Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international
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rundschreiben 01/20 medico international Es trifft alle... … aber nicht alle gleich. Berichte aus den Corona- Welten: Südafrika, Israel, Bangladesch u.a. Debatte: Sicherheit vor Recht? Reportagen vom Fluchtplanet: Marokko, Syrien, Griechenland
2 Titelbild: Normalerweise ist die Buslinie 7C von Soyapango nach San Salvador morgens um 7 Uhr rappelvoll. Zwei Tage nach Verhängung einer landesweiten Ausgangssperre in El Salvador fahren nur noch wenige Passagier*innen mit. Foto: Carlos Barrera/el faro Fotos der Autor*innen: Privat, medico, Holger Priedemuth Impressum Herausgeber: medico international Lindleystr. 15 D-60314 Frankfurt am Main Tel. (069) 944 38-0, Fax (069) 436002 E-Mail: info@medico.de Homepage: www.medico.de Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.), Thomas Gebauer, Moritz Krawinkel, Ramona Lenz, Christian Sälzer Korrektorat: Marek Arlt Gestaltung und Satz: Andrea Schuldt Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. ISSN 0949-0876
3 Auf einen Blick – medico-rundschreiben 01/20 4 Editorial 6 Am Scheideweg Kommentar: Gesundheitsdiktatur oder -demokratie? Corona: Zeit für Solidarität 12 Autoritäre Versuchung Gut, dass es in China begann? Ein Einspruch 15 Krise und Ausnahmezustand Über die Verteidigung des Rechts in Zeiten von Unsicherheit 18 Das Beispiel Ebola Globales Handeln ist wichtiger denn je 20 Sicherheit statt Demokratie Israel: Im Schatten der Pandemie droht eine Autokratie 24 Das Virus macht nicht alle gleich Räumliche Trennung und soziale Solidarität 26 Solidarität in Zeiten der Pandemie medico-Partner*innen weltweit im Einsatz 30 Auch das noch Ursachen der Ernährungskrise in Ostafrika 32 Projekte Projektionen Nepal, Afghanistan, El Salvador Flucht & Migration: Von den Rändern der Welt 38 Die EU liquidiert das Recht Fragen an Jean Ziegler zur Eskalation an der EU-Außengrenze 40 Wenn Frauen fliehen Ein Zufluchtsort in Marokko für Frauen aus Subsahara-Afrika 45 Worte reichen nicht Syrien: Idlib – ein Krieg gegen Zivilist*innen 48 Ausgelagert Nordsyrien/Rojava: Reportage über einen provisorischen Zustand 54 Die Geister, die sie riefen Griechenland: Gewalt an der Grenze, Hass auf die Schwächsten 57 Die tödlichen Grenzen der Solidarität Kommentar: Für die Rechte von Geflüchteten 60 medico aktiv Ausstellung Making Crisis Political, Online-Lesungen 62 Bestellen & Verbreiten 64 Spenden & Stiften
4 Die Reichen gefährden die Armen – nicht nur durch Corona Liebe Leserinnen und Leser, selten war die Produktion des medico-rundschreibens so von der Aktualität geprägt wie bei dieser Ausgabe. Eigentlich sollten Zeitschriften langfristige Themen im Blick haben, aber die dramatische Situation der Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen, insbesondere in Griechenland, hatte uns schon vor Corona dazu gezwungen, alle ursprünglichen Planungen über den Haufen zu werfen. Deshalb berichten wir im zweiten Teil des Heftes ausführlich über die Situation in Syrien, in Marokko und in Griechenland. Was in den Reportagen aus den Frauenhäusern in Rabat, den Übergangslagern in Rojava oder dem Frauenzentrum in Idlib aufscheint, ist die Tatsache, dass es unter fast allen katastrophalen Bedingungen die Möglichkeit gibt, sich zu entscheiden: Entweder für das bloße eigene Überleben oder für eine menschliche Haltung, die in konkreter solidarischer Praxis mit denen mündet, deren Menschenrecht verletzt wird. Eine solidarische Praxis also auch und sogar mit jenen, die wir nicht kennen und vielleicht nicht einmal verstehen. Das Drama zeigt sich insbesondere im Al-Hol-Lager in Rojava, das vom Kurdischen Roten Halbmond fast allein versorgt wird, und in dem unter anderem Frauen und Kinder der IS-Kämpfer untergebracht sind. Obwohl die Welt die lokalen Strukturen komplett im Stich lässt, tun die Helfer*innen unter schwierigsten Umständen ihr Bestes. Den ersten Teil des Heftes bestimmt die Corona-Pandemie. Für medico als globale Gesundheitsorganisation ist dies die Zeit, die gesammelten Erfahrungen zu sichten und mit dem weltweiten Gesundheitsnetzwerk, über das wir seit Jahren verfügen, in intensiven Austausch zu treten. Die
5 Texte hier im Rundschreiben sind nur ein Anfang: eine Lagebeschreibung in Ausschnitten. Wir werden die Zeit nutzen, aus der Erfahrung und dem gesammelten Denken und Wissen haltbare Vorschläge für eine solidarische globale Gesundheitspolitik zu entwickeln. Denn nur das kann eine angemessene Antwort auf diese Gesundheitskrise sein. Das Gemeingut Gesundheit, das an soziale und politische Determinanten des Menschenrechts gebunden ist, ist dabei der Horizont, der nun nicht mehr Katja Maurer ist utopisch erscheint. Dass wir im rundschreiben die Abwägung zwischen Chefredakteurin Gesundheit und Freiheit in mehreren Texten thematisieren, heißt nicht, des medico-rund- schreibens. dass wir die Gefahren verharmlosen. Auch wir befolgen die Maßnahmen der Kontakteinschränkungen und sprechen in Telefonkonferenzen miteinander statt in Sitzungszimmern. Und doch steht die Frage im Raum, welche Maßnahmen des Ausnahmezustands, der weltweit in unterschiedlicher Form herrscht, drohen fortzudauern. Das wäre ein dystopischer Ausgang. Provoziert wurde die Pandemie davon, dass die globalen Eliten das Virus in der Welt verbreitet haben. Das kommt einem Treppenwitz der Geschichte gleich, weil das Denken der globalen Gesundheitspolitik in Teilen noch immer in der kolonialen Denktradition des „Cordon Sanitaire“ steht: Nur eine komplette Segregation der Kolonialherr*innen gegenüber der einheimischen Bevölkerung kann die Gesundheit der Siedler*innen schützen. Nun aber gefährden die Reichen die Armen. So wurde in Chile die Abriegelung der Nobelviertel gefordert, weil nur dort Corona-Fälle bekannt waren. Und als die Oberschicht am Wochenende mit ihren SUVs in ihre Ferienhäuser auf dem Land fahren wollte, blockierten einige Dörfer den Zugang. In gewisser Weise entspricht Corona der Klimazerstörung und allgemein der ökologischen Krise: Auch für sie ist der globale Norden verantwortlich. Es steht zu hoffen, dass das in diesen „traumatischen Zeiten“ (Slavoj Žižek) auch in den privilegierten Gesellschaften verstanden wird und Veränderungen möglich macht. medico stellt mit dem rundschreiben, seinen Online-Medien, dem News- letter und neuen Formen der Online-Debatte mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine Plattform für nötige globale Diskussionen zur Verfügung. Dass dies die Zeit von globaler Solidarität sein muss, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Was unsere Partner*innen im Konkreten unternehmen, finden Sie auf den folgenden Seiten und in fortlaufender Berichterstattung im Internet. Bleiben Sie solidarisch und gesund! Ihre
7 Gesundheitsdiktatur oder -demokratie? Im Umgang mit SARS-CoV-2 wird auch über globale Zukunftsmodelle entschieden Von Christian Weis Seit der Cholera im 19. Jahrhundert weiß man, Überbrückungskrediten die Unternehmen zu wie wichtig die internationale Koordination für retten. Wäre es nicht konsequenter, so wie die Eindämmung von Pandemien ist. Wie ist die auch von der WHO gefordert, zum Schutz der globalisierte Welt von heute dafür gewappnet? Bevölkerung die bessere Ausstattung der Ge- Als Sonderorganisation der UN wäre es an der sundheitseinrichtungen zu organisieren? All Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Takt das fällt in eine Zeit, in der Millionen Menschen der globalen Koordinierung und das richtige weltweit für einen stärkeren Klimaschutz ein- Maß bei den staatlichen Interventionen in Zei- treten. Was viele von uns über alle Erdteile ten des Virus vorzugeben. Sie ist aber bei wei- hinweg zuvor vergebens gefordert haben, wird tem keine Organisation, die sich entsprechend durch das Virus fast über Nacht Wirklichkeit: der medizinischen Sachlage „neutral“ oder gar Die globale Ökonomie mit dem globalen Handel gemeinwohlorientiert verhält. Das liegt auch und der globalen Mobilität (für manche) – Trei- daran, dass 75 Prozent der WHO-Einnahmen ber bei der Verbreitung des Virus wie auch der freiwillige Zuwendungen sind, die sich vor al- Klimakrise – werden drastisch eingeschränkt. len Dingen aus zusätzlichen Mitteln westli- cher Industriestaaten speisen, aber auch aus den Mitteln der Bill & Melinda Gates Stiftung, Maßnahmen ohne Beispiel NGOs und der Privatwirtschaft. Diese Geber verfolgen zumeist ihre eigenen neoliberalen Im Zusammenhang mit der SARS-Epidemie Agenden, die auf die weitere Privatisierung der 2004 wurde deutliche Kritik an der Untätigkeit öffentlichen Gesundheit zielen. Chinas geübt. Heute ist das Gegenteil der Fall. Seit ihren ersten Mitteilungen im Januar 2020 Immer noch spielt das Ökonomische eine ent- hat die WHO die dortigen Maßnahmen als wir- scheidende Rolle bei den gängigen Analysen. kungsvoll und angemessen gelobt. Plötzlich Die Welt scheint in Gefahr zu sein, weil die gilt China nicht nur in Asien, sondern auch im Lufthansa einen Großteil der Flüge streicht Westen als vorbildlich bei der Eindämmung der und in China die Produktion ausfällt. Die glo- Epidemie. Von der Kritik vieler Chines*innen balisierten Lieferketten brechen ein und der an der Vorgehensweise ihrer Regierung ist hier Dax gleich mit dazu. Während die Überlastung wenig bekannt. Die Abschottung von 50 Milli- des über Jahre ausgezehrten öffentlichen Ge- onen Menschen in der Metropolregion Wuhan sundheitssystems droht, holt die Politik also hat man in Europa (mitunter hinter vorgehal- die „Bazooka“ raus, um mit unbegrenzten tener Hand) auch mit etwas Bewunderung be-
8 trachtet. Eine so drakonische Einschränkung China ist, wie es sich immer schon gesehen von Mobilität, aber auch von Informationsfrei- hat, Vorreiter, jetzt eben auch in der globalen heit ist in der Geschichte der Epidemien und Gesundheit. Während die Bundesregierung Pandemien ohnegleichen. Es ist kein Zufall, seit Jahren an einer Strategie zur Globalen dass Norditalien der europäische Brückenkopf Gesundheit arbeitet, hat China im Zeichen der des Corona-Virus wurde. Die Lombardei und Krise neue Standards gesetzt. Die Vorausset- die Toskana sind seit den 1990er Jahren die zungen dafür sind bereits vor der Epidemie verlängerte Werkbank der chinesischen Tex- erfüllt worden: das lückenlose Aufstellen von til- und Lederindustrie, wo Chinesen zu Hun- Hochleistungskameras mit digitaler Gesichts- gerlöhnen schuften und chinesische Unter- und Bewegungserkennung zur totalen Mobi- nehmen Superprofits beim Verkauf von „Made in Italy“ Produkten einstreichen. Nirgends in Europa ist China mit seinen teils menschen- Die Zensur ist verachtenden Arbeitsbedingungen näher. In Europa wurde die Region zwischen Florenz mitverantwortlich, dass und Mailand Vorreiter für die Errichtung von sich der Virus in der Zwangsquarantäne und Sperrzonen. Vielleicht bekannten Schnelligkeit wird das chinesische Modell auch in Europa erst verbreiten konnte. angewendet. Haben wir keine Alternative zur Einschränkung von Mobilität und letztendlich auch Demokratie in Zeiten von SARS-CoV-2? litätsüberwachung, Zensur aller Medien und In einer halböffentlichen Veranstaltung in Genf des Internets, Sozialkreditsystem. Die Kom- Ende Januar 2020, im Rahmen eines Treffens munistische Partei Chinas (KPCh) hat dank flä- des globalen medico-Netzwerks Geneva Glo- chendeckender lokaler Parteikomitees einen bal Health Hub, äußerte sich der Chef-Gesund- tiefen Einblick in die Geschicke ihrer Staats- heitsnotfallplaner der WHO zur vorgetragenen bürger*innen. Jetzt vermag sie sogar ihr Sozi- Kritik an den chinesischen Maßnahmen: Kritik alverhalten mittels einer App, die credit points an China und dem angeblich autoritären Cha- für regierungskonformes Verhalten vergibt, zu rakter des Vorgehens bei der Abschottung von steuern. Ein genialer Gedanke, wenn es ange- 50 Millionen Menschen findet er nicht ange- sichts des Virus gilt, „unser Verhalten zu über- messen. „Man kann westliche Moralvorstel- denken“, so der italienische Ministerpräsident lungen nicht auf eine 5.000 Jahre alte Kultur Giuseppe Conte. übertragen.“ Mit dieser Argumentation ließe sich auch die „Umerziehung“ Hunderttausen- Wenn es ein Land auf der Welt schafft, die der Uigur*innen rechtfertigen, die systema- Träume der globalen Gesundheitsingenieu- tisch in Internierungslagern im Nordwesten re zu befeuern, dann ist es die Volksrepublik. des Landes gefangen gehalten werden. Das Ausgerechnet jenes Modell des autoritären Argument zeigt, wie anfällig multilaterale Überwachungsstaates, zentriert auf einen der Fachorganisationen sind, wenn es um Abwä- mächtigsten Männer der Welt, Xi Jinping, der gungen menschenrechtlicher Sachverhalte als Präsident heute schon mehr Macht hat als geht. Das Kulturargument schlägt hier das Mao Zedong. Xi Jinping hat sein politisches Menschenrechtsargument. Und über allem Schicksal eng mit der Bekämpfung des Co- stehen wirtschaftliche Erwägungen. rona-Virus verbunden. Er setzt alles auf eine
9 Karte, gewinnt er, wird uns das alle angehen. rechten und Demokratie gehen, werden totali- Schafft er die Eindämmung des Virus in Chi- tär-populistische Tendenzen, die die gesund- na, wird das vieles in der Welt verändern: Der heitlichen Gefahren nach außen und in das „Kapitalismus mit chinesischem Charakter“ vermeintlich Fremde verschieben, weiteren wird einen weiteren Siegeszug erleben und Auftrieb erleben. Natürlich ist diese „schlei- der unaufhaltsame Aufstieg des Reiches der chende Naturkatastrophe“, wie der Virologe Mitte wird beschleunigt. Das sind keine guten Christian Drosten die Pandemie nennt, ein Nachrichten für alle, die Demokratie und Men- enormer Stresstest für jede Gesellschaft. Kei- schenrechte als unveräußerlich ansehen. ne Panik und verantwortungsvolles Handeln sind die Maximen für die aktuelle Lage. Zu- gleich werden auf Dauer große Fragen neu zu Welche Lehren werden gezogen? diskutieren und als Lehre aus der Pandemie zu ziehen sein. Die Eindämmung und Kontrolle von Informa- tionen ist aus Sicht der Machthaber nach- Um schon jetzt einige anzudeuten: Was ist vollziehbar. Aus medizinischer Sicht ist sie es eigentlich systemrelevant? Nicht nur die Un- nicht. Die Entwicklung vor Ort von Basisgrup- ternehmen, die sofort Liquiditätsspritzen be- pen und einzelnen Akteur*innen kritisch und kommen, sondern auch die vielgescholtenen transparent zu begleiten und damit die Akti- Gesundheitsämter, die in den letzten Jahr- vitäten der Parteifunktionäre zu hinterfragen, zehnten systematisch in die Bedeutungslo- war in China das Gebot der Stunde, als das Vi- sigkeit gespart wurden. Welche öffentlichen rus sich verbreitete. Die Zensur ist mitverant- Güter gilt es zu schützen und wieder auszu- wortlich, dass sich der Virus in der bekannten bauen? Italien zeigt uns die möglichen Folgen, Schnelligkeit erst verbreiten konnte. Ihr erstes wenn öffentliche Gesundheitsdienste massiv Opfer war Dr. Li Wenliang, der frühzeitig auf überfordert sind. Welche Bedeutung haben die Verbreitung des neuen Virus aufmerksam Kunst und Kultur als Teil einer demokratischen machte. Seine Social-Media-Beiträge aber Gesellschaft, die jetzt als erste vor dem wirt- wurden von den Behörden systematisch ge- schaftlichen Aus stehen könnten? An der De- löscht. Nach seinem Tod durch den Corona-Vi- batte dieser Fragen kann man sich auch von rus belegt die hunderttausendfache Anteil- zu Hause aus beteiligen. nahme, dass viele Chines*innen empört sind über die staatliche Propaganda, ein schlecht Christian Weis ist seit Januar 2019 funktionierendes Gesundheitssystem und den Geschäftsführer von medico inter- Aufstieg einer politischen Klasse, die die Räder national. Zuvor leitete er das Res- sort Globalisierungspolitik beim der zaghaften Freiheiten des Individuums zu- Vorstand der IG Metall und beschäf- gunsten der Machterhaltung und -ausweitung tigte sich dort schwerpunktmäßig zurück dreht. mit China. Wir werden dieses Virus nur mit demokrati- schen Mitteln besiegen können, denn wir sind auf die Vernunft und Mitarbeit der Menschen bei der Eindämmung von SARS-CoV-2 ange- wiesen. Wenn wir es mit der Methode Chinas versuchen, wird es auf Kosten von Menschen-
Zeit für Solida- rität Foto: Remo Casili/REUTERS Nachbarschaftliche Unterstützung während der Ausgangssperre in Italien: Die Personal-Trainerin Antonietta Orsini macht mit ihren Nachbar*innen in Rom Sport.
Während sich der globale Norden durch Händewaschen und Ausgangssper- ren gegen Corona zu helfen weiß, sind diese Maßnahmen im globalen Süden in den Flüchtlingslagern und Elendsvierteln nicht durchführbar. „Aus Angst vor dem Tod begehen wir Selbstmord“ – soll eine jetzt ar- beitslose kenianische Taxifahrerin gesagt haben. Ohne umfangreiche So- zialprogramme und Zugang zu Testmög- lichkeiten für die Verdammten dieser Erde wird die Pandemie an ihre pri- viligierten Ausgangsorte zurückkeh- ren. Zwischenberichte aus dem globa- len Süden.
12 Autoritäre Versuchung Gut, dass Corona in China ausbrach, weil es dort effektiv eingedämmt werden konnte? Ein Einspruch Von Marc Heywood Soweit wir wissen, ist COVID-19 noch nicht in mehrere Virusausbrüche (Vogelgrippe H5N1 Südafrika angekommen. Während wir also die und SARS) ihren Anfang genommen haben, in Entwicklung der Reaktion in China und ande- direktem Zusammenhang mit der massiven ren Ländern beobachten, können wir uns darü- Verstädterung, der Umweltzerstörung und den ber verständigen, wie wir auf diese und andere schwachen, oft kaum vorhandenen Systemen übertragbare Krankheiten so reagieren kön- der öffentlichen Gesundheit, des Umwelt- nen, dass Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit, schutzes oder der Lebensmittelregulierung. öffentliche Gesundheit und Menschenrechte gewährleistet bleiben bzw. werden. Fangen wir Ebenso hat die rasche Ausbreitung der jeweili- mit den Menschenrechten an. Denn ihre Ver- gen Erreger damit zu tun, dass China ein autori- letzung zieht sich wie ein roter Faden durch die tärer Einparteienstaat ist, in dem es keine Ätiologie (Ursachenforschung von Krankhei- Rede-, Medien- und Protestfreiheit gibt. Wie wir ten), die Übertragungsdeterminanten, die An- inzwischen wissen, wurde der Arzt Dr. Li Wenli- fälligkeit, die Prävention und die Behandlungs- ang, der als erster versuchte öffentlich Alarm strategien von neuen Krankheiten. zu schlagen, von den Behörden bestraft. Sein Tod, ausgelöst durch das Virus am 7. Februar Paradoxerweise haben die Technologiesprün- 2020 soll enorme Anteilnahme, aber auch Wut ge der letzten 20 Jahre in Verbindung mit der ausgelöst haben. Seitdem haben weitere Medi- fatalen Deregulierung und der Unterversor- enberichte dokumentiert, dass Millionen von gung der öffentlichen Gesundheitssysteme ei- Menschen in Städten wie Wuhan unter staatli- nen fruchtbaren Boden für das Entstehen und chem Zwang gestanden haben – in einem Aus- die rasche Verbreitung tödlicher neuer Erreger maß, das kaum zu verbergen ist. Donald Trump geschaffen: Die Massenverstädterung, der und Wladimir Putin müssen das dystopische Luftverkehr, die globale Erderwärmung und die Spektakel in China mit Neid erfüllen: Könnten ökologische Schwächung stellen eine giftige sie doch auch nur so leicht künstliche Intelli- Brühe dar. Viele Staaten versäumen, die Rech- genz einsetzen, ganze Städte lahmlegen, Droh- te auf das zu schützen, was zum Beispiel Arti- nen zur Überwachung der Bevölkerung aussen- kel 24 unserer Verfassung als „eine Umwelt, den. Die Dystopie ist eingetroffen. die ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden nicht schadet“ bezeichnet. So steht die Tatsa- Die Regierungen in aller Welt scheinen sämtli- che, dass in China vor COVID-19 in jüngster Zeit che Lehren aus der jüngsten Pandemie der
13 Welt zu vergessen: HIV. Ein Virus, das – laut Während Südafrika beim Schutz der Men- UNAids – immer noch 770.000 Todesfälle pro schenrechte von Menschen, die mit HIV leben, Jahr verursacht, derzeit über 37 Millionen Men- weltweit führend wurde, sind wir mit unseren schen betrifft (die Zahl steigt jährlich um 1,5 Reaktionen auf die XDR- und MDR-Tuberkulose Millionen) und weiterhin tiefgreifende Auswir- (TB) gescheitert. Die Regierung setzte darauf, kungen auf die öffentlichen Gesundheitssyste- Menschen in „Isolationskrankenhäuser“ ein- me und die Wirtschaft hat. Leider scheint zusperren und dabei eine Vielzahl von Rechten selbst die WHO diese Lehren vergessen zu ha- zu verletzen. Wie vorhergesagt, trug dies nicht ben. Ihr „Situation Report 25“ vom 14. Februar 2020 nennt sechs „strategische Ziele der WHO für die Reaktion“ auf COVID-19. Der Schutz der Menschenrechte gehört nicht dazu. Hätten die COVID-19 verlangt von uns, Machthabenden doch nur ihre Hausaufgaben dass wir unsere Seele gemacht und ihre Lektionen gelernt. ebenso wie unseren Körper untersuchen. Lehren aus HIV vergessen Erinnern wir deshalb daran, was Aktivist*innen dazu bei, die Übertragung von MDR/XDR-Tu- den Regierungen und der WHO in Bezug auf HIV berkulose zu reduzieren. Angesichts einer Pa- beigebracht haben: Die Achtung der Menschen- nik, die COVID-19 auslösen könnte, sollten wir rechte ist nicht nur zum Schutz von Infizierten diese Fehler nicht wiederholen. Was wir jetzt notwendig. Sie dient auch der Aufrechterhal- brauchen, sind genaue Informationen über Ri- tung eines gesellschaftlichen Klimas, das ge- siko, Übertragung und Behandlung des Erre- fährdete Menschen dazu ermutigt, sich um Dia- gers. Gleichzeitig müssen wir ungenaue oder gnose und Pflege zu bemühen, anstatt Gesund- falsche Informationen und Stigmatisierungen, heitseinrichtungen zu meiden, weil sie Angst die aus Angst verbreitet werden, bekämpfen. vor Stigmatisierung und Bestrafung haben. COVID-19 verlangt von uns, dass wir unsere Infolge der Empörung über die Menschen- Seele ebenso wie unseren Körper untersu- rechtsverletzungen an Menschen, die mit HIV chen. Irgendwann einmal wird man sich hof- leben, und dank eines breiten Aktivismus hat fentlich darüber wundern, wie wenig Empö- UNAids Pionierarbeit für einen menschen- rung die drastischen Quarantänemaßnahmen, rechtlichen Ansatz bei der HIV-Prävention und die Durchsuchungen, Einschüchterungen und -Behandlung geleistet, der viele Millionen Massenüberwachungen in China hervorgeru- Menschenleben gerettet hat. Heute könnte die fen haben und wie wenig Solidarität es mit den HIV-Übertragung theoretisch eliminiert werden Millionen von betroffenen Menschen gegeben und niemand müsste an einer Aids-Erkran- hat. Das scheint auf eine neue psychische kung sterben. Der einzige Grund dafür, dass Krankheit hinzuweisen: der weltweite Verlust dies nicht geschieht, ist ein Mangel an politi- von Mensch-zu-Mensch-Empathie und Solida- schem Willen und sinkende Finanzmittel – was rität. Paradoxerweise scheint der leichte Zu- angesichts der Ressourcen, die plötzlich für gang zu und die Fülle an Informationen über COVID-19 freigegeben werden, umso bemer- Frontlinien grober Menschenrechtsverletzun- kenswerter ist. gen – sei es in Idlib oder in Wuhan – die Men-
14 schen daran gewöhnt zu haben, dass Men- rück, auf die anhaltende Periode der Sparmaß- schenrechte grob verletzt werden. Das Grauen nahmen, in der die Gesundheitssysteme grund- hat sich normalisiert. legend ausgehöhlt wurden. Insofern ist die ak- tuelle Krise ein Argument für die Stärkung der primären Gesundheitssysteme und dafür, dass Virus in der First Class die Verwirklichung sozioökonomischer Rechte sichergestellt werden muss: Rechte wie das In dieser Hinsicht ist COVID-19 eine Anklage ge- Recht eines jeden Menschen „auf den höchs- gen den gegenwärtigen Zustand der Gesund- ten erreichbaren Standard körperlicher und heit, der Menschenrechte und der Ungleich- geistiger Gesundheit“. Wie auch immer es aus- heit gleichermaßen. Zwar könnte es China gehen mag: COVID-19 sollte ein Weckruf für die diesmal noch gelingen, die Schwäche seiner globale Menschenrechtsgemeinschaft sein. Gesundheitssysteme durch Zwangsmaßnah- men „erfolgreich“ auszugleichen. Aber an- Übersetzung: Philipp Wehner derswo in der Welt wird der Preis dafür zu zah- len sein, dass die öffentlichen Gesundheits- Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. Februar systeme derart ausgehöhlt worden sind, dass 2020 in einer längeren Fassung im südafrikani- die Erklärung von Alma-Ata zur primären Ge- schen Daily Maverick. Diese findet sich auf sundheitsversorgung ignoriert wird, dass es Deutsch im Dossier unter www.medico.de/ vielerorts an Gesundheitspersonal mangelt. corona-dossier Die Reaktion auf COVID-19 zeigt, dass in der Mark Heywood ist Menschen- späten neoliberalen Ordnung alle Krankheiten rechtsaktivist und leitete viele Jahre zwar gleich, einige Krankheiten jedoch glei- die südafrikanische gesundheitspo- litische medico-Partnerorganisation cher sind. Dies beweist einmal mehr, dass es section27. Gemeinsam mit Anso nicht eine Krankheitsbedrohung an sich ist, Thom erstellt er im Rahmen des die Ressourcen und medizinische Mobilisie- elektronischen Medienprojekts Daily Maverick ein fortlaufendes Schwer- rung mobilisiert. Es geschieht bei einer Krank- punktdossier zu Covid-19. heit, die die globale Wirtschaft und die Einnah- mequellen der Elite bedroht. Viren in Flug- zeugen oder auf Kreuzfahrtschiffen, die die Schlagadern des Welthandels überqueren und aus der ersten Klasse nicht mehr herauszuhal- ten sind, sind etwas anderes als ein Virus, das durch marginalisierte und verletzliche Bevöl- kerungsgruppen oder die Slums der Armen läuft. Um dieses Virus einzudämmen, geben Regierungen schnell Milliarden für die Abriege- lung von Städten, die Einschränkung des Luft- verkehrs und der Reisemöglichkeiten sowie die Quarantäne von Bürger*innen aus. COVID-19 und andere Krankheitsbedrohungen gehen auf eine Ökonomie der Ungleichheit zu-
15 Krise und Ausnahme- zustand Über die Verteidigung des Rechts in Zeiten von Unsicherheit Von Thomas Gebauer In seinem lateinischen Ursprung steht das Wort eigene Lebensweise zu überdenken und dabei Krise (lat. crisis) für ein Geschehen, das eine von einem die Umwelt schädigenden Konsum entscheidende Wendung bringt. Ob das auch für vieler unnützer Dinge zu entrümpeln? die gegenwärtige Corona-Krise gilt, bleibt abzu- warten. Unklar ist zudem, in welche Richtung Europa in Quarantäne – das provoziert Verän- sich die Dinge wenden könnten. Die Chance ei- derungen, auch auf politischer Ebene. Der nes emanzipatorischen Wandels besteht eben- Markt, das wird gerade klar, regelt nichts. so wie dessen Gegenteil, die Verfestigung be- Selbst hartgesottene Neoliberale müssen heu- stehender Macht- und Herrschaftsstrukturen. te einsehen, wie fatal sich die sozialen Ein- Gerade in Krisenzeiten gilt es darauf zu achten, schnitte auf das Bildungs- und Gesundheits- dass ein temporärer Ausnahmezustand nicht wesen ausgewirkt haben. Mit einem Kraftakt zur späteren Normalität wird. könnte es nun vielleicht gelingen, die Einrich- tungen der Gesundheitsversorgung rasch zu Die Lage, die die weltweite Ausbreitung des Co- rehabilitieren. Um die egoistischen Grundhal- rona-Virus heraufbeschworen hat, ist höchst tungen, die mit dem politisch gewollten Kampf ambivalent. Autoritäre Einschränkungen von aller gegen alle geschürt wurden, wieder los- Freiheitsrechten gehen einher mit bemerkens- zuwerden, wird aber mehr Zeit nötig sein. Mit werten Öffnungen. Zu Recht ist von einer „gro- einem bloßen Appell zur Solidarität wird es ßen Unterbrechung“ die Rede. Mit der nun ein- nicht gehen. getretenen allgemeinen Entschleunigung des gesellschaftlichen Lebens ist auch die Mög- Heikel wird es, wenn der Blick auf die Maßnah- lichkeit verbunden, all das neu zu bestimmen, men fällt, die nun weltweit zur Lösung der Krise was für ein menschliches Zusammenleben ergriffen werden. Bedarf es tatsächlich der Ver- wichtig ist. Braucht es wirklich Patente an es- ordnung eines disziplinierenden Notstandes bis sentiellen Arzneimitteln, die letztlich dafür hin zur lückenlosen Überwachung von Perso- sorgen, dass viele Menschen nicht versorgt nen? Oder braucht es nicht eher eine Aufklä- werden können? Liegt nicht in der Sorge fürei- rungsoffensive, die partizipatives Handeln för- nander eine Form von Arbeit, die viel höher zu dert und den solidarischen Beistand für alle bewerten ist als das Streben nach privatem organisiert, die von der Krise betroffen sind? Für Profit? Und was spricht eigentlich dagegen, die die Erkrankten ebenso wie für die Millionen von
16 Menschen, die nun in ihrer wirtschaftlichen Manche erinnern sich: Als in Deutschland 2006 Existenz bedroht sind? Autoritäre Reaktionen die Vogelgrippe wütete, rückte auch die Bun- wie Grenzschließungen, die sich auf eine öf- deswehr dem Virus mit schwerem Gerät entge- fentlichkeitswirksame Zurschaustellung von gen. Die skurrilen Bilder, die damals die Runde staatlicher Macht stützen, können in Krisenzei- machten, erinnerten an längst überwunden ge- ten höchst attraktiv erscheinen. Doch in aller glaubte Formen einer kolonialen Seuchenmedi- Regel ist es das – viel weniger auffällige – sozi- zin, die mit einem „cordon sanitaire“ die Wohn- ale Engagement von Sozialverbänden, Wohl- gebiete der Kolonialherren vor den Siedlungen fahrtsorganisationen und spontan entstehen- der lokalen Bevölkerung zu schützen versuch- den Initiativen, das für die Senkung von te. Sicherheit ist zweischneidig. Wer von Sicher- Infektionsraten sorgt. Das gilt auch in Zeiten heit spricht, hat zuallererst die eigene Sicher- von Social Distancing. Viele, die in den zurück- heit im Blick – eine Sicherheit, die an bestimmte liegenden Jahren den zu uns Geflohenen Bei- Territorien oder Privilegien gebunden ist. Für das Prinzip der Universalität, auf das sich die Menschenrechte gründen, gibt es in sicher- heitspolitischen Überlegungen keinen Platz. Wer sich nicht der Logik des Drängen Menschenrechte auf den Einschluss Ausnahmezustandes ergeben aller, kommt Sicherheit mit Abschottung aus. will, muss für die Idee Mit Sondermaschinen werden in diesen Tagen einer offenen Gemeinschaft 100.000 Tourist*innen aus fernen Urlaubsge- freier Menschen streiten. bieten zurückgeflogen, aber ein paar Tausend schutzsuchenden Flüchtlingen wird die Auf- nahme verweigert. stand geleistet haben, tun es heute für ältere Die Selektivität des Sicherheitsdenkens, die Menschen, die nicht mehr das Haus verlassen sich hier so unmenschlich zeigt, steht nachhal- sollen. Die Einschränkung persönlicher Freihei- tigen Lösungen entgegen. Das heißt nicht, dass ten, die in Krisenzeiten mitunter unausweich- zur Bekämpfung von Seuchen nicht auch Qua- lich erscheint, darf niemals das solidarische rantänemaßnahmen und andere Einschränkun- Handeln beschränken. gen der Bewegungsfreiheit vernünftig sein kön- nen. Aber es ist nur eine pragmatische Vernunft, Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustan- die solche sicherheitspolitischen Antworten des ergeben will, muss für die Idee einer offe- leitet. Mit ihnen lässt sich vielleicht das Ma- nen Gemeinschaft freier Menschen streiten. nagement von Krisen optimieren, nicht aber die Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen Frage klären, wie solchen Entwicklungen künf- Verständnisses von Recht und Sicherheit. Ge- tig präventiv begegnet werden kann. Es heißt, rade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um für analytische Betrachtungen gebe es in aku- Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnö- ten Krisen keine Zeit. Ja, zur Bekämpfung von ten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für Krisen ist Handeln gefordert – aber es muss be- Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter. dacht sein. Krisen können nicht mit den Prinzi- Bei aller Verführung, die im politischen Streben pien bekämpft werden, die sie begründet ha- nach Sicherheit liegt, bleibt unklar, was unter ben. Mit Krediten ist vielen, die nun finanzielle Sicherheit verstanden wird, wer Sicherheit de- Ausfälle überbrücken müssen, nicht geholfen. finiert und für wen sie geschaffen werden soll. So entstehen nur neue Abhängigkeiten und
17 werden die Schrecken nur finanzialisiert. Vieles überzeugt wenig. Krisen verlangen danach, spricht dafür, das gesamte Wirtschaftsgefüge Fehler einzugestehen, Lehren zu ziehen und neu zu denken. Nur wer die Ursachen von Fehl- Konzepte vorzulegen, wie es anders werden entwicklungen kennt, kann auch deren Folgen soll. unter Kontrolle bringen. Wenn sich Solidarität auf den Appell an eine ver- Aber da ist noch ein weiteres Problem, das mit meintliche Volksgemeinschaft reduziert, die der Idee von Sicherheit verbunden ist. Das, was nun geschlossen den einen Gegner zu bekämp- als Bedrohung empfunden wird, ist immer sub- fen habe, können gesellschaftliche Widersprü- jektiv gefärbt, emotional hoch aufgeladen und che nicht mehr demokratisch verhandelt wer- vage. Eben diese Unbestimmtheit macht Kri- den und wird schließlich auch die Rechtsstaat- sensituationen anfällig für Instrumentalisierun- lichkeit Zug um Zug ausgehöhlt. Wo die Sicher- heit bedroht sei, müssten die Rechte der Men- schen zurückstehen, verlangen die Regieren- den mitunter. Rechte sind aber nicht etwas, das Krisen verlangen danach, man nach Belieben aus- und anschalten kann. Fehler einzugestehen, Lehren Die Gefahr temporär außer Kraft gesetzter zu ziehen und Konzepte Rechte ist, dass sie dauerhaft verloren gehen. vorzulegen, wie es anders Gerade deshalb muss in Zeiten, die nach Si- werden soll. cherheit rufen, das Recht verteidigt werden. Al- lein das Beharren auf das Recht kann schließ- lich verhindern, dass der Ausnahmezustand zur Normalität wird. gen und Verschwörungsphantasien. Politi- ker*innen, die ihre Gestaltungskompetenz den Thomas Gebauer ist Sprecher der Vorgaben der ökonomischen Macht unterge- stiftung medico international. In ordnet haben, können sich im „Zupacken“ bei den vierzig Jahren, die er nun für medico tätig ist, hat er die globale der Abwehr deren negativer Folgen dennoch Gesundheitskrise, die heute so dra- profilieren. Sie brauchen sozusagen die Krise, matisch spürbar wird, nicht nur um sich gegenüber der Öffentlichkeit zu recht- analysiert, sondern immer wieder auch Wege zu ihrer Überwindung fertigen. Das mag skurrile Formen annehmen, aufgezeigt. aber sie verfangen. Grenzen werden geschlos- sen, um einen „ausländischen Virus“ (so Donald Trump) abzuhalten, wo doch länderübergreifen- de koordinierte Aktionen notwendig wären. Mit martialischen Worten ruft der französische Prä- sident seine Landsleute zum Krieg gegen das Virus – und hofft, darüber auch die großen sozi- alen Gegensätze vergessen zu machen, die Frankreich in den letzten Jahren in Aufruhr ge- halten haben. Politische Legitimität aber stellt sich nicht allein über zupackendes Handeln her. Notwendig ist auch eine Idee von Zukunft. Allein zu hoffen, dass alles wieder wie früher wird,
18 Das Beispiel Ebola Globales Handeln ist in der Pandemie wichtiger denn je Von Anne Jung Einen 122-Milliarden-Euro-Rettungsschirm hat men. Das ist der einzig zuverlässige und nach- die Bundesregierung auf den Weg gebracht. So- haltige Schutz gegen die Epidemien der Zu- lo-Selbstständige, Kleingewerbe und Miniun- kunft. ternehmen sollen entlastet werden, Unterstüt- zung in der Grundsicherung wurde ebenso 2014 infizierten sich während der Ebola-Epide- zugesagt. „Beispiellos“ und „einzigartig“ heißt mie in Westafrika 20.000 Menschen mit dem es dazu einhellig in der Presse, vollkommen zu- Virus, fast die Hälfte starb daran. In Westafrika recht. Weniger Beachtung fand ein weiterer Ret- tungsversuch: Fast zeitgleich zur Bundestags- debatte wurde bekannt, dass die UNO zwei Milliarden USD als „global humanitarian respon- Wäre die Lehre aus Ebola se to fight COVID-19 across South America, Afri- beherzigt worden, hätten ca, the Middle East and Asia“ bereitgestellt hat. wir heute eine ganz andere Die Notmittel für Niedersachsen sind höher. Ausgangslage. Soviel Ärzte wie eine Uni-Klinik fand sie damals die besten Voraussetzungen, Die Gefahr ist groß, dass die armen Regionen sich zu verbreiten. Die Gesundheitssysteme der dieser Welt jetzt erneut alleine gelassen wer- drei Epizentren Guinea, Liberia und Sierra Leone den, vielleicht mehr denn je. Dabei geht es um gehören zu den schwächsten weltweit. Auf- mehr als einseitige Hilfe. Ein globaler Blick grund der Epidemie verschlechterte sich die könnte nicht erst heute von den Erfahrungen Gesundheitsversorgung insgesamt – in der Fol- und dem Wissen profitieren, das im Umgang ge verdoppelte sich die Zahl der Malaria-Toten. mit Epidemien besteht, vor allem auf dem afri- Auch die Müttersterblichkeit stieg wieder an, kanischen Kontinent. Und aus ihm könnten die ebenso die Neuinfektionen mit Masern. Die Welt naheliegenden Konsequenzen gezogen wer- schaute lange tatenlos zu, die Abschottungs- den. Wäre die Lehre aus Ebola beherzigt wor- politik, die folgte, war so radikal, dass die Ex- den, hätten wir heute eine ganz andere Aus- portwirtschaft komplett zum Erliegen kam. gangslage. Gesundheitssysteme nämlich ge- Noch lange nach der Epidemie litten die Men- hören in öffentliche Hand, zugänglich für alle schen unter den Folgen. Die Hilfe war zunächst Menschen und unabhängig von ihrem Einkom- so wenig eingebunden in die Strukturen vor Ort,
19 dass das Misstrauen gegenüber den Helfer*in- rastruktur bereitgestellt wurden. Nach Ebola nen in weißer Schutzkleidung massiv war. wurde immerhin ein Impfstoff entwickelt, aber die Einsicht in die Notwendigkeit von Gesund- Wirksam werden konnte die lebensrettende heitssystemen verschwand mit der Eindäm- Aufklärungsarbeit erst, als eine konsequente mung des Virus. Heute gibt es im westafrikani- Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte er- schen Sierra Leone immer noch weniger folgte. „Do or die“ lautete die lakonische Ant- Ärzt*innen als in der Frankfurter Uniklinik. Der wort der Community-Worker auf meine damali- nächste Ausbruch von Ebola in der Demokrati- ge Frage, warum sie für die Aufklärungsarbeit schen Republik Kongo im Jahr 2018 wurde täglich ihr Leben riskierten, für die sie oft nur kaum zur Kenntnis genommen, weil er erst gar kleinste Aufwandsentschädigungen erhielten. nicht als Gefahr für den Rest der Welt wahrge- Sie gingen monatelang von Tür zu Tür, nie wis- nommen wurde. send, was sie dahinter erwartete, hörten zu, nahmen Anteil. Die profitorientierte Privatisierung des Ge- sundheitssektors weltweit versagt dabei, Be- dingungen herzustellen, unter denen mit den Alternative Bestattungsrituale aktuellen und kommenden Herausforderun- gen umgegangen werden kann. Im Gegenteil: Auch im Kleinen, Alltäglichen gab es un- Sie hat weltweit zu einer verheerenden Unterfi- schätzbare Erfahrungen, die heute wieder nanzierung des Gesundheitswesens geführt. wichtig werden. Viele erzählten damals, dass Die Weltbank drängt derzeit die Länder im glo- es ihnen unerträglich sei, ihre verstorbenen balen Süden dazu, die Probleme im Gesund- Angehörigen ohne Umarmungen und Lieb- heitsbereich mittels privater Finanzierung zu kosungen zu verabschieden, weil die Toten so lösen und Notprogramme auf Kreditbasis auf- keine Ruhe finden könnten. Sie nahmen lieber zulegen. Das weist in eine völlig falsche Rich- ihren eigenen Tod in Kauf, als das zuzulassen. tung. Benötigt wird vielmehr ein sofortiger Daraufhin entwickelten Imame gemeinsam Schuldenerlass für die ärmsten Länder und mit christlichen Predigern und traditionellen verpflichtende Finanzierungsmechanismen Heilern alternative Beerdigungsrituale, damit auf internationaler Ebene für die globale Ge- die Angehörigen ihre verstorbenen Liebsten in sundheit. Damit nach Corona nicht wieder al- Frieden gehen lassen konnten. Die Menschen les Offenkundige vergessen wird und man se- in Westafrika erlebten ihren Einsatz gegen die henden Auges in die nächste absehbare Weiterverbreitung von Ebola als Selbster- Katastrophe gerät. mächtigung. Anne Jung leitet die Abteilung Öf- Zugleich haben sie die Abwesenheit des Staa- fentlichkeitsarbeit bei medico und tes und das Versagen der internationalen ist für den Bereich Globale Gesund- heit zuständig. Staatenwelt beim Aufbau einer Infrastruktur im Gesundheits- und Bildungsbereich am eigenen Körper gespürt - und tausendfach mit dem Le- ben bezahlt. Die Reichtümer ihrer Länder – Bauxit, Coltan, Kobalt und viele mehr – wurden weiterhin in den globalen Norden exportiert, ohne dass Mittel zum Aufbau der sozialen Inf-
20 Sicher- heit statt Demo- kratie Foto: Mohamad Torokman/REUTERS Palästinenser*innen in einem israelischen Checkpoint bei Ramallah auf ihrem Weg zur Arbeit in Israel.
21 Israel: Im Schatten der Pandemie droht eine Autokratie Von Katja Maurer Angesichts der Bedrohung durch das Coro- Sicht: auf seine Sicht. Er nimmt mitten in der na-Virus wird momentan auch in Israel das Corona-Krise das ganze Land in Geiselhaft, um Verhältnis zwischen dem legitimen Bedürfnis seinen Gerichtsprozess wegen Korruption zu der Bevölkerung nach Schutz auch durch verhindern. Nach drei Parlamentswahlen in- staatliche (Zwangs)maßnahmen und den Fol- nerhalb weniger Monate, in denen er nie die gen dieses staatlich verhängten Ausnahmezu- parlamentarische Mehrheit erreichte, erklärte stands für die demokratische Verfasstheit und er nun die Stimmen der drittstärksten Kraft der das Menschenrecht ausgehandelt. Anders als Knesset für nicht gültig, weil diese zum großen anderswo aber durchzieht eine Debatte zwi- Teil arabische Wähler*innen vertreten würde. schen Sicherheit und Demokratie das Funda- Er verfüge also über eine „jüdische“ Mehrheit ment der israelischen Gesellschaft von Anfang in der Knesset. an: Sie bewegt sich zwischen einem historisch begründeten Bedürfnis nach Schutz und des- Knesset-Sprecher Edelstein verhinderte die sen politischer Instrumentalisierung. Der Staat Einberufung der Knesset und die Einrichtung mit dem Auftrag, sich nach der Shoah als si- von Parlamentsausschüssen, die auch die Co- chere Heimstatt für alle Jüd*innen zu erwei- rona-Maßnahmen kontrollieren sollten, mit sen, hat die Sicherheit im Zweifelsfall meist hanebüchenen Argumenten: Er werde nicht über alle anderen proklamierten Werte ge- zulassen, dass Israel sich in Richtung Anarchie stellt. So wurde der seit 1948 geltende Ausnah- und Bürgerkrieg bewege. Am Tag, als er auf mezustand immer wieder durch angeblich Entscheidung des letzten derzeit noch funkti- temporäre, dann aber für Jahrzehnte geltende onierenden Gerichts – alle anderen wurden in Maßnahmen ergänzt und verschärft. In diesem einem Handstreich wegen Corona von der Ne- Sinne existiert Israel in einem fortlaufenden tanyahu-Regierung geschlossen – die Knesset Pandemie-Zustand, der eigentlich unhinter- einberufen sollte, trat er zurück und verhinder- gehbare Normen zu einer verhandelbaren te so, dass das Parlament tagen konnte. Trotz Masse einer auf Sicht fahrenden Politik macht. Corona kam es deshalb zu Protesten vor dem Um welche Sicht aber handelt es sich dabei? israelischen Parlament. Demonstrant*innen trugen schwarze Fahnen, um die Demokratie Die gegenwärtige Regierungs- und Demokra- zu beerdigen. Der Vorgang kennzeichnet einen tiekrise in Israel erscheint jedenfalls als ein historischen Tiefstand in der israelischen Poli- Produkt dieses andauernden Ausnahmezu- tik. Der fundamentale Streit endete wie das stands. Ministerpräsident Netanyahu fährt auf Hornberger Schießen: Der ehemalige General
22 Gantz, Chef der ebenfalls rechten Oppositions- die ihresgleichen sucht. Die außerparlamenta- partei Blau-Weiß, begab sich in eine Regierung rische Bewegung „Darkenu“ (Unser Weg) orga- mit Netanyahu und rettete so den Ministerprä- nisierte unter dem Slogan „Wir kämpfen um sidenten. unser Zuhause“ online eine Versammlung, an der sich via Facebook 65.000 Menschen betei- ligten, und per Video Statements abgaben. Es Ein perfektioniertes Big Brother gab Reden und musikalische Darbietungen. Fast 600.000 Menschen schauten sich das an Fur Gantz‘ Verhalten gibt es sicher vielfältige und gaben Kommentare ab, in denen sie ihren Gründe. Einer dürfte das autoritäre Handling Unmut über die antidemokratische Politik äu- der Corona-Krise sein, die Israel mit einer ßerten. Nach der Aktion wurde Lucy Aharish, Komplettüberwachung der Bevölkerung „gut“ die als erste palästinensische Nachrichten- im Griff hat. Der Geheimdienst Shin Beth hat sprecherin in Israel einen großen Bekannt- Zugang zu allen digitalen Daten der israeli- heitsgrad genießt, allerdings von ihrem Posten schen Bevölkerung, verfolgt jede/n Infizierten beim Fernsehen entbunden. Wie viele, die in und seine Umgebung, erstellt ein Bewegungs- der Veranstaltung offen ihre politische Haltung profil der Kranken und ihrer Kontakte und kundgaben, wird sie mit solchen Sanktionen zwingt alle, die sich für eine bestimmte Dauer gerechnet haben. „Wenn die Zahl der Toten in der unmittelbaren Umgebung aufgehalten wegen des Coronavirus eines Tages gezählt haben, zur Einhaltung einer strikten Quarantä- werden“, schrieb Gershom Gorenberg in der ne zu Hause. Die Software des Geheimdienstes Washington Post im März 2020, „könnte die is- ist äußerst erprobt, denn sie kommt seit vielen raelische Demokratie als erstes Opfer der Epi- Jahren in der Westbank und im Gaza-Streifen demie eingehen.“ zum Einsatz. Damit ist allen, die sich das noch nicht ausgemalt haben, klar, welch ein elekt- ronischer Überwachungsstaat in den besetz- Was Gaza droht ten Gebieten installiert wurde. Ein gesetzwidri- ger Horror, der jetzt auch zum „Schutz“ der Auch wenn die israelische Regierung unter Ne- eigenen Bevölkerung eingesetzt wird. Mittler- tanyahu wie alle neoliberalen Regierungen weile gibt es Hinweise, dass sich der Shin Beth eine systematische Privatisierungs- und Kahl- noch ganze andere Informationen über seine schlagpolitik im Gesundheitswesen betrieben Bürger*innen auf diesem Weg sichert, zum hat, ist das Gesundheitswesen in der Westbank Beispiel alle Telefongespräche. und im Gaza-Streifen noch viel weniger auf die Pandemie vorbereitet. Mit jedem neuen Coro- Dieser digitale Überwachungsapparat, gegen na-Fall, der beispielsweise aus dem Gaza- den „Big Brother is watching You“ lächerlich Streifen gemeldet wird, wächst dort die Angst. ist, befindet sich in der Hand von Politikern wie Sollte sich das Virus verbreiten, trifft es auf ein Netanyahu oder Edelstein, für die offenkundig Gesundheitswesen, das nach 13 Jahren Abrie- nur ihr eigenes Recht gilt. Ihr Versuch, die par- gelung durch Israel bereits ohne Pandemie vor lamentarische Demokratie außer Kraft zu set- dem Kollaps steht. Für komplizierte Operatio- zen, hatte eine Welle der Empörung in Israel nen und schwierige Behandlungen müssen ausgelöst. Moderiert von der Fernsehjournalis- Einwohner*innen ihre Gesundung schon jetzt tin Lucy Aharish, einer Palästinenserin aus Is- außerhalb Gazas suchen. Krankheit ist einer rael, kam es zu einer Internetdemonstration, der wenigen Gründe, warum es überhaupt
23 möglich ist, den Gaza-Streifen zu verlassen. mie stoppen könne, indem „wir den Bürgern Niemand kann sich ausmalen, was passiert, nicht ein totalitäres Überwachungsregime auf- wenn in der Enklave, die als eine der am dich- zwingen, sondern sie ermächtigen“. Dazu brau- test besiedelten Regionen der Welt gilt, die che es „Fakten und Vertrauen“. Über Jahr- Pandemie ausbricht. Aufgrund der Lebensum- zehnte untergrabenes Vertrauen lasse sich stände in der Abriegelung träfe das Virus auf nicht schnell wiederaufbauen. Aber in einer eine zwar junge, unter den gegebenen Um- Krise wie dieser „ändert sich das Denken ständen gesundheitlich aber extrem vulnerab- schnell“. le Bevölkerung. Quarantäne-Maßnahmen oder das Einfrieren sozialer Kontakte sind hier auch aufgrund der psychosozialen Belastungen nur sehr schwer durchführbar. Republikanische Ermächtigung Alle medico-Partner*innen versuchen auf die Situation zu reagieren und Communities vor Das große politische Panorama offenbart aber Ort zu unterstützen. Einige Beispiele: Die mo- auch positive Seiten. So arbeiten die Gesund- bilen Kliniken von PMRS (Palestinian Medical heitsbehörden in Israel und in den besetzten Relief Society) in der Westbank klären die Men- Gebieten angesichts der drohenden Katastro- schen vor allem in den abgelegenen Dörfern phe zusammen. Ein wichtiger Anteil der Pfle- und Gemeinden, die durch Einschränkung des gekräfte und Ärzt*innen in israelischen Kran- öffentlichen Transports jetzt noch isolierter kenhäusern, sind Palästinenser*innen. sind, über Gefahren und Schutzmöglichkeiten auf. Ihre Behandlungen setzt das Klinikperso- Vielleicht also trifft auch die Hoffnung des is- nal, soweit möglich, mit Schutzkleidung fort. raelischen Schriftstellers David Grossman zu, Ähnliches leistet PMRS in Gaza. Unser Partner der in seinem Corona-Tagebuch fragte, ob es Culture & Free Thought Association leistet im nicht sein könnte, „dass Menschen, die solch Süden von Gaza Telefon-Seelsorge und enga- einer tiefgreifenden Erfahrung ausgesetzt wa- giert sich gemeinsam mit anderen NGOs und ren, danach nationalistische Positionen sowie dem Gesundheitsministerium in der Unter- alles, was sich absondert, verschanzt und stützung der Menschen in den Quarantä- Ängste vor dem Fremden schürt, vehement zu- ne-Einrichtungen. Die Physicians for Human rückweisen?“. Und auch der aus Israel stam- Rights in Israel halten den Betrieb ihrer offe- mende Bestseller-Autor Yuval Noah Harari ver- nen Klinik in Jaffa für Geflüchtete und Papier- weist angesichts der israelischen Erfahrung lose aufrecht. Trotz der logistischen Schwie- auf die grundlegende Frage, vor der die Politik rigkeiten – viele der Mitarbeiter*innen sind und die Gesellschaft im Corona-Angesicht ste- Rentner*innen und gefährdet – wird geprüft, hen: „In dieser Krise sehen wir uns vor zwei be- wie die Klinik besser palästinensische Arbeiter sonders wichtige Entscheide gestellt: Erstens *innen aus der Westbank erreichen kann, die jenen zwischen totalitärer Überwachung und aufgrund der Sperren in Israel bleiben müs- republikanischer Ermächtigung der Bürger. sen, aber keinen Zugang zum Gesundheitssys- Zweitens jenen zwischen nationalistischer Iso- tem haben. lation und globaler Solidarität.“ Er glaubt, dass man die Gesundheit schützen und die Epide- Spendenstichwort: Israel/Palästina
24 Das Virus macht nicht gleich Warum es neben räumlicher Trennung eine soziale Solidarität braucht Von Andreas Wulf Das aktuelle Schlagwort zur Coronavirus-Pan- Und noch einmal verschärft sich die Kluft in den demie ist Solidarität: Alle sind gefährdet, des- Ländern des Südens, in denen das Virus in Ein- halb müssen alle zusammenstehen und sich zelfällen schon angekommen ist: Eine massive und die anderen schützen, und ganz beson- Einschränkung des öffentlichen Lebens wird für ders die Gefährdeten und Schwachen, die Al- die vielen Millionen von Kleinhändler*innen auf ten und Kranken. Aber stimmt das wirklich? den Straßen der Millionenstädte in Afrika oder Ein genauerer Blick zeigt, dass die existieren- Lateinamerika oder Asien zu einer sofortigen den Ungerechtigkeiten in der Krise eher noch existentiellen ökonomischen Bedrohung. Aus- weiter verschärft werden. Das beginnt hier in gangssperren und Grenzschließungen zwischen Deutschland und Europa: Während Heimar- den Ländern behindern den grenzüberschrei- beitsregeln und Kurzarbeitsgeld für Festange- tenden Handel massiv, wie schon angesichts stellte und günstige Überbrückungskredite für der Ebola-Epidemie in Westafrika 2014/15 zu se- Unternehmen rasch zur Verfügung stehen, hen war. Anders als in Europa gibt es in diesen sieht es für die große Zahl der selbständig Pre- Weltregionen allerdings keine Ausgleichsme- kären ganz anders aus. Nicht nur die vielen chanismen, wie sie aktuell die EU-Kommission Kulturschaffenden, deren Veranstaltungen ab- vorschlägt. Hier können drastische „physical gesagt werden müssen, auch der Messebauer, distancing“ Maßnahmen enormen Schaden für die selbständige Seminar-Moderatorin, die Einzelne und ganze Gemeinschaften anrichten. stunden- und kursweise bezahlten Trainer*in- Diese dürfen nicht als leider notwendige „Kolla- nen im Fitnesstudio verlieren, nachdem die teralschäden“ kleingeredet werden, sondern große soziale Distanzierung ausgerufen wor- sind in den Konzepten zur Unterstützung dieser den ist, in den kommenden Wochen und viel- Länder ebenso wichtig wie direkte Hilfen zur Ge- leicht Monaten einen großen Teil ihrer geplan- sundheitsversorgung an Covid-19 erkrankter ten Einnahmen. Und welche Option des Menschen. Auch bestehende Konflikte zwi- Rückzugs in die eigene Wohnung haben Ob- schen ansässigen Gemeinden und Flüchtlings- dachlose und Geflüchtete in Massenunter- lagern können weiter eskalieren. Darauf deutet künften oder gar in überfüllten Camps an Euro- es zum Beispiel hin, wenn, wie es aus dem Liba- pas Außengrenzen? non mit über einer Million syrischer Schutzsu-
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