Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international

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Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international
rundschreiben
01/20
                                        medico international

Es
trifft
alle...
… aber nicht alle gleich. Berichte aus den Corona-
Welten: Südafrika, Israel, Bangladesch u.a. Debatte:
Sicherheit vor Recht? Reportagen vom Fluchtplanet:
Marokko, Syrien, Griechenland
Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international
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Titelbild: Normalerweise ist die Buslinie 7C von Soyapango
nach San Salvador morgens um 7 Uhr rappelvoll. Zwei Tage
nach Verhängung einer landesweiten Ausgangssperre in El
Salvador fahren nur noch wenige Passagier*innen mit.
Foto: Carlos Barrera/el faro

Fotos der Autor*innen: Privat, medico, Holger Priedemuth

Impressum

Herausgeber:
medico international
Lindleystr. 15
D-60314 Frankfurt am Main
Tel. (069) 944 38-0, Fax (069) 436002
E-Mail: info@medico.de
Homepage: www.medico.de

Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.),
Thomas Gebauer, Moritz Krawinkel,
Ramona Lenz, Christian Sälzer
Korrektorat: Marek Arlt
Gestaltung und Satz: Andrea Schuldt

Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf
100 % Recyclingpapier gedruckt.

ISSN 0949-0876
Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international
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     Auf einen Blick – medico-rundschreiben 01/20

 4   Editorial

 6   Am Scheideweg
     Kommentar: Gesundheitsdiktatur oder -demokratie?

     Corona: Zeit für Solidarität
12   Autoritäre Versuchung
     Gut, dass es in China begann? Ein Einspruch
15   Krise und Ausnahmezustand
     Über die Verteidigung des Rechts in Zeiten von Unsicherheit
18   Das Beispiel Ebola
     Globales Handeln ist wichtiger denn je
20   Sicherheit statt Demokratie
     Israel: Im Schatten der Pandemie droht eine Autokratie
24   Das Virus macht nicht alle gleich
     Räumliche Trennung und soziale Solidarität
26   Solidarität in Zeiten der Pandemie
     medico-Partner*innen weltweit im Einsatz

30   Auch das noch
     Ursachen der Ernährungskrise in Ostafrika
32   Projekte Projektionen
     Nepal, Afghanistan, El Salvador

     Flucht & Migration: Von den Rändern der Welt
38   Die EU liquidiert das Recht
     Fragen an Jean Ziegler zur Eskalation an der EU-Außengrenze
40   Wenn Frauen fliehen
     Ein Zufluchtsort in Marokko für Frauen aus Subsahara-Afrika
45   Worte reichen nicht
     Syrien: Idlib – ein Krieg gegen Zivilist*innen
48   Ausgelagert
     Nordsyrien/Rojava: Reportage über einen provisorischen Zustand
54   Die Geister, die sie riefen
     Griechenland: Gewalt an der Grenze, Hass auf die Schwächsten
57   Die tödlichen Grenzen der Solidarität
     Kommentar: Für die Rechte von Geflüchteten

60   medico aktiv
     Ausstellung Making Crisis Political, Online-Lesungen
62   Bestellen & Verbreiten
64   Spenden & Stiften
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Die Reichen gefährden die Armen –
nicht nur durch Corona

Liebe Leserinnen
und Leser,
selten war die Produktion des medico-rundschreibens so von der Aktualität
geprägt wie bei dieser Ausgabe. Eigentlich sollten Zeitschriften langfristige
Themen im Blick haben, aber die dramatische Situation der Geflüchteten
an den europäischen Außengrenzen, insbesondere in Griechenland, hatte
uns schon vor Corona dazu gezwungen, alle ursprünglichen Planungen
über den Haufen zu werfen. Deshalb berichten wir im zweiten Teil des Heftes
ausführlich über die Situation in Syrien, in Marokko und in Griechenland. Was
in den Reportagen aus den Frauenhäusern in Rabat, den Übergangslagern
in Rojava oder dem Frauenzentrum in Idlib aufscheint, ist die Tatsache,
dass es unter fast allen katastrophalen Bedingungen die Möglichkeit gibt,
sich zu entscheiden: Entweder für das bloße eigene Überleben oder für
eine menschliche Haltung, die in konkreter solidarischer Praxis mit denen
mündet, deren Menschenrecht verletzt wird. Eine solidarische Praxis also
auch und sogar mit jenen, die wir nicht kennen und vielleicht nicht einmal
verstehen. Das Drama zeigt sich insbesondere im Al-Hol-Lager in Rojava,
das vom Kurdischen Roten Halbmond fast allein versorgt wird, und in dem
unter anderem Frauen und Kinder der IS-Kämpfer untergebracht sind.
Obwohl die Welt die lokalen Strukturen komplett im Stich lässt, tun die
Helfer*innen unter schwierigsten Umständen ihr Bestes.

Den ersten Teil des Heftes bestimmt die Corona-Pandemie. Für medico
als globale Gesundheitsorganisation ist dies die Zeit, die gesammelten
Erfahrungen zu sichten und mit dem weltweiten Gesundheitsnetzwerk,
über das wir seit Jahren verfügen, in intensiven Austausch zu treten. Die
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Texte hier im Rundschreiben sind nur ein Anfang: eine Lagebeschreibung
in Ausschnitten. Wir werden die Zeit nutzen, aus der Erfahrung und
dem gesammelten Denken und Wissen haltbare Vorschläge für eine
solidarische globale Gesundheitspolitik zu entwickeln. Denn nur das
kann eine angemessene Antwort auf diese Gesundheitskrise sein. Das
Gemeingut Gesundheit, das an soziale und politische Determinanten des
Menschenrechts gebunden ist, ist dabei der Horizont, der nun nicht mehr
                                                                              Katja Maurer ist
utopisch erscheint. Dass wir im rundschreiben die Abwägung zwischen           Chefredakteurin
Gesundheit und Freiheit in mehreren Texten thematisieren, heißt nicht,        des medico-rund-
                                                                              schreibens.
dass wir die Gefahren verharmlosen. Auch wir befolgen die Maßnahmen
der Kontakteinschränkungen und sprechen in Telefonkonferenzen
miteinander statt in Sitzungszimmern. Und doch steht die Frage im
Raum, welche Maßnahmen des Ausnahmezustands, der weltweit in
unterschiedlicher Form herrscht, drohen fortzudauern. Das wäre ein
dystopischer Ausgang.

Provoziert wurde die Pandemie davon, dass die globalen Eliten das
Virus in der Welt verbreitet haben. Das kommt einem Treppenwitz der
Geschichte gleich, weil das Denken der globalen Gesundheitspolitik in
Teilen noch immer in der kolonialen Denktradition des „Cordon Sanitaire“
steht: Nur eine komplette Segregation der Kolonialherr*innen gegenüber
der einheimischen Bevölkerung kann die Gesundheit der Siedler*innen
schützen. Nun aber gefährden die Reichen die Armen. So wurde in Chile
die Abriegelung der Nobelviertel gefordert, weil nur dort Corona-Fälle
bekannt waren. Und als die Oberschicht am Wochenende mit ihren SUVs
in ihre Ferienhäuser auf dem Land fahren wollte, blockierten einige Dörfer
den Zugang. In gewisser Weise entspricht Corona der Klimazerstörung
und allgemein der ökologischen Krise: Auch für sie ist der globale Norden
verantwortlich. Es steht zu hoffen, dass das in diesen „traumatischen
Zeiten“ (Slavoj Žižek) auch in den privilegierten Gesellschaften verstanden
wird und Veränderungen möglich macht.

medico stellt mit dem rundschreiben, seinen Online-Medien, dem News-
letter und neuen Formen der Online-Debatte mit allen uns zur Verfügung
stehenden Mitteln eine Plattform für nötige globale Diskussionen zur
Verfügung. Dass dies die Zeit von globaler Solidarität sein muss, brauche
ich Ihnen nicht zu sagen. Was unsere Partner*innen im Konkreten
unternehmen, finden Sie auf den folgenden Seiten und in fortlaufender
Berichterstattung im Internet.

Bleiben Sie solidarisch und gesund!
Ihre
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Am Schei-
deweg
            Foto: Reuters
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Gesundheitsdiktatur oder -demokratie?
Im Umgang mit SARS-CoV-2 wird auch über
globale Zukunftsmodelle entschieden

Von Christian Weis

Seit der Cholera im 19. Jahrhundert weiß man,     Überbrückungskrediten die Unternehmen zu
wie wichtig die internationale Koordination für   retten. Wäre es nicht konsequenter, so wie
die Eindämmung von Pandemien ist. Wie ist die     auch von der WHO gefordert, zum Schutz der
globalisierte Welt von heute dafür gewappnet?     Bevölkerung die bessere Ausstattung der Ge-
Als Sonderorganisation der UN wäre es an der      sundheitseinrichtungen zu organisieren? All
Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Takt       das fällt in eine Zeit, in der Millionen Menschen
der globalen Koordinierung und das richtige       weltweit für einen stärkeren Klimaschutz ein-
Maß bei den staatlichen Interventionen in Zei-    treten. Was viele von uns über alle Erdteile
ten des Virus vorzugeben. Sie ist aber bei wei-   hinweg zuvor vergebens gefordert haben, wird
tem keine Organisation, die sich entsprechend     durch das Virus fast über Nacht Wirklichkeit:
der medizinischen Sachlage „neutral“ oder gar     Die globale Ökonomie mit dem globalen Handel
gemeinwohlorientiert verhält. Das liegt auch      und der globalen Mobilität (für manche) – Trei-
daran, dass 75 Prozent der WHO-Einnahmen          ber bei der Verbreitung des Virus wie auch der
freiwillige Zuwendungen sind, die sich vor al-    Klimakrise – werden drastisch eingeschränkt.
len Dingen aus zusätzlichen Mitteln westli-
cher Industriestaaten speisen, aber auch aus
den Mitteln der Bill & Melinda Gates Stiftung,    Maßnahmen ohne Beispiel
NGOs und der Privatwirtschaft. Diese Geber
verfolgen zumeist ihre eigenen neoliberalen       Im Zusammenhang mit der SARS-Epidemie
Agenden, die auf die weitere Privatisierung der   2004 wurde deutliche Kritik an der Untätigkeit
öffentlichen Gesundheit zielen.                   Chinas geübt. Heute ist das Gegenteil der Fall.
                                                  Seit ihren ersten Mitteilungen im Januar 2020
Immer noch spielt das Ökonomische eine ent-       hat die WHO die dortigen Maßnahmen als wir-
scheidende Rolle bei den gängigen Analysen.       kungsvoll und angemessen gelobt. Plötzlich
Die Welt scheint in Gefahr zu sein, weil die      gilt China nicht nur in Asien, sondern auch im
Lufthansa einen Großteil der Flüge streicht       Westen als vorbildlich bei der Eindämmung der
und in China die Produktion ausfällt. Die glo-    Epidemie. Von der Kritik vieler Chines*innen
balisierten Lieferketten brechen ein und der      an der Vorgehensweise ihrer Regierung ist hier
Dax gleich mit dazu. Während die Überlastung      wenig bekannt. Die Abschottung von 50 Milli-
des über Jahre ausgezehrten öffentlichen Ge-      onen Menschen in der Metropolregion Wuhan
sundheitssystems droht, holt die Politik also     hat man in Europa (mitunter hinter vorgehal-
die „Bazooka“ raus, um mit unbegrenzten           tener Hand) auch mit etwas Bewunderung be-
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trachtet. Eine so drakonische Einschränkung       China ist, wie es sich immer schon gesehen
von Mobilität, aber auch von Informationsfrei-    hat, Vorreiter, jetzt eben auch in der globalen
heit ist in der Geschichte der Epidemien und      Gesundheit. Während die Bundesregierung
Pandemien ohnegleichen. Es ist kein Zufall,       seit Jahren an einer Strategie zur Globalen
dass Norditalien der europäische Brückenkopf      Gesundheit arbeitet, hat China im Zeichen der
des Corona-Virus wurde. Die Lombardei und         Krise neue Standards gesetzt. Die Vorausset-
die Toskana sind seit den 1990er Jahren die       zungen dafür sind bereits vor der Epidemie
verlängerte Werkbank der chinesischen Tex-        erfüllt worden: das lückenlose Aufstellen von
til- und Lederindustrie, wo Chinesen zu Hun-      Hochleistungskameras mit digitaler Gesichts-
gerlöhnen schuften und chinesische Unter-         und Bewegungserkennung zur totalen Mobi-
nehmen Superprofits beim Verkauf von „Made
in Italy“ Produkten einstreichen. Nirgends in
Europa ist China mit seinen teils menschen-
                                                     Die Zensur ist
verachtenden Arbeitsbedingungen näher. In
Europa wurde die Region zwischen Florenz             mitverantwortlich, dass
und Mailand Vorreiter für die Errichtung von         sich der Virus in der
Zwangsquarantäne und Sperrzonen. Vielleicht          bekannten Schnelligkeit
wird das chinesische Modell auch in Europa           erst verbreiten konnte.
angewendet. Haben wir keine Alternative zur
Einschränkung von Mobilität und letztendlich
auch Demokratie in Zeiten von SARS-CoV-2?
                                                  litätsüberwachung, Zensur aller Medien und
In einer halböffentlichen Veranstaltung in Genf   des Internets, Sozialkreditsystem. Die Kom-
Ende Januar 2020, im Rahmen eines Treffens        munistische Partei Chinas (KPCh) hat dank flä-
des globalen medico-Netzwerks Geneva Glo-         chendeckender lokaler Parteikomitees einen
bal Health Hub, äußerte sich der Chef-Gesund-     tiefen Einblick in die Geschicke ihrer Staats-
heitsnotfallplaner der WHO zur vorgetragenen      bürger*innen. Jetzt vermag sie sogar ihr Sozi-
Kritik an den chinesischen Maßnahmen: Kritik      alverhalten mittels einer App, die credit points
an China und dem angeblich autoritären Cha-       für regierungskonformes Verhalten vergibt, zu
rakter des Vorgehens bei der Abschottung von      steuern. Ein genialer Gedanke, wenn es ange-
50 Millionen Menschen findet er nicht ange-       sichts des Virus gilt, „unser Verhalten zu über-
messen. „Man kann westliche Moralvorstel-         denken“, so der italienische Ministerpräsident
lungen nicht auf eine 5.000 Jahre alte Kultur     Giuseppe Conte.
übertragen.“ Mit dieser Argumentation ließe
sich auch die „Umerziehung“ Hunderttausen-        Wenn es ein Land auf der Welt schafft, die
der Uigur*innen rechtfertigen, die systema-       Träume der globalen Gesundheitsingenieu-
tisch in Internierungslagern im Nordwesten        re zu befeuern, dann ist es die Volksrepublik.
des Landes gefangen gehalten werden. Das          Ausgerechnet jenes Modell des autoritären
Argument zeigt, wie anfällig multilaterale        Überwachungsstaates, zentriert auf einen der
Fachorganisationen sind, wenn es um Abwä-         mächtigsten Männer der Welt, Xi Jinping, der
gungen menschenrechtlicher Sachverhalte           als Präsident heute schon mehr Macht hat als
geht. Das Kulturargument schlägt hier das         Mao Zedong. Xi Jinping hat sein politisches
Menschenrechtsargument. Und über allem            Schicksal eng mit der Bekämpfung des Co-
stehen wirtschaftliche Erwägungen.                rona-Virus verbunden. Er setzt alles auf eine
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Karte, gewinnt er, wird uns das alle angehen.      rechten und Demokratie gehen, werden totali-
Schafft er die Eindämmung des Virus in Chi-        tär-populistische Tendenzen, die die gesund-
na, wird das vieles in der Welt verändern: Der     heitlichen Gefahren nach außen und in das
„Kapitalismus mit chinesischem Charakter“          vermeintlich Fremde verschieben, weiteren
wird einen weiteren Siegeszug erleben und          Auftrieb erleben. Natürlich ist diese „schlei-
der unaufhaltsame Aufstieg des Reiches der         chende Naturkatastrophe“, wie der Virologe
Mitte wird beschleunigt. Das sind keine guten      Christian Drosten die Pandemie nennt, ein
Nachrichten für alle, die Demokratie und Men-      enormer Stresstest für jede Gesellschaft. Kei-
schenrechte als unveräußerlich ansehen.            ne Panik und verantwortungsvolles Handeln
                                                   sind die Maximen für die aktuelle Lage. Zu-
                                                   gleich werden auf Dauer große Fragen neu zu
Welche Lehren werden gezogen?                      diskutieren und als Lehre aus der Pandemie zu
                                                   ziehen sein.
Die Eindämmung und Kontrolle von Informa-
tionen ist aus Sicht der Machthaber nach-          Um schon jetzt einige anzudeuten: Was ist
vollziehbar. Aus medizinischer Sicht ist sie es    eigentlich systemrelevant? Nicht nur die Un-
nicht. Die Entwicklung vor Ort von Basisgrup-      ternehmen, die sofort Liquiditätsspritzen be-
pen und einzelnen Akteur*innen kritisch und        kommen, sondern auch die vielgescholtenen
transparent zu begleiten und damit die Akti-       Gesundheitsämter, die in den letzten Jahr-
vitäten der Parteifunktionäre zu hinterfragen,     zehnten systematisch in die Bedeutungslo-
war in China das Gebot der Stunde, als das Vi-     sigkeit gespart wurden. Welche öffentlichen
rus sich verbreitete. Die Zensur ist mitverant-    Güter gilt es zu schützen und wieder auszu-
wortlich, dass sich der Virus in der bekannten     bauen? Italien zeigt uns die möglichen Folgen,
Schnelligkeit erst verbreiten konnte. Ihr erstes   wenn öffentliche Gesundheitsdienste massiv
Opfer war Dr. Li Wenliang, der frühzeitig auf      überfordert sind. Welche Bedeutung haben
die Verbreitung des neuen Virus aufmerksam         Kunst und Kultur als Teil einer demokratischen
machte. Seine Social-Media-Beiträge aber           Gesellschaft, die jetzt als erste vor dem wirt-
wurden von den Behörden systematisch ge-           schaftlichen Aus stehen könnten? An der De-
löscht. Nach seinem Tod durch den Corona-Vi-       batte dieser Fragen kann man sich auch von
rus belegt die hunderttausendfache Anteil-         zu Hause aus beteiligen.
nahme, dass viele Chines*innen empört sind
über die staatliche Propaganda, ein schlecht
                                                                     Christian Weis ist seit Januar 2019
funktionierendes Gesundheitssystem und den                           Geschäftsführer von medico inter-
Aufstieg einer politischen Klasse, die die Räder                     national. Zuvor leitete er das Res-
                                                                     sort Globalisierungspolitik beim
der zaghaften Freiheiten des Individuums zu-
                                                                     Vorstand der IG Metall und beschäf-
gunsten der Machterhaltung und -ausweitung                           tigte sich dort schwerpunktmäßig
zurück dreht.                                                        mit China.

Wir werden dieses Virus nur mit demokrati-
schen Mitteln besiegen können, denn wir sind
auf die Vernunft und Mitarbeit der Menschen
bei der Eindämmung von SARS-CoV-2 ange-
wiesen. Wenn wir es mit der Methode Chinas
versuchen, wird es auf Kosten von Menschen-
Es trifft alle - rundschreiben 01/20 medico international
Zeit
    für
    Solida-
    rität
Foto: Remo Casili/REUTERS

    Nachbarschaftliche Unterstützung während der Ausgangssperre in Italien: Die Personal-Trainerin Antonietta Orsini macht
    mit ihren Nachbar*innen in Rom Sport.
Während sich der globale Norden
durch Händewaschen und Ausgangssper-
ren gegen Corona zu helfen weiß,
sind diese Maßnahmen im globalen
Süden in den Flüchtlingslagern und
Elendsvierteln nicht durchführbar.
„Aus Angst vor dem Tod begehen wir
Selbstmord“ – soll eine jetzt ar-
beitslose kenianische Taxifahrerin
gesagt haben. Ohne umfangreiche So-
zialprogramme und Zugang zu Testmög-
lichkeiten für die Verdammten dieser
Erde wird die Pandemie an ihre pri-
viligierten Ausgangsorte zurückkeh-
ren. Zwischenberichte aus dem globa-
len Süden.
12

Autoritäre Versuchung
Gut, dass Corona in China ausbrach, weil
es dort effektiv eingedämmt werden konnte?
Ein Einspruch

Von Marc Heywood

Soweit wir wissen, ist COVID-19 noch nicht in      mehrere Virusausbrüche (Vogelgrippe H5N1
Südafrika angekommen. Während wir also die         und SARS) ihren Anfang genommen haben, in
Entwicklung der Reaktion in China und ande-        direktem Zusammenhang mit der massiven
ren Ländern beobachten, können wir uns darü-       Verstädterung, der Umweltzerstörung und den
ber verständigen, wie wir auf diese und andere     schwachen, oft kaum vorhandenen Systemen
übertragbare Krankheiten so reagieren kön-         der öffentlichen Gesundheit, des Umwelt-
nen, dass Verhältnismäßigkeit, Gerechtigkeit,      schutzes oder der Lebensmittelregulierung.
öffentliche Gesundheit und Menschenrechte
gewährleistet bleiben bzw. werden. Fangen wir      Ebenso hat die rasche Ausbreitung der jeweili-
mit den Menschenrechten an. Denn ihre Ver-         gen Erreger damit zu tun, dass China ein autori-
letzung zieht sich wie ein roter Faden durch die   tärer Einparteienstaat ist, in dem es keine
Ätiologie (Ursachenforschung von Krankhei-         Rede-, Medien- und Protestfreiheit gibt. Wie wir
ten), die Übertragungsdeterminanten, die An-       inzwischen wissen, wurde der Arzt Dr. Li Wenli-
fälligkeit, die Prävention und die Behandlungs-    ang, der als erster versuchte öffentlich Alarm
strategien von neuen Krankheiten.                  zu schlagen, von den Behörden bestraft. Sein
                                                   Tod, ausgelöst durch das Virus am 7. Februar
Paradoxerweise haben die Technologiesprün-         2020 soll enorme Anteilnahme, aber auch Wut
ge der letzten 20 Jahre in Verbindung mit der      ausgelöst haben. Seitdem haben weitere Medi-
fatalen Deregulierung und der Unterversor-         enberichte dokumentiert, dass Millionen von
gung der öffentlichen Gesundheitssysteme ei-       Menschen in Städten wie Wuhan unter staatli-
nen fruchtbaren Boden für das Entstehen und        chem Zwang gestanden haben – in einem Aus-
die rasche Verbreitung tödlicher neuer Erreger     maß, das kaum zu verbergen ist. Donald Trump
geschaffen: Die Massenverstädterung, der           und Wladimir Putin müssen das dystopische
Luftverkehr, die globale Erderwärmung und die      Spektakel in China mit Neid erfüllen: Könnten
ökologische Schwächung stellen eine giftige        sie doch auch nur so leicht künstliche Intelli-
Brühe dar. Viele Staaten versäumen, die Rech-      genz einsetzen, ganze Städte lahmlegen, Droh-
te auf das zu schützen, was zum Beispiel Arti-     nen zur Überwachung der Bevölkerung aussen-
kel 24 unserer Verfassung als „eine Umwelt,        den. Die Dystopie ist eingetroffen.
die ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden
nicht schadet“ bezeichnet. So steht die Tatsa-     Die Regierungen in aller Welt scheinen sämtli-
che, dass in China vor COVID-19 in jüngster Zeit   che Lehren aus der jüngsten Pandemie der
13

Welt zu vergessen: HIV. Ein Virus, das – laut     Während Südafrika beim Schutz der Men-
UNAids – immer noch 770.000 Todesfälle pro        schenrechte von Menschen, die mit HIV leben,
Jahr verursacht, derzeit über 37 Millionen Men-   weltweit führend wurde, sind wir mit unseren
schen betrifft (die Zahl steigt jährlich um 1,5   Reaktionen auf die XDR- und MDR-Tuberkulose
Millionen) und weiterhin tiefgreifende Auswir-    (TB) gescheitert. Die Regierung setzte darauf,
kungen auf die öffentlichen Gesundheitssyste-     Menschen in „Isolationskrankenhäuser“ ein-
me und die Wirtschaft hat. Leider scheint         zusperren und dabei eine Vielzahl von Rechten
selbst die WHO diese Lehren vergessen zu ha-      zu verletzen. Wie vorhergesagt, trug dies nicht
ben. Ihr „Situation Report 25“ vom 14. Februar
2020 nennt sechs „strategische Ziele der WHO
für die Reaktion“ auf COVID-19. Der Schutz der
Menschenrechte gehört nicht dazu. Hätten die        COVID-19 verlangt von uns,
Machthabenden doch nur ihre Hausaufgaben            dass wir unsere Seele
gemacht und ihre Lektionen gelernt.                 ebenso wie unseren Körper
                                                    untersuchen.

Lehren aus HIV vergessen

Erinnern wir deshalb daran, was Aktivist*innen    dazu bei, die Übertragung von MDR/XDR-Tu-
den Regierungen und der WHO in Bezug auf HIV      berkulose zu reduzieren. Angesichts einer Pa-
beigebracht haben: Die Achtung der Menschen-      nik, die COVID-19 auslösen könnte, sollten wir
rechte ist nicht nur zum Schutz von Infizierten   diese Fehler nicht wiederholen. Was wir jetzt
notwendig. Sie dient auch der Aufrechterhal-      brauchen, sind genaue Informationen über Ri-
tung eines gesellschaftlichen Klimas, das ge-     siko, Übertragung und Behandlung des Erre-
fährdete Menschen dazu ermutigt, sich um Dia-     gers. Gleichzeitig müssen wir ungenaue oder
gnose und Pflege zu bemühen, anstatt Gesund-      falsche Informationen und Stigmatisierungen,
heitseinrichtungen zu meiden, weil sie Angst      die aus Angst verbreitet werden, bekämpfen.
vor Stigmatisierung und Bestrafung haben.
                                                  COVID-19 verlangt von uns, dass wir unsere
Infolge der Empörung über die Menschen-           Seele ebenso wie unseren Körper untersu-
rechtsverletzungen an Menschen, die mit HIV       chen. Irgendwann einmal wird man sich hof-
leben, und dank eines breiten Aktivismus hat      fentlich darüber wundern, wie wenig Empö-
UNAids Pionierarbeit für einen menschen-          rung die drastischen Quarantänemaßnahmen,
rechtlichen Ansatz bei der HIV-Prävention und     die Durchsuchungen, Einschüchterungen und
-Behandlung geleistet, der viele Millionen        Massenüberwachungen in China hervorgeru-
Menschenleben gerettet hat. Heute könnte die      fen haben und wie wenig Solidarität es mit den
HIV-Übertragung theoretisch eliminiert werden     Millionen von betroffenen Menschen gegeben
und niemand müsste an einer Aids-Erkran-          hat. Das scheint auf eine neue psychische
kung sterben. Der einzige Grund dafür, dass       Krankheit hinzuweisen: der weltweite Verlust
dies nicht geschieht, ist ein Mangel an politi-   von Mensch-zu-Mensch-Empathie und Solida-
schem Willen und sinkende Finanzmittel – was      rität. Paradoxerweise scheint der leichte Zu-
angesichts der Ressourcen, die plötzlich für      gang zu und die Fülle an Informationen über
COVID-19 freigegeben werden, umso bemer-          Frontlinien grober Menschenrechtsverletzun-
kenswerter ist.                                   gen – sei es in Idlib oder in Wuhan – die Men-
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schen daran gewöhnt zu haben, dass Men-            rück, auf die anhaltende Periode der Sparmaß-
schenrechte grob verletzt werden. Das Grauen       nahmen, in der die Gesundheitssysteme grund-
hat sich normalisiert.                             legend ausgehöhlt wurden. Insofern ist die ak-
                                                   tuelle Krise ein Argument für die Stärkung der
                                                   primären Gesundheitssysteme und dafür, dass
Virus in der First Class                           die Verwirklichung sozioökonomischer Rechte
                                                   sichergestellt werden muss: Rechte wie das
In dieser Hinsicht ist COVID-19 eine Anklage ge-   Recht eines jeden Menschen „auf den höchs-
gen den gegenwärtigen Zustand der Gesund-          ten erreichbaren Standard körperlicher und
heit, der Menschenrechte und der Ungleich-         geistiger Gesundheit“. Wie auch immer es aus-
heit gleichermaßen. Zwar könnte es China           gehen mag: COVID-19 sollte ein Weckruf für die
diesmal noch gelingen, die Schwäche seiner         globale Menschenrechtsgemeinschaft sein.
Gesundheitssysteme durch Zwangsmaßnah-
men „erfolgreich“ auszugleichen. Aber an-          Übersetzung: Philipp Wehner
derswo in der Welt wird der Preis dafür zu zah-
len sein, dass die öffentlichen Gesundheits-       Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. Februar
systeme derart ausgehöhlt worden sind, dass        2020 in einer längeren Fassung im südafrikani-
die Erklärung von Alma-Ata zur primären Ge-        schen Daily Maverick. Diese findet sich auf
sundheitsversorgung ignoriert wird, dass es        Deutsch im Dossier unter www.medico.de/
vielerorts an Gesundheitspersonal mangelt.         corona-dossier

Die Reaktion auf COVID-19 zeigt, dass in der
                                                                     Mark Heywood ist Menschen-
späten neoliberalen Ordnung alle Krankheiten                         rechtsaktivist und leitete viele Jahre
zwar gleich, einige Krankheiten jedoch glei-                         die südafrikanische gesundheitspo-
                                                                     litische medico-Partnerorganisation
cher sind. Dies beweist einmal mehr, dass es
                                                                     section27. Gemeinsam mit Anso
nicht eine Krankheitsbedrohung an sich ist,                          Thom erstellt er im Rahmen des
die Ressourcen und medizinische Mobilisie-                           elektronischen Medienprojekts Daily
                                                                     Maverick ein fortlaufendes Schwer-
rung mobilisiert. Es geschieht bei einer Krank-                      punktdossier zu Covid-19.
heit, die die globale Wirtschaft und die Einnah-
mequellen der Elite bedroht. Viren in Flug-
zeugen oder auf Kreuzfahrtschiffen, die die
Schlagadern des Welthandels überqueren und
aus der ersten Klasse nicht mehr herauszuhal-
ten sind, sind etwas anderes als ein Virus, das
durch marginalisierte und verletzliche Bevöl-
kerungsgruppen oder die Slums der Armen
läuft. Um dieses Virus einzudämmen, geben
Regierungen schnell Milliarden für die Abriege-
lung von Städten, die Einschränkung des Luft-
verkehrs und der Reisemöglichkeiten sowie die
Quarantäne von Bürger*innen aus.

COVID-19 und andere Krankheitsbedrohungen
gehen auf eine Ökonomie der Ungleichheit zu-
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Krise und Ausnahme-
zustand
Über die Verteidigung des Rechts in Zeiten
von Unsicherheit

Von Thomas Gebauer

In seinem lateinischen Ursprung steht das Wort     eigene Lebensweise zu überdenken und dabei
Krise (lat. crisis) für ein Geschehen, das eine    von einem die Umwelt schädigenden Konsum
entscheidende Wendung bringt. Ob das auch für      vieler unnützer Dinge zu entrümpeln?
die gegenwärtige Corona-Krise gilt, bleibt abzu-
warten. Unklar ist zudem, in welche Richtung       Europa in Quarantäne – das provoziert Verän-
sich die Dinge wenden könnten. Die Chance ei-      derungen, auch auf politischer Ebene. Der
nes emanzipatorischen Wandels besteht eben-        Markt, das wird gerade klar, regelt nichts.
so wie dessen Gegenteil, die Verfestigung be-      Selbst hartgesottene Neoliberale müssen heu-
stehender Macht- und Herrschaftsstrukturen.        te einsehen, wie fatal sich die sozialen Ein-
Gerade in Krisenzeiten gilt es darauf zu achten,   schnitte auf das Bildungs- und Gesundheits-
dass ein temporärer Ausnahmezustand nicht          wesen ausgewirkt haben. Mit einem Kraftakt
zur späteren Normalität wird.                      könnte es nun vielleicht gelingen, die Einrich-
                                                   tungen der Gesundheitsversorgung rasch zu
Die Lage, die die weltweite Ausbreitung des Co-    rehabilitieren. Um die egoistischen Grundhal-
rona-Virus heraufbeschworen hat, ist höchst        tungen, die mit dem politisch gewollten Kampf
ambivalent. Autoritäre Einschränkungen von         aller gegen alle geschürt wurden, wieder los-
Freiheitsrechten gehen einher mit bemerkens-       zuwerden, wird aber mehr Zeit nötig sein. Mit
werten Öffnungen. Zu Recht ist von einer „gro-     einem bloßen Appell zur Solidarität wird es
ßen Unterbrechung“ die Rede. Mit der nun ein-      nicht gehen.
getretenen allgemeinen Entschleunigung des
gesellschaftlichen Lebens ist auch die Mög-        Heikel wird es, wenn der Blick auf die Maßnah-
lichkeit verbunden, all das neu zu bestimmen,      men fällt, die nun weltweit zur Lösung der Krise
was für ein menschliches Zusammenleben             ergriffen werden. Bedarf es tatsächlich der Ver-
wichtig ist. Braucht es wirklich Patente an es-    ordnung eines disziplinierenden Notstandes bis
sentiellen Arzneimitteln, die letztlich dafür      hin zur lückenlosen Überwachung von Perso-
sorgen, dass viele Menschen nicht versorgt         nen? Oder braucht es nicht eher eine Aufklä-
werden können? Liegt nicht in der Sorge fürei-     rungsoffensive, die partizipatives Handeln för-
nander eine Form von Arbeit, die viel höher zu     dert und den solidarischen Beistand für alle
bewerten ist als das Streben nach privatem         organisiert, die von der Krise betroffen sind? Für
Profit? Und was spricht eigentlich dagegen, die    die Erkrankten ebenso wie für die Millionen von
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Menschen, die nun in ihrer wirtschaftlichen          Manche erinnern sich: Als in Deutschland 2006
Existenz bedroht sind? Autoritäre Reaktionen         die Vogelgrippe wütete, rückte auch die Bun-
wie Grenzschließungen, die sich auf eine öf-         deswehr dem Virus mit schwerem Gerät entge-
fentlichkeitswirksame Zurschaustellung von           gen. Die skurrilen Bilder, die damals die Runde
staatlicher Macht stützen, können in Krisenzei-      machten, erinnerten an längst überwunden ge-
ten höchst attraktiv erscheinen. Doch in aller       glaubte Formen einer kolonialen Seuchenmedi-
Regel ist es das – viel weniger auffällige – sozi-   zin, die mit einem „cordon sanitaire“ die Wohn-
ale Engagement von Sozialverbänden, Wohl-            gebiete der Kolonialherren vor den Siedlungen
fahrtsorganisationen und spontan entstehen-          der lokalen Bevölkerung zu schützen versuch-
den Initiativen, das für die Senkung von             te. Sicherheit ist zweischneidig. Wer von Sicher-
Infektionsraten sorgt. Das gilt auch in Zeiten       heit spricht, hat zuallererst die eigene Sicher-
von Social Distancing. Viele, die in den zurück-     heit im Blick – eine Sicherheit, die an bestimmte
liegenden Jahren den zu uns Geflohenen Bei-          Territorien oder Privilegien gebunden ist. Für
                                                     das Prinzip der Universalität, auf das sich die
                                                     Menschenrechte gründen, gibt es in sicher-
                                                     heitspolitischen Überlegungen keinen Platz.
     Wer sich nicht der Logik des
                                                     Drängen Menschenrechte auf den Einschluss
     Ausnahmezustandes ergeben                       aller, kommt Sicherheit mit Abschottung aus.
     will, muss für die Idee                         Mit Sondermaschinen werden in diesen Tagen
     einer offenen Gemeinschaft                      100.000 Tourist*innen aus fernen Urlaubsge-
     freier Menschen streiten.                       bieten zurückgeflogen, aber ein paar Tausend
                                                     schutzsuchenden Flüchtlingen wird die Auf-
                                                     nahme verweigert.

stand geleistet haben, tun es heute für ältere       Die Selektivität des Sicherheitsdenkens, die
Menschen, die nicht mehr das Haus verlassen          sich hier so unmenschlich zeigt, steht nachhal-
sollen. Die Einschränkung persönlicher Freihei-      tigen Lösungen entgegen. Das heißt nicht, dass
ten, die in Krisenzeiten mitunter unausweich-        zur Bekämpfung von Seuchen nicht auch Qua-
lich erscheint, darf niemals das solidarische        rantänemaßnahmen und andere Einschränkun-
Handeln beschränken.                                 gen der Bewegungsfreiheit vernünftig sein kön-
                                                     nen. Aber es ist nur eine pragmatische Vernunft,
Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustan-         die solche sicherheitspolitischen Antworten
des ergeben will, muss für die Idee einer offe-      leitet. Mit ihnen lässt sich vielleicht das Ma-
nen Gemeinschaft freier Menschen streiten.           nagement von Krisen optimieren, nicht aber die
Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen        Frage klären, wie solchen Entwicklungen künf-
Verständnisses von Recht und Sicherheit. Ge-         tig präventiv begegnet werden kann. Es heißt,
rade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um            für analytische Betrachtungen gebe es in aku-
Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnö-        ten Krisen keine Zeit. Ja, zur Bekämpfung von
ten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für         Krisen ist Handeln gefordert – aber es muss be-
Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter.        dacht sein. Krisen können nicht mit den Prinzi-
Bei aller Verführung, die im politischen Streben     pien bekämpft werden, die sie begründet ha-
nach Sicherheit liegt, bleibt unklar, was unter      ben. Mit Krediten ist vielen, die nun finanzielle
Sicherheit verstanden wird, wer Sicherheit de-       Ausfälle überbrücken müssen, nicht geholfen.
finiert und für wen sie geschaffen werden soll.      So entstehen nur neue Abhängigkeiten und
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werden die Schrecken nur finanzialisiert. Vieles   überzeugt wenig. Krisen verlangen danach,
spricht dafür, das gesamte Wirtschaftsgefüge       Fehler einzugestehen, Lehren zu ziehen und
neu zu denken. Nur wer die Ursachen von Fehl-      Konzepte vorzulegen, wie es anders werden
entwicklungen kennt, kann auch deren Folgen        soll.
unter Kontrolle bringen.
                                                   Wenn sich Solidarität auf den Appell an eine ver-
Aber da ist noch ein weiteres Problem, das mit     meintliche Volksgemeinschaft reduziert, die
der Idee von Sicherheit verbunden ist. Das, was    nun geschlossen den einen Gegner zu bekämp-
als Bedrohung empfunden wird, ist immer sub-       fen habe, können gesellschaftliche Widersprü-
jektiv gefärbt, emotional hoch aufgeladen und      che nicht mehr demokratisch verhandelt wer-
vage. Eben diese Unbestimmtheit macht Kri-         den und wird schließlich auch die Rechtsstaat-
sensituationen anfällig für Instrumentalisierun-   lichkeit Zug um Zug ausgehöhlt. Wo die Sicher-
                                                   heit bedroht sei, müssten die Rechte der Men-
                                                   schen zurückstehen, verlangen die Regieren-
                                                   den mitunter. Rechte sind aber nicht etwas, das
  Krisen verlangen danach,                         man nach Belieben aus- und anschalten kann.
  Fehler einzugestehen, Lehren                     Die Gefahr temporär außer Kraft gesetzter
  zu ziehen und Konzepte                           Rechte ist, dass sie dauerhaft verloren gehen.
  vorzulegen, wie es anders                        Gerade deshalb muss in Zeiten, die nach Si-
  werden soll.                                     cherheit rufen, das Recht verteidigt werden. Al-
                                                   lein das Beharren auf das Recht kann schließ-
                                                   lich verhindern, dass der Ausnahmezustand zur
                                                   Normalität wird.
gen und Verschwörungsphantasien. Politi-
ker*innen, die ihre Gestaltungskompetenz den
                                                                      Thomas Gebauer ist Sprecher der
Vorgaben der ökonomischen Macht unterge-                              stiftung medico international. In
ordnet haben, können sich im „Zupacken“ bei                           den vierzig Jahren, die er nun für
                                                                      medico tätig ist, hat er die globale
der Abwehr deren negativer Folgen dennoch                             Gesundheitskrise, die heute so dra-
profilieren. Sie brauchen sozusagen die Krise,                        matisch spürbar wird, nicht nur
um sich gegenüber der Öffentlichkeit zu recht-                        analysiert, sondern immer wieder
                                                                      auch Wege zu ihrer Überwindung
fertigen. Das mag skurrile Formen annehmen,                           aufgezeigt.
aber sie verfangen. Grenzen werden geschlos-
sen, um einen „ausländischen Virus“ (so Donald
Trump) abzuhalten, wo doch länderübergreifen-
de koordinierte Aktionen notwendig wären. Mit
martialischen Worten ruft der französische Prä-
sident seine Landsleute zum Krieg gegen das
Virus – und hofft, darüber auch die großen sozi-
alen Gegensätze vergessen zu machen, die
Frankreich in den letzten Jahren in Aufruhr ge-
halten haben. Politische Legitimität aber stellt
sich nicht allein über zupackendes Handeln her.
Notwendig ist auch eine Idee von Zukunft. Allein
zu hoffen, dass alles wieder wie früher wird,
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Das Beispiel Ebola
Globales Handeln ist in der Pandemie wichtiger
denn je

Von Anne Jung

Einen 122-Milliarden-Euro-Rettungsschirm hat        men. Das ist der einzig zuverlässige und nach-
die Bundesregierung auf den Weg gebracht. So-       haltige Schutz gegen die Epidemien der Zu-
lo-Selbstständige, Kleingewerbe und Miniun-         kunft.
ternehmen sollen entlastet werden, Unterstüt-
zung in der Grundsicherung wurde ebenso             2014 infizierten sich während der Ebola-Epide-
zugesagt. „Beispiellos“ und „einzigartig“ heißt     mie in Westafrika 20.000 Menschen mit dem
es dazu einhellig in der Presse, vollkommen zu-     Virus, fast die Hälfte starb daran. In Westafrika
recht. Weniger Beachtung fand ein weiterer Ret-
tungsversuch: Fast zeitgleich zur Bundestags-
debatte wurde bekannt, dass die UNO zwei
Milliarden USD als „global humanitarian respon-        Wäre die Lehre aus Ebola
se to fight COVID-19 across South America, Afri-       beherzigt worden, hätten
ca, the Middle East and Asia“ bereitgestellt hat.      wir heute eine ganz andere
Die Notmittel für Niedersachsen sind höher.            Ausgangslage.

Soviel Ärzte wie eine Uni-Klinik
                                                    fand sie damals die besten Voraussetzungen,
Die Gefahr ist groß, dass die armen Regionen        sich zu verbreiten. Die Gesundheitssysteme der
dieser Welt jetzt erneut alleine gelassen wer-      drei Epizentren Guinea, Liberia und Sierra Leone
den, vielleicht mehr denn je. Dabei geht es um      gehören zu den schwächsten weltweit. Auf-
mehr als einseitige Hilfe. Ein globaler Blick       grund der Epidemie verschlechterte sich die
könnte nicht erst heute von den Erfahrungen         Gesundheitsversorgung insgesamt – in der Fol-
und dem Wissen profitieren, das im Umgang           ge verdoppelte sich die Zahl der Malaria-Toten.
mit Epidemien besteht, vor allem auf dem afri-      Auch die Müttersterblichkeit stieg wieder an,
kanischen Kontinent. Und aus ihm könnten die        ebenso die Neuinfektionen mit Masern. Die Welt
naheliegenden Konsequenzen gezogen wer-             schaute lange tatenlos zu, die Abschottungs-
den. Wäre die Lehre aus Ebola beherzigt wor-        politik, die folgte, war so radikal, dass die Ex-
den, hätten wir heute eine ganz andere Aus-         portwirtschaft komplett zum Erliegen kam.
gangslage. Gesundheitssysteme nämlich ge-           Noch lange nach der Epidemie litten die Men-
hören in öffentliche Hand, zugänglich für alle      schen unter den Folgen. Die Hilfe war zunächst
Menschen und unabhängig von ihrem Einkom-           so wenig eingebunden in die Strukturen vor Ort,
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dass das Misstrauen gegenüber den Helfer*in-        rastruktur bereitgestellt wurden. Nach Ebola
nen in weißer Schutzkleidung massiv war.            wurde immerhin ein Impfstoff entwickelt, aber
                                                    die Einsicht in die Notwendigkeit von Gesund-
Wirksam werden konnte die lebensrettende            heitssystemen verschwand mit der Eindäm-
Aufklärungsarbeit erst, als eine konsequente        mung des Virus. Heute gibt es im westafrikani-
Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte er-      schen Sierra Leone immer noch weniger
folgte. „Do or die“ lautete die lakonische Ant-     Ärzt*innen als in der Frankfurter Uniklinik. Der
wort der Community-Worker auf meine damali-         nächste Ausbruch von Ebola in der Demokrati-
ge Frage, warum sie für die Aufklärungsarbeit       schen Republik Kongo im Jahr 2018 wurde
täglich ihr Leben riskierten, für die sie oft nur   kaum zur Kenntnis genommen, weil er erst gar
kleinste Aufwandsentschädigungen erhielten.         nicht als Gefahr für den Rest der Welt wahrge-
Sie gingen monatelang von Tür zu Tür, nie wis-      nommen wurde.
send, was sie dahinter erwartete, hörten zu,
nahmen Anteil.                                      Die profitorientierte Privatisierung des Ge-
                                                    sundheitssektors weltweit versagt dabei, Be-
                                                    dingungen herzustellen, unter denen mit den
Alternative Bestattungsrituale                      aktuellen und kommenden Herausforderun-
                                                    gen umgegangen werden kann. Im Gegenteil:
Auch im Kleinen, Alltäglichen gab es un-            Sie hat weltweit zu einer verheerenden Unterfi-
schätzbare Erfahrungen, die heute wieder            nanzierung des Gesundheitswesens geführt.
wichtig werden. Viele erzählten damals, dass        Die Weltbank drängt derzeit die Länder im glo-
es ihnen unerträglich sei, ihre verstorbenen        balen Süden dazu, die Probleme im Gesund-
Angehörigen ohne Umarmungen und Lieb-               heitsbereich mittels privater Finanzierung zu
kosungen zu verabschieden, weil die Toten so        lösen und Notprogramme auf Kreditbasis auf-
keine Ruhe finden könnten. Sie nahmen lieber        zulegen. Das weist in eine völlig falsche Rich-
ihren eigenen Tod in Kauf, als das zuzulassen.      tung. Benötigt wird vielmehr ein sofortiger
Daraufhin entwickelten Imame gemeinsam              Schuldenerlass für die ärmsten Länder und
mit christlichen Predigern und traditionellen       verpflichtende Finanzierungsmechanismen
Heilern alternative Beerdigungsrituale, damit       auf internationaler Ebene für die globale Ge-
die Angehörigen ihre verstorbenen Liebsten in       sundheit. Damit nach Corona nicht wieder al-
Frieden gehen lassen konnten. Die Menschen          les Offenkundige vergessen wird und man se-
in Westafrika erlebten ihren Einsatz gegen die      henden Auges in die nächste absehbare
Weiterverbreitung von Ebola als Selbster-           Katastrophe gerät.
mächtigung.
                                                                       Anne Jung leitet die Abteilung Öf-
Zugleich haben sie die Abwesenheit des Staa-                           fentlichkeitsarbeit bei medico und
tes und das Versagen der internationalen                               ist für den Bereich Globale Gesund-
                                                                       heit zuständig.
Staatenwelt beim Aufbau einer Infrastruktur im
Gesundheits- und Bildungsbereich am eigenen
Körper gespürt - und tausendfach mit dem Le-
ben bezahlt. Die Reichtümer ihrer Länder –
Bauxit, Coltan, Kobalt und viele mehr – wurden
weiterhin in den globalen Norden exportiert,
ohne dass Mittel zum Aufbau der sozialen Inf-
20

Sicher-
heit
statt
Demo-
kratie                                                                                                  Foto: Mohamad Torokman/REUTERS

Palästinenser*innen in einem israelischen Checkpoint bei Ramallah auf ihrem Weg zur Arbeit in Israel.
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Israel: Im Schatten der Pandemie
droht eine Autokratie

Von Katja Maurer

Angesichts der Bedrohung durch das Coro-          Sicht: auf seine Sicht. Er nimmt mitten in der
na-Virus wird momentan auch in Israel das         Corona-Krise das ganze Land in Geiselhaft, um
Verhältnis zwischen dem legitimen Bedürfnis       seinen Gerichtsprozess wegen Korruption zu
der Bevölkerung nach Schutz auch durch            verhindern. Nach drei Parlamentswahlen in-
staatliche (Zwangs)maßnahmen und den Fol-         nerhalb weniger Monate, in denen er nie die
gen dieses staatlich verhängten Ausnahmezu-       parlamentarische Mehrheit erreichte, erklärte
stands für die demokratische Verfasstheit und     er nun die Stimmen der drittstärksten Kraft der
das Menschenrecht ausgehandelt. Anders als        Knesset für nicht gültig, weil diese zum großen
anderswo aber durchzieht eine Debatte zwi-        Teil arabische Wähler*innen vertreten würde.
schen Sicherheit und Demokratie das Funda-        Er verfüge also über eine „jüdische“ Mehrheit
ment der israelischen Gesellschaft von Anfang     in der Knesset.
an: Sie bewegt sich zwischen einem historisch
begründeten Bedürfnis nach Schutz und des-        Knesset-Sprecher Edelstein verhinderte die
sen politischer Instrumentalisierung. Der Staat   Einberufung der Knesset und die Einrichtung
mit dem Auftrag, sich nach der Shoah als si-      von Parlamentsausschüssen, die auch die Co-
chere Heimstatt für alle Jüd*innen zu erwei-      rona-Maßnahmen kontrollieren sollten, mit
sen, hat die Sicherheit im Zweifelsfall meist     hanebüchenen Argumenten: Er werde nicht
über alle anderen proklamierten Werte ge-         zulassen, dass Israel sich in Richtung Anarchie
stellt. So wurde der seit 1948 geltende Ausnah-   und Bürgerkrieg bewege. Am Tag, als er auf
mezustand immer wieder durch angeblich            Entscheidung des letzten derzeit noch funkti-
temporäre, dann aber für Jahrzehnte geltende      onierenden Gerichts – alle anderen wurden in
Maßnahmen ergänzt und verschärft. In diesem       einem Handstreich wegen Corona von der Ne-
Sinne existiert Israel in einem fortlaufenden     tanyahu-Regierung geschlossen – die Knesset
Pandemie-Zustand, der eigentlich unhinter-        einberufen sollte, trat er zurück und verhinder-
gehbare Normen zu einer verhandelbaren            te so, dass das Parlament tagen konnte. Trotz
Masse einer auf Sicht fahrenden Politik macht.    Corona kam es deshalb zu Protesten vor dem
Um welche Sicht aber handelt es sich dabei?       israelischen Parlament. Demonstrant*innen
                                                  trugen schwarze Fahnen, um die Demokratie
Die gegenwärtige Regierungs- und Demokra-         zu beerdigen. Der Vorgang kennzeichnet einen
tiekrise in Israel erscheint jedenfalls als ein   historischen Tiefstand in der israelischen Poli-
Produkt dieses andauernden Ausnahmezu-            tik. Der fundamentale Streit endete wie das
stands. Ministerpräsident Netanyahu fährt auf     Hornberger Schießen: Der ehemalige General
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Gantz, Chef der ebenfalls rechten Oppositions-      die ihresgleichen sucht. Die außerparlamenta-
partei Blau-Weiß, begab sich in eine Regierung      rische Bewegung „Darkenu“ (Unser Weg) orga-
mit Netanyahu und rettete so den Ministerprä-       nisierte unter dem Slogan „Wir kämpfen um
sidenten.                                           unser Zuhause“ online eine Versammlung, an
                                                    der sich via Facebook 65.000 Menschen betei-
                                                    ligten, und per Video Statements abgaben. Es
Ein perfektioniertes Big Brother                    gab Reden und musikalische Darbietungen.
                                                    Fast 600.000 Menschen schauten sich das an
Fur Gantz‘ Verhalten gibt es sicher vielfältige     und gaben Kommentare ab, in denen sie ihren
Gründe. Einer dürfte das autoritäre Handling        Unmut über die antidemokratische Politik äu-
der Corona-Krise sein, die Israel mit einer         ßerten. Nach der Aktion wurde Lucy Aharish,
Komplettüberwachung der Bevölkerung „gut“           die als erste palästinensische Nachrichten-
im Griff hat. Der Geheimdienst Shin Beth hat        sprecherin in Israel einen großen Bekannt-
Zugang zu allen digitalen Daten der israeli-        heitsgrad genießt, allerdings von ihrem Posten
schen Bevölkerung, verfolgt jede/n Infizierten      beim Fernsehen entbunden. Wie viele, die in
und seine Umgebung, erstellt ein Bewegungs-         der Veranstaltung offen ihre politische Haltung
profil der Kranken und ihrer Kontakte und           kundgaben, wird sie mit solchen Sanktionen
zwingt alle, die sich für eine bestimmte Dauer      gerechnet haben. „Wenn die Zahl der Toten
in der unmittelbaren Umgebung aufgehalten           wegen des Coronavirus eines Tages gezählt
haben, zur Einhaltung einer strikten Quarantä-      werden“, schrieb Gershom Gorenberg in der
ne zu Hause. Die Software des Geheimdienstes        Washington Post im März 2020, „könnte die is-
ist äußerst erprobt, denn sie kommt seit vielen     raelische Demokratie als erstes Opfer der Epi-
Jahren in der Westbank und im Gaza-Streifen         demie eingehen.“
zum Einsatz. Damit ist allen, die sich das noch
nicht ausgemalt haben, klar, welch ein elekt-
ronischer Überwachungsstaat in den besetz-          Was Gaza droht
ten Gebieten installiert wurde. Ein gesetzwidri-
ger Horror, der jetzt auch zum „Schutz“ der         Auch wenn die israelische Regierung unter Ne-
eigenen Bevölkerung eingesetzt wird. Mittler-       tanyahu wie alle neoliberalen Regierungen
weile gibt es Hinweise, dass sich der Shin Beth     eine systematische Privatisierungs- und Kahl-
noch ganze andere Informationen über seine          schlagpolitik im Gesundheitswesen betrieben
Bürger*innen auf diesem Weg sichert, zum            hat, ist das Gesundheitswesen in der Westbank
Beispiel alle Telefongespräche.                     und im Gaza-Streifen noch viel weniger auf die
                                                    Pandemie vorbereitet. Mit jedem neuen Coro-
Dieser digitale Überwachungsapparat, gegen          na-Fall, der beispielsweise aus dem Gaza-
den „Big Brother is watching You“ lächerlich        Streifen gemeldet wird, wächst dort die Angst.
ist, befindet sich in der Hand von Politikern wie   Sollte sich das Virus verbreiten, trifft es auf ein
Netanyahu oder Edelstein, für die offenkundig       Gesundheitswesen, das nach 13 Jahren Abrie-
nur ihr eigenes Recht gilt. Ihr Versuch, die par-   gelung durch Israel bereits ohne Pandemie vor
lamentarische Demokratie außer Kraft zu set-        dem Kollaps steht. Für komplizierte Operatio-
zen, hatte eine Welle der Empörung in Israel        nen und schwierige Behandlungen müssen
ausgelöst. Moderiert von der Fernsehjournalis-      Einwohner*innen ihre Gesundung schon jetzt
tin Lucy Aharish, einer Palästinenserin aus Is-     außerhalb Gazas suchen. Krankheit ist einer
rael, kam es zu einer Internetdemonstration,        der wenigen Gründe, warum es überhaupt
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möglich ist, den Gaza-Streifen zu verlassen.        mie stoppen könne, indem „wir den Bürgern
Niemand kann sich ausmalen, was passiert,           nicht ein totalitäres Überwachungsregime auf-
wenn in der Enklave, die als eine der am dich-      zwingen, sondern sie ermächtigen“. Dazu brau-
test besiedelten Regionen der Welt gilt, die        che es „Fakten und Vertrauen“. Über Jahr-
Pandemie ausbricht. Aufgrund der Lebensum-          zehnte untergrabenes Vertrauen lasse sich
stände in der Abriegelung träfe das Virus auf       nicht schnell wiederaufbauen. Aber in einer
eine zwar junge, unter den gegebenen Um-            Krise wie dieser „ändert sich das Denken
ständen gesundheitlich aber extrem vulnerab-        schnell“.
le Bevölkerung. Quarantäne-Maßnahmen oder
das Einfrieren sozialer Kontakte sind hier auch
aufgrund der psychosozialen Belastungen nur
sehr schwer durchführbar.

Republikanische Ermächtigung                        Alle medico-Partner*innen versuchen auf die
                                                    Situation zu reagieren und Communities vor
Das große politische Panorama offenbart aber        Ort zu unterstützen. Einige Beispiele: Die mo-
auch positive Seiten. So arbeiten die Gesund-       bilen Kliniken von PMRS (Palestinian Medical
heitsbehörden in Israel und in den besetzten        Relief Society) in der Westbank klären die Men-
Gebieten angesichts der drohenden Katastro-         schen vor allem in den abgelegenen Dörfern
phe zusammen. Ein wichtiger Anteil der Pfle-        und Gemeinden, die durch Einschränkung des
gekräfte und Ärzt*innen in israelischen Kran-       öffentlichen Transports jetzt noch isolierter
kenhäusern, sind Palästinenser*innen.               sind, über Gefahren und Schutzmöglichkeiten
                                                    auf. Ihre Behandlungen setzt das Klinikperso-
Vielleicht also trifft auch die Hoffnung des is-    nal, soweit möglich, mit Schutzkleidung fort.
raelischen Schriftstellers David Grossman zu,       Ähnliches leistet PMRS in Gaza. Unser Partner
der in seinem Corona-Tagebuch fragte, ob es         Culture & Free Thought Association leistet im
nicht sein könnte, „dass Menschen, die solch        Süden von Gaza Telefon-Seelsorge und enga-
einer tiefgreifenden Erfahrung ausgesetzt wa-       giert sich gemeinsam mit anderen NGOs und
ren, danach nationalistische Positionen sowie       dem Gesundheitsministerium in der Unter-
alles, was sich absondert, verschanzt und           stützung der Menschen in den Quarantä-
Ängste vor dem Fremden schürt, vehement zu-         ne-Einrichtungen. Die Physicians for Human
rückweisen?“. Und auch der aus Israel stam-         Rights in Israel halten den Betrieb ihrer offe-
mende Bestseller-Autor Yuval Noah Harari ver-       nen Klinik in Jaffa für Geflüchtete und Papier-
weist angesichts der israelischen Erfahrung         lose aufrecht. Trotz der logistischen Schwie-
auf die grundlegende Frage, vor der die Politik     rigkeiten – viele der Mitarbeiter*innen sind
und die Gesellschaft im Corona-Angesicht ste-       Rentner*innen und gefährdet – wird geprüft,
hen: „In dieser Krise sehen wir uns vor zwei be-    wie die Klinik besser palästinensische Arbeiter
sonders wichtige Entscheide gestellt: Erstens       *innen aus der Westbank erreichen kann, die
jenen zwischen totalitärer Überwachung und          aufgrund der Sperren in Israel bleiben müs-
republikanischer Ermächtigung der Bürger.           sen, aber keinen Zugang zum Gesundheitssys-
Zweitens jenen zwischen nationalistischer Iso-      tem haben.
lation und globaler Solidarität.“ Er glaubt, dass
man die Gesundheit schützen und die Epide-          Spendenstichwort: Israel/Palästina
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Das Virus macht
nicht gleich
Warum es neben räumlicher Trennung eine
soziale Solidarität braucht

Von Andreas Wulf

Das aktuelle Schlagwort zur Coronavirus-Pan-       Und noch einmal verschärft sich die Kluft in den
demie ist Solidarität: Alle sind gefährdet, des-   Ländern des Südens, in denen das Virus in Ein-
halb müssen alle zusammenstehen und sich           zelfällen schon angekommen ist: Eine massive
und die anderen schützen, und ganz beson-          Einschränkung des öffentlichen Lebens wird für
ders die Gefährdeten und Schwachen, die Al-        die vielen Millionen von Kleinhändler*innen auf
ten und Kranken. Aber stimmt das wirklich?         den Straßen der Millionenstädte in Afrika oder
Ein genauerer Blick zeigt, dass die existieren-    Lateinamerika oder Asien zu einer sofortigen
den Ungerechtigkeiten in der Krise eher noch       existentiellen ökonomischen Bedrohung. Aus-
weiter verschärft werden. Das beginnt hier in      gangssperren und Grenzschließungen zwischen
Deutschland und Europa: Während Heimar-            den Ländern behindern den grenzüberschrei-
beitsregeln und Kurzarbeitsgeld für Festange-      tenden Handel massiv, wie schon angesichts
stellte und günstige Überbrückungskredite für      der Ebola-Epidemie in Westafrika 2014/15 zu se-
Unternehmen rasch zur Verfügung stehen,            hen war. Anders als in Europa gibt es in diesen
sieht es für die große Zahl der selbständig Pre-   Weltregionen allerdings keine Ausgleichsme-
kären ganz anders aus. Nicht nur die vielen        chanismen, wie sie aktuell die EU-Kommission
Kulturschaffenden, deren Veranstaltungen ab-       vorschlägt. Hier können drastische „physical
gesagt werden müssen, auch der Messebauer,         distancing“ Maßnahmen enormen Schaden für
die selbständige Seminar-Moderatorin, die          Einzelne und ganze Gemeinschaften anrichten.
stunden- und kursweise bezahlten Trainer*in-       Diese dürfen nicht als leider notwendige „Kolla-
nen im Fitnesstudio verlieren, nachdem die         teralschäden“ kleingeredet werden, sondern
große soziale Distanzierung ausgerufen wor-        sind in den Konzepten zur Unterstützung dieser
den ist, in den kommenden Wochen und viel-         Länder ebenso wichtig wie direkte Hilfen zur Ge-
leicht Monaten einen großen Teil ihrer geplan-     sundheitsversorgung an Covid-19 erkrankter
ten Einnahmen. Und welche Option des               Menschen. Auch bestehende Konflikte zwi-
Rückzugs in die eigene Wohnung haben Ob-           schen ansässigen Gemeinden und Flüchtlings-
dachlose und Geflüchtete in Massenunter-           lagern können weiter eskalieren. Darauf deutet
künften oder gar in überfüllten Camps an Euro-     es zum Beispiel hin, wenn, wie es aus dem Liba-
pas Außengrenzen?                                  non mit über einer Million syrischer Schutzsu-
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