"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
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AWO Ansicht 4-2011 AWO Ansicht 4-2019 WERTE »Vergesst hinter Euren großen ENGAGEMENT Aufgaben niemals »Soziales Engagement bei konsequenter politischer Haltung ist in Zeiten zuneh- mender Menschenfeindlichkeit so nötig wie in der Gründerzeit der AWO. Damit den einzelnen Humanität, Gerechtigkeit, Solidarität nicht zu Schlagworten verkommen, muss es die AWO deshalb auch künftig geben.« Menschen!« Professor Wolfgang Benz war bis 2011 Direktor des Zentrums für Antisemi- tismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Lotte Lemke, langjährige Geschäftsführerin, Bundesvorsitzende, danach Ehrenvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt. 4 20 »Das Anliegen von Wohlfahrtsverbänden ist eines, von dem auch die Menschen etwas haben, die nicht unmittelbar profitieren. Die AWO arbeitet auch im Interesse von bürgerlichen Mittelschichten und wohlhabenden Leuten. Das ist ganz wichtig. Ihre Klientel ist das Ganze. Das muss man gerade den Menschen, denen es besser geht, immer wieder deutlich sagen.« Dr. jur. Christoph Möllers ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Gegenwart und Zukunft Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der der AWO. Führungswechsel beim Humboldt-Universität zu Berlin. Bundesverband: Wolfgang Stadler DEMOKRATIE UND und Prof. Dr. Jens M. Schubert TEILHABE im Interview über die Herausfor- derungen für ein zeitgemäßes Verständnis von Solidarität und Teilhabe. AWO Ansicht 1-2020
AWO A N SI C H T Liebe Leserin, lieber Leser, die vierte Ausgabe des zehnten Jahrgangs der AWO Ansicht ist zugleich die letzte mit Wolfgang Stadler als Herausgeber für den AWO Bundesverband und Redaktionsmitglied. Ohne das Engagement von Wolfgang Stadler gäbe es dieses Magazin in der vorliegenden Form nicht. Er hat diese Publikation und deren Umsetzung seinerzeit maßgeblich vorangetrieben. Ursprüngliche Idee war es, vier Mal im Jahr ein sozial- und gesellschaftspolitisches Thema auszuleuchten. »Dabei werden wir«, so Wolfgang Stadler im Editorial des ersten Heftes, »fundiert analysieren und meinungsstark kommentieren.« Beim Blick in die Hefte wird klar: Dieser Anspruch wurde zu den verschiedensten Themen eingelöst. Attraktiv ist die AWO Ansicht auch deshalb, weil es der Redaktion und den Grafikerinnen immer wieder gelingt, die jeweiligen Themen zeitge- mäß aufzubereiten. Das Magazin ist so zu einem wesentlichen Baustein in der Kommunikation des AWO Bundesverbandes geworden. Das vorliegende Heft ist etwas anders als sonst. Es gibt eine »Außenansicht« von Axel Honneth, die bereits in Heft 4-2011 erschien, aber immer noch treffende Ausführungen zum Thema Solidarität, einem zentralen Grundwert der AWO, enthält. Im Mittelpunkt steht zudem ein ausführliches Interview mit Wolfgang Stadler und seinem Nachfolger als Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Jens M. Schubert zur Gegenwart und Zukunft der Arbeiterwohlfahrt. Jens M. Schubert wird mit Heft 1-2021 Herausgeber für den AWO Bundes verband und Redaktionsmitglied der AWO Ansicht – und wir sind sicher, dass er diese Aufgabe genauso engagiert angehen wird wie Wolfgang Stadler. Im Namen der AWO und der Redaktion möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Wolfgang Stadler bedanken und Jens M. Schubert ebenso herzlich willkommen heißen. Brigitte Döcker Wilhelm Schmidt, Mitglied des Vorstands Vorsitzender des Präsidiums I M P R E SS U M Herausgeber Konzept und Gestaltung Anzeigen AWO Bundesverband e. V. Stephanie Roderer, TAG Agentur & Verlag Blücherstraße 62 / 63 • 10961 Berlin www.stephanie-roderer.de Tel 06431/2121241 • Fax 06431/2121244 Tel 030 / 26309-0 • Fax 030 / 26309-32599 Agentur@Tag-Verlag.de • www.Tag-Verlag.de Fotografie info@awo.org • www.awo.org S. Titel AdsD / FES, AWO Bundesverband Druck Redaktion AWO Ansicht S. 3, 10, 11, 13-19, 20-21 AWO Bundesver- deVega Medien GmbH, Augsburg. Tel 030 / 26309 -4553 • Fax 030 / 26309 -324553 band • S. 4 BAGFW • S. 4-5 BMU/photo- Gedruckt auf Arctic Volume white FSC ® awo-ansicht@awo.org thek/Thomas Trutschel • S. 6 6/FOTA105963 mixed credit - GFA-COC-002292-MN AdsD/FES • S. 7 AWO International • Redaktion Brigitte Döcker • Berit Gründler • S. 8 privat, Marie Speckmann, AWO LV Peter Kuleßa v.i.s.d.P. • Wolfgang Stadler Thüringen • S. 22 Universität Frankfurt/M.
AWO A K T U E L L WO HLFA H RT S VE R BÄ N D E Deutscher Sozialpreis 2020 verliehen Ende Oktober 2020 wurde der Deutsche Sozialpreis 2020 in Berlin vergeben. Die Preisverleihung wurde entsprechend den aktuellen Hygiene-Regeln durchgeführt. Coronabedingt war auch kein Publikum anwesend. Die Veranstaltung wurde online übertragen. Gastrednerin war Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) verleiht seit 1971 jährlich den Deutschen Sozialpreis für herausragende Arbeiten zu sozialen Themen. Ausgezeich- net werden Beiträge, die sich mit den besonderen Situationen oder Problemen Not leidender und sozial benachteiligter Menschen in Deutschland auseinandersetzen. Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen Laufzeit: 2020–2023, Volumen: 150 Millionen Euro Die Preisträger*innen 2020: Förderschwerpunkte: strategische Beratungsleistungen, Mareike Nieberding in der Sparte Print für das SZ-Magazin, Erstellung umfassender Klimaanpassungskonzepte, investive Joachim Palutzki in der Sparte Hörfunk für den Deutschland- Maßnahmen, Informationskampagnen, Bildungsangebote funk, Marie Löwenstein und Julian Amershi in der Sparte Fernsehen für den NDR, Pia Rauschenberger in der Sparte Weiterführende Informationen: www.z-u-g.org/ Online mit einer Podcast-Serie für den Deutschlandfunk, aufgaben/klimaanpassung-in-sozialen-einrichtungen/ Jan Niklas Lorenzen und Markus Stein in der Sparte Sonder- preis »30 Jahre Deutsche Einheit« für den MDR. Sozial & Mobil Laufzeit: 2020–2022, Volumen: 200 Millionen Euro Berit Gründler • Jurymitglied für die AWO • 030/263090 Förderschwerpunkte: Beschaffung rein batterieelektrischer Neufahrzeuge sowie Aufbau von Ladeinfrastruktur Weiterführende Informationen: www.erneuerbar- mobil.de/foerderprogramme/sozial&mobil S OVD UND AWO Europa gegen Armut Auf der digitalen Veranstaltung »Europäische Strategien zur Armutsbekämpfung – Perspektiven für ein Europa von morgen« stellten der Sozialverband Deutschland (SoVD) und die Arbeiter- wohlfahrt (AWO) anlässlich der deutschen EU-Ratspräsident- schaft gesamteuropäische Lösungen für drängende soziale Fragen vor. Im Beisein von EU-Kommissar Nicolas Schmit und Bundessozialminister Hubertus Heil wurden neun Maß- nahmen für ein soziales und solidarisches Europa präsentiert. »Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland hat bis Ende 2020 die EU-Ratspräsidentschaft unsere Jugend im Europa des inne. Der Stärkung der sozialen Dimension und insbesondere 21. Jahrhunderts um die der Armutsbekämpfung müsse dabei eine weitaus höhere Priorität eingeräumt werden, betonen SoVD und AWO. Denn: Erfüllung elementarer Bedürf- Bereits vor der Corona-Krise seien in der EU mehr als 109 nisse kämpfen muss.« Millionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung Prof. Dr. Jens M. Schubert, bedroht gewesen. AWO-Bundesgeschäftsführer Die Erklärung »Gemeinsam für ein Europa ohne Armut« ist unter www.awo.org abzurufen. Marius Isenberg • marius.isenberg@awo.org 4 AWO ANSICHT 4 • 20
S VENJA SCHULZ E ist seit März 2018 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Von 2017 bis 2018 war sie General sekretärin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in Nordrhein-Westfalen und von 2010 bis 2017 Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung in NRW. Die Klimakrise ist ein Problem, das die Menschheit noch lange beschäftigen wird. Die Förderprogramme sind zeitlich befristet. Wie können langfristige Strukturen etabliert werden? SCHULZE Der Umstieg auf eine CO2-neutrale Arbeits- und Wirtschaftsweise bis Mitte des Jahrhunderts ist auch für die sozialen Dienste eine große Kraftanstren- gung – von der energetischen Sanierung der Gebäude bis hin zu ökologischeren Fahrzeugflotten. All das wird in den kommenden Jahrzehnten Kosten verursachen, die I NT ERV I E W MI T B U N D ESU MW ELTMIN ISTERIN SVEN JA SCHULZ E durch die Regelfinanzierungssysteme bis dato nicht Klimaschutz und abgebildet werden. Es ist vollkommen klar, dass perspek- tivisch über die Finanzierungsgrundlage der sozialen Dienste und Einrichtungen gesprochen werden muss. die Verantwor- Sie haben in Ihrem Ministerium ein Referat für soziale Angelegenheiten der Umweltpolitik und soziale Gerech- tung der Freien tigkeit eingerichtet. Warum und wo sehen Sie die Hauptaufgaben dieses Arbeitsbereichs? SCHULZE Mich leitet die Überzeugung, dass Umwelt- und Wohlfahrtspflege Klimaschutzpolitik sozial gerecht ausgestaltet sein muss. Ich habe aus diesem Grund zu Beginn der Legis- latur eine Arbeitseinheit gegründet, die sich intensiv mit den sozialen Aspekten von Umweltpolitik beschäftigt. AUTOREN STEFFEN LEMBKE UND PETER KULEßA Das zahlt sich aus. Inzwischen tausche ich mich regel- mäßig mit den Wohlfahrtsverbänden aus. Das hilft enorm, um ein größeres Verständnis für die Hürden und Frau Schulze, im Zuge des Konjunktur- und Zukunftspa- Herausforderungen sozialer Dienste und Einrichtungen kets der Bundesregierung wurden die zwei Förderpro- im Klimaschutz zu bekommen. Im Dialog ist zum Bei- gramme »Sozial & Mobil« und »Klimaanpassung in sozia- spiel deutlich geworden, dass Hilfen beim Flottenaus- len Einrichtungen« aufgelegt. Diese unterstützen auch tausch und bei der Anpassung an den Klimawandel die Freie Wohlfahrtspflege umfassend. Worum geht es auf ein großes Interesse stoßen würden. So konnten bei den Programmen und warum sehen Sie gerade hier wir bedarfsgerechte Förderprogramme entwickeln. Potenzial für den Klimaschutz? SCHULZE Die Freie Wohlfahrt leistet unter schwierigen Abschließend: Welche Verantwortung kann oder Umständen Großartiges – nicht nur in der aktuellen muss beim Erreichen der Pariser Klimaschutzziele der Krise. Neben dem anstrengenden Alltag stellen sich Freien Wohlfahrtspflege zukommen? Beschäftigte den Herausforderungen rund um den SCHULZE Nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Kraft- Klimawandel und benötigen dafür Unterstützung. anstrengung können wir den demografischen Wandel, Aus diesem Grund habe ich zwei neue Förderpro- die Digitalisierung und den Klimawandel meistern. Auch gramme ins Leben gerufen. Damit lassen sich Maß- der Wohlfahrt kommt hier eine maßgebliche Rolle zu, nahmen anstoßen, die finanziell ansonsten nicht zu die die AWO schon jetzt vorbildlich wahrnimmt. Im stemmen wären. Das Programm »Sozial & Mobil« neuen Grundsatzprogramm macht sie klar, dass soziale ermöglicht sozialen Diensten eine Umrüstung ihrer Verantwortung immer auch eine ökologische Dimen- Flotten auf Elektrofahrzeuge. Mit dem Förderpro- sion hat. Und diesen Grundsätzen lässt die AWO unter gramm »Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen« anderem mit ihrem Projekt »Klimafreundlich pflegen« können sich Kindergärten oder Pflegeheime gegen Hit- Taten folgen, das übrigens von meinem Ministerium zewellen wappnen. Mit den Programmen kann die gefördert wird. Deutschlandweit haben AWO-Beschäf- Freie Wohlfahrt mehr gegen den Klimawandel tun und tigte den Klimaschutz im stationären Pflegebereich auch das Arbeitsumfeld der Beschäftigten sowie die vorangetrieben. Wir brauchen mehr solcher Projekte, die Lebensqualität betreuungsbedürftiger Menschen nicht nur CO2 vermeiden, sondern zugleich auch mehr spürbar verbessern. Qualität und Freude in den Arbeitsalltag bringen. 4 • 20 AWO ANSICHT 5
AWO A K T U E L L ENGAG E ME NT Weihnachtsmarken erhältlich Seit dem 2. November und bis zum 31. Dezember 2020 können die neuen Weihnachtsmarken in unserem Wohlfahrts- marken-Shop erworben werden. Das Motiv des Sonderpost- wertzeichens zu Weihnachten 2020 bildet einen Ausschnitt PANDEMI E Frauen vor Gewalt aus dem großen Portalfenster der Pfarrkirche St. Katharina in Bad Soden am Taunus ab. Seit über 70 Jahren werden die Marken schützen mit Zuschlagserlösen zugunsten der Freien Wohlfahrtspflege herausgegeben. Alle Erlöse, die Haupt- und Ehrenamtliche der einzelnen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände erzielen, werden direkt vor Ort zur Finanzierung sozialer Maßnahmen Partnerschaftsgewalt findet in der Coronakrise ver- eingesetzt. Die Weihnachtsmarken können auch in den stärkt statt. Die Beratungsanfragen beim bundeswei- AWO-Gliederungen zur Eigenfrankierung eingesetzt werden. ten Hilfetelefon liegen 20 Prozent über den Zahlen des Vorjahres. Die Berliner Gewaltschutzambulanz Zum Shop: awo-engagiert.awo.org der Charité behandelte bereits im Juni 2020 30 Prozent mehr und schwerere Fälle als im Jahr zuvor. Weiterführende Informationen rund um die Für Frauen und ihre mitbetroffenen Kinder ist es Wohlfahrtsmarken: Berit Gründler • werbung@awo.org umso wichtiger zu wissen, dass Beratung, Schutz und Hilfe jederzeit garantiert werden. Die AWO hat ein Forderungspapier für die Sicherstellung der Hilfeangebote gegen Gewalt an Frauen erarbeitet. HI STO R ISCH E S P O RT R ÄT Sie fordert darin den überregionalen und schnellen Zugang zu Schutz, Hilfe und Beratung, sofortige Corona-Testmöglichkeiten für Frauenhäuser und Marta Schanzenbach eine finanzielle Absicherung der Mehrbedarfe an Räumlichkeiten und Fachpersonal. 1907–1997 Steigende Infektionszahlen erschweren es vielen Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, Von 1929 bis 1931 absolvierte Marta Schanzenbach die Wohl- sich über Hilfen zu informieren. Fehlende soziale fahrtsschule der AWO in Berlin. Nach erfolgreichem Abschluss Außenkontakte, die Angst vor Ansteckung und die zur Fürsorgerin war sie im Jugendamt Prenzlauer Berg unter Nähe zum gewalttätigen Partner hemmen die Walter Friedländer tätig. 1933 wurde sie durch die National Entscheidung, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder sozialisten entlassen, sie erhielt Berufsverbot. Schanzenbach Zuflucht in einer Schutzeinrichtung zu suchen. Die arbeitete ab 1939 erneut als Berliner Fürsorgerin, 1942 kehrte sie schließlich in ihre Heimat, die Schwarzwaldregion, zurück. AWO als Teil des bundesweiten Gewaltschutznetzes Dort setzte sie sich ab 1945 unmittelbar für den Wiederaufbau bietet in vielen Frauenhäusern und weiteren ein. Als Vorsitzende prägte sie die AWO Südbaden bis Mitte der Schutzwohnungen sowie in zahlreichen Fachbera- 1970er-Jahre. 1949 wurde sie Mitglied des AWO Hauptvorstan- tungsstellen Unterkunft, Notfallhilfe, telefonische des, von 1953 bis 1971 war sie stellvertretende AWO-Bundes- und digitale Beratung und Begleitung an. Allein in vorsitzende. Parallel dazu wurde sie 1949 in den Bundestag den Frauenhäusern der AWO finden jedes Jahr gewählt und übte bis in die 1970er-Jahre zentrale Parteifunk mehr als 1.500 Frauen und 1.600 Kinder Zuflucht tionen in der SPD aus, die inhaltlich Schnittmengen zur AWO vor häuslicher Gewalt. boten. 1958 wurde Schanzenbach erstes weibliches Mitglied des SPD-Präsidiums, später Frauenbeauftragte des Partei- Das Forderungspapier können Sie unter vorstandes sowie Vorsitzende des Ausschusses für Frauen- www.awo.org herunterladen fragen. Im AWO Bezirksverband Baden engagierte sie sich bis ins späte Lebensalter als Ehrenvorsitzende. Christiane Völz • christiane.voelz@awo.org Weitere Informationen im Historischen Archiv der AWO www.awo-historie.org 6 AWO ANSICHT 4 • 20
AWO I NTER NATI ONAL Eine Welt ohne Hunger Weltweit hungern 821 Millionen Menschen. Seit 2009 führt AWO International mit der indischen Partnerorganisation Madhyam im Bundesstaat Odisha erfolgreich Projekte zur Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung durch. Ranjita Khilla lebt mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen in Attalaguda HELFEN SIE! in Odisha, einem der ärmsten indischen Bundesstaaten in Ostindien. Die 28-Jährige arbeitet als Kleinbäuerin. Um sie und Unterstützen Sie Menschen wie Ranjita. 3.000 weitere Menschen zu unterstützen, bietet AWO Interna- Mit einer dauerhaften Zuwendung tional Schulungen zu verbesserten Anbaumethoden an. Die Verwendung von Biodünger und Biopestiziden förderte die als Fördermitglied können wir langfristig Bodenfruchtbarkeit, und Ranjita erkannte schnell, dass die und nachhaltig die Welt ein wenig erlernten Methoden der biologischen Landwirtschaft ihre gerechter machen. Erträge um einiges steigern konnten. Auf weniger als einem Hektar Land erntete sie etwa 21 Doppelzentner Reis – genug Spendenkonto: für die Versorgung ihrer Familie und den Verkauf. In einem AWO International e. V. Jahr schaffte sie es, um die 80.000 Rupien einzunehmen. IBAN: DE83 1002 0500 0003 2211 00 Dank dieser Einkommensverbesserung können ihre Söhne Bank für Sozialwirtschaft nun die Schule besuchen. Weitere Informationen www.awointernational.de mail@awointernational.de
AWO Z A H L EN Die AWO vor Ort Es ist eine der Grundideen der Arbeiterwohlfahrt und von jeher eine der großen Stärken, weit verzweigt mit ihren Gliederungen und Einrichtungen im Bundes gebiet präsent zu sein. Dem entspricht die Struktur Bundesverband, Landes- und Bezirksverbände und Ortsvereine. Auf allen Ebenen spielen Ehrenamt, Engagement und Mitgliedschaft eine wichtige Rolle. Daneben hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aber die Anzahl der hauptamtlich Beschäftigten kontinu- ierlich vergrößert. Dies hängt eng zusammen mit den erweiterten Angeboten an Dienstleistungen und Einrichtungen. Verbindliche Grundlagen für das ehrenamtli- che wie das hauptamtliche Handeln aller Mitglieder, Gliederungen und Unterneh- men der AWO sind das Grundsatzprogramm und das Verbandsstatut. Wie zahlreiche andere Mitgliedsverbände hat auch die AWO rückläufige Zahlen. Menschen haben weiterhin Interesse, sich freiwillig zu engagieren, aber sie möch- ten dies nicht zwangsläufig mit einer Mitgliedschaft verbinden; Menschen arbeiten gerne bei der AWO, aber dies veranlasst sie nicht immer dazu, auch Mitglied im Verband zu werden. Diese Entwicklungen werden im Verband wahrgenommen und so diskutiert, dass die AWO auch in Zukunft eine zeitgemäße Organisation mit attraktiven Engagementmöglichkeiten sowie interessanten Jobangeboten und eine vernehmbare sozialpolitische Stimme bleibt. AUS WELCHEM GRUND UND WANN SIND SIE / BIST DU MITGLIED DER AWO GEWORDEN? Ich bin im Frühling 2016 mit einer Freundin das erste Mal beim Jugendwerk gewesen und bin gleich Mitglied geworden. Ich bin am 10. Oktober 1990 AWO- Ich wurde sofort sehr freundlich aufgenom- Mitglied geworden. An dem Tag haben wir men und habe mich sehr wohl gefühlt. den Ortsverein gegründet. Die SPD hatte uns Ich hatte von Anfang an das Gefühl, während der »Wendezeit« ins Marie-Juchacz- dazuzugehören und Teil von einer großen Haus nach Marktbreit eingeladen. Dort gab es Gemeinschaft zu sein. einen Vortrag über die AWO, der mich tief beeindruckt hat. In meiner Heimat standen zu Marie Speckmann ist 17 Jahre alt dieser Zeit alle sozialen Einrichtungen auf und ehrenamtlich engagiert beim Landes der Kippe. Ich habe mir Mitstreiter gesucht, die jugendwerk der AWO Bremerhaven. ich für meine Ideen und die AWO begeistern konnte. Mit 15 Personen war der Anfang gemacht. Schon wenige Wochen später konnten wir die erste AWO-Begegnungsstätte eröffnen. Lore Mikolajczyk ist 78 Jahre alt und ehrenamtlich engagiert als Vorsitzende des AWO Kreisverbandes Sonneberg. Sie ist Trägerin der Emma-Sachse- Ehrung. 8 AWO ANSICHT 4 • 20
DIE AWO GLIEDERT SICH BUNDESWEIT IN 30 Bezirks- und Landesverbände 403 Kreisverbände DIE AWO WIRD BUNDESWEIT 3.435 Ortsvereine GETRAGEN VON 312.625 Mitgliedern 82.790 ehrenamtlichen Mitarbeitenden (Helfer*innen) 237.721 hauptamtlichen Mitarbeitenden DIE AWO UNTERHÄLT IN ALLEN BUNDESLÄNDERN ÜBER 18.000 EINRICHTUNGEN UND DIENSTE/DIENSTLEISTUNGEN, DARUNTER: ambulante Dienste insgesamt, darunter sozialpflegerische Dienste Heime inkl. Wohngemeinschaften Tagesstätten, etwa für Kinder und Jugendliche und für alte Menschen Auskunfts- und Beratungsstellen unter- schiedlichster Art, z.B. für Ausländer*innen, Tages- und Arbeitslose, Familien, Werkstätten Schwangere, Alte, für Arbeitslose, Behinderte, Jugendliche Werkstätten aller Art 4 • 20 AWO ANSICHT 9
AWO T H E MA AWO Ansicht 2-2011 AWO Ansicht 2-2017 FREIWILLIG. WARUM MITMACHEN. »Es braucht eine Engagementpolitik, ZUKUNFT DER KOMMUNEN die sich auf die jeweiligen Handlungs- »In Deutschland haben wir die Besonder- felder bezieht. Wir müssen wegkommen heit – Stichwort Subsidiaritätsprinzip –, von einem abstrakten Appell an die Enga AWO Ansicht 4-2019 dass die sozialen und wohlfahrtsstaatli- gementbereitschaft und dem Anbieten von chen Aufgaben zu einem großen Teil lokal allen möglichen Gelegenheiten, sich zu erbracht werden. Sie sollen jedoch, wenn engagieren. Eine ernsthafte Engagement irgend möglich, nicht durch die Kommu- politik muss die Interessen der Menschen nen als öffentliche Institution getätigt, unterstützen.« sondern den freien Trägern überlassen Dr. Norbert Wohlfahrt ist Professor an werden. In dieser deutschen Tradition sind der Evangelischen Fachhochschule die Wohlfahrtsverbände natürlich Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. ganz wichtig.« Prof. Dr. Sabine Kuhlmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation II an der Universität Potsdam. SOLIDARITÄT »Die Fragen von Demokratie und Solidarität hängen eng zusammen. Deshalb sind Institu tionen der Sozialen Arbeit wie die AWO so AWO Ansicht 3-2011 wertvoll. Das Miteinander im Respekt, das für die Demokratie zentral ist, muss im Alltag gelernt und gelebt werden – und dafür braucht es die AWO auch in Zukunft.« Professor Rainer Forst, Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main AWO Ansicht 1-2013 ARMUT BEKÄMPFEN Darum AWO »Ein Wohlfahrtsverband sollte sich nicht gemein machen mit dem Argument der vermeintlichen Sachzwänge und Der politische Auftrag der AWO, Solidarität zu den beschriebenen Konsequenzen, sondern immer wieder leisten sowie Chancengleichheit und Gerech politisch und medial Druck machen und dieser Sichtweise tigkeit zu fördern, ist aktueller denn je. Wie offensiv widersprechen. Und er sollte sich sicher auch mit den von Armut Betroffenen durch konkrete Angebote können Ungleichheiten beseitigt, Engagement solidarisch zeigen.« gefördert und Demokratie gestärkt werden? Michael Hartmann ist seit 1999 Professor für Antworten dazu vom scheidenden AWO-Bundes- Elite- und Organisationssoziologie an der Technischen vorsitzenden Wolfgang Stadler und seinem Nach- Universität Darmstadt. folger Prof. Dr. Jens M. Schubert im Interview.
AWO Ansicht 4-2017 AWO Ansicht 1-2016 DIE BEDEUTUNG VON JUGENDSOZIALARBEIT »Ich erwarte von den Wohlfahrtsverbänden, dass sie ein PERSPEKTIVEN FÜR deutliches jugendpolitisches Konzept für sich erarbeiten. Dieses GEFLÜCHTETE sehe ich derzeit noch nicht klar profiliert bei den Wohlfahrtsver- bänden. Dieses sehe ich aber auch nicht bei den politischen »Ich glaube, die Arbeiterwohlfahrt hat die Aufgabe, Parteien. Es gibt in Deutschland schlicht keine politische Partei, ihre traditionellen Themen – das Eintreten für Offen- die ein jugendpolitisches Programm hat. Darauf müssten die heit, für Gleichberechtigung, für Chancengleichheit, für Wohlfahrtsverbände hinweisen.« Verteilungsgerechtigkeit – offensiv zu vertreten. Die Dr. Wolfgang Schröer ist Hochschullehrer am Institut für Fluchtsituation hat ja keine neuen Themen geschaffen, Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. sondern sie bringt nur Mängel in diversen Themen- und Politikfeldern auf den Tisch.« Dr. Wolfgang Kaschuba ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. AWO Ansicht 2-2020 ALTE ZUKUNFT. WARUM DAS ALTER KEINE BEDROHUNG IST. »Meines Erachtens ist ein Herzstück ihres Handelns, dass Wohlfahrtsverbände wie die AWO auf die ganz konkrete, empirisch sichtbare Lebenslage verweisen; immer wieder Fakten, Zahlen, konkrete Beschreibungen KINDER UND ZUKUNFT thematisieren und auf das Problem hinweisen und »Sie sollten die Fortbildung der Erzieherinnen Handlungserfordernisse auch deutlich machen. Hand- und die Qualifizierung weiter im Blick haben. lungserfordernisse eben nicht nur im Sinne einer Almo- Ich finde, die AWO sollte die Kindertages senpolitik, sondern Handlungserfordernisse, um so einrichtungen, die sie hat, konzeptionell und weit wie möglich präventiv auf Lebens- und Erwerbs strukturell noch besser ausstatten. Das ist verläufe steuernd einzugreifen.« Aufgabe der Wohlfahrtsverbände genauso wie Dr. Gertrud M. Backes ist Professorin und Inhaberin des des Staates.« Lehrstuhls für Altern und Gesellschaft sowie Direktorin Sigrid Tschöpe-Scheffler ist Professorin des Forschungszentrums Altern und Gesellschaft (ZAG) an der Fakultät für Angewandte an der Universität Vechta. Sozialwissenschaft der TH Köln. NACHHALTIGKEIT »Ich denke, Verbände dieser Art müssten mit Blick auf soziale Fragen eine viel größere Rolle in der Nachhaltigkeitsdebatte spielen. Die Nachhaltigkeitsdebatte darf sich nicht nur segmentär auf ökologische Fragen fokussieren.« Dr. Harald Welzer ist Professor für Transformationsdesign an der Universität AWO Ansicht 4-2015 Flensburg und Direktor der Stiftung Futurzwei in Berlin.
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO Werte leben! geschaffen, die vor dem geschichtlichen Hinter- In Heft 4-2011 verfasste Wolfgang Stadler grund der AWO als »Kind der Arbeiterbewegung« grundlegende Gedanken über die Bedeutung mit den AWO-Werten nur noch sehr schwer zu von Werten für die Arbeit der Arbeiterwohl- vereinbaren sind. fahrt. Seine Ausführungen hatten seinerzeit »Nein« sagen können und haben auch heute noch programmati- Natürlich sind auch die AWO-Dienstleistungen schen Charakter. Von daher möchten wir die der Konkurrenz ausgesetzt. Den harten Preiswett- »Jubiläumsausgabe« nutzen, diese Überle- bewerb auf dem Sozialmarkt wird die AWO jedoch gungen erneut abzudrucken. Im Zusammen- über eine massive Kürzung der Personalkosten hang mit dem folgenden Interview mit nicht gewinnen können. Entscheidend ist viel- mehr, ob die AWO als wertegebundener Verband Wolfgang Stadler und Prof. Dr. Jens M. Schubert mit ihren Unternehmen alle Entwicklungen auf entsteht so ein Gesamtbild über die Gegen- dem Markt der Anbieter mitmacht oder nicht. Die wart und Zukunft der AWO. Antwort kann eigentlich nur lauten: Nein. AUTOR WOLFGANG STADLER Werteorientiert handeln ist eben kein rein prag- matisches Vorgehen, sondern vielmehr auch das Eingeständnis, etwas nicht zu machen; selbstbe- In kaum einer Rede von Verbandsvertreter*innen wusst zu sagen: »Dann machen es halt andere, fehlt – im Übrigen völlig zu Recht – der Hinweis wenn es mit den Grundüberzeugungen, für die die auf die Unumstößlichkeit der AWO-Grundwerte AWO eintritt, nicht vereinbar ist.« Und zu den von Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Grundüberzeugungen und dem Selbstverständnis Gerechtigkeit. Ein solcher Verweis droht allerdings der AWO gehört, dass ein Wettbewerb um die Löhne dann unglaubwürdig zu werden, wenn diese nicht gewollt ist. Die AWO kann und darf sich nicht Werte im Alltag nicht gelebt werden. auf alle Marktgepflogenheiten einlassen. Nur so kann sie eine seriöse, glaubwürdige Arbeitgeberin Gute Arbeit geleistet sein und bleiben. Anspruch muss es vielmehr sein, Kein Zweifel, in vielen Teilen hat die AWO in den den Wert der Sozialen Arbeit wieder deutlicher vergangenen 20 bis 30 Jahren mit Erfolg auf dem ins Blickfeld zu nehmen! Bei den Lohnkosten kann Markt der Sozialwirtschaft gewirkt. Ziel war es, es deshalb nur Ziel sein, einen verbindlichen gute Dienstleistungen anzubieten. Dies ist gelungen. Branchentarifvertrag für soziale Dienstleistungen Die Angebote der AWO zeichnen sich durch ihre abzuschließen, der alle Arbeitsfelder, in denen die hohe Qualität, Fachlichkeit und ihren interkultu- AWO und andere Verbände der Freien Wohlfahrts- rellen Anspruch aus. Das Selbstverständnis der AWO pflege tätig sind, umfasst. So wird es gelingen, die als Verband, der Engagierte in die Soziale Arbeit Lohnabwärtsspirale zu stoppen, und den Ange- einbezieht, ist wesentlich für die Angebote vor stellten käme jene Anerkennung zuteil, die sie für Ort. Auch die selbstlose Reinvestition der Mittel ihre tagtägliche Arbeit verdienen. für die Allgemeinheit ist und bleibt Kernmerkmal der AWO als gemeinnütziger Verband. In seinem wegweisenden Urteil zu den Hartz-IV- Regelsätzen aus dem vergangenen Jahr hat das Von interessierter politischer Seite wurde seit Bundesverfassungsgericht explizit den Zusam- Einführung der Pflegeversicherung Mitte der menhang zwischen Menschenwürde und Sozial- 1990er-Jahre in allen Feldern der Sozialen Arbeit staat hergestellt. In Teilen der Politik und der auf Regulierung durch »den Markt« gesetzt. Man medialen Öffentlichkeit wurden die betroffenen hat die harte Konkurrenz zwischen verschiedenen Hartz-IV-Empfänger*innen insofern diffamiert, als Anbietern gewollt und durch entsprechende Decke- ihnen – überspitzt gesagt – Lust an der sozialen lungen in der Finanzierung und rigide Ausschrei- Hängematte unterstellt wurde. Die AWO muss in bungspolitik gefördert. Im Zuge dieser immer diesen Debatten wieder hörbar eine Stimme für ruinöseren Konkurrenz um Angebote und Dienst- die Betroffenen erheben. Die AWO kann aber nur leistungen sahen sich auch AWO-Anbieter dann glaubwürdig an der Seite der von Existenz- gezwungen, vor allem an Lohnkosten zu sparen. not betroffenen Menschen stehen, wenn der Ver- So wurden in einigen Arbeitsfeldern Verhältnisse band selbst eine innere Glaubwürdigkeit besitzt; 12 AWO ANSICHT 4 • 20
VER BAND Leitsätze der AWO wenn die eigenen Werte auch und vor allem in den Einrichtungen und Diensten gelebt werden – vom Haupt- wie vom Ehrenamt! Wir verpflichten uns als Mitgliederverband, als sozialwirtschaftliches Unternehmen und als Glaubwürdige Stimme sein Interessenverband, unseren Werten entsprechend Die AWO ist dann zukunftstauglich, wenn ihre zu handeln. Indem wir unsere Grundsätze Unternehmen und Dienstleistungen eine erkenn- transparent darstellen, machen wir sie zum bar gemeinwohlpolitische Orientierung verkörpern. Maßstab unserer Arbeit. Sie kann dann eine Diskussion über die Zukunft des Sozialstaats glaubwürdig und offensiv führen, wenn ihre inhaltlichen Positionen sich für alle Wir finden uns mit Ungleichheit und Ungerechtig- erkennbar aus den Grundwerten ableiten lassen keit nicht ab. Der demokratische Sozialstaat ist und gelebt werden. Eine solche Diskussion ist etwa verpflichtet, Ausgleich zwischen Arm und Reich mit Blick auf die noch unüberschaubaren Folgen herzustellen. der Wirtschafts- und Finanzkrise vonnöten. Klar sollte hier sein, dass die anfallenden Kosten gerecht verteilt werden müssen und dass die Schere zwi- Wir streiten für eine demokratische Gesellschaft schen Arm und Reich nicht noch weiter auseinander- in Vielfalt und begegnen allen Menschen gehen darf, wenn nicht mittelfristig das Vertrauen mit Respekt. in die demokratischen (und AWO-)Grundwerte Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit noch weiter zurückgehen soll. Wir sind ein unabhängiger und eigenständiger Mitgliederverband. Auf Grundlage unserer Werte streiten wir gemeinsam mit Mitgliedern, Enga- gierten und Mitarbeitenden für eine solidarische und gerechte Gesellschaft. »Wenn die AWO ihre Glaubwürdigkeit und Berechtigung als Verband der Freien Wohlfahrtspflege nicht einbüßen möchte, Wir treten für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz ein. Diese Grundwerte muss sie auch im Umgang mit den eigenen des freiheitlichen demokratischen Sozialismus Angestellten, den Kund*innen und in bestimmen unser Handeln. ihrer anwaltschaftlichen Funktion nach ihren Grundwerten handeln. Werte leben ist mehr als nur pragmatisch handeln.« Wir unterstützen Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und fördern ein demokratisches Wolfgang Stadler, AWO Bundesvorsitzender Zusammenleben in Solidarität und Achtung vor der Natur. WERTE LEBEN Wir arbeiten professionell, inklusiv, interkulturell, innovativ und nachhaltig. Das sichern wir durch die Fachlichkeit unserer Mitglieder, Engagierten und Mitarbeitenden. Wir bieten soziale Dienstleistungen mit hoher Qualität und Wirkung für alle an. Staat und Kommunen tragen die Verantwortung für die soziale Daseinsvorsorge. 4 • 20 AWO ANSICHT 13
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO Wir machen Herr Stadler, bevor Sie elf Jahre als AWO-Bundesvor- sitzender agierten, waren Sie 16 Jahre Geschäfts führer des AWO Bezirksverbands Ostwestfalen-Lippe. weiter Was hat Sie an der Aufgabe auf Bundesebene über- rascht – im Positiven wie im Negativen – im Vergleich zu der Tätigkeit im Bezirk? STADLER Eher negativ überrascht war ich darüber, Nach elf Jahren als Vorsitzender des AWO dass viele Leute, die über Dinge auf der Bundes- Bundesverbandes geht Wolfgang Stadler am ebene sprechen, nicht immer genau wissen, 31. Dezember 2020 in den Ruhestand. Nachfol- worüber sie eigentlich reden. Da habe ich es schon ger wird Prof. Dr. Jens M. Schubert. Er ist bereits als Vorteil empfunden, aufgrund meiner jahrzehn- telangen Arbeit bei der AWO die Praxis relativ gut seit dem 1. August Geschäftsführer nach § 30 zu kennen und deren Sichtweise in Debatten auf BGB. Zeit, um ein Gespräch über die Gegenwart Bundesebene einzubringen. und Zukunft der Wohlfahrtspflege insgesamt und der AWO im Besonderen zu führen. Sind die beiden Aufgaben zwei verschiedene Paar Schuhe oder gibt es Bereiche, die deckungsgleich sind? INTERVIEW PETER KULEßA STADLER An manchen Punkten gibt es natürlich Über- schneidungen. Etwa im organisatorischen Ablauf von Herr Stadler, freuen Sie sich schon auf den Vorhaben, die man plant und aufbaut. Aber auch 1. Januar 2021? inhaltlich. Nur kurz zwei Beispiele: Nehmen Sie das Thema Qualität der Arbeit in den Kindertages- WOLFGANG STADLER Ja klar! Ein neuer Lebensab- einrichtungen. Ein Thema, das ich seit sehr vielen schnitt beginnt, und ich erhoffe mir, dass mein Jahren auch aus der Praxis vor Ort bestens kenne. Vor Leben etwas ruhiger wird und der Dauerstress diesem Hintergrund habe ich auf Bundesebene immer aufhört. wieder versucht, entsprechend zu wirken und ver- nünftige Rahmenbedingungen zu schaffen. Und dann Herr Schubert, freuen Sie sich auch schon auf ist es schon sehr gut zu wissen, wenn sich Qualitäts- die Zeit nach dem 1. Januar 2021? maßstäbe verbessert haben und entsprechende Normen verändert wurden. Oder das Thema Pflege. JENS M. SCHUBERT Klar freue ich mich auf meine neue Die AWO vor Ort ist bekanntlich Trägerin von zahl Aufgabe. Ich werde aber auch Wolfgang Stadler reichen Pflegeeinrichtungen. Ich habe immer wieder vermissen, da ich es in den letzten Monaten sehr erlebt, mit welcher Intensität und welcher Hingabe genossen habe, mit ihm zusammenzuarbeiten. die überwiegende Anzahl der Pflegekräfte arbeitet. Ich werde hier wirklich auf besondere Weise in Von daher war es mir auch immer klar, dass die Rah- das neue Amt eingeführt und erfahre eine tolle menbedingungen für die Pflegekräfte verbessert Unterstützung. Ich danke ihm sehr! werden müssen. Hier konnte ich auf Bundesebene unter anderem mit Jens Schubert in seiner damaligen Tätigkeit bei ver.di dafür sorgen, dass die Arbeits- verhältnisse für die Pflegekräfte durch neue Rahmen- bedingungen deutlich verbessert werden … WOLFGAN G STADLER geboren 1954 in Duisburg, ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Seit 2010 ist er Vorsitzender des Vorstandes des AWO Bundesverbandes e.V. Er begann 1978 als Zivi bei der AWO, leitete ein Bildungswerk und wurde 1983 stellvertreten- der Bezirksgeschäftsführer. Von 1993 bis 2009 war er Geschäftsführer des AWO Bezirksverbandes Ostwestfalen- Lippe e.V. Seit Oktober 2005 ist er Geschäftsführer von awo lifebalance, der früheren ElternService AWO GmbH. 14 AWO ANSICHT 4 • 20
… dieses wichtige Thema werden wir später noch weiter vertiefen … Herr Schubert, als promovierter AWO und habilitierter Jurist wäre bei Ihnen auch eine I NT E RV I E W wissenschaftliche Laufbahn denkbar gewesen. Warum 2010 der Schritt als Chefjurist zu ver.di und warum nun die Bewerbung auf den Vorstandsvorsitz des AWO Bundesverbandes? SCHUBERT Mein beruflicher Lebensweg ist nicht unbedingt gradlinig, das stimmt. Ich war Anwalt, an der Universität tätig, dann bei einer Gewerk- schaft und jetzt der Schritt zur Arbeiterwohlfahrt. wichtigen sozialpolitischen Themen an den ent- Mich interessiert Wissenschaft sehr, ich werde mich sprechenden Stellen einzubringen. Ich freue mich auch weiterhin in den dortigen Diskurs, nunmehr daher, meine Lebens- und Berufserfahrungen in die auch mit den AWO-Themen, einmischen. Zugleich Arbeit für den Bundesverband einzubringen. Sicher- bin ich aber seit jeher neugierig zu erfahren, wie lich ist es mit mir als Seiteneinsteiger für beide Seiten sich Dinge in der Praxis zeigen, und möchte an neu, aber zusammen kann es in vielerlei Hinsicht deren Umsetzung aktiv mitwirken. Und auch das gewinnbringend werden, davon bin ich überzeugt. sogenannte politische Geschäft gehört dazu und ist für mich spannend. Der Wechsel zu ver.di 2010 Ein Blick in den Verband erfolgte deshalb auch, weil ich als Arbeitsrechtler praxisnah zum Beispiel das Tarifgeschäft sowie Verfahren vor den höchsten deutschen Gerichten erleben und mitverantworten wollte. Mit Blick auf das politische Geschäft hatte die Arbeit als Chef jurist dort aber ihre Grenzen. Dies ist einer der Letztes Jahr wurde der 100. Geburtstag der AWO Gründe für den Sprung zur AWO. Hier habe ich eine gefeiert. Mutige Männer und vor allem Frauen haben andere Rolle, kann anders gestalten, um die mir den Verband in den Gründungsjahren geprägt. Wie bedeutsam ist der Bezug zu der eigenen Historie? Und: Wie sehr besteht zugleich die Gefahr – Stich- wort: Sonntagsreden –, dass man sich zu sehr auf das Vergangene bezieht oder sich gar darauf ausruht und zukunftsweisende Debatten aus dem Blick ver- P RO F. D R . J E N S M. SCH U BERT liert? Herr Stadler, wenn Sie in den Verband ›hinein- gehorcht‹ haben, wie haben Sie diesen eventuellen geboren 1969, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Zwiespalt wahrgenommen? Seit August 2020 ist er Geschäftsführer des AWO Bundesver- bandes e.V. und dann ab dem 1. Januar 2021 Vorstands STADLER Ich habe eigentlich immer gespürt, vorsitzender. Von März 2010 bis Juli 2020 war er Leiter des dass uns der Blick in die Historie Kraft gibt und Bereichs Recht und Rechtspolitik in der Bundesverwaltung Wegweiser für die Zukunft ist. Wir konnten uns der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Er ist durch den intensiven Blick in die Geschichte ver- promovierter und habilitierter Jurist und hat eine Neben- gewissern, wie aktuell die Werte und Ziele unserer tätigkeit als außerplanmäßiger Professor an der Leuphana Gründerinnen heute noch sind. Wir bewegen uns Universität Lüneburg, Leuphana Law School. natürlich in einem anderen Kontext, und zugleich sind viele Visionen noch nicht umgesetzt. Klar ist immer auch, dass die Arbeiterwohlfahrt nach vorne blicken muss und der Blick zurück nicht ver- klärend wirken darf. Ist diese bedeutsame Historie für Sie, Herr Schubert, Fluch und Segen zugleich? SCHUBERT Bei der Lektüre von Reden und Texten etwa von Marie Juchacz oder Lotte Lemke stellt man teilweise fest, wie aktuell diese vielfach noch sind. Von daher sind sie schlicht der Maßstab. Bei Themen, die noch immer geklärt und diskutiert 4 • 20 AWO ANSICHT 15
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO FACHKRÄFTE »Für das Hauptamt gilt es unbedingt zu bestehen möchte. Zum Thema Ehrenamt: Wir klären, wie Fachkräfte für die Zukunft brauchen schlicht Nachwuchs; wir brauchen jün- gewonnen und wie diese an die Organisation gere Leute, die bei uns mitwirken. Entsprechend und an die Unternehmen gebunden werden müssen aber auch unsere Strukturen weiterent können. Zum Thema Ehrenamt: Wir brauchen wickelt werden. Junge Menschen wollen direkt schlicht Nachwuchs; wir brauchen jüngere und unmittelbar etwas Gutes, Interessantes, Wich tiges leisten. Das bedarf neuer Formen der Anspra- Leute, die bei uns mitwirken.« che, aber auch neuer Plattformen, die ihnen die Wolfgang Stadler Möglichkeiten eröffnen, sich entsprechend einzu- bringen. Insgesamt – und hierfür habe ich mich mein langes Leben in der AWO immer eingesetzt – werden müssen, ist der Blick zurück sehr wohl brauchen wir im Verband und vor allem im Unter- also auch Selbstvergewisserung: Was wurden nehmen ein hohes Maß an Übereinstimmung damals für Ideen geäußert? Was wurden damals zwischen unseren Zielen und Werten und unserem für Argumente geliefert? Es gibt natürlich neue praktischen Tun. Seien wir doch endlich so inklu- Themen. Über das dritte Geschlecht beispielsweise siv in unseren sozialen Unternehmungen, wie etwa wurde vor hundert Jahren noch nicht disku- wir es von der Gesellschaft in Bundeskonferenz tiert. Aber die Frage, wie wir mit Diskriminierung beschlüssen erwarten. Praktizieren wir auf allen umgehen, die hat es damals sehr wohl schon Ebenen endlich die Gleichstellung der Geschlechter, gegeben. Insofern kann dann der Blick zurück die sich uns unsere hochverehrte Gründerin sehr wertvoll sein, ohne dabei in rein nostalgische gewünscht hat. Fordern wir nicht immer nur von Gefühle zu verfallen. anderen Integration und Weltoffenheit, wenn bei uns der Anteil von Menschen mit Migrations- Herr Stadler, was waren und sind die zentralen hintergrund in den ehren- und hauptamtlichen Herausforderungen für den inneren Zusammenhalt Führungsebenen noch vollkommen unterent des Verbandes? Anders gefragt: Was sind die Erwar- wickelt ist. tungen an das Haupt- und das Ehrenamt? Herr Schubert, Organisationen wie Parteien, STADLER Für das Hauptamt gilt es unbedingt zu Gewerkschaften oder eben auch Wohlfahrtsverbände klären, wie Fachkräfte für die Zukunft gewonnen wie die AWO leiden seit Jahren unter Mitglieder- und wie diese an die Organisation und an die verlusten. Vom Selbstverständnis her sind sie aber Unternehmen gebunden werden können. Wissen- bedeutsam. Was sind die Ursachen für diese Verluste? schaftliche Untersuchungen belegen, dass die Wie sollte man gegensteuern? Wohlfahrtspflegebranche nicht immer gut mit den eigenen Mitarbeitenden umgeht und sie sich SCHUBERT Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass wir daher zukünftig ändern muss, wenn sie im Wett- auf allen Ebenen und Gliederungen, das Haupt- bewerb um die weniger werdenden Arbeitskräfte und das Ehrenamt gemeinsam, gegen den Mitglie- 16 AWO ANSICHT 4 • 20
derverlust vorgehen müssen. An der Mitglieder- welche sozialen Folgen ökologische Veränderungs- zahl wird man nun einmal auch gemessen. Wie prozesse haben. Da gilt es frühzeitig und klar Posi- viele andere Verbände werden wir daher sehr aktiv tion zu beziehen. Ich glaube, dass all dies dann so um Mitglieder werben. Unser Aktionstag ist da ein ansprechend ist, dass sich Menschen bei uns, auch Beispiel. Wir werden aber auch über neue Formen gegen einen möglichen Trend, engagieren wollen. der Ansprache (soziale Netzwerke) nachdenken Übrigens, wenn wir von Glaubwürdigkeit sprechen: müssen. Dabei will ich aber nicht allein von jun- Klare Positionen beziehen Wolfgang Stadler und gen Leuten sprechen. Es geht in meinen Augen ich auch bei den skandalösen und der AWO stark mehr darum, Themen, die alle Menschen genera schadenden Compliance-Verstößen. Hier endet tionsübergreifend berühren, anzugehen. jede Toleranz. Ich bin darüber hinaus sehr davon überzeugt, dass die AWO Gesichter braucht. Sie muss erlebbar und erfahrbar sein. Dafür müssen unsere Taten Die AWO als politischer mit dem übereinstimmen, was wir sagen, und umgekehrt. Sprich: Wenn wir uns zu einer Kinder- Akteur grundsicherung bekennen, dann muss sich unser Einsatz dafür in allen Gliederungen und auf allen Ebenen der Verbandsarbeit widerspiegeln. Wenn wir für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege Warum, Herr Schubert, ist die AWO jetzt und in oder in Einrichtungen streiten, dann müssen wir Zukunft notwendig für das soziale und demokrati- natürlich auch selbst unsere Beschäftigten ent- sche Miteinander in Deutschland? sprechend behandeln. Die AWO muss authentisch, glaubwürdig und verlässlich sein und überall durch SCHUBERT Die AWO hat eine ganz breite Angebots ihre vielen Persönlichkeiten überzeugen. Jede palette sozialer Dienstleistungen und steht Organisation, die dies nicht tut, verliert Zuspruch. zugleich für ein demokratisches Miteinander aller Dies gilt auch bei dem sehr drängenden Thema, Menschen – unabhängig von Herkunft oder der Größe des Geldbeutels. Sie ist in der Lage, Bezüge darzustellen und zu beschreiben, was andere Akteure vielleicht nicht so können. Was haben »Es gehört, so meine ich, zum Auftrag Rente, Inklusion, Quartiersarbeit, Gleichheit der der AWO, sich in viele soziale Themen ein- Geschlechter, Migrationshilfe, Armutsbekämpfung, zumischen, Angebote zu machen und für Familienarbeit, Kampf gegen rechts und so weiter die einzutreten, die es vielleicht nicht in gemeinsam? Auf den ersten Blick sind es sicher gleicher Weise können. Das ist notwendiger einzelne Problemfelder, die sachkundig angegan- gen werden müssen. Sie hängen in unserer Gesell- denn je in den gegenwärtigen Zeiten.« schaft aber auch alle zusammen, und es ist eben Jens M. Schubert die AWO, die glaubhaft und mit viel Erfahrung Gesamtzusammenhänge herausarbeiten und einer Öffentlichkeit und der Politik verdeutlichen kann. Anders formuliert: In gesellschaftspolitischen BERATUNG Diskussionen verwendete Schlagworte wie zum Beispiel »Diversity« (ich spreche lieber von Vielfalt) werden bei der AWO in das tatsächliche Leben überführt. Das alles kann eben die AWO. Das führt aber gleichzeitig zu einer Verpflichtung: Es gehört, so meine ich, zum Auftrag der AWO, sich in viele soziale Themen einzumischen, Angebote zu machen und für die einzutreten, die es vielleicht nicht in gleicher Weise können. Das ist notwendiger denn je in den gegenwär- tigen Zeiten. 4 • 20 AWO ANSICHT 17
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO Welche politischen Fragen müssen jetzt gestellt und gesteckt haben. Dieses Denken und Handeln ist beantwortet werden? Bei welchen Themen sollte die ganz entscheidend und verdeutlicht zugleich, AWO Antworten geben können, Herr Stadler? warum wir auf Dauer die Arbeiterwohlfahrt für ein soziales Miteinander benötigen. Die Gesellschaft STADLER Ich möchte hier die Motivation, den braucht solche Akteure der geregelten und dauer- Antrieb für unser Engagement ins Spiel bringen: haften Daseinsvorsorge. Dieser Antrieb ist bei der AWO eben ein anderer als nur den Mammon im Blick zu haben und zu Durch das Aufkommen der privaten Anbieter hat sich sagen, ›oh ja, das ist aber ein interessanter Markt, ja trotz alledem etwas für die Freie Wohlfahrtspflege auf dem können und wollen wir viel Geld verdie- verändert. Kurzum: Wie groß ist der ökonomische nen‹. Deutschland ist hier für Investoren, die so Druck auf die Anbieter der Freien Wohlfahrtspflege? denken, hoch interessant, das wissen wir. Die Wie viel Kraft braucht es, um so zu agieren wie eben Arbeiterwohlfahrt sagt hier jedoch: Nein, wir sind beschrieben? nicht gewinnorientiert, wir wollen gute Arbeit leisten, wir wollen das erlösen, was wir tatsächlich SCHUBERT Wenn es schon diesen Wettbewerb, den auch ausgeben, und ansonsten in die Soziale die AWO nicht initiiert hat, gibt, dann muss man Arbeit investieren und nicht irgendwelche Inves zumindest dessen Regeln kennen und verstehen; toren befriedigen, die Gelder in dieses Geschäft dann muss man an den Stellen kämpfen, an denen wir nicht bereit sind, dieses Spiel mitzu- spielen. Konkret werden wir einen Wettbewerb über Löhne und Gehälter und Arbeitsbedingungen von Beschäftigten nicht mitmachen. Wir werden »Die Arbeiterwohlfahrt sagt: Nein, wir sind auch nicht an den Dienstleistungen für die uns nicht gewinnorientiert, wir wollen gute anvertrauten Menschen sparen. Arbeit leisten, wir wollen das erlösen, was Mit welcher Konsequenz? wir tatsächlich auch ausgeben, und ansonsten in die Soziale Arbeit investieren und nicht SCHUBERT Mit der Konsequenz, dass wir uns im irgendwelche Investoren befriedigen, die politischen Raum Verbündete suchen und auf Ent- Gelder in dieses Geschäft gesteckt haben.« scheider zugehen müssen, damit bestimmte Regu- larien eingehalten werden. Denn klar ist doch Wolfgang Stadler auch: Soziale Dienstleistungen sind kein Markt wie der für Autos oder für Oberhemden, sondern es ist ein Markt, der besonderen Regularien unter- GLAUBWÜRDIGKEIT worfen ist und der staatlicherseits auch anders zu regulieren ist. Das heißt, es muss mehr Geld für das Soziale gezahlt werden und die Frage der Ver- teilung gilt es zu klären. Es kann private Anbieter geben und die Freie Wohlfahrt. Aber es muss immer auch klar sein, dass diese nicht gegenein- ander stehen und vor allen Dingen die Privaten nicht so in den Markt eingreifen dürfen, dass die Freie Wohlfahrt Existenzprobleme bekommt. Der Staat stützt sich auf die Wohlfahrt und er kann ihr auch vertrauensvoll sozialstaatliche Aufgaben übertragen. Das kann er bei anderen, die mit Gewinnerzielungsabsicht agieren, vielleicht nicht immer. Hierauf sollten wir gelegentlich selbstbe- wusst hinweisen. STADLER Ich habe die Freie Wohlfahrtspflege ja nun intensiv beobachten können. Rückblickend mag man etwa die vermeintlich komfortable Lage der Wohlfahrtsverbände in den 1980er-Jahren als sehr positiv bezeichnen. Man agierte konkurrenzlos, und teilweise konnten die Rahmensetzungen mit den Kostenträgern ausgehandelt werden – Stichwort 18 AWO ANSICHT 4 • 20
GUTE LÖHNE »Ebenso müssen Lohn- und Sozialdumping ausgeschlossen werden. Um einen Wett- Letztlich entsteht ein massiver Fachkräftemangel. bewerb über schlechte Löhne auszuschalten, In diesem Zusammenhang können wir auch muss es einen Tarifvertrag mit einem nicht dauerhaft den Weg weitergehen, dringend Mindestentgelt geben, der sich auf alle benötigte Fachkräfte durch Pflegehilfskräfte Arbeitsverhältnisse erstreckt. Besser kann oder ungelernte Kräfte zu ersetzen. Kurzum: Das man natürlich immer entlohnen, aber Thema Akquise von Beschäftigten in der Pflege ist wichtig. ein Mindestentgelt ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Wettbewerbsgleichheit.« Ebenso müssen Lohn- und Sozialdumping aus Jens M. Schubert geschlossen werden. Um einen Wettbewerb über schlechte Löhne auszuschalten, muss es einen Tarifvertrag mit einem Mindestentgelt geben, der Korporatismus. Die Fragen, wie unsere Maßnahmen sich auf alle Arbeitsverhältnisse erstreckt. Besser wirken und in welcher Intensität und Qualität wir kann man natürlich immer entlohnen, aber ein unsere Dienstleistungen anbieten, standen dabei Mindestentgelt ist ein wichtiger Schritt auf dem nicht immer im Vordergrund. Von daher war es schon Weg zur Wettbewerbsgleichheit. In diesem Zusam- hilfreich, dass eine Konkurrenz entstanden ist, um menhang dürfen sich zugleich die Eigenanteile den eigenen Blick für unser Handeln zu schärfen. für die Betroffenen nicht erhöhen. So will es jetzt Fatal war es dann jedoch, dass die notwendige Ver- auch der Gesetzgeber. Dies bedeutet aber: Es muss änderung teilweise in einen radikalen Marktliberalis- mehr Geld ins System. Das geht nur über zwei mus umgeschlagen ist. Die Gefahren einer Lohnspi- Wege: Beitragserhöhung oder steuerliche Mittel. rale nach unten hat Jens Schubert soeben beschrie- Dies sollte man ehrlicherweise sagen. Aber Pflege ben. Da haben wir jetzt glücklicherweise zumindest muss uns das wert sein. in der Pflege einen Riegel vorschieben können. Herr Stadler, wie ist Ihr Eindruck: Hat seitens der Stichwort Tarifvertrag Soziales in der Pflege. Sie sind politisch Verantwortlichen ein Umdenken stattgefun- beide vehemente Verfechter davon. Was ist genau den? Existiert die Bereitschaft, auch Geld in die Hand gemeint? Warum ist ein solches Konstrukt so wichtig? zu nehmen, um die beschriebenen Ziele zu erreichen? SCHUBERT Wir brauchen Mindestentgelte im System, STADLER Es ist auf jeden Fall so, dass sich unter damit wir zwei Sachen bewerkstelligen können. den politisch Verantwortlichen das Meinungsbild Zum Ersten: Ganz viele Menschen meiden den Weg erkennbar verändert hat. 2012 wurden ja schon in die Altenpflege, obwohl sie diesen Beruf sehr interne Gespräche geführt. Dort trafen wir einzel- gerne ausüben würden, weil die Entlohnung schlecht ne Personen in den Bundestagsfraktionen, die ist. Zum Zweiten: Wir kennen Kolleg*innen vor Ort, für das Thema offen waren und gesagt haben: Ihr die mit 50 sagen: Bis zur Rente schaffe ich das seid auf dem richtigen Weg, aber es ist politisch körperlich oder psychisch nicht. leider nicht durchsetzbar. 4 • 20 AWO ANSICHT 19
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