Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich

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Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
Viertel
jahrs                    2 | 2020

schrift
                         Jahrgang 165
                         der Naturforschenden Gesellschaft
                         in Zürich NGZH

4   Ein völlig anderes   Das Gesicht des Zoos Zürich hat sich
                         in den letzten Jahren stark gewandelt:
    Verständnis          Weg von der Tierschau hin zum Natur-
                         schutzzentrum.
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
E DI T O R I A L

      Brief des
      Präsidenten
Aufgrund des längerfristig immer noch un-
sicheren Verlaufs der COVID-19-Pandemie
hat der NGZH-Vorstand entschieden, dieses
Jahr keine Exkursionen durchzuführen. Wir

                                                                                                 coronamap.ch
haben auch die Organisation der Vorträge zu-
rückgestellt. Auf die Vergabe der Jugendprei-
se an einem Science Dinner mussten wir lei-
der bereits definitiv verzichten. Wir hoffen             COVID-19 hat die Regionen der Schweiz
jedoch, dass wir wenigstens die Vorträge min-            sehr unterschiedlich getroffen.
destens teilweise realisieren können.
       Glücklicherweise kann jedoch die Haupt-
versammlung vom 22. Juni 2020 im Zoo Zürich        viren aufschlussreich: So wie die biologischen
wie angekündigt durchgeführt werden – aller-       Viren werden auch Computerviren nie ver-
dings mit Masken, zwei Metern Abstand und nur      schwinden, da laufend neue Varianten (Muta-
für angemeldete Personen! Die Titelgeschichte      tionen) auftreten. Es gibt Schutzprogramme
dieses Heftes soll dazu animieren, den Zoo Zü-     (Impfungen), die den Computer immun machen
rich im Rahmen der Hauptversammlung oder           können gegen bekannte Viren, aber diese wir-
später auf eigene Faust zu besuchen. Neben vie-    ken nicht gegen neue. Diese Abwehrprogram-
len Attraktionen lohnt sich insbesondere auch      me basieren auf der Analyse von Programm-
ein Abstecher zur neuen Lewa-Savanne.              sequenzen (Genom-Analysen) und müssen
                                                   kontinuierlich ergänzt werden.
Trotz 1,3 Milliarden Hits für den Begriff Coro-          Ein einzelner Mensch kann mit der Frei-
na war meine Suche nach einem Zusammen-            setzung geeigneter Computerviren innert kür-
hang zwischen der Reproduktionszahl und            zester Zeit weltweit Millionen von Maschinen
dem Verlauf der täglichen Neuansteckungen          lahmlegen. Um die Geräte zu schützen, müs-
erfolglos. Ich stelle deshalb in diesem Heft ein   sen sie entweder vom Internet getrennt wer-
einfaches und erfolgreiches Modell vor, das        den (Social Distancing) oder mit erweiterten
den Verlauf der COVID-19-Epidemie in der           Virenschutzprogrammen (Impfung) ausgerüs-
Schweiz klarer abbildet als die traditionellen     tet werden. Dass die biologischen und tech-
SIR-Modelle, bei denen die Epidemie durch          nischen Viren so grosse Schäden verursachen
die Entwicklung einer Herdenimmunität ge-          können, hat dieselbe Ursache: Die Vernetzung
stoppt wird.                                       sehr vieler komplexer Systeme durch schnel-
       Der Virologe Martin Schwyzer betrach-       le Transportsysteme.
tet die COVID-19-Pandemie aus biologischer               Fritz Gassmann
Sicht und stellt das Sars-Cov-2-Virus in den
grösseren Zusammenhang der Coronaviren.
Zudem erklärt er den Verlauf einer akuten Vi-
rusinfektion mit dem Aufbau entsprechender
Antikörper. Aus seinen Erklärungen zu Anti-
körpertests wird klar, dass es differenzierte
und ausgedehnte Tests braucht, um das Virus
in Schach zu halten bis eine genügend siche-
re Impfung zur Verfügung steht.                          Naturforschende
       Mir scheint ein Vergleich zwischen bio-           Gesellschaft in Zürich
logischen Viren und technischen Computer-                www.ngzh.ch
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
FO R S C H U N G                                          BU L L E T I N

     — A KT U E L L                                            — BU C H BE S P R E C H U N G
                                                          20   Richard Ernst – ein aussergewöhnlicher
4    Weg von der                                               Forscher

     Tierschau
                                                          22   IMPRESSUM

     — V I RO LO G I E
8    Die Corona-Krise aus                                 23   AG E N DA
     Sicht der Virologie

     — E P I D E M I O LO G I E
12   Mathematische Modelle
     für die Corona-Epidemie

     — OZ E A N O G R A F I E
16   In die tiefen Abgründe
     der Weltmeere

     Titelbild: In der markanten Masoala-Halle können
     die Besucherinnen und Besucher direkt in die
     Lebenswelt der Tiere eintauchen, ohne sie dabei zu
     stören. (Bild: Zoo Zürich)
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
4      FO R S C H U N G
       — A ktuell

       Von der Tierschau
       zum Naturschutzzentrum
       Was will ein Zoo? Was kann er für die                     schen auf Tierwelt und Natur verändert, auch unse-
       Gesellschaft, die Tierwelt und die                        re Gesellschaft steht heute an einem anderen Ort.
       Natur leisten? Die Antworten auf diese                            Ging es zu Beginn des 20. Jahrhunderts primär
       Fragen haben sich im Laufe der Zeit                       darum, den Menschen die Tiere und ihre Lebenswei-
       stark verändert, wie das Beispiel Zoo                     se zu zeigen, veränderte sich die Situation in den
       Zürich eindrücklich zeigt.                                1930er-Jahren. Damals begann man, die grossen
                                                                 Wälder der Welt im grossen Stil abzuholzen. Dies
Aus unserer Sicht ist der moderne Zoo ein Kultur-                führte zu einer zunehmenden Bedrohung von Tier-
institut, das als Botschafter zwischen Mensch, Tier              arten. In den Zoos begann man daher, bedrohte Tier-
und Natur wirkt. Der Zoo will breite Bevölkerungs-               arten zu züchten und wieder anzusiedeln. In den
kreise auf attraktive und erlebnisreiche Art und Wei-            letzten Jahrzehnten wurde nun immer klarer, dass
se ansprechen und zum nachhaltigen Fortbestand                   der Lebensraumverlust, die Abnahme der Biodiver-
der biologischen Vielfalt beitragen. Seine Besucher              sität, die übermässige Ressourcennutzung unseres
begeistert er mit attraktiven Landschaften, den da-              Planeten und die menschverursachte Klimaverän-
rin lebenden Tieren und ihren Aktivitäten. Genau                 derung zur Hauptbedrohung der Tierwelt werden.
dieses Vorhaben haben wir im Zoo Zürich in den letz-
ten Jahrzehnten umgesetzt. Heute sensibilisiert er                      Vier Hauptaufgaben
die Besucherinnen und Besucher für die Lebenswei-                Schon vor vielen Jahren hat der frühere Zoodirektor
se der Tiere, er macht auf die bedrohte Artenvielfalt            Heini Hediger die vier Hauptaufgaben eines Zoos
und die verletzlichen Lebensräume aufmerksam und                 formuliert: Dieser soll ein erlebnisreicher Erholungs-
motiviert die Menschen, sich für diese einzusetzen.              raum sein, zur Bildung beitragen, Forschung betrei-
                                                                 ben sowie Arten- und Lebensraumschutz im engeren
        Veränderte Sichtweise                                    Sinn. Aus dem Verständnis, ein Naturschutzzentrum
Das war nicht immer so, obwohl es schon das Ziel                 zu sein, ergeben sich die Aufgaben eines modernen
unserer Gründer war, der Naturentfremdung entge-                 Zoos. Auf dieser von Hediger formulierten Grund-
genzuwirken, zu besserem Wissen über die Tierwelt                lage hat sich auch der Zoo Zürich in den letzten Jah-
beizutragen und dem Tierwohl zu dienen. Es ist kein              ren entwickelt. Er bietet heute dem Besucher ein
Zufall, dass der Zürcher Tierschutz die gleichen Grün-           attraktives Naturerlebnis. Tiere werden in ihren nach-
derväter hat wie der Zoo Zürich. In den letzten 100              gebildeten Lebensräumen in einem Park gezeigt, der
Jahren hat sich jedoch nicht nur der Einfluss des Men-           auch den Pflanzen eine wichtige Rolle einräumt. Der
                                                                 Zoo ist nicht Natur, er ist menschengemacht, aber er
                                                                 gestaltet die Lebensräume so, dass diese einerseits
                                                                 für das Tier die notwendigen Abwechslungen bieten,
                                                                 ihm ermöglicht, seine natürlichen Verhaltensweisen
                                                                 zu zeigen, andererseits auch dem Menschen Erho-
                                                                 lung ermöglicht und ihm auch zeigt, dass es den Tie-
                                                                 ren im Zoo gut geht.
                                                                        Unter diesem Anspruch hat der Zoo grosszügi-
                                                                 ge naturnahe Landschaftsanlagen gebaut, beginnend
                                                                 mit der Brillenbärenanlage, der Himalaya-Anlage für
                                                                 Raubtiere, dem Afrikanischen Gebirge und dem Pan-
                                                                 tanal für die Primaten und mit der Australienanlage
                                                    Zoo Zürich

                                                                        Zoodirektor Alex Rübel und Landschaftsarchitekt
                                                                        Walter Vetsch präsentieren 1993 den Medien den
                                                                        Masterplan zur Zooentwicklung bis 2020.
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
5     Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH

                                                                                                             Zoo Zürich / Goran Basic
      In diesem Frühjahr wurde die neue Lewa Savanne in Betrieb genommen. Die markanten Baobab-Bäume haben
      ein geheimes Innenleben: Sie sind Futterautomaten.

für Koalas, Wallabys, Emus und Riesenwarane. Um          gestaltet, herausfordernd für die Tiere und verteilt
den Naturschutzgedanken noch stärker zu vermitteln       über die Tage und Saisons, wie diese auch in der
wurden die drei Schwerpunktanlagen Masoala Regen-        Wildnis zu finden sind. Der Tierpfleger greift mög-
wald (2003), Kaeng Krachan Elefantenpark (2014) und      lichst wenig in die natürlichen Hierarchien der Tiere
die Lewa Savanne als Marken etabliert und jeweils mit    ein, ermöglicht aber mit einem Gesundheitstraining
einem Naturschutzprojekt in der Wildnis verbunden.       trotzdem eine gute Betreuung durch den Tierarzt.
       Wo immer möglich wurde versucht, auf Git-         Für ältere und kranke Tiere wird mit den beteiligten
terabschrankungen zu verzichten und den Besucher         Mitarbeitern regelmässig ein breit abgestütztes «Well-
gefühlsmässig in den Lebensraum miteinzubeziehen         ness Assessment» durchgeführt, um sicherzustellen,
nach dem Prinzip der «Habitat immersion». Vollkom-       dass diese Tiere nicht leiden.
men umgesetzt werden konnte dieses Prinzip im Ma-                 Ein herausragendes Beispiel dafür sind die
soala Regenwald, wo der Besucher ohne Schranken          Elefanten, deren Futterstellen so in der Anlage ver-
in den Wald eintaucht, in dem die Tiere leben, ohne      teilt sind, dass sie mehrere Kilometer pro Tag gehen
deren Verhalten zu beeinflussen.                         müssen, um an ihr Futter zu kommen. Die Tierpfle-
                                                         ger bleiben ganz ausserhalb des Geheges, ein medi-
       Tierwohl hat Vorrang                              zinisches Training funktioniert und der alternde Ele-
Dem Tierwohl wird in den Anlagen höchste Priorität       fantenbulle (der Mitte Februar gestorben ist) wurde
eingeräumt. Seit dem Bau der Bärenanlage werden          während der letzten zwei Jahre seines Lebens regel-
diese so gebaut, dass die gesamte Anlage während         mässig in Bezug auf seine Altersbeschwerden evalu-
24 Stunden, auch im Aussenbereich, genutzt werden        iert. Auch bei den Bären und den Grosskatzen wird
kann. Auch die Innenbereiche sind als Landschafts-       die Fütterung so gesteuert, dass sie das Futter aktiv
anlagen konzipiert. So können die Tiere ihr natürli-     erarbeiten müssen und Elemente zum Kratzen, Gra-
ches Verhalten auch nachts ausüben und werden            ben, Klettern, aber auch für den Rückzug vorhanden
nicht mehr eingestallt. Fütterungen werden naturnah      sind. Die eingeschlagene Entwicklung der letzten
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       — A ktuell

                                                                                                                  Zoo Zürich / Enzo Franchini
                                                      Zoo Zürich
       Der Elefantenbulle Maxi bei seiner Ankunft 1981 in Zürich und 2015 im neuen Kaeng Krachan Elefantenpark.

Jahre wird weitergehen. Neue Gehege für die Men- Universität Zürich beteiligt sich die Leitung des Zoos
schenaffen sind in Planung und sollen neue Massstä- an Vorlesungen und Kursen zur Tiergartenbiologie.
be in Tierhaltung und Besuchererlebnis setzen.                  Eine erfolgreiche Zucht der gehaltenen Tiere
                                                        ist heute selbstverständlich. Ein Austausch von Tie-
        Sensibilisierung aller Altersgruppen            ren mit der Wildnis geschieht gelegentlich noch, um
Auch der Bildungsauftrag des Zoos hat sich verän- die genetische Vielfalt einer Population zu erhalten,
dert. Ging es ursprünglich darum, biologische Fakten sonst kommen die Tiere aus anderen Zoos. Es gelang
zu vermitteln, die an jedem Gehege in einer einfa- dem Zoo Zürich in den letzten Jahren bei vielen Ar-
chen Tafel dargestellt wurden, werden heute in be- ten wertvolle Zuchtgruppen aufzubauen, so z. B. bei
gleitenden Ausstellungen Naturschutzthemen auf- den Elefanten, den Gorillas, den Orang-Utans, den
gegriffen, abgestimmt auf die entsprechenden Tiere Dscheladas, den Waldrappen, den Mähnenibissen
und Lebensräume. Bei den Galapagos-Riesenschild- (als Welt-Erst-Naturbrut in einem Zoo), den Panther-
kröten ist dies die Evolution, in der Mongolischen chamäleons und den Plattschwanzgeckos.
Steppe die Biodiversität, im Masoala Regenwald die
Abholzung, bei den Amphibien das Artensterben                   Enge Zusammenarbeit
durch Klima und Krankheiten, im Kaeng Krachan Für die Arterhaltungsprogramme arbeitet der Zoo Zü-
Elefantenpark der Mensch-Tier-Konflikt, im Aqua- rich eng mit dem europäischen Zooverband zusam-
rium die Plastikverschmutzung der Gewässer und in men. 2019 waren Zoos an über 200 Arterhaltungspro-
der Lewa Savanne gute und schlechte Seiten des Sa- grammen beteiligt. Über 50 Arten wären ohne die
fari-Tourismus. Für die Ausstellung im Menschenaf- Arbeit der Zoos ausgerottet. Sie leben wieder erfolg-
fenhaus mit dem Thema «Wie der Wald voll Affen reich in der Wildnis. Zu denjenigen, die im Zoo Zürich
bleibt», die sich mit der Umweltzerstörung durch geboren und ausgewildert wurden, gehören Arabische
Übernutzung von Ressourcen auseinandersetzt, er- Oryx-Antilopen, ein Spitzmaulnashorn, Goldene Lö-
hielt der Zoo Zürich den UNESCO-Preis für die bes- wenäffchen, Uhus, Schleiereulen und Waldrappen.
te wissenschaftliche Ausstellung in der Schweiz.                Viele Forschungsarbeiten laufen in Zusam-
        Für die Schulen des Kantons Zürich hat der menarbeit mit universitären Instituten. Dabei geht es
Zoo Materialien erarbeitet, um einen lernreichen einerseits darum, die Tierhaltung zu verbessern und
Zoobesuch zu ermöglichen; Klassenworkshops und Grundlagen für die Wiederansiedlung zu erarbeiten,
Lehrerkurse runden das Angebot für die Volksschu- andererseits aber auch, die Wirkung der Bildungsins-
le ab. Erwachsenenbildung war eines der vorrangi- titution für den Naturschutz zu evaluieren. Eine Arbeit
gen Projekte der letzten Jahre, denn naturschützeri- bei den Europäischen Fischottern im Zoo zeigte, dass
sche Sensibilisierung schliesst alle Altersgruppen ein. nicht die schwer abbaubaren PCB, die bei vielen Tieren
Von unzähligen Führungen bis zu Managementkur- eine Unfruchtbarkeit verursachen können, für die Aus-
sen, oft verbunden mit einem kulinarischen Ange- rottung verantwortlich sind, sondern die zurückgehen-
bot, haben Tausende profitiert. An der ETH und der den Fischbestände und Gewässerverbauungen.
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
7     Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH

                                                                                                            Zoo Zürich
      Grosse Teile des Masterplans konnten bereits umgesetzt werden. Der jüngste Ausbauschritt ist die Lewa
      Savanne für Giraffen, Breitmaulnashörner und andere Tiere (15). Noch in Planung befinden sich die
      Volière Pantanal (16), die Zooseilbahn (17), die Gorilla-Anlage (18) und Orang-Utan-Anlage (19), die
      Küstenanlage für Meeressäuger und Pinguine (20) sowie die Asiatische Steppe für Huftiere (21).

       Finanzen müssen stimmen                            Umsatzprozenten aus Shop und Restaurant finan-
       Letztlich geht es um die Erhaltung der Tiere       ziert. Die namensgebenden Projekte werden in den
in der Wildnis. Der Zoo arbeitet deshalb in acht Na-      entsprechenden Zooanlagen kommuniziert.
turschutzprojekten mit, unterstützt diese finanziell              Ein Zoo kann nur erfolgreich sein, wenn auch
und personell im Management und mit Forschungs-           die Finanzen stimmen. Sie sind die Voraussetzung,
arbeiten. In all diesen Projekten versuchen wir, in       dass keine Kompromisse in der Tierhaltung oder der
enger Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung          Nachhaltigkeit der Programme des Zoos eingegan-
Projekte zu entwickeln, die den Menschen Erwerbs-         gen werden müssen. Der Zoo Zürich durfte in den
möglichkeiten bieten, gleichzeitig aber auch die          letzten Jahren auf eine grosszügige Unterstützung
Natur schonen und schützen. Grundlage dafür ist           aus allen Bereichen der Gesellschaft zählen und so
eine Unterstützung der lokalen Schulen, die mit ei-       für die Tierwelt in den Herzen der Besucher einen
nem Schwerpunkt in der Bildung bezüglich nach-            Platz finden, der uns Menschen hilft, gegenüber der
haltiger Bewirtschaftung des Bodens gestaltet wird.       Natur mit etwas mehr Demut aufzutreten und die
Besonders bekannt sind die Engagements im Ma-             Wunder der Natur langfristig zu erhalten.
soala Nationalpark in Madagaskar, im Kaeng Kra-                   Alex Rübel
chan Nationalpark in Thailand und im Lewa Wild-                   Der Autor ist seit 1991 Direktor des Zoos Zürich.
                                                                  Nach über 30-jähriger Tätigkeit für den Zoo
life Conservancy in Kenia.                                        übergibt er das Amt Ende Juni 2020 an seinen
       Jährlich fliessen fast zwei Millionen Franken              Nachfolger Severin Dressen.
in diese Projekte. Sie werden durch Spenden der Be-
sucherinnen und Besucher sowie Stiftungen und zwei
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      — V irologie

      Die Corona-Krise
      aus Sicht der Virologie
      Die aktuelle Corona-Krise hält unsere             dass auch das neue Coronavirus aus einem Lebend-
      Gesellschaft nach wie vor in Atem. In             tiermarkt stammt und von Fledermäusen über einen
      der Diskussion, wie wir mit dieser                Zwischenwirt, diesmal möglicherweise ein Schup-
      schwierigen Situation weiter umgehen              pentier, auf Menschen übertragen wurde. Offenbar
      sollen, lohnt es sich, ein paar grund-            hat niemand aus der früheren Krise gelernt.
      sätzliche Aspekte des Virus, das die
      Pandemie ausgelöst hat, im Auge zu                       Das Virus
      behalten.                                         Das neue Sars-CoV-2 gehört zur Familie der Corona-
                                                        viridae. Mit Sars-CoV (nun auch Sars-CoV-1 ge-
        Vorgeschichte                                   nannt) teilt es nur 82 Prozent Sequenzhomologie;
Im November 2002 traten in der südchinesischen          dennoch wird es zur selben Spezies gerechnet. Mit
Provinz Guangdong infektiöse atypische Lungenent-       80–140 nm Durchmesser gehört es zu den grössten
zündungen auf, die sich von Mensch zu Mensch ver-       RNA-Viren. Die Hüllmembran trägt aussen ein
breiteten und bis im Januar 2003 über 300 Personen      S-Protein (Spike-Protein), das mit seinen charakte-
erfassten, darunter 100 aus dem Gesundheitsperso-       ristischen Protrusionen wie bei einer Krone den
nal. Erst im Februar 2003 wurde die WHO informiert.     Coronaviren den Namen gegeben hat (Abb. 1). Die E
Im März 2003 wurde der Erreger als Coronavirus          und M-Proteine sind ebenfalls mit der Hüllmem-
identifiziert und Sars-CoV benannt, severe acute res-   bran verbunden, während im Innern das N-Protein
piratory syndrome coronavirus. Dessen RNA-Sequenz       mit der RNA ein helikales Nukleokapsid bildet. Das
wurde entschlüsselt als Voraussetzung für Nachweis      RNA-Genom ist ein nicht segmentierter Einzel-
und Bekämpfung. Bis im Juli 2003 breitete sich die      strang positiver Polarität mit rund 29 900 Basen.
Krankheit auf rund 30 Länder und alle Kontinente
aus; 800 von 8400 Patienten verstarben. Zum Glück           Die Krankheit
gelang es unter Mithilfe der WHO, die Pandemie zu    Sars-CoV-2 verursacht die Krankheit COVID-19 (Co-
stoppen. Die nachträgliche Aufklärung zeigte, dass   ronavirus Disease 2019). Angesichts der aktuellen
das Virus aus Fledermäusen stammte und in Lebend-    Informationsflut verzichten wir hier auf eine weitere
tiermärkten via Schleichkatzen als Zwischenwirt auf  Beschreibung. Erwähnenswert ist jedoch, dass CO-
Menschen übertragen wurde.                           VID-19-Patienten schon mehrere Tage vor Auftreten
                                                     der Symptome infektiös sein können. Dies war offen-
       Die Geschichte wiederholt sich                bar bei SARS weniger der Fall. Dieser Aspekt war ein
Am 30. Dezember 2019 informierte der Augenarzt wichtiger Grund, warum es gelang, die Pandemie von
Li Wenliang seine Arztkollegen in einer WeChat- 2003 zu stoppen, und warum es heute so viel schwie-
Gruppe über eine Serie von Lungenentzündungen, riger ist, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
die im Zentralkrankenhaus Wuhan behandelt wur-
den. Als Whistleblower wurde er von den lokalen             Virus und Tier
Behörden wegen der Verbreitung von Falschinfor- COVID-19 ist eine neu aufgetretene Zoonose, eine
mationen schwer gerügt. Inzwischen hatte er sich vom Tier auf den Menschen übersprungene Krank-
selbst bei einer Patientin angesteckt und zeigte am heit (siehe Schwyzer, VJS 154, 1–9). Die der Bevölkerung
10. Januar erste Symptome. Am 7. Februar erlag er fehlende adaptive Immunität führte zur Pandemie.
der COVID-19-Krankheit. Zu dieser Zeit verzeich- Zum Glück ist ein solcher Übersprung einer Krank-
nete China bereits 28 000 bestätigte Fälle und heit ein seltenes Ereignis. Die Familie Coronaviridae
563 Tote.                                            umfasst derzeit 43 verschiedene Virusspezies, die
       Der Ursprung der neuen Pandemie ist noch meisten sind beschränkt auf eine bestimmte Tierart
nicht abschliesend wissenschaftlich geklärt. Die oder den Menschen als Wirt. Die Tabelle gibt eine
wahrscheinlichste und banalste Erklärung ist jedoch, Übersicht der wichtigsten Vertreter.
Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
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                                                         P. Wild, E. Schraner, UZH)

                                                                                            Abb. 1: Mikroskopische Aufnahme von Coronaviren.
                                                                                            Die charakteristischen Protrusionen wie bei einer
                                                                                            Krone haben den Coronaviren den Namen gegeben.

        Herdenimmunität                                                               Menschen an. Wenn fünf von diesen sechs die In-
Dieser Begriff stammt aus der Veterinärmedizin; er                                    fektion bereits durchgemacht haben und immun
lässt sich aber ebensogut auf eine menschliche Po-                                    sind, so ist der Schwellenwert erreicht, ab dem die
pulation anwenden. Auf Englisch heisst es «herd im-                                   Zahl der Neuansteckungen langfristig gegen Null
munity» und bezeichnet den Anteil der Tiere einer                                     tendiert. Gemäss der Formel HIT = 1 - 1/R0 = 1 - 1/6
Herde, die immun sind gegen einen bestimmten Er-                                      beträgt HIT bei diesem Virus 0,833… oder ca. 83
reger. Erreicht dieser Anteil einen Schwellenwert                                     Prozent.
HIT «herd immunity threshold», so sind genügend                                              Leider wissen wir aber noch nicht, ob und für
Herdentiere immun, um die Infektionskette lang-                                       wie lange eine durchgemachte Infektion tatsächlich
fristig abbrechen zu lassen.                                                          Immunität verleiht. Entgegen der weit verbreiteten
        Gemäss Schätzung von Gassmann (s. Artikel                                     Annahme genügt ein positiver Antikörpertest nicht
S. 12) beträgt die Basisreplikationszahl R0 für Sars-                                 als Nachweis der Immunität. Der immer deutlicher
CoV-2 (ohne Massnahmen) knapp 6, d. h. jeder infi-                                    zu hörende Ruf nach «Durchseuchung der Bevölke-
zierte Mensch steckt im Durchschnitt sechs weitere                                    rung» ist daher schlicht unverantwortlich.

Virus                               Wirt                                                             Krankheit

TGEV                                Schwein                                                          Transmissible Gastroenteritis

BCV                                 Rind, kleine Wiederkäuer                                         Rindergrippe, Kälberdurchfall

ECoV                                Pferd                                                            Durchfall

CCoV                                Hund                                                             Zwingerhusten, Durchfall

FCoV                                Katze                                                            Feline infektiöse Peritonitis

IBV                                 Geflügel                                                         Infektiöse Bronchitis

MHV                                 Maus                                                             Maus-Hepatitis

HCoV (u.a. 229E, OC43)              Mensch                                                           Erkältungserkrankungen

Mers-CoV                            Fledermaus –> Dromedar –> Mensch                                 middle east respiratory syndrome
Sars-CoV                            Fledermaus -> (?) –> Mensch                                      SARS, COVID-19

        Tab. 1: Übersicht über die wichtigsten Coronaviren
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       — V irologie

       Abb. 2: Typischer Verlauf einer akuten Virusinfektion. Die Virusproduktion, die klinischen Symptome und die
       Produktion von IgM- und IgG-Antikörpern treten gestaffelt auf. Der Zeitpunkt der Probenentnahme ist daher
       wichtig.

Kürzlich wurde in dieser Zeitschrift die Arbeit von         DNA-Kopie umgeschrieben, wovon bestimmte Gen-
Phung Lang über Masern vorgestellt (VJS 164/2 S.10-         abschnitte mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR)
12). Das Masernvirus ist hochansteckend (R0 etwa            amplifiziert werden. Der Nachweis der Amplifikati-
12 bis 18), woraus sich ein HIT von 91 bis 94 Prozent       on erfolgt in Echtzeit durch den Einbau von Farb-
errechnet. Dementsprechend empfiehlt die WHO                stoffmarkern und deren Quantifizierung mit einem
eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent, was in der           Laserstrahl. Die verwendeten Geräte kosten soviel
Schweiz bis jetzt nur der Kanton Genf erreicht hat.         wie ein Mittelklassewagen; sie können aber in durch-
                                                            sichtigen Platten mit 96 (8x12) oder 384 (16x24) Ver-
        Testen, testen, testen…                             tiefungen entsprechend viele Proben auf einmal be-
Dieses Mantra hört man ständig, und es leuchtet auf         arbeiten. Auch die verwendeten Reagentien sind
den ersten Blick als wichtige Massnahme zur Ein-            teuer, und es braucht gut ausgebildetes Laborper-
dämmung der Pandemie auch ein. Aber was, wann               sonal. Die Technik ist jedoch gut etabliert. Für die
und wie soll eigentlich getestet werden? Akute Vi-          Umstellung von anderen Virustests auf Sars-CoV-2
rusinfektionen zeigen einen typischen Verlauf (Abb. 2).     müssen nur wenige sequenzspezifische Reagentien
In den ersten Tagen bleibt die Infektion stumm, dann        ausgetauscht werden.
werden Viren nachweisbar, z.B. in Abstrichen aus                   Inzwischen wurden auch Sars-CoV-2 spezifi-
Nasen- oder Rachenraum. Erst viel später lassen sich        sche monoklonale Antikörper gegen das S- (Spike)
im Blut spezifische Antikörper nachweisen, zuerst           und N- (Nucleokapsid) Protein hergestellt. Diese
vorübergehend vom Typ IgM und dann mehr dauer-              sollten einen direkten Virusnachweis mit zwei ver-
haft vom Typ IgG. Die klinischen Symptome begin-            schiedenen Antikörpern in einem Sandwich-ELISA
nen oft erst, wenn bereits viele Viren ausgeschieden        (enzyme linked immunosorbent assay) ermöglichen.
werden und erreichen ihren Höhepunkt, wenn mög-             Das Prinzip wird in Abb. 3 erklärt. Solche Tests wären
licherweise bereits keine Viren mehr nachweisbar            schnell und billig, sind aber für Sars-CoV-2 noch nicht
sind, sondern nur noch Antikörper. Der Zeitpunkt            so gut ausgereift wie die RT-PCR.
der Probenentnahme ist deshalb für die Labordiag-                  In Abb. 3 ist das nachzuweisende Virus der un-
nose entscheidend. Idealerweise wird mehrmals mit           bekannte Partner. Mit einem analogen Prinzip kann
zeitlichem Abstand und mit verschiedenen Metho-             man aber ein Virusprotein als bekannten Partner
den getestet.                                               verwenden, um unbekannte Antikörper im Blut nach-
        Dem Virusnachweis von Sars-CoV-2 liegt fast         zuweisen. Gut etabliert hat sich die Technik des
immer eine sogenannte RT-PCR zugrunde. Dabei                «Lateral flow IgM IgG Test». Dabei wird ein Bluttrop-
wird das RNA-Virusgenom aus der Probe extrahiert            fen in eine Delle eines Teststreifens gegeben. Dort
und danach mittels Retrotranskriptase (RT) in eine          befinden sich Gold-Nanopartikel mit daran gebun-
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                                                                                        Abb. 3: Prinzip des Sandwich-
                                                                                        ELISA. Nur wenn das gesuchte
                                                                                        Virus (violett) vorhanden ist
                                                                                        (links), bindet der markierte
                                                                                        Antikörper (hellgrün), andern-
                                                                                        falls wird er ausgewaschen
                                                                                        (rechts). Das Prinzip funktio-
                                                                                        niert auch, wenn man anstelle
                                                                                        des ganzen Virus nur ein
                                                                                        einzelnes Virusprotein nimmt.

denen Virusproteinen. Nach Zugabe einer Pufferlö-             zu beschreiten. Mehrere haben einen Bezug zur
sung wandert das Gemisch durch Kapillarkraft ho-              Schweiz. So findet sich auf der Liste das Projekt von
rizontal über die ganze Länge des Teststreifens. Auf          Martin Bachmann (Inselspital Bern), wo die Rezep-
dem Weg befinden sich drei Zonen mit fixierten An-            tor-Bindungsstelle (RBD) von Sars-CoV-2 auf einem
tikörpern: 1. Anti-human-IgM 2. Anti-human-IgG                Virus-ähnlichen Partikel (VLP) präsentiert wird. Fer-
3. Antikörper gegen beigemischtes Kontroll-Antigen.           ner beruht einer der acht Kandidaten-Impfstoffe auf
Enthielt das Blut Antikörper gegen Sars-CoV-2, so             einer mRNA, die mittels Lipid-Nanopartikeln (LNP)
sammeln sich die Gold-Nanopartikel in gut sichtba-            verabreicht wird; dieser von der US-Firma Moderna
ren Zonen, sonst wandern sie fort. Dieser Schnelltest         entwickelte Impfstoff soll teilweise durch Lonza in
weist die Antikörper vom Typ IgM oder IgG nach,               Visp hergestellt werden.
sagt aber nichts aus über deren Menge oder virus-                    Ob das Ziel realistisch ist, bereits im Oktober
neutralisierende Wirkung. Die erhältlichen Tests              2020 mit einer breit angelegten Impfung zu begin-
zeigen eine gute Spezifität (bis zu 100 Prozent, d.h.         nen, wird sich weisen. Ein Impfstoff wird wie jedes
keine falsch positiven Resultate), aber die Sensitivi-        andere Arzneimittel nur dann zugelassen, wenn so-
tät wäre zu verbessern (derzeit um 90 Prozent, d.h.           wohl dessen Sicherheit wie auch dessen Wirksamkeit
jede zehnte eigentlich positive Probe wird verpasst).         zweifelsfrei nachgewiesen sind. Aus Eile hierbei Kom-
                                                              promisse zu machen, wäre fatal. Die Hoffnung, es sei
       Wann können wir impfen?                                nur eine Frage der Zeit, bis ein Impfstoff gegen Sars-
Ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 wird von beinahe               CoV-2 zur Verfügung stehe, hängt leider nicht nur
der ganzen Weltbevölkerung sehnlichst erwartet. In            von der Forschung, sondern auch vom Virus ab. Es
rund zwanzig Ländern weltweit haben Institute und             gibt Beispiele von Viruserkrankungen (HIV, Dengue),
Firmen begonnen, ihre Expertise diesem neuen Ziel             die schon seit Jahren bekannt sind und gegen die bis
zu widmen. Am 15. Mai hat die WHO eine Liste von              heute kein Impfstoff verfügbar ist. Eine mögliche Ur-
118 solcher Impfstoffprojekte publiziert (www.who.int/        sache ist, dass Immunzellen, welche der Abwehr die-
who-documents-detail/draft-landscape-of-covid-19-candidate-   nen sollten, selbst infiziert werden. So zeigt sich bei
vaccines). Davon sind acht Kandidaten bereits in der          Dengueviren das Phänomen der Antikörper-abhän-
Phase 1 oder sogar Phase 2 klinischer Versuche. Sie           gigen Infektionsverstärkung (antibody dependent en-
sind etwas weiter fortgeschritten, weil sie auf Tech-         hancement, ADE). Das könnte auch bei Coronaviren
niken beruhen, welche schon mit anderen Viren wie             eine Rolle spielen. Selbst wenn die Hoffnung auf ei-
Ebola oder Influenza erprobt wurden. Unter den üb-            nen wirksamen Impfstoff erfüllt wird, stellen sich
rigen 110 Impfstoffprojekten könnten sich aber durch-         ethische Probleme bei dessen Prüfung und Zuteilung,
aus Kandidaten finden, die mindestens ebenso viel             wie kürzlich am Beispiel Ebola beschrieben wurde
Erfolg versprechen.                                           (Schwyzer, VJS 164|3, 4-7).
        Erfahrungsgemäss scheiden auf dem Entwick-                   Martin Schwyzer
lungsweg zahlreiche Impfstoffe aus. Deshalb ist es                   Der Autor ist emeritierter Professor für Virologie an
sinnvoll, möglichst verschiedene Wege gleichzeitig                   der Universität Zürich.
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       — E pidemiologie

       Mathematische Modelle
       für die Corona-Epidemie
       Die rasante Entwicklung der COVID-               vor diesem Datum. Aus der Zunahme der Infektions-
       19-Infektionszahlen hat im März viele            zahlen in China und Italien wusste man, dass die Ver-
       überrascht. Dahinter verbirgt sich               dopplungszeit V nur etwa 2 Tage beträgt. Mit diesen
       jedoch ein einfacher Mechanismus,                ersten Angaben können wir eine approximative Ana-
       der uns den Ernst der Lage begreiflich           lyse wagen: Für den Tag t können wir die Anzahl der
       macht, aber auch hilft, die täglich              Infektionen zu I=2t/V abschätzen. Für 20 Tage erhal-
       publizierten Infektionszahlen zu                 ten wir rund 1000 Infizierte, was in der Schweiz am
       interpretieren.                                  10. März eintrat. Unser Modell passt also am besten
                                                        mit den Beobachtungen überein, wenn wir den Tag
Die COVID-19-Pandemie stellt uns vor Probleme, die      20 auf diesen Tag legen. Der Tag 0 fällt so auf den 19.
wir in der heutigen Zeit kaum für möglich gehalten      Februar, also 5 Tage vor dem ersten positiven Test,
haben. Praktisch alle betroffenen Länder wurden durch   was sinnvoll erscheint.
die explosive globale Ausbreitung dieses neuen Virus            Dieses sehr einfache Modell lehrt uns bereits
überrumpelt. Aufgrund der schnellen Transportsys-       etwas Entscheidendes: 20 Tage lang ist nichts Ausser-
teme sprang das Virus innert Tagen über riesige Dis-    ordentliches passiert, 1000 Infizierte sind nicht be-
tanzen. Von China in Europa angekommen, wurde es        ängstigend und fast niemand nahm die Situation ernst.
durch eine sehr mobile und ineinander verflochtene      Doch nach nur 6 weiteren Tagen schnellt die Zahl der
Gesellschaft rasend schnell auf alle Länder verteilt    Infizierten gemäss diesem Modell auf 8000 und nach
und dort von einem Individuum zum nächsten trans-       weiteren 20 Tagen wäre die gesamte Schweizer Be-
portiert. Jeder Mensch hat innerhalb eines Tages di-    völkerung infiziert! Das Modell gibt eine Warnung,
rekten Kontakt zu einer Vielzahl anderer Menschen       obwohl es nicht korrekt sein kann für Zeiträume, die
durch das traditionelle Händeschütteln oder indirek-    über die Dauer der Krankheit von rund 2 Wochen hi-
te Kontakte dadurch, dass alle in einem Raum diesel-    nausgehen. Wir brauchen ein verbessertes Modell,
be Luft inklusive feine Wassertröpfchen einatmen.       das die immunen und am Coronavirus verstorbenen
       Es ist unmöglich, all diese Prozesse im Detail   Personen berücksichtigt.
zu untersuchen und nachzurechnen. Trotzdem kann
man mit Hilfe von statistischen Mittelwerten (analog            Ein genaueres Modell
wie bei der Theorie des idealen Gases, wo auch nur      Seit fast einem Jahrhundert rechnen Epidemiologen
Mittelwerte über viele Atome oder Moleküle beschrie-    mit verschiedenen Versionen der sogenannten SIR-
ben werden können) den Kern des Geschehens erfas-       Modelle. Die Buchstaben stehen für «Susceptible indi-
sen und die zeitliche Entwicklung wichtiger Grössen,    viduals» (ansteckbare Personen), «Infectious individu-
wie beispielsweise die Anzahl infizierter Personen,     als» (infizierte Personen, die ansteckend sind und
durch Gleichungen beschreiben. Das Ergebnis sol-        bereits im approximativen Modell berücksichtigt wur-
cher Bemühungen sind mathematische Modelle, die         den) und «Removed individuals» (aus dem Anste-
den Verlauf der täglich gemessenen Infektionen nach-    ckungsprozess ausgeschiedene Personen, die nicht
bilden. Je besser dies gelingt, desto grösser ist die   mehr krank, sondern entweder immun oder tot sind)
Überzeugung, dass man die wichtigsten Prozesse ver-     (Kermack & McKendrick, 1927).
standen hat und das Modell benutzen kann, um den                Obwohl die normalen SIR-Modelle ungeeignet
momentanen Zustand des Systems zu analysieren und       sind für die Simulation der täglichen Neuinfektionen,
mögliche Zukunftsszenarien zu berechnen.                werden sie in allen Simulationsmodellen benutzt, die
                                                        ich im Internet finden und identifizieren konnte. Ich
       Ein approximatives Modell                        wähle hier den von Markus Noll kürzlich vorgeschla-
Der erste Schweizer Patient wurde in Italien angesteckt genen Ansatz (Noll, 2020), um ein einfaches, aber kor-
und am 24. Februar im Kanton Tessin positiv auf das rektes Modell zu finden. Dabei nehme ich an, dass zu
Coronavirus getestet. Die Ansteckung liegt also sicher jeder Zeit t nur ein kleiner Teil I(t) der Bevölkerung
13     Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH

 durch das neue Coronavirus infiziert wurde: In der          tinuierlich auf einen niedrigen Wert R 1 abfällt. Um
 Schweiz sind dies heute mindestens 31 000 bestätig-         dies zu erreichen, habe ich die häufig benutzte S-
 te Fälle (die Dunkelziffer ist leider bislang unbekannt).   Funktion 1/{1+e4(t’-U)/U} verwendet, die zur Zeit t’=0
 S kann deshalb als etwa konstant betrachtet werden          fast eins ist (0,982). Bei t’=U beträgt sie genau 0,5
 und die Herdenimmunität spielt höchstens eine un-           und bei t’=2U wird sie fast 0 (0,018). Um diese S-
 tergeordnete Rolle. Ich stelle mir idealisierend vor,       Funktion zeitlich verschieben zu können, brauchte
 dass alle Personen gleich lang krank (etwa 2 Wochen)        ich einen zusätzlichen Parameter tU, den Umschalt-
 und während dieser Zeit immer gleich ansteckend             zeitpunkt, bei dem die S-Funktion den Wert 0,5 hat.
 sind. Mit diesen vereinfachenden Annahmen lässt sich        Dies ergibt sich, wenn t’=t-tU gesetzt wird. Da viele
 die Anzahl Personen angeben, die die Krankheit durch-       Leute ihr Verhalten bereits vor dem Inkrafttreten
 gemacht haben und zur Zeit t entweder immun oder            verordneter Massnahmen verändert haben, viele
 tot sind: Dies sind diejenigen Personen, die zur Zeit       andere jedoch erst deutlich später den Ernst der Lage
 t-K infiziert wurden. Am Tag t sind also {I(t)-I(t-K)}      begriffen haben, ist zu erwarten, dass das gesamte
 Personen krank (und ansteckend). Die entsprechende          Umschaltintervall 2U sich über viele Tage erstreckt.
 Bilanzgleichung lautet folglich:                                    Die Zahlenwerte der 5 unbekannten Parame-
                 dI(t)    R                                  ter R0, R 1, K, U und tU habe ich gefunden, indem ich
                       = eff {I(t)-I(t-K)}
                  dt        K                                die Differenzen zwischen den beobachteten und mit
dabei bedeuten:                                              verschiedenen Parameter-Kombinationen berech-
I(t) = Anzahl Infizierte zur Zeit t                          neten Infektionszahlen minimiert habe.
K = Krankheitsdauer (16 Tage)                                        Mathematica stellt Algorithmen zur Auffin-
Reff = effektive Reproduktionszahl                           dung des Minimums einer mehrdimensionalen
                                                             Funktion zur Verfügung. Die folgenden Werte erga-
Die effektive Reproduktionszahl Reff ist die durch-          ben eine überraschend gute Übereinstimmung zwi-
schnittliche Anzahl Personen, die eine infizierte            schen Modell und Beobachtungen zwischen dem 19.
Person während ihrer Krankheitsdauer ansteckt. In            Februar und dem 17. Mai: R0=5,7, R 1=0,54, K=16 Tage,
der Verzögerungs-Differentialgleichung (Delay Dif-           U=20 Tage und tU=26,6 Tage. Es ist beachtenswert,
ferential Equation) steht deshalb als Vorfaktor Reff/K,      dass sich als Umschaltzeitpunkt tU der 16. März er-
also die Wahrscheinlichkeit, dass eine infizierte Per-       gab, an dem der Lockdown begann und als gesamtes
son pro Zeiteinheit eine andere ansteckt.                    Umschaltintervall 2U 40 Tage herauskamen, die bis
        Die täglichen Neuinfektionen (zu identifizie-        zum 25. Februar zurückreichen, also bis zum Be-
ren mit dI(t)/dt) und die monoton wachsende Sum-             kanntwerden der ersten Infektion. Die effektive Re-
me der Infektionen (zu identifizieren mit I(t)) werden       produktionszahl Reff sank also bereits vor dem Lock-
jeden Tag publiziert und können für die Schweiz un-          down auf etwa 3,1 ab (Mittelwert von R0 und R 1).
ter http://coronamap.ch eingesehen werden.                   Dieses subexponentielle Wachstum wurde auch in
        Weil man die obige Gleichung nur für kons-           einer kürzlich veröffentlichten Studie anhand der
tante Werte von Reff/K auflösen kann, wofür sie Ex-          chinesischen Zahlen festgestellt (Maier & Brockmann,
ponentialfunktionen liefert, habe ich das weit ver-          2020), die zu vergleichbaren Werten kam.
breitete Programmpaket «Mathematica» verwendet,                      Eine wichtige Einschränkung muss erwähnt
mit dem die Differentialgleichung auf einer einzigen         werden: Das Modell kann nie besser sein als die ver-
Programmzeile Platz hat. Mit Hilfe eingebauter Sol-          wendeten Daten und die Infektionszahlen sind mit
ver (Lösungsalgorithmen) können damit auch nu-               verschiedenen Fehlern behaftet. Eine wichtige Feh-
merische Lösungen für zeitlich variables Reff(t) ge-         lerquelle ist die Dunkelziffer, weil nur ein Teil der
funden werden.                                               Bevölkerung objektiv getestet werden kann. Falls
                                                             jedoch diese unbekannte Dunkelziffer immer das-
        Kalibrierung des Modells                             selbe Vielfache der Getesteten ausmacht, würde sie
Um die Epidemie über einen Zeitraum von 140 Ta-              die Verlässlichkeit des Modells nicht beeinträchti-
gen simulieren zu können, habe ich eine Funktion             gen. Da man dies nicht wissen kann, benutzt man
Reff(t) so gewählt, dass sie bei einer hohen Repro-          das Modell aber besser nicht für Prognosen, sondern
duktionszahl R0 beginnt (Reff(0)=R0) und dann kon-           höchstens für die Berechnung von Szenarien und als
14     FO R S C H U N G
       — E pidemiologie

Interpretationshilfe für die Resultate eines fortlau-            In den Öffnungsphasen I und II liegen die
fenden Monitoring. So erkennt man wichtige Verän-        fluktuierenden täglich publizierten Infektionszah-
derungen im Verhalten des Systems und kann ver-          len bis zum 30. Mai symmetrisch um die Modellre-
suchen, mit Hilfe von Modifikationen des Modells         sultate herum. Dies bedeutet, dass die Lockerungen
herauszufinden, welche Prozesse die beobachteten         glücklicherweise nicht zu einer Erhöhung der Re-
Veränderungen verursacht haben könnten.                  produktionszahl führten.

        Was lernen wir aus diesem Modell?                       Weitere Lockerung der Massnahmen
Generell kann festgestellt werden, dass die gute Über-   Für die Zeit nach dem 30. Mai sind in der Figur drei
einstimmung der Modellrechnung mit den publi-            Szenarien dargestellt: Eine Fortsetzung mit unver-
zierten Infektionszahlen zeigt, dass die ablaufenden     ändert kleiner Reproduktionszahl von 0,54 (schwarz)
Prozesse (im statistischen Mittel) verstanden werden     sowie mit 0,9 und 1,2 (blau und rot). Würde die Re-
konnten. Weiter lernt man durch «spielen» mit der        produktionszahl dauernd unterhalb der blauen Kur-
Gleichung, dass das System auf kleinste Verände-         ve liegen, würden die täglichen Neuinfektionen wei-
rungen der Parameter extrem empfindlich reagiert.        ter sinken und man könnte Infektionsketten
Dies bedeutet, dass die Werte der Parameter gut de-      verfolgen und unterbrechen. Die an der ETH entwi-
finiert sind und dazu benutzt werden können, ver-        ckelte App könnte dabei hilfreich sein. Das rote Sze-
schiedene Massnahmen, Situationen oder Länder            nario zeigt einen Anstieg der Neuinfektionen, so
miteinander zu vergleichen.                              dass die Phase III nicht wie geplant in Kraft treten
        Die Infektionszahlen betrugen am 16. März        könnte. Um eine zweite Infektionswelle zu verhin-
rund 4000 und zeigten eine Zunahme von knapp             dern, müssten zusätzliche Massnahmen ergriffen
800 Neuinfektionen pro Tag: Der Bundesrat erklär-        werden.
te die «ausserordentliche Lage». Die Wirkung war                Der weitere Verlauf der Reproduktionszahl
glücklicherweise wie erwartet: Am 22. März (Tag 32)      im Sommer wird vom Verhalten der Bevölkerung
wurde der Spitzenwert mit etwa 1100 Neuinfektio-         abhängen und kann nicht vorhergesagt werden. Ent-
nen erreicht. Ohne die zusätzlichen Massnahmen           scheidend ist die durchschnittliche Zahl der tägli-
wären an diesem Tag bereits rund 6000 Neuinfek-          chen Kontakte von nicht immunen Personen mit an
tionen gezählt worden. Es war also höchste Zeit für      COVID-19 akut erkrankten Personen, multipliziert
die Notbremse! Man muss dabei beachten, dass der         mit der Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Kontakt
Bundesrat keine wissenschaftlichen Grundlagen            eine Ansteckung erfolgt. Dabei zählen auch indirek-
hatte, die ihm mit Sicherheit vorhergesagt hätten,       te Kontakte wie beispielsweise die Berührung eines
dass die angeordneten Massnahmen zu einer genü-          Einkaufswagens oder einer Türfalle, die vorher von
genden Abnahme der täglichen Neuinfektionen füh-         einer kranken Person angefasst wurde. So ergeben
ren würde. Er hat im «Blindflug» agieren müssen          sich ohne weiteres täglich etliche Kontakte mit er-
und ein gutes Resultat erreicht, ohne drastische Po-     heblichem Infektionspotenzial. Da eine Infektion
lizeimassnahmen zu verordnen. Dabei muss auch            nicht sofort realisiert werden kann, besteht die ein-
erwähnt werden, dass die Schweizer Bevölkerung           zige Möglichkeit zur Minimierung von Ansteckun-
(mit wenigen Ausnahmen) den Anweisungen der              gen darin, die Hygienevorschriften weiterhin ein-
Behören weitgehend freiwillig gefolgt ist und die        zuhalten.
Massnahmen gewissenhaft umgesetzt hat.
        Das Modell demonstriert den Erfolg der an-               Wann ist die Pandemie vorüber?
geordneten Massnahmen: Diese haben die Repro-            Eine provisorische Antwort auf diese berechtigte
duktionszahl von 3,1 auf 0,54 um rund den Faktor 6       Frage kann erst nach den Erfahrungen mit den Pha-
reduziert. Wichtig war, dass die Reproduktionszahl       sen II und III gegeben werden, die entscheidend vom
nach rund einer Woche unterhalb von 1 zu liegen          Verhalten der Bevölkerung abhängen. Ein Übergang
kam, denn nur so konnten die täglichen Neuinfek-         zur Situation vor der COVID-19 Pandemie wird er-
tionen abnehmen. Wäre der Wert nur auf 1 zurück-         möglicht, sobald ein sicherer Impfstoff in genügen-
gegangen, wären die täglichen Neuinfektionen bei         der Menge vorliegt. Selbst wenn es der Schweiz ge-
fast 2000 konstant geblieben.                            lingt, die Neuinfektionen bereits vorher auf nahezu
15       Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH

 1200
             sub-exponentiell           Lockdown                Phase I        Phase II                Phase III

 1000

  800

  600

  400

  200

     0
         0       10     20      30    40     50      60     70     80    90         100     110     120     130    140
                                                     Tage nach 19.2.2020
         Die Modellrechnung stimmt bis zum 30.Mai (Tag 101) mit den Werten von http://coronamap.ch (schwarze
         Punkte) abgesehen von Fluktuationen überein. Die Extrapolationen bis zum 6.Juli (Tag 140) sind für drei ange-
         nommene Szenarien wiedergegeben: Schwarz für gleichbleibende Reproduktionszahl 0,54, blau 0,9 und rot 1,2.

Null zu stabilisieren, was zu hoffen ist, wäre ein frei-     für R 1 den neuen Wert von 0,71 (anstelle von 0,54),
er Personen- und Warenverkehr in einer Welt mit              der exakt mit dem Wert der Swiss National COVID-19
vielen an COVID-19 akut erkrankten Personen (mo-             Science Task Force übereinstimmt (vgl. https://ncs-tf.
mentan sind es rund 3 Millionen in Brasilien, USA            ch/en/situation-report). Beachtenswert ist auch, dass
und weiteren Hotspots) undenkbar. Eine einzige un-           die oben durch Kalibrierung bestimmte Krankheits-
entdeckte kranke Person genügt, um lokal einen               dauer von 16 Tagen mit diesem aus Beobachtungen
neuen Ausbruch zu verursachen. Auch die Hoffnung             erhaltenen Ansteckungsintervall übereinstimmt.
auf die Herdenimmunität ist eine Illusion. Dafür                      Fritz Gassmann
müsste der Grossteil der Bevölkerung immun sein,                      Der Autor ist Physiker mit Fachgebiet Modellierung
d.h. die Krankheit durchgemacht haben. Mit bei-                       komplexer Systeme, ehem. Paul Scherrer Institut
                                                                      und FHNW Brugg-Windisch
spielsweise 200 Neuinfektionen pro Tag würde dies
für die Schweiz etwa ein Jahrhundert dauern.                          LITERATUR
                                                                      Infektionszahlen Schweiz und weltweit:
       Reproduktionszahlen sind modell-                               http://coronamap.ch
                                                                      Kermack W.O. & McKendrick A.G. 1927. A Contri-
       abhängig
                                                                      bution to the Mathematical Theory of Epidemics.
Ich habe ein noch genaueres Modell entwickelt, das                    Proc. R. Soc. London A115: 700-721.
zusätzlich berücksichtigt, dass eine infizierte Person                Maier B.F. & Brockmann D. 2020. Effective
nicht während der gesamten Krankheitsdauer gleich                     containment explains subexponential growth in
                                                                      recent confirmed COVID-19 cases in China. Sci.
ansteckend ist: Die Ansteckungswahrscheinlichkeit
                                                                      Mag. 368(6492): 742-746.
zeigt einen Spitzenwert 3 Tage nach der Infektion,
                                                                      Mathematica: https://reference.wolfram.com
bevor sie innerhalb von weiteren 13 Tagen verschwin-                  Noll M. 2020. How does the number of infected
det. Dadurch verändern sich die aus der Simulation                    persons N increase with time? Inst. of Molecular
abgeleiteten Reproduktionszahlen und ich erhielt                      Life Sciences, Univ. Zürich, unveröffentlicht.
16     FO R S C H U N G
       — Ozeanografie

       In die tiefen Abgründe
       der Weltmeere
       Vor 200 Jahren erblickten unabhängig                        Wissenschaftler übernehmen das
       voneinander und beinahe gleichzeitig                        Ruder
       drei Schiffsbesatzungen aus drei ver-              Die heldenhaften Entdecker und berühmten Kapi-
       schiedenen Ländern erstmals den ant-               täne wichen also neugierigen Wissenschaftlern, die
       arktischen Kontinent. Der russische                erfahren wollten, wie das Meerwasser zusammen-
       Kapitän Fabian Gottlieb von Bellings-              gesetzt ist, wie tief die Ozeane sind, wie der Unter-
       hausen, der irisch-britische Kapitän               grund der Weltmeere beschaffen ist, welche Tempe-
       Edward Bransfield und der amerikani-               raturen in der Tiefe herrschen, welche Strömungen
       sche Robbenjäger Nathaniel Palmer                  die Wassermassen bewegen und welche Organismen
       wurden so im Frühjahr 1820 zu den                  im gigantischen Wasservolumen leben. Im Gegen-
       Entdeckern der sagenumwobenen                      satz zu anderen Forschungsgebieten, wo ein einzel-
       Terra Australis. Und spätestens Mitte              ner Wissenschaftler einen Durchbruch erzielen kann,
       des 19. Jahrhunderts waren dann alle               brauchte man für die Meereserkundung zwangsläu-
       grösseren Landmassen der Erde ent-                 fig eine grössere Infrastruktur. Ozeanografie war von
       deckt. Die romantische, abenteuerli-               Beginn weg Big Science.
       che Zeit der marinen Forschungsreisen                       Allerdings begann die Geschichte der Mee-
       schien endgültig vorüber, die Umrisse              reskunde mit – nach heutigen Massstäben – beschei-
       der Kontinente und Inseln vermessen                den anmutenden Mitteln. Es waren bloss sechs zivile
       und kartiert. Zwar war die Welt unter              Wissenschaftler, die an Bord der «HMS Challenger»
       den Wellen noch weitgehend unbekannt,              (Abb. 1) zusammen mit der Besatzung der englischen
       man ging aber allgemein davon aus,                 Marine zu einer Weltumsegelung aufbrachen und
       dass die Tiefen des Meeres nicht weiter            dabei sowohl physikalische, chemische, geologische
       von Interesse sind—bloss dunkel, kalt              und biologische Beobachtungen anstellten, Messun-
       und leblos. So ahnte man noch nichts               gen vornahmen und Proben sammelten. Das Budget
       von einer ganz neuen Phase der Er-                 der Expedition belief sich auf £170 000. Einer der
       kundung unseres Blauen Planeten,                   Zivilisten an Bord war Jean Jacques Wild aus Zürich
       einer Epoche die bis heute andauert.               mit einem Jahresgehalt von £400 (Abb.2).
       Sie begann mit der Fahrt eines umge-
       bauten Segelschiffs rund um die Erde.                      Zentrale Figur in der Besatzung
                                                          Wild, geboren 1824, war eigentlich Linguist und
Das Verlegen der ersten transatlantischen Telegra-        Sprachlehrer, aber seine breiten naturwissenschaft-
fenkabel um 1866 machte klar, dass Kenntnisse über        lichen Interessen und seine hervorragenden, weit-
die Tiefsee durchaus von ökonomischem Wert – ja           gehend autodidaktisch angeeigneten Fähigkeiten
sogar von strategischem Interesse – sind. Und so bau-     als Zeichner und Maler verhalfen ihm zu einem zen-
te die britische Royal Navy in Zusammenarbeit mit         tralen Posten innerhalb der Besatzung: Er diente
der Royal Society schliesslich ein dreimastiges Kriegs-   sowohl als Sekretär als auch als wissenschaftlicher
schiff (mit 21 Kanonen, einer zweizylindrigen Hilfs-      Illustrator.
dampfmaschine und einer Schraube) zu einem For-                   Die Forschungsreise unterschied sich nicht
schungsschiff um, welches am 21. Dezember 1872 in         bloss durch den Fokus auf die Unterwasserwelt von
Portsmouth in See stach. Am 21. Mai 1876 kehrte die       früheren Forschungsreisen, wie etwa den drei Welt-
Korvette dann in die Heimat zurück, nach einer Rei-       umrundungen von James Cook hundert Jahre zuvor.
se auf der sie 68 890 Seemeilen zurückgelegt hatte.       Revolutionär war vor allem, dass man an möglichst
Die Expedition der «Challenger» – so der Name des         vielen Stellen nach einem streng vorgeschriebenen
Schiffs – ist heute gleichbedeutend mit der Geburt        Standardprogramm vorzugehen gedachte, um ver-
der modernen Ozeanografie.                                gleichbare Datensätze zu gewinnen. Zum Einsatz
17    Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH

      Abb. 1: Die «HMS Challenger» an den Grenzen der Belastbarkeit: Zehn Besatzungsmitglieder sterben im Verlauf
      der Fahrt und 61 Männer desertieren bei verschiedenen Landaufenthalten. Gemälde von William Frederick
      Mitchell (1858).

kamen dabei zum Beispiel jeweils mehrere Schlepp-        200 Pfund an einem Hanfseil mittels Handwinde
netze und Dredschen zur Probenahme. Im Verlaufe          durchführt wurde, überhaupt gelang, mutet heute
der Expedition wurden schliesslich an 362 Probesta-      fast unglaublich an. Die tiefste Region dieses Gra-
tionen Tiefen-, Strömungs- und Temperaturmessun-         bens, wohin 1960 Jacques Piccard und Don Walsh
gen durchgeführt und Wasser-, Sediment- und Plank-       mit dem U-Boot «Trieste» vorstiessen, heisst noch
tonproben entnommen. Über 4000 neue Arten konnten        heute Challenger Deep. Für seine Teilnahme an der
nach der Expedition aufgrund der gesammelten Be-         Expedition sowie seine beiden danach veröffentlich-
lege wissenschaftlich beschrieben werden.                ten Bücher erhielt Wild ein Ehrendoktorat der Uni-
                                                         versität Zürich. 1881 wanderte er nach Australien aus
       Vorstoss in ungeahnte Tiefen                      und starb dort im Jahr 1900.
Die gesammelten Wasserproben erlaubten auch die                 Im Vergleich zu den wissenschaftlichen Illus-
Bestätigung der Hypothese der konstanten Propor-         tratoren früherer Seereisen, die das visuelle Ver-
tionen, wonach die Ionen-Verhältnisse im offenen         mächtnis für die Nachwelt stark geprägt haben – man
Ozean unabhängig vom Salzgehalt des Wassers sind,        denke an Sydney Parkinson an Bord der «HMS En-
was der Genfer Chemiker und Arzt Alexandre Mar-          deavour», Georg Forster an Bord der «HMS Resolu-
cet bereits 1819 postuliert hatte. Am berühmtesten       tion» und Ferdinand Bauer an Bord der «HMS In-
ist aber wohl die Entdeckung des tiefsten Gebietes       vestigator» – blieb Wild verhältnismässig unbekannt
der Erdkruste in einem Graben entlang der mikro-         und ist heute weitestgehend vergessen. Grund dafür
nesischen Inselkette der Marianen im westlichen          war namentlich auch der Beginn des Siegeszugs der
Pazifik. Dass dies in den Weiten des Ozeans mit ei-      Fotografie, die auf der «HMS Challenger» erstmals
ner Lotung, welche jeweils mit einem Gewicht von         in grösserem Umfang eingesetzt werden konnte.
18    FO R S C H U N G
      — Ozeanografie

                                                              The Natural History Museum London

                                                                                                  Abb. 2: Ein Zürcher auf grosser Fahrt:
                                                                                                  der wissenschaftliche Illustrator Jean
                                                                                                  Jacques Wild bei einem kurzen
                                                                                                  Landaufenthalt auf der entlegenen
                                                                                                  Inselgruppe der Kerguelen.

       Der vielleicht nachhaltigste Einfluss der Ex-   Drilling zu beproben. Das Schiff, die US-amerikani-
pedition mit bloss einem halben Dutzend Wissen-        sche «Glomar Challenger» (Abb. 3), war zu diesem
schaftlern an Bord war aber die bahnbrechende Art      Zweck mit einem 43 Meter hohen Bohrturm und mit
der internationalen Zusammenarbeit bei der Aus-        vier stabilisierenden Heck- und Bug-Thrustern aus-
wertung der gesammelten Daten und Proben – und         gerüstet worden.
schliesslich bei der lückenlosen Publikation der Re-           Was die Bohrleute nach zahlreichen Fehl-
sultate in 50 Bänden auf 29 552 Seiten. Die beiden     bohrungen schliesslich am 29. August 1970 an
letzten Bände erschienen 1895, etwa 19 Jahre nach      den Tag brachten (Abb. 4), sollte die Expedition in
Ende der Expedition.                                   die Meldungen der Weltmedien katapultieren und
                                                       machte den Professor aus Zürich über Nacht be-
       Neues Schiff mit Bohrturm                       rühmt – und umstritten. Zum Erstaunen aller fand
Die «HMS Challenger» war auf ihrer langen Fahrt        man Salzablagerungen – sogenannte Evaporite aus
nie ins Mittelmeer abgezweigt. Etwa hundert Jahre      dem Mineral Anhydrit (wasserfreies Kalziumsul-
später sollte dies 1970 ein anderes Forschungsschiff   fat) – wie sie sich nur in heiss-ariden Küstenebenen
nachholen und dort eine der erstaunlichsten Entde-     bilden konnten, nicht wie Gips (wasserhaltiges
ckungen in der Geschichte der Ozeanografie machen.     Kalziumsulfat), der sich in tieferen Wasserkörpern,
Mit an Bord als leitender Wissenschaftler war der      wie etwa dem Toten Meer, ausscheidet. Für Hsü
Sedimentologe und Geologie-Professor Ken Hsü von       gab es nur eine Erklärungsmöglichkeit: Die Meer-
der ETH Zürich. Kenneth Jinghwa Hsü – 1929 in Nan-     enge von Gibraltar war lange geschlossen und führ-
jing im östlichen China geboren – hatte vor, mehrere   te zu einer messinischen Salinitätskrise vor etwa
Gebiete mit der neuen Technologie des Deep Sea         6 Millionen Jahren.
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                                                      Deep Sea Drilling Project

                                                                                                                                        Orrin Russie
       Abb. 3 (links): Auf hoher See mit 7000 Metern Bohrrohren: Die «Glomar Challenger» nimmt Kurs auf das
       Mittelmeer. Abb. 4 (rechts): Evaporite! ETH-Professor Ken Hsü (links) und zwei Mitglieder der Besatzung mit
       einem soeben geborgenen Bohrkern. Über die korrekte Interpretation der Sedimente sollte noch ein bitterer
       Akademikerstreit entbrennen.

       Das Messinium – benannt nach der siziliani-                                Seafloor Spreading und begründeten damit die Prin-
schen Stadt Messina – war 1867 durch den Privatdo-                                zipien der Plattentektonik.
zenten Karl Mayer am damaligen Polytechnikum in                                           Das Forschungsschiff, welches diese Erkennt-
Zürich beschrieben worden. Es handelt sich dabei                                  nisse überhaupt erst möglich gemacht hatte, exis-
um die oberste (jüngste) Stufe des Miozäns und um-                                tierte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr: 1983
fasst nach heutigem Wissen den Zeitabschnitt vor                                  wurde die «Glomar Challenger» nach 624 bearbei-
5,33 bis 7,25 Millionen Jahren. Kurzum: Das Mittel-                               teten Probestationen und 19 119 geborgenen Bohr-
meer war laut Professor Hsü und seinen engsten Mit-                               kernen ausser Dienst gestellt und abgewrackt. Die
streitern im ausgehenden Miozän eine flache, aus-                                 grösste Penetration in den Meeresgrund war 1741
getrocknete Pfanne – eine bis etwa 3000 Meter unter                               Meter tief gewesen, die grösste Wassertiefe über ei-
dem Meeresspiegel gelegene, heisse Salzwüste.                                     ner Bohrstelle 7044 Meter. Doch für eine kurze Zeit
                                                                                  sollte der Name «Challenger» noch während zehn
        Der Preis der Entdeckungen                                                Fahrten um den Globus weiterleben. Im Andenken
In seinem Erlebnisbericht «Das Mittelmeer war eine                                an den Entdeckergeist der Besatzungen der beiden
Wüste» schrieb Hsü: «Da Gefühle im Spiel waren,                                   Forschungsschiffe erhielt die NASA-Raumfähre, die
wurde aus sachlichen Auseinandersetzungen, aus                                    im April 1983 zu ihrem Jungfernflug startete, den
rein intellektuellen Meinungsverschiedenheiten,                                   Namen «Challenger» – und trug diesen bis zu ihrer
nicht selten echter Streit. […] Unsere Deutung rief in                            tragischen Explosion im strahlend blauen Himmel
der Fachwelt unterschiedliche Reaktionen hervor.                                  über dem Atlantik zu neuen Horizonten weit über
Günstige Stellungnahmen waren nicht selten, man-                                  der Erde.
che Kritiker blieben jedoch skeptisch oder waren gar                                    Stefan Ungricht
feindselig.» Die englische Originalausgabe des Buchs                                    Der Autor ist Biologe und Vizepräsident der NGZH.
erschien 1983. Und 1984 erhielt Ken Hsü dann mit                                        Eine mit zusätzlichen Abbildungen, Internetquellen
                                                                                        und Literaturhinweisen ergänzte Version dieses
der Wollaston-Medaille von seiner Geologenzunft                                         Artikels sowie weitere Beiträge finden Sie auf
die höchste Weihe. Seine Deutung hatte sich in der                                      unserer Webseite unter der Rubrik «Einblicke»
Fachwelt durchgesetzt und laut Professor Hsü haben                                      (www.ngzh.ch/news).

die Fahrten der «Glomar Challenger» eine Revolu-
tion in den Geowissenschaften beendet: Die Ergeb-
nisse der Bohrungen bestätigten die Theorie des
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