Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen - Warum sinken die Prävalenzen trotz vermehrter Versorgungsangebote nicht ab? - Psychologische ...

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Bundesgesundheitsbl                                 Julia Thom1 · Julia Bretschneider1              · Nils Kraus2 · Josua Handerer2 ·
https://doi.org/10.1007/s00103-018-2867-z           Frank Jacobi2
                                                    1
                                                        Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil        2
von Springer Nature 2019                                Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland

                                                    Versorgungsepidemiologie
                                                    psychischer Störungen
                                                    Warum sinken die Prävalenzen trotz
                                                    vermehrter Versorgungsangebote nicht ab?

Hintergrund und Fragestellung                       unserer Gegenwartsgesellschaft inter-                  MH, Erhebungszeitraum 2009–2012)
                                                    pretiert werden. Versorgungsepidemio-                  mittels eines standardisierten klinischen
Die Versorgungsepidemiologie unter-                 logische Überblicksarbeiten resümieren                 Interviews (Composite International Di-
sucht den Einfluss von Versorgungsleis-              die bemerkenswerte Häufigkeit und ho-                   agnostic Interview, CIDI). So wurden
tungen auf die Gesundheit der Bevöl-                he Krankheitslast psychischer Störungen                auch Personen ermittelt, die zwar die
kerung sowie Determinanten individu-                und adressieren Probleme und Kosten                    Kriterien einer psychischen Störung er-
eller Versorgungsbedarfe und -erfolge.              einer berufsgruppen-, sektoren- und                    füllen, aber keine ärztliche Diagnose
Nimmt diese Disziplin psychische Stö-               kostenträgerübergreifenden Versorgung                  oder Behandlung dieser erhalten ha-
rungen zu ihrem Forschungsgegenstand,               [2–6]. In Ergänzung dessen wird im                     ben (unentdeckte bzw. unbehandelte
so steht sie vor einem Paradox. Wissen-             vorliegenden Beitrag gefragt, inwiefern                Morbidität). Die geschätzte 12-Monats-
schaftleraus Australien, Kanada, England            und warum die Prävalenzen psychischer                  Prävalenz psychischer Störungen be-
und den USA stellen die Frage: „Has                 Störungen auch in Deutschland ange-                    trug für die erwachsene Bevölkerung
increased provision of treatment reduced            sichts beträchtlicher Investitionen in                 (18–65 Jahre) im BGS98 31,1 % (95 %-
the prevalence of common mental dis-                ihre Versorgung nicht sinken. Relevante                KI: 26,7–32,6) und in DEGS1-MH 29,9 %
orders?“ [1] und betrachten die zeitliche           nationale Daten werden präsentiert und                 (95 %-KI: 28,3–31,7) – sie blieb also im
Entwicklung der Häufigkeit psychischer               drei Erklärungsansätze diskutiert, die                 Wesentlichen gleich. Auch auf Ebene
Störungen und ihrer Versorgung. Sie                 sich in ihren Prämissen und Implikatio-                der quantitativ versorgungsrelevantes-
kommen zu einem zunächst unerwar-                   nen wesentlich unterscheiden [7]. Auch                 ten Störungsgruppen, die in der ICD-
teten Befund: Während das Angebot                   wenn im Folgenden die gesundheitliche                  10 unter F3 und F4 subsumiert sind,
von Behandlungsleistungen erheblich                 Lage bei Erwachsenen im Fokus steht,                   finden sich bei einem ersten groben
ausgebaut und auch häufiger genutzt                  da die Datenlage für diese Altersgruppe                Vergleich der Daten keine bedeutsa-
wird, kann über die Jahre dennoch kein              umfangreicher ist, kann angenommen                     men Unterschiede zwischen den beiden
Absinken der Prävalenzen von psychi-                werden, dass die zugrunde liegende Ar-                 Zeiträumen (. Abb. 1a; [8]; detaillierte
schen Störungen und ihren Symptomen                 gumentation im Allgemeinen auch für                    Auswertungen zu Depression vgl. [9]).
verzeichnet werden.                                 Kinder und Jugendliche gültig ist.                     Dieser Befund stimmt mit internatio-
    In Deutschland werden wissenschaft-                                                                    nalen Studienergebnissen überein, wie
licher und öffentlicher Diskurs bislang              Stabile Prävalenzen trotz wach-                        systematische Reviews auf Basis von etwa
von der Debatte um eine mögliche                    sender Versorgungsangebote                             80 Originalarbeiten bilanzieren [10, 11].
Zunahme psychischer Störungen do-                                                                          Die Datenlage ist allerdings als hetero-
miniert, die u. a. als „Zeitkrankheiten“            In Deutschland kann in repräsentati-                   gen zu bezeichnen, wobei mehrheitlich
                                                    ven epidemiologischen Feldstudien kein                 unveränderte Prävalenzen berichtet wer-
Die hier verfolgte Argumentation wurde erst-        Absinken der Häufigkeit psychischer                     den. Auch eine Metaanalyse findet für
mals in folgender Arbeit entwickelt: Handerer J*,   Störungen nachgewiesen werden. Er-                     Depressionen und Angststörungen welt-
Thom J*, Jacobi F (2018) Die vermeintliche          fasst wurden diese in Zusatzmodulen                    weit stabile Häufigkeiten von 1990 bis
Zunahme der Depression auf dem Prüfstand.           zur psychischen Gesundheit im Bun-                     2010 [12].
Epistemologische Prämissen, epidemiologische        desgesundheitssurvey 1998 (BGS98,                         Bemerkenswerterweise lässt sich zu-
Daten, transdisziplinäre Implikationen. Berlin:
Suhrkamp. In: Fuchs T, Iwer L, Micali S (Hrsg)      Erhebungszeitraum 1997–1999) und                       gleich seit den 1990er-Jahren ein erheb-
Das überforderte Selbst, S. 159–209. [*Geteilte     später in der Studie zur Gesundheit                    licher Ausbau des Versorgungssystems
Erstautorenschaft]                                  Erwachsener in Deutschland (DEGS1-                     in Deutschland beobachten. Valide Ver-

                                                                                   Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Leitthema

                         35%                                                         35%

                         30%                                                         30%

                         25%                                                         25%
   12-Monats-Prävalenz

                         20%                                                         20%

                         15%                                                         15%

                         10%                                                         10%

                         5%                                                              5%

                          %                                                           %%
                               irgendeine       affekve        Angststörungen                  irgendeine F-       Diagnose         Diagnose
                               psychische      Störungen                                         Diagnose         affekver       Angststörungen
                                 Störung                                                                          Störungen     und weitere F4.x 1

                                 BGS98 (Erhebungszeitraum 1997-1999)                           BARMER 2008

       a                         DEGS1-MH (Erhebungszeitraum 2009-2012)              b         BARMER 2015

Abb. 1 8 Zeitliche Entwicklung der Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland. a Entwicklung der 12-Monats-Prä-
valenz psychischer Störungen in der Bevölkerung (BGS98 und DEGS1-MH, Altersbereich 18–65 Jahre; mit 95 %-Konfidenz-
intervallen; eigene Abbildung basierend auf [8]). b Entwicklung der 12-Monats-Prävalenz der dokumentierten Diagnosen
psychischer Störungen am Beispiel der Versicherten der Krankenkasse BARMER (eigene Abbildung basierend auf [21, 22]).
1
  Diagnosen des gesamten ICD-Abschnitts F4

gleichsdaten dokumentieren bedeutsame                      ser Zuwachs teilweise – wie bei allen           Leistungen (PsychVVG; 2017), die No-
Zuwächse bei mehreren Indikatoren der                      Arztgruppen – durch einen Trend zur             velle der Psychotherapierichtlinie (2017),
Versorgungskapazitäten (. Abb. 2a, b).                     Teilzeittätigkeit relativiert wird [17]. Die    die gegenwärtige Entwicklung eines Dis-
Sowohl die durchschnittliche Anzahl                        Zahl der niedergelassenen Nervenärzte           ease-Management-Programmes für De-
psychiatrischer und psychosomatischer                      (inkl. Fachärzte für Neurologie und Psy-        pressionen [18], die Nutzenbewertung
Betten [13] als auch die Fallzahl vollsta-                 chiatrie) unterlag währenddessen nur            eines verbindlichen Screenings auf De-
tionär behandelter Patienten mit Haupt-                    geringen Schwankungen [17].                     pression im Rahmen der hausärztlichen
diagnose aus der Gruppe der psychischen                        Neben dem Ausbau bestehender Ver-           Versorgung [19] sowie Innovationen
und Verhaltensstörungen [14] ist allein                    sorgungsstrukturen sind die vergange-           im Bereich E-Mental-Health. Das Mitte
in den letzten 10 Jahren um je 13 %                        nen zwei Jahrzehnte durch eine Vielzahl         2018 vorgelegte Gutachten des Sach-
gestiegen. Dieser Trend geht zusätzlich                    an Reformen und gesundheitspolitischen          verständigenrates zur Begutachtung der
mit einer Verkürzung der durchschnitt-                     Anstrengungen geprägt. Dazu zählen              Entwicklung im Gesundheitswesen [20]
lichen Liegezeit einher [15]. Im gleichen                  z. B. das Präventionsgesetz (PrävG; 2015),      kommt zu dem Schluss, dass auch in
Zeitraum erhöhte sich die Anzahl verord-                   die Berücksichtigung psychischer Belas-         Zukunft ein weiterer Ausbau nötig sein
neter Tagesdosen gängiger Psychophar-                      tung in der Gefährdungsbeurteilung              wird, da einige Ansprüche der Psych-
maka (Neuroleptika, Tranquillantien                        nach Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG;              iatrieenquete von 1975 hinsichtlich der
und Antidepressiva) um ca. 50 % [16].                      2015), Selektivverträge nach § 140a             geforderten Lebensweltorientierung und
Unter den ambulant Behandelnden gab                        SGB V (Neuregelungen im Zuge des Ver-           gemeindepsychiatrischen Ausrichtung
es zwischen 2008 und 2017 erhebliche                       sorgungsstärkungsgesetzes GKV-VSG;              nach wie vor nur unvollständig eingelöst
Zunahmen der Psychologischen Psy-                          2015) und Modellvorhaben nach § 64b             sind, darunter z. B. die angestrebte „Am-
chotherapeuten (+58 %, inkl. Kinder-                       SGB V (seit 2013), die Förderung der            bulantisierung der Psychiatrie im Sinne
und Jugendlichenpsychotherapeuten),                        Entwicklung neuer Versorgungsmodelle            eines wirklich umfassenden ambulan-
Ärztlichen Psychotherapeuten (+24 %,                       im Rahmen des Innovationsfonds (seit            ten Versorgungsangebots verschiedener
inkl. Fachärzte für Psychosomatik und                      2016), das Gesetz zur Weiterentwicklung         Intensitätsstufen“ [20, S. 686].
Psychotherapie) und der Kinder- und                        der Versorgung und der Vergütung für                Mit der Erweiterung der Behand-
Jugendpsychiater (+34 %), wobei die-                       psychiatrische und psychosomatische             lungskapazitäten geht eine wachsende

 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Zusammenfassung · Abstract

  Bundesgesundheitsbl https://doi.org/10.1007/s00103-018-2867-z
  © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019

  J. Thom · J. Bretschneider · N. Kraus · J. Handerer · F. Jacobi
  Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen. Warum sinken die Prävalenzen trotz vermehrter
  Versorgungsangebote nicht ab?
  Zusammenfassung
  In Deutschland haben der deutliche Ausbau            die international geführte Debatte präsentiert   Zur Bewertung von Veränderungen in
  und die häufigere Nutzung von Versorgungs-            und diskutiert.                                  der Versorgungslandschaft und ihren
  angeboten in den letzten Dekaden nicht zu            Für alle drei Erklärungsmodelle lassen sich      Auswirkungen sollten neben Prävalenzen
  sinkenden Prävalenzen psychischer Störungen          Belege finden: 1) Probleme bei der Implemen-      psychischer Störungen auch Inzidenzen
  geführt.                                             tierung von Präventionsmaßnahmen, beim           (und deren potenzielle Verringerung durch
  Zur Deutung dieses Phänomens werden drei             Zugang zu Behandlungsangeboten und bei           Präventionsmaßnahmen) sowie Indikatoren
  Erklärungsansätze diskutiert: 1) Prävention          deren Qualität sind dokumentiert, 2) Einflüsse    des Behandlungsbedarfes (wie z. B. Funkti-
  und Versorgung sind mangelhaft und                   der vielgestaltigen Entwicklung von gesell-      onseinschränkungen) und der Mortalität (wie
  ineffektiv, 2) eine durch zunehmende gesell-          schaftlichen und kulturellen Risikofaktoren      z. B. Suizide und verkürzte Lebenserwartung)
  schaftliche Risiken wachsende Morbidität             auf Häufigkeit und Folgenschwere psychischer      berücksichtigt werden.
  wirkt Versorgungserfolgen entgegen oder              Störungen können nicht ausgeschlossen
  3) ein psychologischer Kulturwandel bedingt          werden und 3) die auch hierzulande steigende     Schlüsselwörter
  sowohl die häufigere Wahrnehmung als                  Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung          Prävalenz psychischer Störungen · Versorgung
  auch Behandlung psychischer Symptome                 hinsichtlich psychischer Störungen legt          und Prävention psychischer Störungen ·
  und Störungen. Zur Bewertung dieser                  nahe, dass (Lebens-)Probleme heute häufiger       Behandlungsbedarf · Gesellschaftliche
  theoretischen Erklärungsmodelle werden               psychologisch interpretiert und behandelt        Risikofaktoren · Gesundheitskompetenz
  Ergebnisse aus Bevölkerungssurveys und               werden.
  Versorgungsforschung in Deutschland sowie

  Healthcare epidemiology of mental disorders. Why is the prevalence not declining despite growing
  provision of care?
  Abstract
  In Germany, the significant increase of               population-based health surveys and              For the purpose of evaluating changes in
  healthcare provision and service use in recent       healthcare research in Germany as well as        the healthcare system, not only should the
  decades has not resulted in a decreasing             the international debate are presented and       prevalence of mental disorders be considered,
  prevalence of mental disorders.                      discussed.                                       but also incidence (and their potential
  Three explanations for this phenomenon are           The present results provide evidence for         reduction by preventive measures) as well
  considered: 1) prevention and the healthcare         each of the three explanations: 1) problems      as indicators of need for treatment (i. e.
  system are insufficient and ineffective, 2) the         with implementation of preventive actions        functional impairment) and mortality (i. e.
  success of the healthcare service is masked          and access to healthcare services are well       suicides and reduced life expectancy).
  by growing morbidity due to increasing               documented, 2) influences of the multifaceted
  societal risks, and 3) a fundamental shift           development of risk factors on the prevalence    Keywords
  towards a psychological culture accounts             and disease burden of mental disorders           Prevalence of mental disorders · Healthcare
  for an increasing perception and treatment           cannot be ruled out, and 3) a growing            and prevention of mental disorders · Need for
  of mental disorders and their symptoms               mental health literacy implies that problems     treatment · Societal risk factors · Mental health
  at the same time. In order to review these           (in everyday life) are currently more often      literacy
  three theoretical approaches, results from           interpreted and treated psychologically.

Bedeutung psychischer Störungen im                   Tage) der DAK-Versicherten auf Dia-                Berentungen aufgrund verminderter Er-
Versorgungsgeschehen einher. Kran-                   gnosen von psychischen und Verhal-                 werbsfähigkeit beobachten (. Abb. 3b).
kenkassen, wie z. B. die BARMER, ver-                tensstörungen zurückzuführen, bis 2015             Obwohl seit den 1990er-Jahren ins-
zeichnen einen kontinuierlichen Anstieg              hat sich ihr Anteil mit 15,4 % [23] mehr           gesamt ein Rückgang beobachtbar ist,
des Anteils an Versicherten mit einer                als verdoppelt (. Abb. 3a). Während die            stieg zugleich sowohl die Zahl der Be-
F-Diagnose. Im Jahr 2008 erreichten die              Gesamtzahl der AU-Tage in den letzten              rentungen aufgrund von psychischen
12-Monats-Prävalenzen 29,4 % [21], im                20 Jahren bei einigen Schwankungen                 Störungen als auch deren Anteil an der
Jahr 2016 bereits 36,3 % ([22]; . Abb. 1b).          weitgehend konstant geblieben ist, ist             Gesamtzahl aller Erwerbsminderungs-
Gleichermaßen begründen Diagnosen                    die Zunahme bei den durch F-Diagno-                renten, Letzterer sogar stark von 15,3 %
psychischer Störungen häufiger krank-                 sen begründeten AU-Tagen auf 218 %                 im Jahr 1993 auf 42,6 % im Jahr 2015
heitsbedingte Fehlzeiten. 1997 waren                 als erheblich zu bewerten. Eine ähnli-             [24]. Die Entwicklungen bei den Fehlzei-
6,4 % aller Arbeitsunfähigkeitstage (AU-             che Entwicklung lässt sich auch bei den            ten und Berentungen implizieren somit

                                                                                 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Leitthema

                       160%                                                              160%
                                                                                                                                                25297

                       150%                                                              150%

                                                                                         140%
   Relave Häufigkeit

                       140%
                                                                                                                                                1062
                       130%                                                              130%
                                                                                                                                                6121
                       120%                                                              120%

                       110%                                                              110%
                                                                                                                                                5877
                       100%                                                              100%

                       90%                                                               90%
                          2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016                     2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

                                                                                     1
                              Verordnungen von Psychopharmaka in definierten Tagesdosen               Ärztliche Psychotherapeuten4

                                                                                                     Kinder- und Jugendpsychiater
                              Staonäre Behandlungsfälle mit Hauptdiagnose einer
                              psychischen Störungen 2                                                Nervenärzte 5
                              Psychiatrische und psychosomasche Krankenhausbeen                    Psychologische Psychotherapeuten6
                 a            insgesamt (auf 100.000 Einwohner) 3                        b

Abb. 2 8 Zeitliche Entwicklung der Versorgungsangebote in Deutschland für Menschen mit psychischen Störungen. a Rela-
tive Entwicklung verschiedener Indikatoren zwischen 2007 (Bezugsjahr =100 %) und 2016 (eigene Abbildung). 1Anzahl ver-
ordneter definierter Tagesdosen von Neuroleptika, Tranquillantien und Antidepressiva zusammengefasst [16]. 2Fallzahl voll-
stationär behandelter Patienten mit Hauptdiagnose aus der Gruppe der psychischen und Verhaltensstörungen [14]. 3Anzahl
psychiatrischer und psychosomatischer Betten insgesamt (je 100.000 Einwohner; [13]). b Relative Entwicklung der Anzahl
ambulanter Behandler zwischen 2008 (Bezugsjahr =100 %) und 2017 (eigene Abbildung basierend auf [93]). Zählung pro
Kopf. Definition der Arztgruppen gemäß Bundesarztregister. 4Ärztliche Psychotherapeuten inkl. Fachärzte für Psychosomatik
und psychotherapeutische Medizin. 5Nervenärzte inkl. Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie. 6Psychologische Psychothe-
rapeuten inkl. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten

einen deutlichen Anstieg der indirekten                        Ätiologie psychischer Störungen als              Sinne frühzeitiger Interventionen bei
Kosten psychischer Störungen für die                           psychopathologische Eskalation vor-              noch nicht voll ausgeprägten Störungs-
Volkswirtschaft. Auch für deren direkte                        übergehender initialer Symptome zu               bildern in einer verminderten Inzidenz
Krankheitskosten, die vorrangig durch                          chronischen und komorbiden Manifes-              resultieren und so ihrerseits zur Präva-
Therapie und Rehabilitation im Gesund-                         tationen im zeitlichen Verlauf [27, 28]          lenzreduktion beitragen. Gleichermaßen
heitswesen anfallen, wird bereits in dem                       und finden in Längsschnittstudien auch            sollten die Behandlung und Rehabili-
verhältnismäßig kurzen Vergleichszeit-                         aus Deutschland empirische Bestätigung           tation psychischer Störungen im Sinne
raum von 2002 bis 2008 ein Anstieg                             [28]. Da der epidemiologische Kennwert           der Tertiärprävention deren Dauer sowie
um 23,5 % auf insgesamt 30,3 Mrd. €                            der Prävalenz einer Störung (Häufigkeit           Rezidive und Komorbidität reduzieren
geschätzt [25], womit diese Diagnose-                          zu einem gegebenen Zeitpunkt) durch              und auf diesem Wege die Prävalen-
gruppe im Jahr 2015 bei den Frauen                             die Inzidenz (Neuerkrankungsrate) und            zen senken. Unabhängig davon tragen
den Spitzenplatz der kostenträchtigsten                        Erkrankungsdauer (Episodendauer und              Spontanremissionen und (Über-)Sterb-
Erkrankungen in Deutschland einnahm                            -häufigkeit) determiniert wird, werden            lichkeit zu einer Verringerung der Zahl
[26].                                                          entlang des ätiologischen Verlaufs ver-          prävalenter Fälle bei.
   Theoretisch ist davon auszugehen,                           schiedene Mechanismen erkennbar, die                 In Anbetracht der stabilen Häufig-
dass effektive Präventionsmaßnahmen                             in einem Rückgang der Prävalenz auf              keit psychischer Störungen in Deutsch-
und ein erfolgreiches Versorgungssystem                        Bevölkerungsebene einen Niederschlag             land scheinen die prävalenzreduzieren-
ein Absinken von Erkrankungshäufig-                             finden müssten. So sollte die Primär-             den Mechanismen jedoch nicht (mess-
keiten bedingen. Aus einer translationa-                       prävention psychischer Störungen in              bar) zu greifen. In der Literatur finden
len Public-Health-Perspektive beschrei-                        der gesunden Bevölkerung und die Se-             sich verschiedene Interpretationen dieses
ben Symptomprogressionsmodelle die                             kundär- bzw. indizierte Prävention im            Phänomens, die sich zu drei Erklärungs-

 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
100%                                                         100%

                      90%                                                           90%

                      80%                                                           80%
  Relave Häufigkeit

                      70%                                                           70%

                      60%                                                           60%

                      50%                                                           50%

                      40%                                                           40%

                      30%                                                           30%

                      20%                                                           20%

                      10%                                                           10%

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                             1997      2000      2005      2010      2015                     1993       2000      2005       2010        2015

                                    Psychische und Verhaltensstörungen                               Psychische und Verhaltensstörungen
           a                        andere Diagnosen                               b                 andere Diagnosen

Abb. 3 8 Zeitliche Entwicklung von Fehlzeiten (a) und Erwerbsminderungsrenten (b) aufgrund von psychischen Störungen
inDeutschland.a Relative Entwicklungdes Anteils vonArbeitsunfähigkeitstagenaufgrundderDiagnose vonpsychischenund
Verhaltensstörungen am Beispiel der Gesamtzahl Versicherter bei der Krankenkasse DAK im Zeitraum 1997–2015 (eigene Ab-
bildung basierend auf [23]). b Relative Entwicklung des Anteils der Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
aufgrund der Diagnose von psychischen und Verhaltensstörungen an der Gesamtzahl Versicherter bei der Deutschen Ren-
tenversicherung Bund im Zeitraum 1993–2015 (eigene Abbildung basierend auf [24])

ansätzen zusammenfassen lassen [1, 7].                  wenn häufig nur moderate oder kurzfris-           im 7. bis 10. Lebensjahr (U10, U11) seit
Diese unterscheiden sich grundlegend in                 tige Effekte nachgewiesen werden kön-             2006 zu bewerten, in denen die psychi-
ihren konzeptuellen Vorannahmen über                    nen [30], erweisen sich Programme als            sche Gesundheit bei Schulkindern fo-
das Wesen psychischer Störungen sowie                   kosteneffektiv [31]. Da nur mit deren             kussiert wird [37]. Im internationalen
den daraus abzuleitenden Implikationen.                 Hilfe eine Senkung von Inzidenzen psy-           Vergleich besonders wenig etabliert sind
                                                        chischer Störungen erzielt werden kann,          in Deutschland Angebote zur Förderung
Erklärung 1: Mangelhafte                                wird eine Priorisierung präventiver ge-          psychischer Gesundheit, die bisher nur
Prävention und Versorgung                               genüber kurativen Maßnahmen gefor-               selektiv für z. B. berufliche Hochrisiko-
                                                        dert [32]. Dennoch mangelt es sowohl in          gruppen (Polizei, Rettungsdienst, Feuer-
Der erste Erklärungsansatz begründet die                Deutschland [33] als auch international          wehr) angeboten werden [38]. Es ist zu
stagnierenden Prävalenzen psychischer                   an koordinierten Präventionsstrategien           hoffen, dass sich mithilfe des Präventi-
Störungen trotz steigender Quantität                    [1]. So wird zwar eine Vielzahl hoch-            onsgesetzes (2015) hier langfristig Pub-
an Maßnahmen mit einem harten Ur-                       wertiger Programme bspw. in der Da-              lic-Health-Gewinne erzielen lassen.
teil über deren Steuerung und Qualität:                 tenbank „Grüne Liste Prävention“ [34]
Störungshäufigkeiten sinken in dieser                    dokumentiert, diese sind jedoch nicht            Viele behandlungsbedürftige
Perspektive deshalb nicht, weil Präven-                 routinemäßig in den Lebenswelten im-             Personen kommen nicht in Kontakt
tion und Versorgung ineffektiv sind.                     plementiert. Auch in der Regelversor-            mit dem Versorgungssystem
                                                        gung spielt Prävention eine nachgeord-
Präventionsmaßnahmen sind                               nete Rolle [35], selbst wenn z. B. multidis-     Auf die Fragen, ob sie aufgrund von
ausbaufähig                                             ziplinäre Früherkennungs- und Frühin-            psychischen Beschwerden jemals Hil-
                                                        terventionszentren auch in Deutschland           fe in der ambulanten oder stationären
Die Wirksamkeit präventiver Maßnah-                     gute Erfolge aufweisen können [36]. Als          Versorgung oder in komplementären
men zur Verhütung psychischer Störun-                   Fortschritt ist dagegen die Erweiterung          Einrichtungen wie Beratungsstellen ge-
gen ist empirisch gut belegt [29]. Auch                 der kinderärztlichen U-Untersuchungen            sucht hätten, antworten in DEGS1-

                                                                                  Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Leitthema

MH (2009–2012) 57 % der Studienteil-            im Versorgungsgeschehen und jenen, die        ambulant behandelten schweren De-
nehmenden mit CIDI-Diagnose einer               mittels standardisierter klinischer Diag-     pressionen verbleiben 38 % in der Haus-
psychischen Störung in den letzten              nostik bspw. in Bevölkerungsstudien er-       arztpraxis [56]. Unter den stationären
12 Monaten mit „Nein“ [39]. 12 Jahre            mittelt werden, nur eine geringe Über-        Patienten mit Hauptentlassungsdiagno-
zuvor, im BGS98 (1997–1999) waren               einstimmung besteht [50, 51].                 se einer psychischen Störung wird ein
dies noch 62 %, was einen leichten Trend            Im Zusammenwirken dieser Faktoren         erheblicher Teil in somatischen Abtei-
zu einer verstärkten Hilfesuche sichtbar        ist es wahrscheinlich, dass nach wie vor      lungen behandelt (32 % im Jahr 2001),
macht. Diese variiert jedoch deutlich           eine große Anzahl von Personen trotz Be-      meist mit nicht einmal halb so langer
zwischen den Störungsbildern und liegt          handlungsbedarfes ohne Zugang zu Ver-         Verweildauer wie in der Psychiatrie [57].
bei möglichen psychotischen sowie Pa-           sorgungsangeboten bleibt.                         Als besonders problematisch gestaltet
nikstörungen ca. dreimal so hoch wie                                                          sich der Übergang zwischen den Sekto-
bei Alkoholmissbrauch [40]. Außerdem            Versorgungsleistungen weisen                  ren. Bei Patienten mit Depressionen zeigt
vergehen nach dem erstmaligen Auf-              Qualitätsmängel auf                           sich, dass sich die Überweisung in die
treten einer Störung meist viele Jahre                                                        stationäre Versorgung erstaunlich wenig
bis zum ersten Kontakt zu einem spe-            Für die Fälle, bei denen ein Zugang zu        nach dem Schweregrad richtet, da sowohl
zialisierten Behandler, bei Angst- oder         Behandlungsangeboten gelingt, müssen          bei leichten als auch schweren Depressio-
depressiven Störungen durchschnittlich          jene von ausreichender Qualität sein, um      nen ein vergleichbarer Anteil (66 % bzw.
6–7 Jahre [40]. Eine solche Versor-             sich schließlich in sinkenden Prävalen-       64 %) ausschließlich im ambulanten Sek-
gungslücke („treatment gap“) entspricht         zen niederzuschlagen. Verschiedene Be-        tor behandelt wird [56]. Aus Sicht der
internationalen Befunden [41].                  funde stellen dies in Hinblick auf Ef-        Leistungserbringer wird dagegen beson-
    Einschränkend auf die Hilfesuche            fektivität und Effizienz der Versorgung         ders der Übergang aus teil-/stationärer
wirkt sich eine geringe lokale Verfügbar-       psychischer Störungen infrage.                Versorgung in den ambulanten Sektor
keit von spezialisierten Versorgern aus,            Eine geringe Einhaltung der nationa-      als schwierig eingeschätzt, wie eine Be-
die für viele Regionen in Deutschland           len Versorgungsleitlinie wird am Beispiel     fragung durch den Sachverständigenrat
besteht [42]. So ist die regionale Dichte       von Depressionen nachgewiesen. In Ana-        zur Begutachtung der Entwicklung im
ambulanter Nervenärzte und Psychothe-           lysen von GKV-Daten konnte für die            Gesundheitswesen (SVR) ergab [20]. Die
rapeuten bei Personen mit 12-Monats-            Hälfte aller behandlungsrelevanten De-        Koordination der verschiedenen Akteu-
Diagnose einer psychischen Störung              pressionsfälle entweder gar keine oder        re im Versorgungsalltag wird von ca. der
positiv mit der Kontaktaufnahme zu              keine i. S. der Leitlinie ausreichend lange   Hälfte der Befragten als „eher nicht gut“
diesen Behandlern korreliert [43]. Wer-         Behandlung nachgewiesen werden [52].          bis „gar nicht gut“ eingeschätzt. 20–30 %
den Patienten explizit danach befragt,          Eine Querschnittsstudie aus der Primär-       der stationären Fälle werden als „am-
beschreiben sie retrospektiv vielfältige        versorgung bestätigt dies für 60 % der        bulant-sensitiv“ bewertet, d. h. als durch
Barrieren der Hilfesuche, darunter eine         Patienten mit Indikation einer Behand-        eine verbesserte ambulante Versorgung
späte Diagnose- und Indikationsstellung,        lung durch Antidepressiva und/oder Psy-       vermeidbar [20]. Eine vergleichbare Stu-
mangelnde Information über psychische           chotherapie [53]. Hieran haben auch die       die nimmt dies sogar für 70 % der sta-
Störungen und Behandlungsmöglichkei-            genannten Unschärfen in der Diagnose-         tionär versorgten Patienten mit Depres-
ten sowie das Fehlen von Krankheitsbe-          und Codierpraxis einen Anteil.                sionen an [58].
wusstsein oder -einsicht [44], darunter             Im Behandlungsverlauf addieren sich           Eine zentrale Ursache für diese Fälle
auch die (Selbst-)Stigmatisierung psy-          zu diesen Schwierigkeiten in der Pri-         sowie die Schnittstellenprobleme liegt in
chischer Störungen [45].                        märversorgung weitere Qualitätsverlus-        den mehrmonatigen Wartezeiten auf so-
    Selbst wenn Patienten entsprechen-          te, die in dem zwar gut ausgebauten,          wohl ambulante als auch geplante statio-
den Kontakt hatten, bleiben psychische          aber zu wenig vernetzten deutschen            näre Behandlungen [20]. Auch nach Re-
Störungen häufig unversorgt. So wird             Versorgungssystem durch eine mangeln-         form der Psychotherapie-Richtlinie war-
aufseiten der Behandelnden die Sensiti-         de Kooperation über Sektoren-, Arzt-          ten Patienten laut Bundespsychothera-
vität und Spezifität in der hausärztlichen       und Berufsgruppengrenzen hinweg ent-          peutenkammer im Schnitt 20 Wochen
Diagnostik psychischer Störungen kri-           stehen (Überblick bei [20, 54]). Die          auf einen Behandlungsplatz bei psycho-
tisch diskutiert. Im Ergebnis einer inter-      Überweisungsrate aus der Primär- in die       logischen Psychotherapeuten [59].
nationalen Metaanalyse werden am Bei-           Sekundärversorgung ist gering: Nahezu             Die Studienlage zur Evaluation sekto-
spiel von Depressionen nur 47 % der Fäl-        drei Viertel aller Personen mit einer im      renübergreifender Versorgungsmodelle
le in der allgemeinmedizinischen Praxis         Versorgungsalltag codierten F-Diagnose        ist noch wenig belastbar, enthält aber
korrekt erkannt [46], was sich in deut-         (d. h. psychische oder Verhaltensstörung      bereits vielsprechende Hinweise darauf,
schen Studien bestätigt [47, 48]. Befragte      im ICD-10) in der ambulanten Versor-          dass eine Priorisierung der ambulan-
Hausärzte begründen dies u. a. mit ab-          gung werden ausschließlich in Praxen          ten Versorgung bessere gesundheitliche
weichenden Konzepten dessen, was ei-            für Allgemein- oder somatische Medi-          Outcomes sowie eine höhere Patien-
ne Depression sei [49]. Dies trägt dazu         zin behandelt und erfahren so keine           tenzufriedenheit erzielen kann als die
bei, dass zwischen Depressionsdiagnosen         fachärztliche Abklärung [55]. Unter den       bisherige Regelversorgung [60]. Diese

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Vorteile begründen sich auch in einer        in steigenden Prävalenzen v. a. schwe-        de Individualisierung, sich ausbreitende
besseren Regelung der Kooperation der        rer bzw. chronischer psychischer Stö-         Selbstbezogenheit, das Verschwinden des
beteiligten Arzt- und Berufsgruppen.         rungen niederschlagen, was in diesem          öffentlichen Lebens, in jüngeren Arbeiten
Diese wird von den Beteiligten bisher als    Begründungszusammenhang auf den               auch eine um sich greifende Beschleuni-
wenig festen Routinen folgend beschrie-      zweiten Blick ein günstiges Ergebnis          gung [67] und Selbstausbeutung [68]. In
ben und vollzieht sich eher „intuitiv“,      wäre. Betrachtet man darüber hinaus           manchen sozialwissenschaftlichen Mo-
einzelfallbezogen und spontan, wobei         die Übersterblichkeit von Menschen mit        dellen wird die gewohnte Zählweise der
jedoch die Patienten kaum bei der Wahl       psychischen Störungen aufgrund von            Epidemiologie dadurch gar auf den Kopf
der geeigneten Hilfesysteme mitbeteiligt     komorbiden somatischen Erkrankungen           gestellt: „Krank“ sind die vielen, die sich
sind [61]. Werden Patienten nach der         [65], wäre bei verbesserter somatischer       an die Gesellschaft anpassen, und „ge-
Ansprechbarkeit und Reagibilität (engl.:     Behandlung aufgrund gewonnener Le-            sund“ die wenigen, die an ihr leiden und
„responsiveness“) der psychiatrisch-psy-     bensjahre gleichermaßen mit schließlich       in ihr als „verrückt“ gelten [69].
chosomatischen bzw. psychotherapeu-          höheren Prävalenzen psychischer Stö-              Doch auch die klassische epidemiolo-
tischen Versorgung befragt, zeigt sich,      rungen zu rechnen.                            gische Forschung kommt ohne vorder-
dass vor allem deren legitime Erwartun-         Obwohl zwar Mängel in der Versor-          gründiges gesellschaftskritisches Motiv
gen an eine unmittelbare Verfügbarkeit       gung psychischerStörungenevidentsind,         zu vergleichbaren Hypothesen. In Erklä-
des Systems und an die Wahrung ihrer         kann aus diesen weder unmittelbar noch        rungsnot angesichts ausbleibender Aus-
Autonomie enttäuscht werden, insbe-          widerspruchsfrei auf die Prävalenzent-        wirkungen von Investitionen in die Ver-
sondere in Bezug auf Partizipation im        wicklungen geschlossen werden, weshalb        sorgung psychischer Störungen vermu-
Behandlungsprozess [62]. In diesem Zu-       im Folgendenzweiweitere Erklärungsan-         ten beispielsweise Mulder et al.: „Despite
sammenhang muss allerdings ebenso            sätze in Betracht gezogen werden sollen.      access to costly biomedical treatment, so-
berücksichtigt werden, dass Patienten                                                      mething central to recovery appears to
selbst nicht immer behandlungsbereit         Erklärung 2: Wachsende                        be missing in the social fabric of de-
sind. Dies zeigt sich u. a. in internatio-   Morbidität                                    veloped countries. It seems likely that
nalen Studien zur Compliance in der                                                        factors such as income inequality, discri-
Psychopharmakotherapie [63] mit sich         Der zweite Erklärungsansatz geht im Ge-       mination, prejudice, unemployment and
wandelnden Präferenzen, bspw. zuguns-        genteil von einer wirksamen Versorgung        strongly materialistic and competitive va-
ten psychotherapeutischer Behandlung         aus. Allerdings bleiben Prävalenzra-          lues may contribute to increased mental
[45].                                        ten theoretisch auch dann unverändert,        stress“ [70]. Auf der Suche nach Ursa-
    Diese Befunde machen wesentliche         wenn die Erfolge einer tatsächlich ef-        chen wachsender Morbidität betrachten
Optimierungspotenziale in der Versor-        fektiven Versorgung maskiert werden           Jorm et al. [1] in der eingangs zitier-
gung psychischer Störungen deutlich.         durch eine gegenläufige Zunahme der            ten Arbeit dagegen auch kollektive kriti-
Dennoch betreffen Über-, Unter- und           Morbidität. Mit dieser ist auf Bevöl-         sche Lebensereignisse wie das Auftreten
Fehlversorgung keineswegs alle Patien-       kerungsebene zu rechnen, wenn sich            von Naturkatastrophen, Wirtschaftskri-
ten. Somit ist es schwer vorstellbar, dass   die Quantität oder Qualität von Risi-         sen, terroristische Angriffe oder politi-
die erhebliche Ausweitung des Versor-        ko- und Schutzfaktoren der psychischen        sche Konflikte.
gungsangebotes ohne jeden Effekt auf          Gesundheit für einen bedeutsamen Teil             Bei dem Versuch, derartige Model-
die Häufigkeit psychischer Störungen ge-      der Population nachteilig entwickeln.         le für die Prävalenzentwicklung psychi-
blieben ist. Hinweise darauf finden sich,     Somit wäre der Ausbau von Versor-             scher Störungen in Deutschland zu prü-
wenn anstelle der Morbidität psychischer     gungsangeboten durch einen tatsächlich        fen, wird jedoch dessen wissenschaftliche
Störungen deren Mortalität in den Blick      wachsenden Bedarf gerechtfertigt.             Schwäche deutlich: Weder wird die Aus-
genommen wird. So ist eine eindeutig            Ein solches Denkmodell ist vor allem       wahl der vermeintlich pathogenen gesell-
positive Entwicklung bei den Suizidra-       aus kulturpessimistischen Gegenwarts-         schaftlichen Entwicklungen und Ereig-
ten in Deutschland zu verzeichnen. Wie       diagnosen bekannt, in denen die Grenzen       nisse nachvollziehbar erläutert noch fun-
eine vertiefende Analyse der Todesursa-      zwischen Psycho- und Gesellschaftsana-        diert erklärt, wie genau und in welchem
chenstatistik zeigt, hat sich die Zahl der   lyse verschwimmen. Psychische Störun-         Umfang sich etwa Werteverfall oder poli-
Todesfälle durch Suizid zwischen 1980        gen erscheinen als „Kultur- oder Zeit-        tische Krisen auf psychische Gesundheit
und 2006 in einem kontinuierlichen Ab-       krankheiten“ infolge eines pathogenen         und Krankheit der Bevölkerung auswir-
wärtstrend mehr als halbiert (–55,7 %;       gesellschaftlichen – häufig insbesondere       ken mögen [71]. Auch wenn die Annah-
[64]). Da schwere psychische Störungen       ökonomischen – Wandels. Dieser hin-           me einer belastenden Wirkung nicht ei-
zu den zentralen Prädispositionen für        dere den Menschen im Sinne der Ent-           ner Common-Sense-Logik entbehrt, ist
vollendete Suizide zählen, könnte man        fremdung daran, sich gemäß seiner na-         sie jedoch nicht tragfähig genug, um da-
aus der verminderten Sterblichkeit auf       türlichen Anlagen zu entfalten, und ma-       mit einen mutmaßlichen Anstieg der psy-
Erfolge in deren Behandlung schlie-          che somit krank [65, 66]. Als solches         chischen Morbidität zu begründen.
ßen. Ein solcher Effekt einer höheren         werden Entwicklungen des Werteverfalls            Schlüssiger zu beantworten ist da-
Überlebensrate könnte sich langfristig       betrachtet, wie z. B. eine fortschreiten-     gegen die Frage, wie sich empirisch

                                                                     Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Leitthema

gut abgesicherte Risiko- und Schutz-            oder Folgen der Digitalisierung der Le-       de er zu einer stärkeren Krankheitslast
faktoren für psychische Gesundheit in           benswelt, Eingang in die epidemiologi-        psychischer Störungen führen. In die-
Deutschland in den vergangenen Jahren           sche Forschung finden. Gleichermaßen           sem Sinne würde die Ausweitung von Be-
entwickelt haben. So liegt die 12-Mo-           müssen aber auch neue Schutzfaktoren          handlungsangeboten trotz stabiler Präva-
nats-Prävalenz psychischer Störungen            psychischer Gesundheit mitgedacht wer-        lenzen eine adäquate Anpassung des Sys-
mit 36,7 % bei Menschen im jungen Er-           den, die angesichts möglicher wachsen-        tems an eine veränderte Bedarfslage dar-
wachsenenalter (18–34 Jahre) deutlich           der Risiken als Puffer und Ressourcen          stellen.
höher als in der Altersgruppe 65–79 Jah-        von Resilienz einen erheblichen Einfluss
re (20,3 %; [72]) und auch im letzten           auf resultierende Prävalenzen haben kön-      Erklärung 3: Psychologischer
Lebensabschnitt (75+) sind die Präva-           nen und nicht im Zuge einer Verklärung        Kulturwandel
lenzen internationalen Befunden nach            der Vergangenheit und katastrophisie-
erhöht (z. B. [73]). Ein vergleichbares Ge-     render Gegenwartskritik außer Acht ge-        Auch der dritte Erklärungsansatz geht
fälle besteht zwischen dem Fünftel der          lassen werden sollten [12, 77].               zunächst von einer positiven Bewertung
Bevölkerung mit dem niedrigsten sozio-              Schließlich muss hinterfragt werden,      der Versorgungsqualität und -effektivi-
ökonomischen Status (37,9 %) gegenüber          ob Prävalenzen psychischer Störungen          tät aus, sieht diese jedoch von einem
dem Fünftel mit dem höchsten Einkom-            überhaupt der richtige Indikator sind,        anderen Prozess unterminiert, der para-
men sowie Bildungs- und Berufsstatus            um die Versorgungsexpansion zu eva-           doxerweise auch den Ausbau der Versor-
(22,0 %; [72]). Für eine Vielzahl einzelner     luieren. Diese sollte sich vorrangig nach     gungsangebote selbst speist. Als solcher
Störungsbilder wurden darüber hinaus            der Entwicklung des Behandlungsbedar-         wird im wissenssoziologischen oder auch
erhöhte Risiken nachgewiesen für Per-           fes der Bevölkerung richten. Auch wenn        kulturhistorischen Diskurs ein umfas-
sonen ohne Partnerschaft, Bevölkerung           der Begriff kontrovers diskutiert wird, gilt   sender kultureller Wandel betrachtet, in
in Großstädten mit mehr als 500.000             sowohl für alle Erkrankungen im All-          dem psychologische Theorien und Prak-
Einwohnern sowie somatisch erkrankte            gemeinen [78] als auch für psychische         tiken zunehmend an Einfluss gewinnen
und erwerbslose Menschen [72, 74].              Störungen im Speziellen [79], dass Be-        und unser Welt- und Selbstverständ-
    Sofern sich diese Risiken verbreiten,       handlungsbedarf nicht mit dem bloßen          nis entscheidend prägen (z. B. [7, 82,
wäre auch mit einer Ausweitung psychi-          Vorliegen von Symptom-, Ein- und Aus-         83]). Von diesem Standpunkt aus sinken
scher Morbidität zu rechnen. Eine fun-          schlusskriterien im Sinne der ICD-Krite-      die Prävalenzen psychischer Störungen
dierte und umfassende Bewertung des             rien identisch ist. Ausschlaggebend sind      deshalb nicht, weil (Lebens-)Probleme
sozialen Wandels in Deutschland über-           vielmehr das Maß funktioneller Beein-         heute häufiger als psychische Probleme
steigt den Rahmen dieser Arbeit – an-           trächtigung durch die Störung, d. h. Ein-     erlebt, interpretiert und auch behan-
hand von Beispielen möglicher Indika-           schränkungen bei der Durchführung täg-        delt werden. Sowohl der Ausbau des
toren wird jedoch bereits deutlich, dass        licher Aktivitäten und sozialer Teilhabe      Versorgungssystems als auch die Zunah-
sich auch hier ein gemischtes Bild zeich-       [80], sowie die Prognose eines aktuellen      me des Erlebens einer beeinträchtigten
nen lässt. So hat sich der Bildungsstand        Querschnittsbefunds hinsichtlich Sym-         psychischen Gesundheit wurzeln bei-
der Bevölkerung nach der Jahrtausend-           ptomprogression, Entwicklung von Ko-          de in zunehmender Psychologisierung
wende deutlich verbessert [75] und die          morbiditäten und Chronifizierung. Die          menschlicher Lebenswirklichkeit. Inso-
Zahl der erwerbslosen Personen hat sich         Frage, welchen Einfluss gesellschaftlicher     fern stehen die verstärkte Behandlung
nach Schwankungen mit Höhepunkten               Wandel auf diese hat, ist eine andere als     psychischer Störungen und deren gleich-
in den Jahren 1997 und 2005 mehr als            die oben gestellte. So ist denkbar, dass      bleibende Prävalenzen nicht in einem
halbiert [76]. Zugleich ist die Armuts-         z. B. die heutige Arbeitswelt mehr als frü-   Widerspruch zueinander, sondern be-
quote von 1992 bis 2014 stetig von 10,3 %       her eine stabile psychische Gesundheit        dingen sich wechselseitig.
auf 13,9 % gestiegen. Auch die Zahl al-         voraussetzt, da in der Informations- und         Die Annahme, dass psychologisches
leinstehender Menschen ist von 2004 bis         Dienstleistungsgesellschaft anstelle von      oder therapeutisches Wissen seinen
2014 um 16,3 % angewachsen [76].                handwerklichen oder körperlichen Fä-          Gegenstand zum Teil selbst hervor-
    Wenn sich aus den so beschriebenen          higkeiten vermehrt Soft Skills, Emotions-     ruft, wird auch in der Epidemiologie
gesellschaftlichen Entwicklungen keine          arbeit, Teamfähigkeit, Multitasking oder      und Versorgungsforschung vertreten.
eindeutigen Anhaltspunkte für eine stei-        lebenslanges Lernen gefordert werden.         So interpretieren Vertreter von Leis-
gende psychische Morbidität ableiten las-       Folglichschränkenpsychische Störungen         tungsträgern und -erbringern steigende
sen, kann dies allerdings auch an der           die berufliche Funktionsfähigkeit in stär-     Diagnosezahlen psychischer Störungen
Beschränkung auf etablierte und in Be-          kerem Maße ein [81] und es bleiben we-        in Krankenkassendaten als Resultat einer
völkerungsstudien gut messbare Risiko-          niger Nischen für Menschen mit psychi-        verstärkten Aufmerksamkeit auf psychi-
faktoren liegen. Um eine Evidenzbasis           schen Beeinträchtigungen. Entsprechend        sche Gesundheit in den Medien und
zu schaffen, mit der aktuelle bzw. neue          steigenderenRisikenfürArbeitsunfähig-         bei Behandelnden, u. a. im Zusammen-
Determinanten psychischer Gesundheit            keit und Frühverrentung. Selbst wenn der      hang mit einer intensivierten ärztlichen
abbildbar sind, müssen neue potenziel-          Wandel der (Arbeits-)Gesellschaft so ge-      Fortbildung [84]. So hätten sich die
le Risiken, wie bspw. Fluchterfahrungen         sehen nicht an sich pathogen wäre, wür-       Sensitivität auf Behandlerseite sowie die

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Sensibilität auf Patientenseite verbessert   torischen Wandel, neue kulturelle und             der vorrangig „überforderte“ Eliten
und würden heute zu einem häufigeren          wissenschaftliche Konzepte prägen die             porträtiert werden, denen ein patho-
Erkennen psychischer Störungen im Ver-       Definition von Behandlungsbedarf und               genes „Zuviel“ an z. B. Arbeit oder
sorgungsgeschehen führen. Empirisch          Gestaltung der Behandlungspraxis. In              Freiheit attestiert wird – während
wird dies vorrangig als Gesundheits-         ihren Implikationen jedoch sind die drei          epidemiologische Daten die Risiko-
kompetenz bezüglich psychischer Ge-          Ansätze trennscharf und dabei kaum                gruppen für psychische Störungen
sundheit und Störungen (engl.: „mental       mehr widersprüchlich:                             vielmehr durch ein „Zuwenig“ an
health literacy“) konzeptualisiert, wel-     1. Eine gesundheitspolitische Prio-               sozialem, kulturellem oder ökonomi-
che Wissen und Einstellungen gegenüber          risierung kurativer Angebote vor               schem Kapital kennzeichnen. Auch
Menschen mit psychischen Störungen              präventiven Angeboten ist zur                  wenn ihr wissenschaftlicher Gehalt
i. S. v. Stigmatisierung sowie Kompeten-        Verringerung von Häufigkeit und                 anzuzweifeln ist, haben gegenwarts-
zen im Hilfesuchverhalten umfasst [85].         Krankheitslast psychischer Störun-             kritische Diskurse dennoch ihre
Bereits seit den 1990er-Jahren zeichnet         gen nicht zielführend. Bewertet man            Berechtigung, da sie als „moderne
sich in Deutschland [86] sowie ande-            die aktuelle Versorgungssituation              Jeremiaden“ (den gesellschaftlichen
ren Industrienationen bzw. Ländern              als unzulänglich, kann neben den               Verfall beklagende Werke; [92])
mit hohem Bruttonationaleinkommen               diagnostischen Kompetenzen der v. a.           Sprachräume der Solidarisierung
eine Zunahme der Mental Health Li-              primärärztlichen Praktiker auch die            und gesellschaftlichen Veränderung
teracy ab [87], die jedoch nicht mit            Praktikabilität der klassifikatorischen         eröffnen. Ergebnisse der Versor-
einer geringeren sozialen Distanz zu            Diagnostik in Zweifel gezogen und              gungsepidemiologie sollten hier
Betroffenen verbunden ist. Ihre Be-              Optimierungsbedarf angemeldet                  jedoch als Korrektiv wirken und
deutung für die psychische Gesundheit           werden. Unabhängig davon kann die              daran erinnern, dass Kulturkritiken
scheint also ambivalent zu sein: Wäh-           Fixierung auf Prävalenzen als zen-             rund um die psychische Gesundheit
rend sie als Gesundheitskompetenz zwar          trales Outcome zur Bewertung von               auch die Stimmen jener Bevölke-
eine bedarfsgerechte Inanspruchnahme            Versorgungsmaßnahmen hinterfragt               rungsgruppen enthalten sollten, die
von Versorgungsangeboten ermöglichen            werden. Wie in Evaluationsstudien              nicht über die diskursiven Mittel
kann, steigert sie zugleich die Fähigkeit       der Versorgungsforschung etabliert,            verfügen, das eigene Unbehagen in
zur Introspektion und psychologischen           sollten Parameter des Behandlungs-             diesem Stil der Klage zu formulieren.
Selbstdeutung. Diese Sensibilisierung           bedarfes maßgeblicher sein, wie             3. Betrachtet man aus kulturhistori-
kann zu einer negativeren Einschätzung          z. B. die Funktionsfähigkeit und die           scher Distanz, wie sich die Deutung
der eigenen psychischen Gesundheit              gesundheitsbezogene Lebensquali-               menschlichen Leidens und der
beitragen [88, 89] und auch auf Behand-         tät von Menschen mit psychischen               professionelle Umgang mit die-
lerseite die Abgrenzung von Krankheit           Störungen. Neben deren Morbidität              sem gegenseitig bedingen, wird ein
und Gesundheit erschweren [90]. In der          muss auch die Mortalität berück-               Zielkonflikt deutlich. Wenn eine
bereits genannten Metaanalyse steigt            sichtig werden. Ferner ist in Bezug            steigende Mental Health Literacy
die wahrgenommene psychische Belas-             auf Verhinderung von Inzidenzen                tatsächlich in einer Verschlechterung
tung weltweit zwischen 1990 und 2010            sowie die Zeit, die auf individueller          der wahrgenommenen psychischen
signifikant an, während die Prävalen-            wie auf gesellschaftlicher Ebene mit           Gesundheit resultiert, sollte Auf-
zen psychischer Störungen aber stabil           psychischer Erkrankung verbracht               klärung neben dem Wissen über
bleiben [12]. Für Depressionen erweist          wird (einschließlich Entwicklung von           psychische Symptome auch Toleranz
sich eine geringe Mental Health Literacy        Komorbiditäten, Episodenzahl und               gegenüber diesen als Teil „normalen“
empirisch sogar als Schutzfaktor [91].          -dauern), verstärkt eine ätiologisch           Erlebens vermitteln [91]. Menschli-
                                                orientierte und entwicklungsbezo-              ches Leiden und dessen Bewältigung
Folgerungen und Fazit                           gene Perspektive zu fordern, die               scheinen sich unabhängig davon, in
                                                sich in geeigneter Prävention auf              welcher Form und Verursachung sie
Die Versorgungsepidemiologie muss               verschiedenen Ebenen niederschlägt.            zu einem bestimmten historischen
konstatieren, dass trotz der Auswei-         2. Diskutiert man die Bedeutung ge-               Zeitpunkt in Erscheinung treten, als
tung von Behandlungsangeboten für               sellschaftlicher Risikofaktoren, so ist        anthropologische Konstanten zu er-
psychische Störungen deren Prävalenz            Handlungsbedarf nicht erst geboten,            weisen. Die Vision einer Bevölkerung
in der Bevölkerung nicht sinkt. Sehr            wenn sich diese verändern bzw. zu-             mit geringer oder zumindest sinken-
wahrscheinlich tragen Faktoren aller            nehmen. Auch aus querschnittlichen             der Häufigkeit psychischer Störungen
drei Erklärungsansätze zu den stabilen          Ergebnissen zu gesundheitlicher Un-            erschiene so als Utopie – die aller-
Prävalenzen bei und stehen zudem in             gleichheit lassen sich Maßnahmen               dings notwendig ist, um im Sinne
Wechselwirkungen: Präventions- und              ableiten, die z. B. auf den sozialen           einer regulativen Idee zum Abbau
Versorgungsmängel limitieren Gesund-            Gradienten der psychischen Gesund-             vermeidbarer Risikofaktoren und zu
heitsgewinne, Risiko- und Bedarfsla-            heit abzielen. Besonders vorsichtig            einer bedarfsgerechteren Gestaltung
gen unterliegen einem ständigen his-            muss Kulturkritik gelesen werden, in           der Versorgung zu motivieren.

                                                                      Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Leitthema

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Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren                2018                                                    46:11–26
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    Psychiatr Prax 40:176–182                              25. Statistisches Bundesamt (destatis) (2010)               (2004) Prevalence, severity, and unmet need for
                                                               Krankheitskosten – 2002, 2004, 2006 und                 treatment of mental disorders in the World Health
                                                               2008. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/

  Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
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