hand. gleichwohl kam es auch hier absolut gese- Dies begünstigt die Schaffung integrierter hen zu einer deutlichen Zunahme der Zahl Versorgungspfade von der Prävention und der ab 80-Jährigen von unter einer Million Gewährung kleiner Unterstützungsleistun- (1995) auf 1,34 Millionen im Jahr 2019.2 gen über größere Pakete der häuslichen Zum wachsenden Bedarf an Pflege und All- Pflege bis zur institutionellen Versorgung, tagsunterstützung gesellen sich Veränderun- die mit Tageszentren startet und bis zur gen in der Struktur der Erkrankungen. Die Rundumversorgung in Heimen, Pflegewoh- Bedeutung chronischer Krankheiten wächst, nungen oder auch Demenzdörfern reicht. wobei immer mehr Menschen an mehre- Was durch die deutsche Brille höchst pa- ren chronischen Krankheiten gleichzeitig lei- ternalistisch anmutet, ist aus skandinavischer den, was wiederum das Risiko für schwere Sicht Hilfe zur Selbsthilfe. Mit wie wenig Krankheitsverläufe im Falle von Infektionen bürokratischen Kosten der skandinavische erhöht. Ein besonderes Problem stellen ko- Weg verbunden ist, zeigt die differenzierte gnitive Störungen wie Demenz dar, da hier Betrachtung der Gesundheitsausgaben. die Prävalenz mit dem Alter stark ansteigt. Nach den Angaben bei Alzheimer Europe Gleiche Herausforderungen, konträ- sind Einwohner ab 80 Jahren zu mehr als re Systeme – ein Überblick 20 Prozent betroffen, was Pflegeheime in Alternde Gesellschaften bedingen dyna- dem Maße, wie sich hier hochaltrige Men- misch wachsende Care-Bedarfe – Gren- schen mit starkem Pflegebedarf konzentrie- zen des familienbasierten deutschen Al- ren, mehr oder weniger zu Demenzheimen tenpflegesystems macht; nach Angaben im AOK-Pflegereport 2017 leiden sieben von zehn Heimbewoh- Alternde Gesellschaften bedingen dyna- nern unter Demenz (vgl. Jacobs, K. et al. misch wachsende Care-Bedarfe. Dies gilt 2017). gleichermaßen für Deutschland wie Skan- dinavien. In Deutschland stieg die Zahl der Die Zunahme des Care-Bedarfs bei gleich- über 80-Jährigen von 3,3 Millionen (1995) zeitiger Veränderung der Struktur unterstüt- auf 5,4 Millionen (2019) – ein Plus von 2,1 zungsbedürftiger Menschen trifft auf Ände- Millionen respektive 62 Prozent. In den fünf rungen bei den Lebensformen wie etwa die nordisch-skandinavischen Ländern bewegte Zunahme von Einpersonenhaushalten oder sich die prozentuale Zunahme zwischen der Anstieg kinderloser Paare.3 rund 30 Prozent in Norwegen und Schwe- den und 87 Prozent in Finnland.Von Finnland abgesehen durchlaufen die skandinavischen 2 Quelle: Eurostat, Datenbestand „Bevölkerung am 1. Januar nach Altersgruppe und Geschlecht [de-mo_pja- Länder aufgrund höherer Geburtenraten ngroup]“, Update vom 05.02.2020. zwar einen moderateren Prozess der Al- terung als Deutschland – der 80+-Bevöl- 3 Der Anteil der Einpersonenhaushalte stieg von einem guten Drittel im Jahr 1991 auf 42 Prozent im Jahr 2018 kerungsanteil stieg in Deutschland von 4,1 (Destatis 2019, Tab.2.6.1, S. 59). Bei Frauen über 75 Prozent (1995) auf 6,5 Prozent (2019), in Jahre sind es sogar 7 von 10 Frauen, die alleine leben. 22
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