"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO

 
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"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO Ansicht 4-2011

                                                                             AWO Ansicht 4-2019
            WERTE

          »Vergesst hinter
          Euren großen                                                                             ENGAGEMENT

          Aufgaben niemals
                                                                                                  »Soziales Engagement bei konsequenter
                                                                                                  politischer Haltung ist in Zeiten zuneh-
                                                                                                  mender Menschenfeindlichkeit so nötig
                                                                                                  wie in der Gründerzeit der AWO. Damit

          den einzelnen
                                                                                                  Humanität, Gerechtigkeit, Solidarität nicht
                                                                                                  zu Schlagworten verkommen, muss es die
                                                                                                  AWO deshalb auch künftig geben.«

          Menschen!«
                                                                                                  Professor Wolfgang Benz war bis 2011
                                                                                                  Direktor des Zentrums für Antisemi­-
                                                                                                  tismusforschung an der Technischen
                                                                                                  Universität Berlin.
          Lotte Lemke, langjährige Geschäftsführerin,
          Bundesvorsitzende, danach Ehrenvorsitzende
          der Arbeiterwohlfahrt.

                                                                                                                                                4 20
»Das Anliegen von Wohlfahrtsverbänden ist eines,
von dem auch die Menschen etwas haben, die
nicht unmittelbar profitieren. Die AWO arbeitet auch
im Interesse von bürger­lichen Mittelschichten und
wohlhabenden Leuten. Das ist ganz wichtig. Ihre
Klientel ist das Ganze. Das muss man gerade den
Menschen, denen es besser geht, immer wieder
deutlich sagen.«
Dr. jur. Christoph Möllers ist Professor und Inhaber
des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere
                                                                             Gegenwart und Zukunft
Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der                               der AWO. Führungswechsel beim
Humboldt-Universität zu Berlin.
                                                                             Bundesverband: Wolfgang Stadler
                                   DEMOKRATIE UND                            und Prof. Dr. Jens M. Schubert
                                   TEILHABE                                  im Interview über die Heraus­for-
                                                                             de­rungen für ein zeitgemäßes
                                                                             Verständnis von Solidarität
                                                                             und Teilhabe.
              AWO Ansicht 1-2020
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO A N SI C H T

                   Liebe Leserin, lieber Leser,
                   die vierte Ausgabe des zehnten Jahrgangs der AWO Ansicht ist zugleich die
                   letzte mit Wolfgang Stadler als Herausgeber für den AWO Bundesverband
                   und Redaktionsmitglied. Ohne das Engagement von Wolfgang Stadler gäbe
                   es dieses Magazin in der vorliegenden Form nicht. Er hat diese Publikation
                   und deren Umsetzung seinerzeit maßgeblich vorangetrieben. Ursprüngliche
                   Idee war es, vier Mal im Jahr ein sozial- und gesellschaftspolitisches Thema
                   auszuleuchten. »Dabei werden wir«, so Wolfgang Stadler im Editorial des ersten
                   Heftes, »fundiert analysieren und meinungsstark kommentieren.« Beim Blick
                   in die Hefte wird klar: Dieser Anspruch wurde zu den verschiedensten Themen
                   eingelöst. Attraktiv ist die AWO Ansicht auch deshalb, weil es der Redaktion
                   und den Grafikerinnen immer wieder gelingt, die jeweiligen Themen zeitge-
                   mäß aufzubereiten. Das Magazin ist so zu einem wesentlichen Baustein in
                   der Kommunikation des AWO Bundesverbandes geworden.

                   Das vorliegende Heft ist etwas anders als sonst. Es gibt eine »Außenansicht«
                   von Axel Honneth, die bereits in Heft 4-2011 erschien, aber immer noch
                   treffende Ausführungen zum Thema Solidarität, einem zentralen Grundwert
                   der AWO, enthält. Im Mittelpunkt steht zudem ein ausführliches Interview
                   mit Wolfgang Stadler und seinem Nachfolger als Vorstandsvorsitzender
                   Prof. Dr. Jens M. Schubert zur Gegenwart und Zukunft der Arbeiterwohlfahrt.
                   Jens M. Schubert wird mit Heft 1-2021 Herausgeber für den AWO Bundes­
                   verband und Redaktionsmitglied der AWO Ansicht – und wir sind sicher,
                   dass er diese Aufgabe genauso engagiert angehen wird wie Wolfgang
                   Stadler. Im Namen der AWO und der Redaktion möchten wir uns an dieser
                   Stelle ganz herzlich bei Wolfgang Stadler bedanken und Jens M. Schubert
                   ebenso herzlich willkommen heißen.

                   Brigitte Döcker                                Wilhelm Schmidt,
                   Mitglied des Vorstands                         Vorsitzender des Präsidiums

I M P R E SS U M
Herausgeber                                       Konzept und Gestaltung                       Anzeigen
AWO Bundesverband e. V.                           Stephanie Roderer,                           TAG Agentur & Verlag
Blücherstraße 62 / 63 • 10961 Berlin              www.stephanie-roderer.de                     Tel 06431/2121241 • Fax 06431/2121244
Tel 030 / 26309-0 • Fax 030 / 26309-32599                                                      Agentur@Tag-Verlag.de • www.Tag-Verlag.de
                                                  Fotografie
info@awo.org • www.awo.org
                                                  S. Titel AdsD / FES, AWO Bundesverband       Druck
Redaktion AWO Ansicht                             S. 3, 10, 11, 13-19, 20-21 AWO Bundesver-    deVega Medien GmbH, Augsburg.
Tel 030 / 26309 -4553 • Fax 030 / 26309 -324553   band • S. 4 BAGFW • S. 4-5 BMU/photo-        Gedruckt auf Arctic Volume white FSC ®
awo-ansicht@awo.org                               thek/Thomas Trutschel • S. 6 6/FOTA105963    mixed credit - GFA-COC-002292-MN
                                                  AdsD/FES • S. 7 AWO International •
Redaktion Brigitte Döcker • Berit Gründler  •
                                                  S. 8 privat, Marie Speckmann, AWO LV
Peter Kuleßa v.i.s.d.P. • Wolfgang Stadler
                                                  Thüringen • S. 22 Universität Frankfurt/M.
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO A K T U E L L

WO HLFA H RT S VE R BÄ N D E

Deutscher Sozialpreis
2020 verliehen
Ende Oktober 2020 wurde der Deutsche Sozialpreis 2020 in
Berlin vergeben. Die Preisverleihung wurde entsprechend den
aktuellen Hygiene-Regeln durchgeführt. Coronabedingt war
auch kein Publikum anwesend. Die Veranstaltung wurde online
übertragen. Gastrednerin war Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
(BAGFW) verleiht seit 1971 jährlich den Deutschen Sozialpreis
für herausragende Arbeiten zu sozialen Themen. Ausgezeich-
net werden Beiträge, die sich mit den besonderen Situationen
oder Problemen Not leidender und sozial benachteiligter
Menschen in Deutschland auseinandersetzen.                                      Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen
                                                                                Laufzeit: 2020–2023, Volumen: 150 Millionen Euro
Die Preisträger*innen 2020:                                                     Förderschwerpunkte: strategische Beratungsleistungen,
Mareike Nieberding in der Sparte Print für das SZ-Magazin,                      Erstellung umfassender Klimaanpassungskonzepte, investive
Joachim Palutzki in der Sparte Hörfunk für den Deutschland-                     Maßnahmen, Informationskampagnen, Bildungsangebote
funk, Marie Löwenstein und Julian Amershi in der Sparte
Fernsehen für den NDR, Pia Rauschenberger in der Sparte                            Weiterführende Informationen: www.z-u-g.org/
Online mit einer Podcast-Serie für den Deutschlandfunk,                         aufgaben/klimaanpassung-in-sozialen-einrichtungen/
Jan Niklas Lorenzen und Markus Stein in der Sparte Sonder-
preis »30 Jahre Deutsche Einheit« für den MDR.                                  Sozial & Mobil
                                                                                Laufzeit: 2020–2022, Volumen: 200 Millionen Euro
   Berit Gründler • Jurymitglied für die AWO • 030/263090
                                                                                Förderschwerpunkte: Beschaffung rein batterieelektrischer
                                                                                Neufahrzeuge sowie Aufbau von Ladeinfrastruktur
                                                                                  Weiterführende Informationen: www.erneuerbar-
                                                                                mobil.de/foerderprogramme/sozial&mobil

                                                            S OVD UND AWO

                                                            Europa gegen Armut
                                                            Auf der digitalen Veranstaltung »Europäische Strategien zur
                                                            Armutsbekämpfung – Perspektiven für ein Europa von morgen«
                                                            stellten der Sozial­verband Deutschland (SoVD) und die Arbeiter-
                                                            wohlfahrt (AWO) anlässlich der deutschen EU-Ratspräsident-
                                                            schaft gesamteuropäische Lösungen für drängende soziale
                                                            Fragen vor. Im Beisein von EU-Kommissar Nicolas Schmit
                                                            und Bundessozialminister Hubertus Heil wurden neun Maß-
                                                            nahmen für ein soziales und solidarisches Europa präsentiert.
           »Es ist nicht hinnehmbar, dass                  Deutschland hat bis Ende 2020 die EU-Ratspräsidentschaft
             unsere Jugend im Europa des                    inne. Der Stärkung der sozialen Dimension und insbesondere
             21. Jahrhunderts um die                        der Armutsbekämpfung müsse dabei eine weitaus höhere
                                                            Priorität eingeräumt werden, betonen SoVD und AWO. Denn:
             Erfüllung elementarer Bedürf-
                                                            Bereits vor der Corona-Krise seien in der EU mehr als 109
             nisse kämpfen muss.«                           Millionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung
             Prof. Dr. Jens M. Schubert,                    bedroht gewesen.
             AWO-Bundesgeschäftsführer
                                                              Die Erklärung »Gemeinsam für ein Europa ohne Armut« ist unter
                                                            www.awo.org abzurufen.
                                                              Marius Isenberg • marius.isenberg@awo.org

4 AWO ANSICHT 4 • 20
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
S VENJA SCHULZ E
                                                                     ist seit März 2018 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz
                                                                     und nukleare Sicherheit. Von 2017 bis 2018 war sie General­
                                                                     sekretärin der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands (SPD)
                                                                     in Nordrhein-Westfalen und von 2010 bis 2017 Ministerin
                                                                     für Innovation, Wissenschaft und Forschung in NRW.

                                                                     Die Klimakrise ist ein Problem, das die Menschheit noch
                                                                     lange beschäftigen wird. Die Förderprogramme sind
                                                                     zeitlich befristet. Wie können langfristige Strukturen
                                                                     etabliert werden?
                                                                     SCHULZE Der Umstieg auf eine CO2-neutrale Arbeits-
                                                                     und Wirtschaftsweise bis Mitte des Jahrhunderts ist
                                                                     auch für die sozialen Dienste eine große Kraftanstren-
                                                                     gung – von der energetischen Sanierung der Gebäude
                                                                     bis hin zu ökologischeren Fahrzeugflotten. All das wird
                                                                     in den kommenden Jahrzehnten Kosten verursachen, die
I NT ERV I E W MI T B U N D ESU MW ELTMIN ISTERIN SVEN JA SCHULZ E   durch die Regelfinanzierungssysteme bis dato nicht

Klimaschutz und
                                                                     abgebildet werden. Es ist vollkommen klar, dass perspek-
                                                                     tivisch über die Finanzierungsgrundlage der sozialen
                                                                     Dienste und Einrichtungen gesprochen werden muss.

die Verantwor­-                                                      Sie haben in Ihrem Ministerium ein Referat für soziale
                                                                     Angelegenheiten der Umweltpolitik und soziale Gerech-

tung der Freien
                                                                     tigkeit eingerichtet. Warum und wo sehen Sie die
                                                                     Hauptaufgaben dieses Arbeitsbereichs?
                                                                     SCHULZE Mich leitet die Überzeugung, dass Umwelt- und

Wohlfahrtspflege
                                                                     Klimaschutzpolitik sozial gerecht ausgestaltet sein
                                                                     muss. Ich habe aus diesem Grund zu Beginn der Legis-
                                                                     latur eine Arbeitseinheit gegründet, die sich intensiv
                                                                     mit den sozialen Aspekten von Umweltpolitik beschäftigt.
AUTOREN STEFFEN LEMBKE UND PETER KULEßA                              Das zahlt sich aus. Inzwischen tausche ich mich regel-
                                                                     mäßig mit den Wohlfahrtsverbänden aus. Das hilft
                                                                     enorm, um ein größeres Verständnis für die Hürden und
        Frau Schulze, im Zuge des Konjunktur- und Zukunftspa-        Herausforderungen sozialer Dienste und Einrichtungen
        kets der Bundesregierung wurden die zwei Förderpro-          im Klimaschutz zu bekommen. Im Dialog ist zum Bei-
        gramme »Sozial & Mobil« und »Klimaanpassung in sozia-        spiel deutlich geworden, dass Hilfen beim Flottenaus-
        len Einrichtungen« aufgelegt. Diese unterstützen auch        tausch und bei der Anpassung an den Klimawandel
        die Freie Wohlfahrtspflege umfassend. Worum geht es          auf ein großes Interesse stoßen würden. So konnten
        bei den Programmen und warum sehen Sie gerade hier           wir bedarfsgerechte Förderprogramme entwickeln.
        Potenzial für den Klimaschutz?
        SCHULZE Die Freie Wohlfahrt leistet unter schwierigen        Abschließend: Welche Verantwortung kann oder
        Umständen Großartiges – nicht nur in der aktuellen           muss beim Erreichen der Pariser Klimaschutzziele der
        Krise. Neben dem anstrengenden Alltag stellen sich           Freien Wohlfahrtspflege zukommen?
        Beschäftigte den Herausforderungen rund um den               SCHULZE Nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Kraft-
        Klimawandel und benötigen dafür Unterstützung.               anstrengung können wir den demografischen Wandel,
        Aus diesem Grund habe ich zwei neue Förderpro-               die Digitalisierung und den Klimawandel meistern. Auch
        gramme ins Leben gerufen. Damit lassen sich Maß-             der Wohlfahrt kommt hier eine maßgebliche Rolle zu,
        nahmen anstoßen, die finanziell ansonsten nicht zu           die die AWO schon jetzt vorbildlich wahrnimmt. Im
        stemmen wären. Das Programm »Sozial & Mobil«                 neuen Grundsatzprogramm macht sie klar, dass soziale
        ermöglicht sozialen Diensten eine Umrüstung ihrer            Verantwortung immer auch eine ökologische Dimen-
        Flotten auf Elektrofahrzeuge. Mit dem Förderpro-             sion hat. Und diesen Grundsätzen lässt die AWO unter
        gramm »Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen«             anderem mit ihrem Projekt »Klimafreundlich pflegen«
        können sich Kindergärten oder Pflegeheime gegen Hit-         Taten folgen, das übrigens von meinem Ministerium
        zewellen wappnen. Mit den Programmen kann die                gefördert wird. Deutschlandweit haben AWO-Beschäf-
        Freie Wohlfahrt mehr gegen den Klimawandel tun und           tigte den Klimaschutz im stationären Pflegebereich
        auch das Arbeitsumfeld der Beschäftigten sowie die           vorangetrieben. Wir brauchen mehr solcher Projekte, die
        Lebensqualität betreuungsbedürftiger Menschen                nicht nur CO2 vermeiden, sondern zugleich auch mehr
        spürbar verbessern.                                          Qualität und Freude in den Arbeitsalltag bringen.

                                                                                                                         4 • 20 AWO ANSICHT 5
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO A K T U E L L

ENGAG E ME NT

Weihnachtsmarken
erhältlich
Seit dem 2. November und bis zum 31. Dezember 2020
können die neuen Weihnachtsmarken in unserem Wohlfahrts­-
marken-Shop erworben werden. Das Motiv des Sonderpost-
wertzeichens zu Weihnachten 2020 bildet einen Ausschnitt         PANDEMI E

                                                                 Frauen vor Gewalt
aus dem großen Portalfenster der Pfarrkirche St. Katharina in
Bad Soden am Taunus ab. Seit über 70 Jahren werden die Marken

                                                                 schützen
mit Zuschlagserlösen zugunsten der Freien Wohlfahrtspflege
herausgegeben. Alle Erlöse, die Haupt- und Ehrenamtliche der
einzelnen Einrichtungen der Wohlfahrtsver­bände erzielen,
werden direkt vor Ort zur Finanzierung sozialer Maßnahmen        Partnerschaftsgewalt findet in der Coronakrise ver-
eingesetzt. Die Weihnachtsmarken können auch in den              stärkt statt. Die Beratungsanfragen beim bundeswei-
AWO-Gliederungen zur Eigenfran­kierung eingesetzt werden.        ten Hilfetelefon liegen 20 Prozent über den Zahlen
                                                                 des Vorjahres. Die Berliner Gewaltschutzambulanz
   Zum Shop: awo-engagiert.awo.org                               der Charité behandelte bereits im Juni 2020 30
                                                                 Prozent mehr und schwerere Fälle als im Jahr zuvor.
  Weiterführende Informationen rund um die
                                                                 Für Frauen und ihre mitbetroffenen Kinder ist es
Wohlfahrtsmarken: Berit Gründler • werbung@awo.org
                                                                 umso wichtiger zu wissen, dass Beratung, Schutz
                                                                 und Hilfe jederzeit garantiert werden. Die AWO hat
                                                                 ein Forderungspapier für die Sicherstellung der
                                                                 Hilfeangebote gegen Gewalt an Frauen erarbeitet.
HI STO R ISCH E S P O RT R ÄT                                    Sie fordert darin den überregionalen und schnellen
                                                                 Zugang zu Schutz, Hilfe und Beratung, sofortige
                                                                 Corona-Testmöglichkeiten für Frauenhäuser und

Marta Schanzenbach                                               eine finanzielle Absicherung der Mehrbedarfe an
                                                                 Räumlichkeiten und Fachpersonal.

1907–1997                                                        Steigende Infektionszahlen erschweren es vielen
                                                                 Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind,
Von 1929 bis 1931 absolvierte Marta Schanzenbach die Wohl-
                                                                 sich über Hilfen zu informieren. Fehlende soziale
fahrtsschule der AWO in Berlin. Nach erfolgreichem Abschluss
                                                                 Außenkontakte, die Angst vor Ansteckung und die
zur Fürsorgerin war sie im Jugendamt Prenzlauer Berg unter
                                                                 Nähe zum gewalttätigen Partner hemmen die
Walter Friedländer tätig. 1933 wurde sie durch die National­
                                                                 Entscheidung, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder
sozialisten entlassen, sie erhielt Berufsverbot. Schanzenbach
                                                                 Zuflucht in einer Schutzeinrichtung zu suchen. Die
arbeitete ab 1939 erneut als Berliner Fürsorgerin, 1942 kehrte
sie schließlich in ihre Heimat, die Schwarzwaldregion, zurück.   AWO als Teil des bundesweiten Gewaltschutznetzes
Dort setzte sie sich ab 1945 unmittelbar für den Wiederaufbau    bietet in vielen Frauenhäusern und weiteren
ein. Als Vorsitzende prägte sie die AWO Südbaden bis Mitte der   Schutzwohnungen sowie in zahlreichen Fachbera-
1970er-Jahre. 1949 wurde sie Mitglied des AWO Hauptvorstan-      tungsstellen Unterkunft, Notfallhilfe, telefonische
des, von 1953 bis 1971 war sie stellvertretende AWO-Bundes-      und digitale Beratung und Begleitung an. Allein in
vorsitzende. Parallel dazu wurde sie 1949 in den Bundestag       den Frauenhäusern der AWO finden jedes Jahr
gewählt und übte bis in die 1970er-Jahre zentrale Parteifunk­    mehr als 1.500 Frauen und 1.600 Kinder Zuflucht
tionen in der SPD aus, die inhaltlich Schnittmengen zur AWO      vor häuslicher Gewalt.
boten. 1958 wurde Schanzenbach erstes weibliches Mitglied
des SPD-Präsidiums, später Frauenbeauftragte des Partei­-          Das Forderungspapier können Sie unter
vor­standes sowie Vorsitzende des Ausschusses für Frauen-        www.awo.org herunterladen
fragen. Im AWO Bezirksverband Baden engagierte sie
sich bis ins späte Lebensalter als Ehrenvorsitzende.               Christiane Völz • christiane.voelz@awo.org

   Weitere Informationen im Historischen
Archiv der AWO www.awo-historie.org

6 AWO ANSICHT 4 • 20
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO I NTER NATI ONAL

                                            Eine Welt ohne Hunger
                                            Weltweit hungern 821 Millionen Menschen. Seit 2009 führt
                                            AWO International mit der indischen Partnerorganisation
                                            Madhyam im Bundesstaat Odisha erfolgreich Projekte zur
                                            Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung durch. Ranjita
                                            Khilla lebt mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen in Attalaguda
HELFEN SIE!                                 in Odisha, einem der ärmsten indischen Bundesstaaten in
                                            Ostindien. Die 28-Jährige arbeitet als Kleinbäuerin. Um sie und
Unterstützen Sie Menschen wie Ranjita.      3.000 weitere Menschen zu unterstützen, bietet AWO Inter­na-
Mit einer dauerhaften Zuwendung             tional Schulungen zu verbesserten Anbaumethoden an. Die
                                            Verwendung von Biodünger und Biopestiziden förderte die
als Fördermitglied können wir langfristig
                                            Bodenfruchtbarkeit, und Ranjita erkannte schnell, dass die
und nachhaltig die Welt ein wenig           erlernten Methoden der biologischen Landwirtschaft ihre
gerechter machen.                           Erträge um einiges steigern konnten. Auf weniger als einem
                                            Hektar Land erntete sie etwa 21 Doppelzentner Reis – genug
   Spendenkonto:                            für die Versorgung ihrer Familie und den Verkauf. In einem
AWO International e. V.                     Jahr schaffte sie es, um die 80.000 Rupien einzunehmen.
IBAN: DE83 1002 0500 0003 2211 00           Dank dieser Einkommensverbesserung können ihre Söhne
Bank für Sozialwirtschaft                   nun die Schule besuchen.

                                              Weitere Informationen www.awointernational.de
                                            mail@awointernational.de
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO Z A H L EN

                        Die AWO vor Ort
                        Es ist eine der Grundideen der Arbeiterwohlfahrt und von jeher eine der großen
                        Stärken, weit verzweigt mit ihren Gliederungen und Einrichtungen im Bundes­
                        gebiet präsent zu sein. Dem entspricht die Struktur Bundesverband, Landes- und
                        Bezirksverbände und Ortsvereine. Auf allen Ebenen spielen Ehrenamt, Engagement
                        und Mitgliedschaft eine wichtige Rolle. Daneben hat sich in den vergangenen
                        Jahren und Jahrzehnten aber die Anzahl der hauptamtlich Beschäftigten kontinu-
                        ierlich vergrößert. Dies hängt eng zusammen mit den erweiterten Ange­boten an
                        Dienstleistungen und Einrich­tungen. Verbindliche Grundlagen für das ehrenamtli-
                        che wie das hauptamt­liche Handeln aller Mitglie­der, Gliederungen und Unterneh-
                        men der AWO sind das Grundsatzprogramm und das Verbandsstatut.

                        Wie zahlreiche andere Mitgliedsverbände hat auch die AWO rückläufige Zahlen.
                        Menschen haben weiterhin Interesse, sich freiwillig zu engagieren, aber sie möch-
                        ten dies nicht zwangsläufig mit einer Mitgliedschaft verbinden; Menschen arbeiten
                        gerne bei der AWO, aber dies veranlasst sie nicht immer dazu, auch Mitglied im
                        Verband zu werden. Diese Entwicklungen werden im Verband wahrgenommen und
                        so diskutiert, dass die AWO auch in Zukunft eine zeitgemäße Organisation mit
                        attraktiven Engagementmöglichkeiten sowie interessanten Jobangeboten und
                        eine vernehmbare sozialpolitische Stimme bleibt.

            AUS WELCHEM GRUND UND WANN
            SIND SIE / BIST DU MITGLIED
            DER AWO GEWORDEN?

                                                                   Ich bin im Frühling 2016 mit einer
                                                               Freundin das erste Mal beim Jugendwerk
                                                             gewesen und bin gleich Mitglied geworden.
               Ich bin am 10. Oktober 1990 AWO-              Ich wurde sofort sehr freundlich aufgenom-
          Mitglied geworden. An dem Tag haben wir               men und habe mich sehr wohl gefühlt.
         den Ortsverein gegründet. Die SPD hatte uns              Ich hatte von Anfang an das Gefühl,
        während der »Wendezeit« ins Marie-Juchacz-             dazuzugehören und Teil von einer großen
        Haus nach Marktbreit eingeladen. Dort gab es                     Gemeinschaft zu sein.
           einen Vortrag über die AWO, der mich tief
        beeindruckt hat. In meiner Heimat standen zu              Marie Speckmann ist 17 Jahre alt
           dieser Zeit alle sozialen Einrichtungen auf       und ehrenamtlich engagiert beim Landes­
       der Kippe. Ich habe mir Mitstreiter gesucht, die         jugendwerk der AWO Bremerhaven.
         ich für meine Ideen und die AWO begeistern
            konnte. Mit 15 Personen war der Anfang
       gemacht. Schon wenige Wochen später konnten
        wir die erste AWO-Begegnungsstätte eröffnen.
             Lore Mikolajczyk ist 78 Jahre alt und
            ehrenamtlich engagiert als Vorsitzende
             des AWO Kreisverbandes Sonneberg.
              Sie ist Trägerin der Emma-Sachse-
                             Ehrung.

8 AWO ANSICHT 4 • 20
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
DIE AWO GLIEDERT SICH
BUNDESWEIT IN

30 Bezirks- und Landesverbände
403 Kreisverbände
                                                    DIE AWO WIRD BUNDESWEIT
3.435 Ortsvereine
                                                    GETRAGEN VON

                                                    312.625 Mitgliedern
                                                    82.790 ehrenamtlichen
                                                    Mitarbeitenden (Helfer*innen)
                                                    237.721 hauptamtlichen
                                                    Mitarbeitenden
         DIE AWO UNTERHÄLT IN ALLEN
         BUNDESLÄNDERN ÜBER
         18.000 EINRICHTUNGEN UND
         DIENSTE/DIENSTLEISTUNGEN,
         DARUNTER:

                                                             ambulante Dienste
                                                             insgesamt, darunter
                                                             sozialpflegerische
                                                             Dienste

Heime inkl.
Wohngemeinschaften
                                       Tagesstätten,
                                       etwa für Kinder
                                       und Jugendliche
                                       und für alte
                                       Menschen

                 Auskunfts- und
                 Beratungsstellen unter-
                 schiedlichster Art, z.B.
                 für Ausländer*innen,               Tages- und
                 Arbeitslose, Familien,             Werkstätten
                 Schwangere, Alte,                  für Arbeitslose,
                 Behinderte, Jugendliche            Werkstätten
                                                    aller Art

                                                                                    4 • 20 AWO ANSICHT 9
"Vergesst hinter Euren großen Aufgaben niemals den einzelnen Menschen!" - AWO
AWO T H E MA

                                                                                                                                                                       AWO Ansicht 2-2011
                                                             AWO Ansicht 2-2017
                                                                                                     FREIWILLIG.
                                                                                                     WARUM MITMACHEN.
                                                                                                                           »Es braucht eine Engagementpolitik,
 ZUKUNFT DER KOMMUNEN
                                                                                                                           die sich auf die jeweiligen Handlungs­-
»In Deutschland haben wir die Besonder-                                                                                    felder bezieht. Wir müssen wegkommen
heit – Stichwort Subsidiaritätsprinzip –,                                                                                  von einem abstrakten Appell an die Enga­

                                                                                                      AWO Ansicht 4-2019
dass die sozialen und wohlfahrtsstaatli-                                                                                   gementbereitschaft und dem Anbieten von
chen Aufgaben zu einem großen Teil lokal                                                                                   allen möglichen Gelegenheiten, sich zu
erbracht werden. Sie sollen jedoch, wenn                                                                                   engagieren. Eine ernsthafte Engagement­
irgend möglich, nicht durch die Kommu-                                                                                     politik muss die Interessen der Menschen
nen als öffentliche Institution getätigt,                                                                                  unterstützen.«
sondern den freien Trägern überlassen                                                                                      Dr. Norbert Wohlfahrt ist Professor an
werden. In dieser deutschen Tradition sind                                                                                 der Evangelischen Fachhochschule
die Wohlfahrtsverbände natürlich                                                                                           Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.
ganz wichtig.«
Prof. Dr. Sabine Kuhlmann, Inhaberin
des Lehrstuhls für Politikwissenschaft,
Verwaltung und Organisation II an
der Universität Potsdam.
                                                                                   SOLIDARITÄT
                                                                                  »Die Fragen von Demokratie und Solidarität
                                                                                  hängen eng zusammen. Deshalb sind Institu­
                                                                                  tionen der Sozialen Arbeit wie die AWO so
                                                                                                                                                  AWO Ansicht 3-2011
                                                                                  wertvoll. Das Miteinander im Respekt, das
                                                                                  für die Demokratie zentral ist, muss im Alltag
                                                                                  gelernt und gelebt werden – und dafür
                                                                                  braucht es die AWO auch in Zukunft.«
                                                                                  Professor Rainer Forst, Politische Theorie
                                                                                  und Philosophie an der Goethe-Universität
                                                                                  Frankfurt am Main
                                                             AWO Ansicht 1-2013

 ARMUT BEKÄMPFEN
                                                                                             Darum AWO
»Ein Wohlfahrtsverband sollte sich nicht gemein machen
mit dem Argument der vermeintlichen Sachzwänge und                                           Der politische Auftrag der AWO, Solidarität zu
den beschriebenen Konsequenzen, sondern immer wieder                                         leisten sowie Chancengleichheit und Gerech­
politisch und medial Druck machen und dieser Sichtweise
                                                                                             tigkeit zu fördern, ist aktueller denn je. Wie
offensiv widersprechen. Und er sollte sich sicher auch mit
den von Armut Betroffenen durch konkrete Angebote                                            können Ungleichheiten beseitigt, Engagement
solidarisch zeigen.«                                                                         gefördert und Demokratie gestärkt werden?
Michael Hartmann ist seit 1999 Professor für                                                 Antworten dazu vom scheidenden AWO-Bundes-
Elite- und Organisationssoziologie an der Technischen                                        vorsitzenden Wolfgang Stadler und seinem Nach-
Universität Darmstadt.                                                                       folger Prof. Dr. Jens M. Schubert im Interview.
AWO Ansicht 4-2017
                                                           AWO Ansicht 1-2016
                                                                                  DIE BEDEUTUNG
                                                                                  VON JUGENDSOZIALARBEIT
                                                                                 »Ich erwarte von den Wohlfahrtsverbänden, dass sie ein
 PERSPEKTIVEN FÜR                                                                deut­liches jugendpolitisches Konzept für sich erarbeiten. Dieses
 GEFLÜCHTETE                                                                     sehe ich derzeit noch nicht klar profiliert bei den Wohlfahrtsver-
                                                                                 bänden. Dieses sehe ich aber auch nicht bei den politischen
»Ich glaube, die Arbeiterwohlfahrt hat die Aufgabe,                              Parteien. Es gibt in Deutschland schlicht keine politische Partei,
ihre traditionellen Themen – das Eintreten für Offen-                            die ein jugendpoli­tisches Programm hat. Darauf müssten die
heit, für Gleichberechtigung, für Chancengleichheit, für                         Wohlfahrtsverbände hinweisen.«
Verteilungsgerechtigkeit – offensiv zu vertreten. Die
                                                                                 Dr. Wolfgang Schröer ist Hochschullehrer am Institut für
Fluchtsituation hat ja keine neuen Themen geschaffen,
                                                                                 Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim.
sondern sie bringt nur Mängel in diversen Themen-
und Politikfeldern auf den Tisch.«
Dr. Wolfgang Kaschuba ist Professor für Europäische
Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.                                        AWO Ansicht 2-2020

   ALTE ZUKUNFT.
   WARUM DAS ALTER
   KEINE BEDROHUNG IST.
                »Meines Erachtens ist ein Herzstück ihres Handelns,
                dass Wohlfahrtsverbände wie die AWO auf die ganz
                konkrete, empirisch sichtbare Lebenslage verweisen;
                immer wieder Fakten, Zahlen, konkrete Beschreibungen                                          KINDER UND ZUKUNFT
                thematisieren und auf das Problem hinweisen und
                                                                                                                    »Sie sollten die Fortbildung der Erzieherinnen
                Handlungserfordernisse auch deutlich machen. Hand-
                                                                                                                    und die Qualifizierung weiter im Blick haben.
                lungserfordernisse eben nicht nur im Sinne einer Almo­-
                                                                                                                    Ich finde, die AWO sollte die Kindertages­
                s­enpolitik, sondern Handlungserfordernisse, um so
                                                                                                                    einrichtungen, die sie hat, konzeptionell und
                weit wie möglich präventiv auf Lebens- und Erwerbs­
                                                                                                                    strukturell noch besser ausstatten. Das ist
                verläufe steuernd einzugreifen.«
                                                                                                                    Aufgabe der Wohlfahrtsverbände genauso wie
                Dr. Gertrud M. Backes ist Professorin und Inhaberin des                                             des Staates.«
                Lehrstuhls für Altern und Gesellschaft sowie Direktorin
                                                                                                                    Sigrid Tschöpe-Scheffler ist Professorin
                des Forschungszentrums Altern und Gesellschaft (ZAG)
                                                                                                                    an der Fakultät für Angewandte
                an der Universität Vechta.
                                                                                                                    Sozialwissenschaft der TH Köln.

                                                                                NACHHALTIGKEIT
                                                                                                               »Ich denke, Verbände dieser Art müssten
                                                                                                               mit Blick auf soziale Fragen eine viel
                                                                                                               größere Rolle in der Nachhaltigkeitsdebatte
                                                                                                               spielen. Die Nachhaltigkeitsdebatte darf
                                                                                                               sich nicht nur segmentär auf ökologische
                                                                                                               Fragen fokussieren.«
                                                                                                               Dr. Harald Welzer ist Professor für
                                                                                                               Transforma­tionsdesign an der Universität
                          AWO Ansicht 4-2015

                                                                                                               Flensburg und Direktor der Stiftung
                                                                                                               Futurzwei in Berlin.
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO

Werte leben!                                                          geschaffen, die vor dem geschichtlichen Hinter-
In Heft 4-2011 verfasste Wolfgang Stadler                             grund der AWO als »Kind der Arbeiterbewegung«
grundlegende Gedanken über die Bedeutung                              mit den AWO-Werten nur noch sehr schwer zu
von Werten für die Arbeit der Arbeiterwohl-                           vereinbaren sind.
fahrt. Seine Ausführungen hatten seinerzeit
                                                                      »Nein« sagen können
und haben auch heute noch programmati-
                                                                      Natürlich sind auch die AWO-Dienstleistungen
schen Charakter. Von daher möchten wir die                            der Konkurrenz ausgesetzt. Den harten Preiswett-
»Jubiläumsausgabe« nutzen, diese Überle-                              bewerb auf dem Sozialmarkt wird die AWO jedoch
gungen erneut abzudrucken. Im Zusammen-                               über eine massive Kürzung der Personalkosten
hang mit dem folgenden Interview mit                                  nicht gewinnen können. Entscheidend ist viel-
                                                                      mehr, ob die AWO als wertegebundener Verband
Wolfgang Stadler und Prof. Dr. Jens M. Schubert
                                                                      mit ihren Unternehmen alle Entwicklungen auf
entsteht so ein Gesamtbild über die Gegen-                            dem Markt der Anbieter mitmacht oder nicht. Die
wart und Zukunft der AWO.                                             Antwort kann eigentlich nur lauten: Nein.

AUTOR WOLFGANG STADLER
                                                                      Werteorientiert handeln ist eben kein rein prag-
                                                                      matisches Vorgehen, sondern vielmehr auch das
                                                                      Eingeständnis, etwas nicht zu machen; selbstbe-
             In kaum einer Rede von Verbandsvertreter*innen           wusst zu sagen: »Dann machen es halt andere,
             fehlt – im Übrigen völlig zu Recht – der Hinweis         wenn es mit den Grundüberzeugungen, für die die
             auf die Unumstößlichkeit der AWO-Grundwerte              AWO eintritt, nicht vereinbar ist.« Und zu den
             von Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und      Grundüberzeugungen und dem Selbstverständnis
             Gerechtigkeit. Ein solcher Verweis droht allerdings      der AWO gehört, dass ein Wettbewerb um die Löhne
             dann unglaubwürdig zu werden, wenn diese                 nicht gewollt ist. Die AWO kann und darf sich nicht
             Werte im Alltag nicht gelebt werden.                     auf alle Marktgepflogenheiten einlassen. Nur so
                                                                      kann sie eine seriöse, glaubwürdige Arbeitgeberin
             Gute Arbeit geleistet                                    sein und bleiben. Anspruch muss es vielmehr sein,
             Kein Zweifel, in vielen Teilen hat die AWO in den        den Wert der Sozialen Arbeit wieder deutlicher
             vergangenen 20 bis 30 Jahren mit Erfolg auf dem          ins Blickfeld zu nehmen! Bei den Lohnkosten kann
             Markt der Sozialwirtschaft gewirkt. Ziel war es,         es deshalb nur Ziel sein, einen verbindlichen
             gute Dienstleistungen anzubieten. Dies ist ge­­lungen.   Branchentarifvertrag für soziale Dienst­­­­­­­­leistungen
             Die Angebote der AWO zeichnen sich durch ihre            abzuschließen, der alle Arbeits­­felder, in denen die
             hohe Qualität, Fachlichkeit und ihren interkultu-        AWO und andere Verbände der Freien Wohlfahrts-
             rellen Anspruch aus. Das Selbstverständnis der AWO       pflege tätig sind, umfasst. So wird es gelingen, die
             als Verband, der Engagierte in die Soziale Arbeit        Lohnabwärtsspirale zu stoppen, und den Ange-
             einbezieht, ist wesentlich für die Angebote vor          stellten käme jene Aner­kennung zuteil, die sie für
             Ort. Auch die selbstlose Rein­vestition der Mittel       ihre tagtägliche Arbeit verdienen.
             für die Allgemeinheit ist und bleibt Kernmerkmal
             der AWO als gemeinnütziger Verband.                      In seinem wegweisenden Urteil zu den Hartz-IV-
                                                                      Regelsätzen aus dem vergangenen Jahr hat das
             Von interessierter politischer Seite wurde seit          Bundesverfassungsgericht explizit den Zusam-
             Einführung der Pflegeversicherung Mitte der              menhang zwischen Menschenwürde und Sozial-
             1990er-Jahre in allen Feldern der Sozialen Arbeit        staat hergestellt. In Teilen der Politik und der
             auf Regulierung durch »den Markt« gesetzt. Man           medialen Öffentlichkeit wurden die betroffenen
             hat die harte Konkurrenz zwischen verschiedenen          Hartz-IV-Empfänger*innen insofern diffamiert, als
             Anbietern gewollt und durch entsprechende Decke-         ihnen – überspitzt gesagt – Lust an der sozialen
             lungen in der Finanzierung und rigide Ausschrei-         Hängematte unterstellt wurde. Die AWO muss in
             bungspolitik gefördert. Im Zuge dieser immer             diesen Debatten wieder hörbar eine Stimme für
             ruinöseren Konkurrenz um Angebote und Dienst-            die Betroffenen erheben. Die AWO kann aber nur
             leistungen sahen sich auch AWO-Anbieter                  dann glaubwürdig an der Seite der von Existenz-
             gezwungen, vor allem an Lohnkosten zu sparen.            not betroffenen Menschen stehen, wenn der Ver-
             So wurden in einigen Arbeitsfeldern Verhältnisse         band selbst eine innere Glaubwürdigkeit besitzt;

12 AWO ANSICHT 4 • 20
VER BAND

                                                         Leitsätze der AWO
 wenn die eigenen Werte auch und vor allem in
 den Einrichtungen und Diensten gelebt werden –
 vom Haupt- wie vom Ehrenamt!                            Wir verpflichten uns als Mitglieder­verband, als
                                                         sozialwirtschaftliches Unternehmen und als
 Glaubwürdige Stimme sein                                Interessenverband, unseren Werten entsprechend
 Die AWO ist dann zukunftstauglich, wenn ihre            zu handeln. Indem wir unsere Grundsätze
 Unternehmen und Dienstleistungen eine erkenn-           transparent darstellen, machen wir sie zum
 bar gemeinwohlpolitische Orientierung verkörpern.       Maßstab unserer Arbeit.
 Sie kann dann eine Diskussion über die Zukunft
 des Sozialstaats glaubwürdig und offensiv führen,
 wenn ihre inhaltlichen Positionen sich für alle         Wir finden uns mit Ungleichheit und Ungerechtig-
 erkennbar aus den Grundwerten ableiten lassen           keit nicht ab. Der demokratische Sozialstaat ist
 und gelebt werden. Eine solche Diskussion ist etwa      verpflichtet, Ausgleich zwischen Arm und Reich
 mit Blick auf die noch unüberschaubaren Folgen          herzustellen.
 der Wirtschafts- und Finanzkrise vonnöten. Klar
 sollte hier sein, dass die anfallenden Kosten gerecht
 verteilt werden müssen und dass die Schere zwi-         Wir streiten für eine demokratische Gesellschaft
 schen Arm und Reich nicht noch weiter auseinander-      in Vielfalt und begegnen allen Menschen
 gehen darf, wenn nicht mittelfristig das Vertrauen      mit Respekt.
 in die demokratischen (und AWO-)Grundwerte
 Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und
 Gerechtigkeit noch weiter zurückgehen soll.             Wir sind ein unabhängiger und eigenständiger
                                                         Mitgliederver­band. Auf Grundlage unserer Werte
                                                         streiten wir gemeinsam mit Mitgliedern, Enga-
                                                         gierten und Mitarbeitenden für eine solidarische
                                                         und gerechte Gesellschaft.
»Wenn die AWO ihre Glaubwürdigkeit und
  Berechtigung als Verband der Freien
  Wohlfahrtspflege nicht einbüßen möchte,                Wir treten für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit,
                                                         Solidarität und Toleranz ein. Diese Grundwerte
  muss sie auch im Umgang mit den eigenen                des freiheitlichen demokratischen Sozialismus
 Angestellten, den Kund*innen und in                     bestimmen unser Handeln.
 ihrer anwaltschaftlichen Funktion nach
 ihren Grund­­werten handeln. Werte leben
 ist mehr als nur pragmatisch handeln.«                  Wir unterstützen Menschen, ein selbstbestimmtes
                                                         Leben zu führen, und fördern ein demo­kratisches
 Wolfgang Stadler, AWO Bundesvorsitzender                Zusammenleben in Solidarität und Achtung
                                                         vor der Natur.

  WERTE LEBEN
                                                         Wir arbeiten professionell, inklusiv, interkulturell,
                                                         innovativ und nachhaltig. Das sichern wir durch
                                                         die Fachlichkeit unserer Mitglieder, Engagierten
                                                         und Mitarbeitenden.

                                                         Wir bieten soziale Dienstleistungen mit hoher
                                                         Qualität und Wirkung für alle an. Staat und
                                                         Kommunen tragen die Verantwortung für die
                                                         soziale Daseinsvorsorge.

                                                                                                      4 • 20 AWO ANSICHT 13
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO

Wir machen
                                                                         Herr Stadler, bevor Sie elf Jahre als AWO-Bundesvor-
                                                                         sitzender agierten, waren Sie 16 Jahre Geschäfts­
                                                                         führer des AWO Bezirksverbands Ostwestfalen-Lippe.

weiter
                                                                         Was hat Sie an der Aufgabe auf Bundesebene über-
                                                                         rascht – im Positiven wie im Negativen – im Vergleich
                                                                         zu der Tätigkeit im Bezirk?

                                                                         STADLER Eher negativ überrascht war ich darüber,
Nach elf Jahren als Vorsitzender des AWO                                 dass viele Leute, die über Dinge auf der Bundes-
Bundesverbandes geht Wolfgang Stadler am                                 ebene sprechen, nicht immer genau wissen,
31. Dezember 2020 in den Ruhestand. Nachfol-                             wo­rüber sie eigentlich reden. Da habe ich es schon
ger wird Prof. Dr. Jens M. Schubert. Er ist bereits                      als Vorteil empfunden, aufgrund meiner jahrzehn-
                                                                         telangen Arbeit bei der AWO die Praxis relativ gut
seit dem 1. August Geschäftsführer nach § 30
                                                                         zu kennen und deren Sichtweise in Debatten auf
BGB. Zeit, um ein Gespräch über die Gegenwart                            Bundesebene einzubringen.
und Zukunft der Wohlfahrtspflege insgesamt
und der AWO im Besonderen zu führen.                                     Sind die beiden Aufgaben zwei verschiedene Paar
                                                                         Schuhe oder gibt es Bereiche, die deckungsgleich sind?
INTERVIEW PETER KULEßA

                                                                         STADLER An manchen Punkten gibt es natürlich Über-
                                                                         schneidungen. Etwa im organisatorischen Ablauf von
            Herr Stadler, freuen Sie sich schon auf den                  Vorhaben, die man plant und aufbaut. Aber auch
            1. Januar 2021?                                              inhaltlich. Nur kurz zwei Beispiele: Nehmen Sie
                                                                         das Thema Qualität der Arbeit in den Kindertages-
            WOLFGANG STADLER Ja klar! Ein neuer Lebensab-                einrichtungen. Ein Thema, das ich seit sehr vielen
            schnitt beginnt, und ich erhoffe mir, dass mein              Jahren auch aus der Praxis vor Ort bestens kenne. Vor
            Leben etwas ruhiger wird und der Dauerstress                 diesem Hintergrund habe ich auf Bundesebene immer
            aufhört.                                                     wieder versucht, entsprechend zu wirken und ver-
                                                                         nünftige Rahmenbedingungen zu schaffen. Und dann
            Herr Schubert, freuen Sie sich auch schon auf                ist es schon sehr gut zu wissen, wenn sich Qualitäts-
            die Zeit nach dem 1. Januar 2021?                            maßstäbe verbessert haben und entsprechende
                                                                         Normen verändert wurden. Oder das Thema Pflege.
            JENS M. SCHUBERT Klar freue ich mich auf meine neue          Die AWO vor Ort ist bekanntlich Trägerin von zahl­
            Aufgabe. Ich werde aber auch Wolfgang Stadler                reichen Pflegeeinrichtungen. Ich habe immer wieder
            vermissen, da ich es in den letzten Monaten sehr             erlebt, mit welcher Intensität und welcher Hingabe
            genossen habe, mit ihm zusammenzuarbeiten.                   die überwiegende Anzahl der Pflege­kräfte arbeitet.
            Ich werde hier wirklich auf besondere Weise in               Von daher war es mir auch immer klar, dass die Rah-
            das neue Amt eingeführt und erfahre eine tolle               menbedingungen für die Pflegekräfte verbessert
            Unterstützung. Ich danke ihm sehr!                           werden müssen. Hier konnte ich auf Bundesebene
                                                                         unter anderem mit Jens Schubert in seiner damaligen
                                                                         Tätigkeit bei ver.di dafür sorgen, dass die Arbeits-
                                                                         verhältnisse für die Pflegekräfte durch neue Rahmen-
                                                                         bedingungen deutlich verbessert werden …

                                 WOLFGAN G STADLER

                                 geboren 1954 in Duisburg, ist verheiratet und Vater von drei
                                 Kindern. Seit 2010 ist er Vorsitzender des Vorstandes des
                                 AWO Bundesverbandes e.V. Er begann 1978 als Zivi bei der
                                 AWO, leitete ein Bildungswerk und wurde 1983 stellvertreten-
                                 der Bezirksgeschäftsführer. Von 1993 bis 2009 war er
                                 Geschäftsführer des AWO Bezirksverbandes Ostwestfalen-
                                 Lippe e.V. Seit Oktober 2005 ist er Geschäftsführer von
                                 awo lifebalance, der früheren ElternService AWO GmbH.

14 AWO ANSICHT 4 • 20
… dieses wichtige Thema werden wir später noch
            weiter vertiefen … Herr Schubert, als promovierter                                       AWO
            und habilitierter Jurist wäre bei Ihnen auch eine                                        I NT E RV I E W
            wissenschaftliche Laufbahn denkbar gewesen.
            Warum 2010 der Schritt als Chefjurist zu ver.di und
            warum nun die Bewerbung auf den Vorstandsvorsitz
            des AWO Bundesverbandes?

            SCHUBERT Mein beruflicher Lebensweg ist nicht
            unbedingt gradlinig, das stimmt. Ich war Anwalt,
            an der Universität tätig, dann bei einer Gewerk-
            schaft und jetzt der Schritt zur Arbeiterwohlfahrt.   wichtigen sozialpolitischen Themen an den ent-
            Mich interessiert Wissenschaft sehr, ich werde mich   sprechenden Stellen einzubringen. Ich freue mich
            auch weiterhin in den dortigen Diskurs, nunmehr       daher, meine Lebens- und Berufserfahrungen in die
            auch mit den AWO-Themen, einmischen. Zugleich         Arbeit für den Bundesverband einzubringen. Sicher-
            bin ich aber seit jeher neugierig zu erfahren, wie    lich ist es mit mir als Seiteneinsteiger für beide Seiten
            sich Dinge in der Praxis zeigen, und möchte an        neu, aber zusammen kann es in vielerlei Hinsicht
            deren Umsetzung aktiv mitwirken. Und auch das         gewinnbringend werden, davon bin ich überzeugt.
            sogenannte politische Geschäft gehört dazu und
            ist für mich spannend. Der Wechsel zu ver.di 2010

                                                                  Ein Blick in den Verband
            erfolgte deshalb auch, weil ich als Arbeitsrechtler
            praxisnah zum Beispiel das Tarifgeschäft sowie
            Verfahren vor den höchsten deutschen Gerichten
            erleben und mitverantworten wollte. Mit Blick auf
            das politische Geschäft hatte die Arbeit als Chef­
            jurist dort aber ihre Grenzen. Dies ist einer der     Letztes Jahr wurde der 100. Geburtstag der AWO
            Gründe für den Sprung zur AWO. Hier habe ich eine     gefeiert. Mutige Männer und vor allem Frauen haben
            andere Rolle, kann anders gestalten, um die mir       den Verband in den Gründungsjahren geprägt. Wie
                                                                  bedeutsam ist der Bezug zu der eigenen Historie?
                                                                  Und: Wie sehr besteht zugleich die Gefahr – Stich-
                                                                  wort: Sonntagsreden –, dass man sich zu sehr auf
                                                                  das Vergangene bezieht oder sich gar darauf ausruht
                                                                  und zukunftsweisende Debatten aus dem Blick ver-
 P RO F. D R . J E N S M. SCH U BERT                              liert? Herr Stadler, wenn Sie in den Verband ›hinein-
                                                                  gehorcht‹ haben, wie haben Sie diesen eventuellen
geboren 1969, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.         Zwiespalt wahrgenommen?
Seit August 2020 ist er Geschäftsführer des AWO Bundesver-
bandes e.V. und dann ab dem 1. Januar 2021 Vorstands­             STADLER Ich habe eigentlich immer gespürt,
vorsitzender. Von März 2010 bis Juli 2020 war er Leiter des
                                                                  dass uns der Blick in die Historie Kraft gibt und
Bereichs Recht und Rechtspolitik in der Bundesverwaltung
                                                                  Wegweiser für die Zukunft ist. Wir konnten uns
der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Er ist
                                                                  durch den intensiven Blick in die Geschichte ver-
promovierter und habilitierter Jurist und hat eine Neben-
                                                                  gewissern, wie aktuell die Werte und Ziele unserer
tätigkeit als außerplanmäßiger Professor an der Leuphana
                                                                  Gründerinnen heute noch sind. Wir bewegen uns
Universität Lüneburg, Leuphana Law School.
                                                                  natürlich in einem anderen Kontext, und zugleich
                                                                  sind viele Visionen noch nicht umgesetzt. Klar ist
                                                                  immer auch, dass die Arbeiterwohlfahrt nach
                                                                  vorne blicken muss und der Blick zurück nicht ver-
                                                                  klärend wirken darf.

                                                                  Ist diese bedeutsame Historie für Sie, Herr Schubert,
                                                                  Fluch und Segen zugleich?

                                                                  SCHUBERT Bei der Lektüre von Reden und Texten
                                                                  etwa von Marie Juchacz oder Lotte Lemke stellt
                                                                  man teilweise fest, wie aktuell diese vielfach noch
                                                                  sind. Von daher sind sie schlicht der Maßstab. Bei
                                                                  Themen, die noch immer geklärt und diskutiert

                                                                                                                   4 • 20 AWO ANSICHT 15
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO

 FACHKRÄFTE

»Für das Hauptamt gilt es unbedingt zu
                                                                  bestehen möchte. Zum Thema Ehrenamt: Wir
  klären, wie Fachkräfte für die Zukunft
                                                                  brauchen schlicht Nachwuchs; wir brauchen jün-
  gewonnen und wie diese an die Organisation                      gere Leute, die bei uns mitwirken. Entsprechend
  und an die Unternehmen gebunden werden                          müssen aber auch unsere Strukturen weiterent­
  können. Zum Thema Ehrenamt: Wir brauchen                        wickelt werden. Junge Menschen wollen direkt
  schlicht Nachwuchs; wir brauchen jüngere                        und unmittelbar etwas Gutes, Interessantes, Wich­
                                                                  tiges leisten. Das bedarf neuer Formen der Anspra-
  Leute, die bei uns mitwirken.«
                                                                  che, aber auch neuer Plattformen, die ihnen die
 Wolfgang Stadler                                                 Möglichkeiten eröffnen, sich entsprechend einzu-
                                                                  bringen. Insgesamt – und hierfür habe ich mich
                                                                  mein langes Leben in der AWO immer ein­gesetzt –
            werden müssen, ist der Blick zurück sehr wohl         brauchen wir im Verband und vor allem im Unter-
            also auch Selbstvergewisserung: Was wurden            nehmen ein hohes Maß an Übereinstimmung
            damals für Ideen geäußert? Was wurden damals          zwischen unseren Zielen und Werten und unserem
            für Argumente geliefert? Es gibt natürlich neue       praktischen Tun. Seien wir doch endlich so inklu-
            Themen. Über das dritte Geschlecht beispielsweise     siv in unseren sozialen Unternehmungen, wie
            etwa wurde vor hundert Jahren noch nicht disku-       wir es von der Gesellschaft in Bundeskonferenz­
            tiert. Aber die Frage, wie wir mit Diskriminierung    beschlüssen erwarten. Praktizieren wir auf allen
            umgehen, die hat es damals sehr wohl schon            Ebenen endlich die Gleichstellung der Geschlechter,
            gegeben. Insofern kann dann der Blick zurück          die sich uns unsere hochverehrte Gründerin
            sehr wertvoll sein, ohne dabei in rein nostalgische   gewünscht hat. Fordern wir nicht immer nur von
            Gefühle zu verfallen.                                 anderen Integration und Weltoffenheit, wenn
                                                                  bei uns der Anteil von Menschen mit Migrations-
            Herr Stadler, was waren und sind die zentralen        hintergrund in den ehren- und hauptamtlichen
            Herausforderungen für den inneren Zusammenhalt        Führungsebenen noch vollkommen unterent­
            des Verbandes? Anders gefragt: Was sind die Erwar-    wickelt ist.
            tungen an das Haupt- und das Ehrenamt?
                                                                  Herr Schubert, Organisationen wie Parteien,
            STADLER Für das Hauptamt gilt es unbedingt zu         Gewerkschaften oder eben auch Wohlfahrtsverbände
            klären, wie Fachkräfte für die Zukunft gewonnen       wie die AWO leiden seit Jahren unter Mitglieder-
            und wie diese an die Organisation und an die          verlusten. Vom Selbstverständnis her sind sie aber
            Unternehmen gebunden werden können. Wissen-           bedeutsam. Was sind die Ursachen für diese Verluste?
            schaftliche Untersuchungen belegen, dass die          Wie sollte man gegensteuern?
            Wohlfahrtspflegebranche nicht immer gut mit
            den eigenen Mitarbeitenden umgeht und sie sich        SCHUBERT Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass wir
            daher zukünftig ändern muss, wenn sie im Wett-        auf allen Ebenen und Gliederungen, das Haupt-
            bewerb um die weniger werdenden Arbeitskräfte         und das Ehrenamt gemeinsam, gegen den Mitglie-

16 AWO ANSICHT 4 • 20
derverlust vorgehen müssen. An der Mitglieder-         welche sozialen Folgen ökologische Veränderungs-
           zahl wird man nun einmal auch gemessen. Wie            prozesse haben. Da gilt es frühzeitig und klar Posi-
           viele andere Verbände werden wir daher sehr aktiv      tion zu beziehen. Ich glaube, dass all dies dann so
           um Mitglieder werben. Unser Aktionstag ist da ein      ansprechend ist, dass sich Menschen bei uns, auch
           Beispiel. Wir werden aber auch über neue Formen        gegen einen möglichen Trend, engagieren wollen.
           der Ansprache (soziale Netzwerke) nachdenken           Übrigens, wenn wir von Glaubwürdigkeit sprechen:
           müssen. Dabei will ich aber nicht allein von jun-      Klare Positionen beziehen Wolfgang Stadler und
           gen Leuten sprechen. Es geht in meinen Augen           ich auch bei den skandalösen und der AWO stark
           mehr darum, Themen, die alle Menschen genera­          schadenden Compliance-Verstößen. Hier endet
           tionsübergreifend berühren, anzugehen.                 jede Toleranz.

           Ich bin darüber hinaus sehr davon überzeugt,
           dass die AWO Gesichter braucht. Sie muss erlebbar
           und erfahrbar sein. Dafür müssen unsere Taten          Die AWO als politischer
           mit dem übereinstimmen, was wir sagen, und
           umgekehrt. Sprich: Wenn wir uns zu einer Kinder-       Akteur
           grundsicherung bekennen, dann muss sich unser
           Einsatz dafür in allen Gliederungen und auf allen
           Ebenen der Verbandsarbeit widerspiegeln. Wenn
           wir für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege       Warum, Herr Schubert, ist die AWO jetzt und in
           oder in Einrichtungen streiten, dann müssen wir        Zukunft notwendig für das soziale und demokrati-
           natürlich auch selbst unsere Beschäftigten ent-        sche Miteinander in Deutschland?
           sprechend behandeln. Die AWO muss authentisch,
           glaubwürdig und verlässlich sein und überall durch     SCHUBERT Die AWO hat eine ganz breite Angebots­
           ihre vielen Persönlichkeiten überzeugen. Jede          palette sozialer Dienstleistungen und steht
           Organisation, die dies nicht tut, verliert Zuspruch.   zugleich für ein demokratisches Miteinander aller
           Dies gilt auch bei dem sehr drängenden Thema,          Menschen – unabhängig von Herkunft oder der
                                                                  Größe des Geldbeutels. Sie ist in der Lage, Bezüge
                                                                  darzustellen und zu beschreiben, was andere
                                                                  Akteure vielleicht nicht so können. Was haben
»Es gehört, so meine ich, zum Auftrag                            Rente, Inklusion, Quartiersarbeit, Gleichheit der
  der AWO, sich in viele soziale Themen ein­­-                    Geschlechter, Migrationshilfe, Armutsbekämpfung,
 zumischen, Angebote zu machen und für                            Familienarbeit, Kampf gegen rechts und so weiter
 die einzutreten, die es vielleicht nicht in                      gemeinsam? Auf den ersten Blick sind es sicher
 gleicher Weise können. Das ist notwendiger                       einzelne Problemfelder, die sachkundig angegan-
                                                                  gen werden müssen. Sie hängen in unserer Gesell-
 denn je in den gegenwär­tigen Zeiten.«
                                                                  schaft aber auch alle zusammen, und es ist eben
 Jens M. Schubert                                                 die AWO, die glaubhaft und mit viel Erfahrung
                                                                  Gesamtzusammenhänge herausarbeiten und einer
                                                                  Öffentlichkeit und der Politik verdeutlichen kann.
                                                                  Anders formuliert: In gesellschaftspolitischen
BERATUNG                                                          Diskussionen verwendete Schlagworte wie zum
                                                                  Beispiel »Diversity« (ich spreche lieber von Vielfalt)
                                                                  werden bei der AWO in das tatsächliche Leben
                                                                  überführt. Das alles kann eben die AWO.

                                                                  Das führt aber gleichzeitig zu einer Verpflichtung:
                                                                  Es gehört, so meine ich, zum Auftrag der AWO,
                                                                  sich in viele soziale Themen einzumischen,
                                                                  Angebote zu machen und für die einzutreten,
                                                                  die es vielleicht nicht in gleicher Weise können.
                                                                  Das ist notwendiger denn je in den gegenwär­-
                                                                  tigen Zeiten.

                                                                                                                4 • 20 AWO ANSICHT 17
G E G E NWA R T U ND ZUKUN FT DE R AWO

             Welche politischen Fragen müssen jetzt gestellt und    gesteckt haben. Dieses Denken und Handeln ist
             beantwortet werden? Bei welchen Themen sollte die      ganz entscheidend und verdeutlicht zugleich,
             AWO Antworten geben können, Herr Stadler?              warum wir auf Dauer die Arbeiterwohlfahrt für ein
                                                                    soziales Miteinander benötigen. Die Gesellschaft
             STADLER Ich möchte hier die Motivation, den            braucht solche Akteure der geregelten und dauer-
             Antrieb für unser Engagement ins Spiel bringen:        haften Daseinsvorsorge.
             Dieser Antrieb ist bei der AWO eben ein anderer
             als nur den Mammon im Blick zu haben und zu            Durch das Aufkommen der privaten Anbieter hat sich
             sagen, ›oh ja, das ist aber ein interessanter Markt,   ja trotz alledem etwas für die Freie Wohlfahrtspflege
             auf dem können und wollen wir viel Geld verdie-        verändert. Kurzum: Wie groß ist der ökonomische
             nen‹. Deutschland ist hier für Investoren, die so      Druck auf die Anbieter der Freien Wohlfahrtspflege?
             denken, hoch interessant, das wissen wir. Die          Wie viel Kraft braucht es, um so zu agieren wie eben
             Arbeiterwohlfahrt sagt hier jedoch: Nein, wir sind     beschrieben?
             nicht gewinnorientiert, wir wollen gute Arbeit
             leisten, wir wollen das erlösen, was wir tatsächlich   SCHUBERT Wenn es schon diesen Wettbewerb, den
             auch ausgeben, und ansonsten in die Soziale            die AWO nicht initiiert hat, gibt, dann muss man
             Arbeit investieren und nicht irgendwelche Inves­       zumindest dessen Regeln kennen und verstehen;
             toren befriedigen, die Gelder in dieses Geschäft       dann muss man an den Stellen kämpfen, an
                                                                    denen wir nicht bereit sind, dieses Spiel mitzu-
                                                                    spielen. Konkret werden wir einen Wettbewerb
                                                                    über Löhne und Gehälter und Arbeitsbedingungen
                                                                    von Beschäftigten nicht mitmachen. Wir werden
»Die Arbeiterwohlfahrt sagt: Nein, wir sind                        auch nicht an den Dienstleistungen für die uns
  nicht gewinnorientiert, wir wollen gute                           anvertrauten Menschen sparen.

 Arbeit leisten, wir wollen das erlösen, was
                                                                    Mit welcher Konsequenz?
 wir tatsächlich auch ausgeben, und ansonsten
 in die Soziale Arbeit investieren und nicht                        SCHUBERT Mit der Konsequenz, dass wir uns im
 irgendwelche Inves­toren befriedigen, die                          politischen Raum Verbündete suchen und auf Ent-
 Gelder in dieses Geschäft gesteckt haben.«                         scheider zugehen müssen, damit bestimmte Regu-
                                                                    larien eingehalten werden. Denn klar ist doch
 Wolfgang Stadler                                                   auch: Soziale Dienstleistungen sind kein Markt
                                                                    wie der für Autos oder für Oberhemden, sondern
                                                                    es ist ein Markt, der besonderen Regularien unter-
 GLAUBWÜRDIGKEIT                                                    worfen ist und der staatlicherseits auch anders zu
                                                                    regulieren ist. Das heißt, es muss mehr Geld für
                                                                    das Soziale gezahlt werden und die Frage der Ver-
                                                                    teilung gilt es zu klären. Es kann private Anbieter
                                                                    geben und die Freie Wohlfahrt. Aber es muss
                                                                    immer auch klar sein, dass diese nicht gegenein-
                                                                    ander stehen und vor allen Dingen die Privaten
                                                                    nicht so in den Markt eingreifen dürfen, dass die
                                                                    Freie Wohlfahrt Existenzprobleme bekommt. Der
                                                                    Staat stützt sich auf die Wohlfahrt und er kann
                                                                    ihr auch vertrauensvoll sozialstaatliche Aufgaben
                                                                    übertragen. Das kann er bei anderen, die mit
                                                                    Gewinnerzielungsabsicht agieren, vielleicht nicht
                                                                    immer. Hierauf sollten wir gelegentlich selbstbe-
                                                                    wusst hinweisen.

                                                                    STADLER Ich habe die Freie Wohlfahrtspflege ja nun
                                                                    intensiv beobachten können. Rückblickend mag
                                                                    man etwa die vermeintlich komfortable Lage der
                                                                    Wohlfahrtsverbände in den 1980er-Jahren als sehr
                                                                    positiv bezeichnen. Man agierte konkurrenzlos, und
                                                                    teilweise konnten die Rahmensetzungen mit den
                                                                    Kostenträgern ausgehandelt werden – Stichwort

18 AWO ANSICHT 4 • 20
GUTE LÖHNE

»Ebenso müssen Lohn- und Sozialdumping
  aus­geschlossen werden. Um einen Wett-
                                                                     Letztlich entsteht ein massiver Fachkräftemangel.
  bewerb über schlechte Löhne auszuschalten,
                                                                     In diesem Zusammenhang können wir auch
  muss es einen Tarifvertrag mit einem                               nicht dauerhaft den Weg weitergehen, dringend
  Mindestentgelt geben, der sich auf alle                            benötigte Fachkräfte durch Pflegehilfskräfte
  Arbeitsverhältnisse erstreckt. Besser kann                         oder ungelernte Kräfte zu ersetzen. Kurzum: Das
  man natürlich immer entlohnen, aber                                Thema Akquise von Beschäftigten in der Pflege
                                                                     ist wichtig.
  ein Mindestentgelt ist ein wichtiger Schritt
  auf dem Weg zur Wettbewerbsgleichheit.«                            Ebenso müssen Lohn- und Sozialdumping aus­
 Jens M. Schubert                                                    geschlossen werden. Um einen Wettbewerb über
                                                                     schlechte Löhne auszuschalten, muss es einen
                                                                     Tarifvertrag mit einem Mindestentgelt geben, der
           Korporatismus. Die Fragen, wie unsere Maßnahmen           sich auf alle Arbeitsverhältnisse erstreckt. Besser
           wirken und in welcher Intensität und Qualität wir         kann man natürlich immer entlohnen, aber ein
           unsere Dienstleistungen anbieten, standen dabei           Mindestentgelt ist ein wichtiger Schritt auf dem
           nicht immer im Vordergrund. Von daher war es schon        Weg zur Wettbewerbsgleichheit. In diesem Zusam-
           hilfreich, dass eine Konkurrenz entstanden ist, um        menhang dürfen sich zugleich die Eigenanteile
           den eigenen Blick für unser Handeln zu schärfen.          für die Betroffenen nicht erhöhen. So will es jetzt
           Fatal war es dann jedoch, dass die notwendige Ver-        auch der Gesetzgeber. Dies bedeutet aber: Es muss
           änderung teilweise in einen radikalen Marktliberalis-     mehr Geld ins System. Das geht nur über zwei
           mus umgeschlagen ist. Die Gefahren einer Lohnspi-         Wege: Beitragserhöhung oder steuerliche Mittel.
           rale nach unten hat Jens Schubert soeben beschrie-        Dies sollte man ehrlicherweise sagen. Aber Pflege
           ben. Da haben wir jetzt glücklicherweise zumindest        muss uns das wert sein.
           in der Pflege einen Riegel vorschieben können.
                                                                     Herr Stadler, wie ist Ihr Eindruck: Hat seitens der
           Stichwort Tarifvertrag Soziales in der Pflege. Sie sind   politisch Verantwortlichen ein Umdenken stattgefun-
           beide vehemente Verfechter davon. Was ist genau           den? Existiert die Bereitschaft, auch Geld in die Hand
           gemeint? Warum ist ein solches Konstrukt so wichtig?      zu nehmen, um die beschriebenen Ziele zu erreichen?

           SCHUBERT Wir brauchen Mindestentgelte im System,          STADLER Es ist auf jeden Fall so, dass sich unter
           damit wir zwei Sachen bewerkstelligen können.             den politisch Verantwortlichen das Meinungsbild
           Zum Ersten: Ganz viele Menschen meiden den Weg            erkennbar verändert hat. 2012 wurden ja schon
           in die Altenpflege, obwohl sie diesen Beruf sehr          interne Gespräche geführt. Dort trafen wir einzel-
           gerne ausüben würden, weil die Entlohnung schlecht        ne Personen in den Bundestagsfraktionen, die
           ist. Zum Zweiten: Wir kennen Kolleg*innen vor Ort,        für das Thema offen waren und gesagt haben: Ihr
           die mit 50 sagen: Bis zur Rente schaffe ich das           seid auf dem richtigen Weg, aber es ist politisch
           körperlich oder psychisch nicht.                          leider nicht durchsetzbar.

                                                                                                                   4 • 20 AWO ANSICHT 19
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