Viertel jahrs schrift - 2 | 2020 Jahrgang 165 - Naturforschende Gesellschaft in Zürich
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Viertel jahrs 2 | 2020 schrift Jahrgang 165 der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich NGZH 4 Ein völlig anderes Das Gesicht des Zoos Zürich hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt: Verständnis Weg von der Tierschau hin zum Natur- schutzzentrum.
E DI T O R I A L Brief des Präsidenten Aufgrund des längerfristig immer noch un- sicheren Verlaufs der COVID-19-Pandemie hat der NGZH-Vorstand entschieden, dieses Jahr keine Exkursionen durchzuführen. Wir coronamap.ch haben auch die Organisation der Vorträge zu- rückgestellt. Auf die Vergabe der Jugendprei- se an einem Science Dinner mussten wir lei- der bereits definitiv verzichten. Wir hoffen COVID-19 hat die Regionen der Schweiz jedoch, dass wir wenigstens die Vorträge min- sehr unterschiedlich getroffen. destens teilweise realisieren können. Glücklicherweise kann jedoch die Haupt- versammlung vom 22. Juni 2020 im Zoo Zürich viren aufschlussreich: So wie die biologischen wie angekündigt durchgeführt werden – aller- Viren werden auch Computerviren nie ver- dings mit Masken, zwei Metern Abstand und nur schwinden, da laufend neue Varianten (Muta- für angemeldete Personen! Die Titelgeschichte tionen) auftreten. Es gibt Schutzprogramme dieses Heftes soll dazu animieren, den Zoo Zü- (Impfungen), die den Computer immun machen rich im Rahmen der Hauptversammlung oder können gegen bekannte Viren, aber diese wir- später auf eigene Faust zu besuchen. Neben vie- ken nicht gegen neue. Diese Abwehrprogram- len Attraktionen lohnt sich insbesondere auch me basieren auf der Analyse von Programm- ein Abstecher zur neuen Lewa-Savanne. sequenzen (Genom-Analysen) und müssen kontinuierlich ergänzt werden. Trotz 1,3 Milliarden Hits für den Begriff Coro- Ein einzelner Mensch kann mit der Frei- na war meine Suche nach einem Zusammen- setzung geeigneter Computerviren innert kür- hang zwischen der Reproduktionszahl und zester Zeit weltweit Millionen von Maschinen dem Verlauf der täglichen Neuansteckungen lahmlegen. Um die Geräte zu schützen, müs- erfolglos. Ich stelle deshalb in diesem Heft ein sen sie entweder vom Internet getrennt wer- einfaches und erfolgreiches Modell vor, das den (Social Distancing) oder mit erweiterten den Verlauf der COVID-19-Epidemie in der Virenschutzprogrammen (Impfung) ausgerüs- Schweiz klarer abbildet als die traditionellen tet werden. Dass die biologischen und tech- SIR-Modelle, bei denen die Epidemie durch nischen Viren so grosse Schäden verursachen die Entwicklung einer Herdenimmunität ge- können, hat dieselbe Ursache: Die Vernetzung stoppt wird. sehr vieler komplexer Systeme durch schnel- Der Virologe Martin Schwyzer betrach- le Transportsysteme. tet die COVID-19-Pandemie aus biologischer Fritz Gassmann Sicht und stellt das Sars-Cov-2-Virus in den grösseren Zusammenhang der Coronaviren. Zudem erklärt er den Verlauf einer akuten Vi- rusinfektion mit dem Aufbau entsprechender Antikörper. Aus seinen Erklärungen zu Anti- körpertests wird klar, dass es differenzierte und ausgedehnte Tests braucht, um das Virus in Schach zu halten bis eine genügend siche- re Impfung zur Verfügung steht. Naturforschende Mir scheint ein Vergleich zwischen bio- Gesellschaft in Zürich logischen Viren und technischen Computer- www.ngzh.ch
FO R S C H U N G BU L L E T I N — A KT U E L L — BU C H BE S P R E C H U N G 20 Richard Ernst – ein aussergewöhnlicher 4 Weg von der Forscher Tierschau 22 IMPRESSUM — V I RO LO G I E 8 Die Corona-Krise aus 23 AG E N DA Sicht der Virologie — E P I D E M I O LO G I E 12 Mathematische Modelle für die Corona-Epidemie — OZ E A N O G R A F I E 16 In die tiefen Abgründe der Weltmeere Titelbild: In der markanten Masoala-Halle können die Besucherinnen und Besucher direkt in die Lebenswelt der Tiere eintauchen, ohne sie dabei zu stören. (Bild: Zoo Zürich)
4 FO R S C H U N G — A ktuell Von der Tierschau zum Naturschutzzentrum Was will ein Zoo? Was kann er für die schen auf Tierwelt und Natur verändert, auch unse- Gesellschaft, die Tierwelt und die re Gesellschaft steht heute an einem anderen Ort. Natur leisten? Die Antworten auf diese Ging es zu Beginn des 20. Jahrhunderts primär Fragen haben sich im Laufe der Zeit darum, den Menschen die Tiere und ihre Lebenswei- stark verändert, wie das Beispiel Zoo se zu zeigen, veränderte sich die Situation in den Zürich eindrücklich zeigt. 1930er-Jahren. Damals begann man, die grossen Wälder der Welt im grossen Stil abzuholzen. Dies Aus unserer Sicht ist der moderne Zoo ein Kultur- führte zu einer zunehmenden Bedrohung von Tier- institut, das als Botschafter zwischen Mensch, Tier arten. In den Zoos begann man daher, bedrohte Tier- und Natur wirkt. Der Zoo will breite Bevölkerungs- arten zu züchten und wieder anzusiedeln. In den kreise auf attraktive und erlebnisreiche Art und Wei- letzten Jahrzehnten wurde nun immer klarer, dass se ansprechen und zum nachhaltigen Fortbestand der Lebensraumverlust, die Abnahme der Biodiver- der biologischen Vielfalt beitragen. Seine Besucher sität, die übermässige Ressourcennutzung unseres begeistert er mit attraktiven Landschaften, den da- Planeten und die menschverursachte Klimaverän- rin lebenden Tieren und ihren Aktivitäten. Genau derung zur Hauptbedrohung der Tierwelt werden. dieses Vorhaben haben wir im Zoo Zürich in den letz- ten Jahrzehnten umgesetzt. Heute sensibilisiert er Vier Hauptaufgaben die Besucherinnen und Besucher für die Lebenswei- Schon vor vielen Jahren hat der frühere Zoodirektor se der Tiere, er macht auf die bedrohte Artenvielfalt Heini Hediger die vier Hauptaufgaben eines Zoos und die verletzlichen Lebensräume aufmerksam und formuliert: Dieser soll ein erlebnisreicher Erholungs- motiviert die Menschen, sich für diese einzusetzen. raum sein, zur Bildung beitragen, Forschung betrei- ben sowie Arten- und Lebensraumschutz im engeren Veränderte Sichtweise Sinn. Aus dem Verständnis, ein Naturschutzzentrum Das war nicht immer so, obwohl es schon das Ziel zu sein, ergeben sich die Aufgaben eines modernen unserer Gründer war, der Naturentfremdung entge- Zoos. Auf dieser von Hediger formulierten Grund- genzuwirken, zu besserem Wissen über die Tierwelt lage hat sich auch der Zoo Zürich in den letzten Jah- beizutragen und dem Tierwohl zu dienen. Es ist kein ren entwickelt. Er bietet heute dem Besucher ein Zufall, dass der Zürcher Tierschutz die gleichen Grün- attraktives Naturerlebnis. Tiere werden in ihren nach- derväter hat wie der Zoo Zürich. In den letzten 100 gebildeten Lebensräumen in einem Park gezeigt, der Jahren hat sich jedoch nicht nur der Einfluss des Men- auch den Pflanzen eine wichtige Rolle einräumt. Der Zoo ist nicht Natur, er ist menschengemacht, aber er gestaltet die Lebensräume so, dass diese einerseits für das Tier die notwendigen Abwechslungen bieten, ihm ermöglicht, seine natürlichen Verhaltensweisen zu zeigen, andererseits auch dem Menschen Erho- lung ermöglicht und ihm auch zeigt, dass es den Tie- ren im Zoo gut geht. Unter diesem Anspruch hat der Zoo grosszügi- ge naturnahe Landschaftsanlagen gebaut, beginnend mit der Brillenbärenanlage, der Himalaya-Anlage für Raubtiere, dem Afrikanischen Gebirge und dem Pan- tanal für die Primaten und mit der Australienanlage Zoo Zürich Zoodirektor Alex Rübel und Landschaftsarchitekt Walter Vetsch präsentieren 1993 den Medien den Masterplan zur Zooentwicklung bis 2020.
5 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH Zoo Zürich / Goran Basic In diesem Frühjahr wurde die neue Lewa Savanne in Betrieb genommen. Die markanten Baobab-Bäume haben ein geheimes Innenleben: Sie sind Futterautomaten. für Koalas, Wallabys, Emus und Riesenwarane. Um gestaltet, herausfordernd für die Tiere und verteilt den Naturschutzgedanken noch stärker zu vermitteln über die Tage und Saisons, wie diese auch in der wurden die drei Schwerpunktanlagen Masoala Regen- Wildnis zu finden sind. Der Tierpfleger greift mög- wald (2003), Kaeng Krachan Elefantenpark (2014) und lichst wenig in die natürlichen Hierarchien der Tiere die Lewa Savanne als Marken etabliert und jeweils mit ein, ermöglicht aber mit einem Gesundheitstraining einem Naturschutzprojekt in der Wildnis verbunden. trotzdem eine gute Betreuung durch den Tierarzt. Wo immer möglich wurde versucht, auf Git- Für ältere und kranke Tiere wird mit den beteiligten terabschrankungen zu verzichten und den Besucher Mitarbeitern regelmässig ein breit abgestütztes «Well- gefühlsmässig in den Lebensraum miteinzubeziehen ness Assessment» durchgeführt, um sicherzustellen, nach dem Prinzip der «Habitat immersion». Vollkom- dass diese Tiere nicht leiden. men umgesetzt werden konnte dieses Prinzip im Ma- Ein herausragendes Beispiel dafür sind die soala Regenwald, wo der Besucher ohne Schranken Elefanten, deren Futterstellen so in der Anlage ver- in den Wald eintaucht, in dem die Tiere leben, ohne teilt sind, dass sie mehrere Kilometer pro Tag gehen deren Verhalten zu beeinflussen. müssen, um an ihr Futter zu kommen. Die Tierpfle- ger bleiben ganz ausserhalb des Geheges, ein medi- Tierwohl hat Vorrang zinisches Training funktioniert und der alternde Ele- Dem Tierwohl wird in den Anlagen höchste Priorität fantenbulle (der Mitte Februar gestorben ist) wurde eingeräumt. Seit dem Bau der Bärenanlage werden während der letzten zwei Jahre seines Lebens regel- diese so gebaut, dass die gesamte Anlage während mässig in Bezug auf seine Altersbeschwerden evalu- 24 Stunden, auch im Aussenbereich, genutzt werden iert. Auch bei den Bären und den Grosskatzen wird kann. Auch die Innenbereiche sind als Landschafts- die Fütterung so gesteuert, dass sie das Futter aktiv anlagen konzipiert. So können die Tiere ihr natürli- erarbeiten müssen und Elemente zum Kratzen, Gra- ches Verhalten auch nachts ausüben und werden ben, Klettern, aber auch für den Rückzug vorhanden nicht mehr eingestallt. Fütterungen werden naturnah sind. Die eingeschlagene Entwicklung der letzten
6 FO R S C H U N G — A ktuell Zoo Zürich / Enzo Franchini Zoo Zürich Der Elefantenbulle Maxi bei seiner Ankunft 1981 in Zürich und 2015 im neuen Kaeng Krachan Elefantenpark. Jahre wird weitergehen. Neue Gehege für die Men- Universität Zürich beteiligt sich die Leitung des Zoos schenaffen sind in Planung und sollen neue Massstä- an Vorlesungen und Kursen zur Tiergartenbiologie. be in Tierhaltung und Besuchererlebnis setzen. Eine erfolgreiche Zucht der gehaltenen Tiere ist heute selbstverständlich. Ein Austausch von Tie- Sensibilisierung aller Altersgruppen ren mit der Wildnis geschieht gelegentlich noch, um Auch der Bildungsauftrag des Zoos hat sich verän- die genetische Vielfalt einer Population zu erhalten, dert. Ging es ursprünglich darum, biologische Fakten sonst kommen die Tiere aus anderen Zoos. Es gelang zu vermitteln, die an jedem Gehege in einer einfa- dem Zoo Zürich in den letzten Jahren bei vielen Ar- chen Tafel dargestellt wurden, werden heute in be- ten wertvolle Zuchtgruppen aufzubauen, so z. B. bei gleitenden Ausstellungen Naturschutzthemen auf- den Elefanten, den Gorillas, den Orang-Utans, den gegriffen, abgestimmt auf die entsprechenden Tiere Dscheladas, den Waldrappen, den Mähnenibissen und Lebensräume. Bei den Galapagos-Riesenschild- (als Welt-Erst-Naturbrut in einem Zoo), den Panther- kröten ist dies die Evolution, in der Mongolischen chamäleons und den Plattschwanzgeckos. Steppe die Biodiversität, im Masoala Regenwald die Abholzung, bei den Amphibien das Artensterben Enge Zusammenarbeit durch Klima und Krankheiten, im Kaeng Krachan Für die Arterhaltungsprogramme arbeitet der Zoo Zü- Elefantenpark der Mensch-Tier-Konflikt, im Aqua- rich eng mit dem europäischen Zooverband zusam- rium die Plastikverschmutzung der Gewässer und in men. 2019 waren Zoos an über 200 Arterhaltungspro- der Lewa Savanne gute und schlechte Seiten des Sa- grammen beteiligt. Über 50 Arten wären ohne die fari-Tourismus. Für die Ausstellung im Menschenaf- Arbeit der Zoos ausgerottet. Sie leben wieder erfolg- fenhaus mit dem Thema «Wie der Wald voll Affen reich in der Wildnis. Zu denjenigen, die im Zoo Zürich bleibt», die sich mit der Umweltzerstörung durch geboren und ausgewildert wurden, gehören Arabische Übernutzung von Ressourcen auseinandersetzt, er- Oryx-Antilopen, ein Spitzmaulnashorn, Goldene Lö- hielt der Zoo Zürich den UNESCO-Preis für die bes- wenäffchen, Uhus, Schleiereulen und Waldrappen. te wissenschaftliche Ausstellung in der Schweiz. Viele Forschungsarbeiten laufen in Zusam- Für die Schulen des Kantons Zürich hat der menarbeit mit universitären Instituten. Dabei geht es Zoo Materialien erarbeitet, um einen lernreichen einerseits darum, die Tierhaltung zu verbessern und Zoobesuch zu ermöglichen; Klassenworkshops und Grundlagen für die Wiederansiedlung zu erarbeiten, Lehrerkurse runden das Angebot für die Volksschu- andererseits aber auch, die Wirkung der Bildungsins- le ab. Erwachsenenbildung war eines der vorrangi- titution für den Naturschutz zu evaluieren. Eine Arbeit gen Projekte der letzten Jahre, denn naturschützeri- bei den Europäischen Fischottern im Zoo zeigte, dass sche Sensibilisierung schliesst alle Altersgruppen ein. nicht die schwer abbaubaren PCB, die bei vielen Tieren Von unzähligen Führungen bis zu Managementkur- eine Unfruchtbarkeit verursachen können, für die Aus- sen, oft verbunden mit einem kulinarischen Ange- rottung verantwortlich sind, sondern die zurückgehen- bot, haben Tausende profitiert. An der ETH und der den Fischbestände und Gewässerverbauungen.
7 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH Zoo Zürich Grosse Teile des Masterplans konnten bereits umgesetzt werden. Der jüngste Ausbauschritt ist die Lewa Savanne für Giraffen, Breitmaulnashörner und andere Tiere (15). Noch in Planung befinden sich die Volière Pantanal (16), die Zooseilbahn (17), die Gorilla-Anlage (18) und Orang-Utan-Anlage (19), die Küstenanlage für Meeressäuger und Pinguine (20) sowie die Asiatische Steppe für Huftiere (21). Finanzen müssen stimmen Umsatzprozenten aus Shop und Restaurant finan- Letztlich geht es um die Erhaltung der Tiere ziert. Die namensgebenden Projekte werden in den in der Wildnis. Der Zoo arbeitet deshalb in acht Na- entsprechenden Zooanlagen kommuniziert. turschutzprojekten mit, unterstützt diese finanziell Ein Zoo kann nur erfolgreich sein, wenn auch und personell im Management und mit Forschungs- die Finanzen stimmen. Sie sind die Voraussetzung, arbeiten. In all diesen Projekten versuchen wir, in dass keine Kompromisse in der Tierhaltung oder der enger Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung Nachhaltigkeit der Programme des Zoos eingegan- Projekte zu entwickeln, die den Menschen Erwerbs- gen werden müssen. Der Zoo Zürich durfte in den möglichkeiten bieten, gleichzeitig aber auch die letzten Jahren auf eine grosszügige Unterstützung Natur schonen und schützen. Grundlage dafür ist aus allen Bereichen der Gesellschaft zählen und so eine Unterstützung der lokalen Schulen, die mit ei- für die Tierwelt in den Herzen der Besucher einen nem Schwerpunkt in der Bildung bezüglich nach- Platz finden, der uns Menschen hilft, gegenüber der haltiger Bewirtschaftung des Bodens gestaltet wird. Natur mit etwas mehr Demut aufzutreten und die Besonders bekannt sind die Engagements im Ma- Wunder der Natur langfristig zu erhalten. soala Nationalpark in Madagaskar, im Kaeng Kra- Alex Rübel chan Nationalpark in Thailand und im Lewa Wild- Der Autor ist seit 1991 Direktor des Zoos Zürich. Nach über 30-jähriger Tätigkeit für den Zoo life Conservancy in Kenia. übergibt er das Amt Ende Juni 2020 an seinen Jährlich fliessen fast zwei Millionen Franken Nachfolger Severin Dressen. in diese Projekte. Sie werden durch Spenden der Be- sucherinnen und Besucher sowie Stiftungen und zwei
8 FO R S C H U N G — V irologie Die Corona-Krise aus Sicht der Virologie Die aktuelle Corona-Krise hält unsere dass auch das neue Coronavirus aus einem Lebend- Gesellschaft nach wie vor in Atem. In tiermarkt stammt und von Fledermäusen über einen der Diskussion, wie wir mit dieser Zwischenwirt, diesmal möglicherweise ein Schup- schwierigen Situation weiter umgehen pentier, auf Menschen übertragen wurde. Offenbar sollen, lohnt es sich, ein paar grund- hat niemand aus der früheren Krise gelernt. sätzliche Aspekte des Virus, das die Pandemie ausgelöst hat, im Auge zu Das Virus behalten. Das neue Sars-CoV-2 gehört zur Familie der Corona- viridae. Mit Sars-CoV (nun auch Sars-CoV-1 ge- Vorgeschichte nannt) teilt es nur 82 Prozent Sequenzhomologie; Im November 2002 traten in der südchinesischen dennoch wird es zur selben Spezies gerechnet. Mit Provinz Guangdong infektiöse atypische Lungenent- 80–140 nm Durchmesser gehört es zu den grössten zündungen auf, die sich von Mensch zu Mensch ver- RNA-Viren. Die Hüllmembran trägt aussen ein breiteten und bis im Januar 2003 über 300 Personen S-Protein (Spike-Protein), das mit seinen charakte- erfassten, darunter 100 aus dem Gesundheitsperso- ristischen Protrusionen wie bei einer Krone den nal. Erst im Februar 2003 wurde die WHO informiert. Coronaviren den Namen gegeben hat (Abb. 1). Die E Im März 2003 wurde der Erreger als Coronavirus und M-Proteine sind ebenfalls mit der Hüllmem- identifiziert und Sars-CoV benannt, severe acute res- bran verbunden, während im Innern das N-Protein piratory syndrome coronavirus. Dessen RNA-Sequenz mit der RNA ein helikales Nukleokapsid bildet. Das wurde entschlüsselt als Voraussetzung für Nachweis RNA-Genom ist ein nicht segmentierter Einzel- und Bekämpfung. Bis im Juli 2003 breitete sich die strang positiver Polarität mit rund 29 900 Basen. Krankheit auf rund 30 Länder und alle Kontinente aus; 800 von 8400 Patienten verstarben. Zum Glück Die Krankheit gelang es unter Mithilfe der WHO, die Pandemie zu Sars-CoV-2 verursacht die Krankheit COVID-19 (Co- stoppen. Die nachträgliche Aufklärung zeigte, dass ronavirus Disease 2019). Angesichts der aktuellen das Virus aus Fledermäusen stammte und in Lebend- Informationsflut verzichten wir hier auf eine weitere tiermärkten via Schleichkatzen als Zwischenwirt auf Beschreibung. Erwähnenswert ist jedoch, dass CO- Menschen übertragen wurde. VID-19-Patienten schon mehrere Tage vor Auftreten der Symptome infektiös sein können. Dies war offen- Die Geschichte wiederholt sich bar bei SARS weniger der Fall. Dieser Aspekt war ein Am 30. Dezember 2019 informierte der Augenarzt wichtiger Grund, warum es gelang, die Pandemie von Li Wenliang seine Arztkollegen in einer WeChat- 2003 zu stoppen, und warum es heute so viel schwie- Gruppe über eine Serie von Lungenentzündungen, riger ist, die Situation unter Kontrolle zu bringen. die im Zentralkrankenhaus Wuhan behandelt wur- den. Als Whistleblower wurde er von den lokalen Virus und Tier Behörden wegen der Verbreitung von Falschinfor- COVID-19 ist eine neu aufgetretene Zoonose, eine mationen schwer gerügt. Inzwischen hatte er sich vom Tier auf den Menschen übersprungene Krank- selbst bei einer Patientin angesteckt und zeigte am heit (siehe Schwyzer, VJS 154, 1–9). Die der Bevölkerung 10. Januar erste Symptome. Am 7. Februar erlag er fehlende adaptive Immunität führte zur Pandemie. der COVID-19-Krankheit. Zu dieser Zeit verzeich- Zum Glück ist ein solcher Übersprung einer Krank- nete China bereits 28 000 bestätigte Fälle und heit ein seltenes Ereignis. Die Familie Coronaviridae 563 Tote. umfasst derzeit 43 verschiedene Virusspezies, die Der Ursprung der neuen Pandemie ist noch meisten sind beschränkt auf eine bestimmte Tierart nicht abschliesend wissenschaftlich geklärt. Die oder den Menschen als Wirt. Die Tabelle gibt eine wahrscheinlichste und banalste Erklärung ist jedoch, Übersicht der wichtigsten Vertreter.
9 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH P. Wild, E. Schraner, UZH) Abb. 1: Mikroskopische Aufnahme von Coronaviren. Die charakteristischen Protrusionen wie bei einer Krone haben den Coronaviren den Namen gegeben. Herdenimmunität Menschen an. Wenn fünf von diesen sechs die In- Dieser Begriff stammt aus der Veterinärmedizin; er fektion bereits durchgemacht haben und immun lässt sich aber ebensogut auf eine menschliche Po- sind, so ist der Schwellenwert erreicht, ab dem die pulation anwenden. Auf Englisch heisst es «herd im- Zahl der Neuansteckungen langfristig gegen Null munity» und bezeichnet den Anteil der Tiere einer tendiert. Gemäss der Formel HIT = 1 - 1/R0 = 1 - 1/6 Herde, die immun sind gegen einen bestimmten Er- beträgt HIT bei diesem Virus 0,833… oder ca. 83 reger. Erreicht dieser Anteil einen Schwellenwert Prozent. HIT «herd immunity threshold», so sind genügend Leider wissen wir aber noch nicht, ob und für Herdentiere immun, um die Infektionskette lang- wie lange eine durchgemachte Infektion tatsächlich fristig abbrechen zu lassen. Immunität verleiht. Entgegen der weit verbreiteten Gemäss Schätzung von Gassmann (s. Artikel Annahme genügt ein positiver Antikörpertest nicht S. 12) beträgt die Basisreplikationszahl R0 für Sars- als Nachweis der Immunität. Der immer deutlicher CoV-2 (ohne Massnahmen) knapp 6, d. h. jeder infi- zu hörende Ruf nach «Durchseuchung der Bevölke- zierte Mensch steckt im Durchschnitt sechs weitere rung» ist daher schlicht unverantwortlich. Virus Wirt Krankheit TGEV Schwein Transmissible Gastroenteritis BCV Rind, kleine Wiederkäuer Rindergrippe, Kälberdurchfall ECoV Pferd Durchfall CCoV Hund Zwingerhusten, Durchfall FCoV Katze Feline infektiöse Peritonitis IBV Geflügel Infektiöse Bronchitis MHV Maus Maus-Hepatitis HCoV (u.a. 229E, OC43) Mensch Erkältungserkrankungen Mers-CoV Fledermaus –> Dromedar –> Mensch middle east respiratory syndrome Sars-CoV Fledermaus -> (?) –> Mensch SARS, COVID-19 Tab. 1: Übersicht über die wichtigsten Coronaviren
10 FO R S C H U N G — V irologie Abb. 2: Typischer Verlauf einer akuten Virusinfektion. Die Virusproduktion, die klinischen Symptome und die Produktion von IgM- und IgG-Antikörpern treten gestaffelt auf. Der Zeitpunkt der Probenentnahme ist daher wichtig. Kürzlich wurde in dieser Zeitschrift die Arbeit von DNA-Kopie umgeschrieben, wovon bestimmte Gen- Phung Lang über Masern vorgestellt (VJS 164/2 S.10- abschnitte mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) 12). Das Masernvirus ist hochansteckend (R0 etwa amplifiziert werden. Der Nachweis der Amplifikati- 12 bis 18), woraus sich ein HIT von 91 bis 94 Prozent on erfolgt in Echtzeit durch den Einbau von Farb- errechnet. Dementsprechend empfiehlt die WHO stoffmarkern und deren Quantifizierung mit einem eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent, was in der Laserstrahl. Die verwendeten Geräte kosten soviel Schweiz bis jetzt nur der Kanton Genf erreicht hat. wie ein Mittelklassewagen; sie können aber in durch- sichtigen Platten mit 96 (8x12) oder 384 (16x24) Ver- Testen, testen, testen… tiefungen entsprechend viele Proben auf einmal be- Dieses Mantra hört man ständig, und es leuchtet auf arbeiten. Auch die verwendeten Reagentien sind den ersten Blick als wichtige Massnahme zur Ein- teuer, und es braucht gut ausgebildetes Laborper- dämmung der Pandemie auch ein. Aber was, wann sonal. Die Technik ist jedoch gut etabliert. Für die und wie soll eigentlich getestet werden? Akute Vi- Umstellung von anderen Virustests auf Sars-CoV-2 rusinfektionen zeigen einen typischen Verlauf (Abb. 2). müssen nur wenige sequenzspezifische Reagentien In den ersten Tagen bleibt die Infektion stumm, dann ausgetauscht werden. werden Viren nachweisbar, z.B. in Abstrichen aus Inzwischen wurden auch Sars-CoV-2 spezifi- Nasen- oder Rachenraum. Erst viel später lassen sich sche monoklonale Antikörper gegen das S- (Spike) im Blut spezifische Antikörper nachweisen, zuerst und N- (Nucleokapsid) Protein hergestellt. Diese vorübergehend vom Typ IgM und dann mehr dauer- sollten einen direkten Virusnachweis mit zwei ver- haft vom Typ IgG. Die klinischen Symptome begin- schiedenen Antikörpern in einem Sandwich-ELISA nen oft erst, wenn bereits viele Viren ausgeschieden (enzyme linked immunosorbent assay) ermöglichen. werden und erreichen ihren Höhepunkt, wenn mög- Das Prinzip wird in Abb. 3 erklärt. Solche Tests wären licherweise bereits keine Viren mehr nachweisbar schnell und billig, sind aber für Sars-CoV-2 noch nicht sind, sondern nur noch Antikörper. Der Zeitpunkt so gut ausgereift wie die RT-PCR. der Probenentnahme ist deshalb für die Labordiag- In Abb. 3 ist das nachzuweisende Virus der un- nose entscheidend. Idealerweise wird mehrmals mit bekannte Partner. Mit einem analogen Prinzip kann zeitlichem Abstand und mit verschiedenen Metho- man aber ein Virusprotein als bekannten Partner den getestet. verwenden, um unbekannte Antikörper im Blut nach- Dem Virusnachweis von Sars-CoV-2 liegt fast zuweisen. Gut etabliert hat sich die Technik des immer eine sogenannte RT-PCR zugrunde. Dabei «Lateral flow IgM IgG Test». Dabei wird ein Bluttrop- wird das RNA-Virusgenom aus der Probe extrahiert fen in eine Delle eines Teststreifens gegeben. Dort und danach mittels Retrotranskriptase (RT) in eine befinden sich Gold-Nanopartikel mit daran gebun-
11 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH Abb. 3: Prinzip des Sandwich- ELISA. Nur wenn das gesuchte Virus (violett) vorhanden ist (links), bindet der markierte Antikörper (hellgrün), andern- falls wird er ausgewaschen (rechts). Das Prinzip funktio- niert auch, wenn man anstelle des ganzen Virus nur ein einzelnes Virusprotein nimmt. denen Virusproteinen. Nach Zugabe einer Pufferlö- zu beschreiten. Mehrere haben einen Bezug zur sung wandert das Gemisch durch Kapillarkraft ho- Schweiz. So findet sich auf der Liste das Projekt von rizontal über die ganze Länge des Teststreifens. Auf Martin Bachmann (Inselspital Bern), wo die Rezep- dem Weg befinden sich drei Zonen mit fixierten An- tor-Bindungsstelle (RBD) von Sars-CoV-2 auf einem tikörpern: 1. Anti-human-IgM 2. Anti-human-IgG Virus-ähnlichen Partikel (VLP) präsentiert wird. Fer- 3. Antikörper gegen beigemischtes Kontroll-Antigen. ner beruht einer der acht Kandidaten-Impfstoffe auf Enthielt das Blut Antikörper gegen Sars-CoV-2, so einer mRNA, die mittels Lipid-Nanopartikeln (LNP) sammeln sich die Gold-Nanopartikel in gut sichtba- verabreicht wird; dieser von der US-Firma Moderna ren Zonen, sonst wandern sie fort. Dieser Schnelltest entwickelte Impfstoff soll teilweise durch Lonza in weist die Antikörper vom Typ IgM oder IgG nach, Visp hergestellt werden. sagt aber nichts aus über deren Menge oder virus- Ob das Ziel realistisch ist, bereits im Oktober neutralisierende Wirkung. Die erhältlichen Tests 2020 mit einer breit angelegten Impfung zu begin- zeigen eine gute Spezifität (bis zu 100 Prozent, d.h. nen, wird sich weisen. Ein Impfstoff wird wie jedes keine falsch positiven Resultate), aber die Sensitivi- andere Arzneimittel nur dann zugelassen, wenn so- tät wäre zu verbessern (derzeit um 90 Prozent, d.h. wohl dessen Sicherheit wie auch dessen Wirksamkeit jede zehnte eigentlich positive Probe wird verpasst). zweifelsfrei nachgewiesen sind. Aus Eile hierbei Kom- promisse zu machen, wäre fatal. Die Hoffnung, es sei Wann können wir impfen? nur eine Frage der Zeit, bis ein Impfstoff gegen Sars- Ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 wird von beinahe CoV-2 zur Verfügung stehe, hängt leider nicht nur der ganzen Weltbevölkerung sehnlichst erwartet. In von der Forschung, sondern auch vom Virus ab. Es rund zwanzig Ländern weltweit haben Institute und gibt Beispiele von Viruserkrankungen (HIV, Dengue), Firmen begonnen, ihre Expertise diesem neuen Ziel die schon seit Jahren bekannt sind und gegen die bis zu widmen. Am 15. Mai hat die WHO eine Liste von heute kein Impfstoff verfügbar ist. Eine mögliche Ur- 118 solcher Impfstoffprojekte publiziert (www.who.int/ sache ist, dass Immunzellen, welche der Abwehr die- who-documents-detail/draft-landscape-of-covid-19-candidate- nen sollten, selbst infiziert werden. So zeigt sich bei vaccines). Davon sind acht Kandidaten bereits in der Dengueviren das Phänomen der Antikörper-abhän- Phase 1 oder sogar Phase 2 klinischer Versuche. Sie gigen Infektionsverstärkung (antibody dependent en- sind etwas weiter fortgeschritten, weil sie auf Tech- hancement, ADE). Das könnte auch bei Coronaviren niken beruhen, welche schon mit anderen Viren wie eine Rolle spielen. Selbst wenn die Hoffnung auf ei- Ebola oder Influenza erprobt wurden. Unter den üb- nen wirksamen Impfstoff erfüllt wird, stellen sich rigen 110 Impfstoffprojekten könnten sich aber durch- ethische Probleme bei dessen Prüfung und Zuteilung, aus Kandidaten finden, die mindestens ebenso viel wie kürzlich am Beispiel Ebola beschrieben wurde Erfolg versprechen. (Schwyzer, VJS 164|3, 4-7). Erfahrungsgemäss scheiden auf dem Entwick- Martin Schwyzer lungsweg zahlreiche Impfstoffe aus. Deshalb ist es Der Autor ist emeritierter Professor für Virologie an sinnvoll, möglichst verschiedene Wege gleichzeitig der Universität Zürich.
12 FO R S C H U N G — E pidemiologie Mathematische Modelle für die Corona-Epidemie Die rasante Entwicklung der COVID- vor diesem Datum. Aus der Zunahme der Infektions- 19-Infektionszahlen hat im März viele zahlen in China und Italien wusste man, dass die Ver- überrascht. Dahinter verbirgt sich dopplungszeit V nur etwa 2 Tage beträgt. Mit diesen jedoch ein einfacher Mechanismus, ersten Angaben können wir eine approximative Ana- der uns den Ernst der Lage begreiflich lyse wagen: Für den Tag t können wir die Anzahl der macht, aber auch hilft, die täglich Infektionen zu I=2t/V abschätzen. Für 20 Tage erhal- publizierten Infektionszahlen zu ten wir rund 1000 Infizierte, was in der Schweiz am interpretieren. 10. März eintrat. Unser Modell passt also am besten mit den Beobachtungen überein, wenn wir den Tag Die COVID-19-Pandemie stellt uns vor Probleme, die 20 auf diesen Tag legen. Der Tag 0 fällt so auf den 19. wir in der heutigen Zeit kaum für möglich gehalten Februar, also 5 Tage vor dem ersten positiven Test, haben. Praktisch alle betroffenen Länder wurden durch was sinnvoll erscheint. die explosive globale Ausbreitung dieses neuen Virus Dieses sehr einfache Modell lehrt uns bereits überrumpelt. Aufgrund der schnellen Transportsys- etwas Entscheidendes: 20 Tage lang ist nichts Ausser- teme sprang das Virus innert Tagen über riesige Dis- ordentliches passiert, 1000 Infizierte sind nicht be- tanzen. Von China in Europa angekommen, wurde es ängstigend und fast niemand nahm die Situation ernst. durch eine sehr mobile und ineinander verflochtene Doch nach nur 6 weiteren Tagen schnellt die Zahl der Gesellschaft rasend schnell auf alle Länder verteilt Infizierten gemäss diesem Modell auf 8000 und nach und dort von einem Individuum zum nächsten trans- weiteren 20 Tagen wäre die gesamte Schweizer Be- portiert. Jeder Mensch hat innerhalb eines Tages di- völkerung infiziert! Das Modell gibt eine Warnung, rekten Kontakt zu einer Vielzahl anderer Menschen obwohl es nicht korrekt sein kann für Zeiträume, die durch das traditionelle Händeschütteln oder indirek- über die Dauer der Krankheit von rund 2 Wochen hi- te Kontakte dadurch, dass alle in einem Raum diesel- nausgehen. Wir brauchen ein verbessertes Modell, be Luft inklusive feine Wassertröpfchen einatmen. das die immunen und am Coronavirus verstorbenen Es ist unmöglich, all diese Prozesse im Detail Personen berücksichtigt. zu untersuchen und nachzurechnen. Trotzdem kann man mit Hilfe von statistischen Mittelwerten (analog Ein genaueres Modell wie bei der Theorie des idealen Gases, wo auch nur Seit fast einem Jahrhundert rechnen Epidemiologen Mittelwerte über viele Atome oder Moleküle beschrie- mit verschiedenen Versionen der sogenannten SIR- ben werden können) den Kern des Geschehens erfas- Modelle. Die Buchstaben stehen für «Susceptible indi- sen und die zeitliche Entwicklung wichtiger Grössen, viduals» (ansteckbare Personen), «Infectious individu- wie beispielsweise die Anzahl infizierter Personen, als» (infizierte Personen, die ansteckend sind und durch Gleichungen beschreiben. Das Ergebnis sol- bereits im approximativen Modell berücksichtigt wur- cher Bemühungen sind mathematische Modelle, die den) und «Removed individuals» (aus dem Anste- den Verlauf der täglich gemessenen Infektionen nach- ckungsprozess ausgeschiedene Personen, die nicht bilden. Je besser dies gelingt, desto grösser ist die mehr krank, sondern entweder immun oder tot sind) Überzeugung, dass man die wichtigsten Prozesse ver- (Kermack & McKendrick, 1927). standen hat und das Modell benutzen kann, um den Obwohl die normalen SIR-Modelle ungeeignet momentanen Zustand des Systems zu analysieren und sind für die Simulation der täglichen Neuinfektionen, mögliche Zukunftsszenarien zu berechnen. werden sie in allen Simulationsmodellen benutzt, die ich im Internet finden und identifizieren konnte. Ich Ein approximatives Modell wähle hier den von Markus Noll kürzlich vorgeschla- Der erste Schweizer Patient wurde in Italien angesteckt genen Ansatz (Noll, 2020), um ein einfaches, aber kor- und am 24. Februar im Kanton Tessin positiv auf das rektes Modell zu finden. Dabei nehme ich an, dass zu Coronavirus getestet. Die Ansteckung liegt also sicher jeder Zeit t nur ein kleiner Teil I(t) der Bevölkerung
13 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH durch das neue Coronavirus infiziert wurde: In der tinuierlich auf einen niedrigen Wert R 1 abfällt. Um Schweiz sind dies heute mindestens 31 000 bestätig- dies zu erreichen, habe ich die häufig benutzte S- te Fälle (die Dunkelziffer ist leider bislang unbekannt). Funktion 1/{1+e4(t’-U)/U} verwendet, die zur Zeit t’=0 S kann deshalb als etwa konstant betrachtet werden fast eins ist (0,982). Bei t’=U beträgt sie genau 0,5 und die Herdenimmunität spielt höchstens eine un- und bei t’=2U wird sie fast 0 (0,018). Um diese S- tergeordnete Rolle. Ich stelle mir idealisierend vor, Funktion zeitlich verschieben zu können, brauchte dass alle Personen gleich lang krank (etwa 2 Wochen) ich einen zusätzlichen Parameter tU, den Umschalt- und während dieser Zeit immer gleich ansteckend zeitpunkt, bei dem die S-Funktion den Wert 0,5 hat. sind. Mit diesen vereinfachenden Annahmen lässt sich Dies ergibt sich, wenn t’=t-tU gesetzt wird. Da viele die Anzahl Personen angeben, die die Krankheit durch- Leute ihr Verhalten bereits vor dem Inkrafttreten gemacht haben und zur Zeit t entweder immun oder verordneter Massnahmen verändert haben, viele tot sind: Dies sind diejenigen Personen, die zur Zeit andere jedoch erst deutlich später den Ernst der Lage t-K infiziert wurden. Am Tag t sind also {I(t)-I(t-K)} begriffen haben, ist zu erwarten, dass das gesamte Personen krank (und ansteckend). Die entsprechende Umschaltintervall 2U sich über viele Tage erstreckt. Bilanzgleichung lautet folglich: Die Zahlenwerte der 5 unbekannten Parame- dI(t) R ter R0, R 1, K, U und tU habe ich gefunden, indem ich = eff {I(t)-I(t-K)} dt K die Differenzen zwischen den beobachteten und mit dabei bedeuten: verschiedenen Parameter-Kombinationen berech- I(t) = Anzahl Infizierte zur Zeit t neten Infektionszahlen minimiert habe. K = Krankheitsdauer (16 Tage) Mathematica stellt Algorithmen zur Auffin- Reff = effektive Reproduktionszahl dung des Minimums einer mehrdimensionalen Funktion zur Verfügung. Die folgenden Werte erga- Die effektive Reproduktionszahl Reff ist die durch- ben eine überraschend gute Übereinstimmung zwi- schnittliche Anzahl Personen, die eine infizierte schen Modell und Beobachtungen zwischen dem 19. Person während ihrer Krankheitsdauer ansteckt. In Februar und dem 17. Mai: R0=5,7, R 1=0,54, K=16 Tage, der Verzögerungs-Differentialgleichung (Delay Dif- U=20 Tage und tU=26,6 Tage. Es ist beachtenswert, ferential Equation) steht deshalb als Vorfaktor Reff/K, dass sich als Umschaltzeitpunkt tU der 16. März er- also die Wahrscheinlichkeit, dass eine infizierte Per- gab, an dem der Lockdown begann und als gesamtes son pro Zeiteinheit eine andere ansteckt. Umschaltintervall 2U 40 Tage herauskamen, die bis Die täglichen Neuinfektionen (zu identifizie- zum 25. Februar zurückreichen, also bis zum Be- ren mit dI(t)/dt) und die monoton wachsende Sum- kanntwerden der ersten Infektion. Die effektive Re- me der Infektionen (zu identifizieren mit I(t)) werden produktionszahl Reff sank also bereits vor dem Lock- jeden Tag publiziert und können für die Schweiz un- down auf etwa 3,1 ab (Mittelwert von R0 und R 1). ter http://coronamap.ch eingesehen werden. Dieses subexponentielle Wachstum wurde auch in Weil man die obige Gleichung nur für kons- einer kürzlich veröffentlichten Studie anhand der tante Werte von Reff/K auflösen kann, wofür sie Ex- chinesischen Zahlen festgestellt (Maier & Brockmann, ponentialfunktionen liefert, habe ich das weit ver- 2020), die zu vergleichbaren Werten kam. breitete Programmpaket «Mathematica» verwendet, Eine wichtige Einschränkung muss erwähnt mit dem die Differentialgleichung auf einer einzigen werden: Das Modell kann nie besser sein als die ver- Programmzeile Platz hat. Mit Hilfe eingebauter Sol- wendeten Daten und die Infektionszahlen sind mit ver (Lösungsalgorithmen) können damit auch nu- verschiedenen Fehlern behaftet. Eine wichtige Feh- merische Lösungen für zeitlich variables Reff(t) ge- lerquelle ist die Dunkelziffer, weil nur ein Teil der funden werden. Bevölkerung objektiv getestet werden kann. Falls jedoch diese unbekannte Dunkelziffer immer das- Kalibrierung des Modells selbe Vielfache der Getesteten ausmacht, würde sie Um die Epidemie über einen Zeitraum von 140 Ta- die Verlässlichkeit des Modells nicht beeinträchti- gen simulieren zu können, habe ich eine Funktion gen. Da man dies nicht wissen kann, benutzt man Reff(t) so gewählt, dass sie bei einer hohen Repro- das Modell aber besser nicht für Prognosen, sondern duktionszahl R0 beginnt (Reff(0)=R0) und dann kon- höchstens für die Berechnung von Szenarien und als
14 FO R S C H U N G — E pidemiologie Interpretationshilfe für die Resultate eines fortlau- In den Öffnungsphasen I und II liegen die fenden Monitoring. So erkennt man wichtige Verän- fluktuierenden täglich publizierten Infektionszah- derungen im Verhalten des Systems und kann ver- len bis zum 30. Mai symmetrisch um die Modellre- suchen, mit Hilfe von Modifikationen des Modells sultate herum. Dies bedeutet, dass die Lockerungen herauszufinden, welche Prozesse die beobachteten glücklicherweise nicht zu einer Erhöhung der Re- Veränderungen verursacht haben könnten. produktionszahl führten. Was lernen wir aus diesem Modell? Weitere Lockerung der Massnahmen Generell kann festgestellt werden, dass die gute Über- Für die Zeit nach dem 30. Mai sind in der Figur drei einstimmung der Modellrechnung mit den publi- Szenarien dargestellt: Eine Fortsetzung mit unver- zierten Infektionszahlen zeigt, dass die ablaufenden ändert kleiner Reproduktionszahl von 0,54 (schwarz) Prozesse (im statistischen Mittel) verstanden werden sowie mit 0,9 und 1,2 (blau und rot). Würde die Re- konnten. Weiter lernt man durch «spielen» mit der produktionszahl dauernd unterhalb der blauen Kur- Gleichung, dass das System auf kleinste Verände- ve liegen, würden die täglichen Neuinfektionen wei- rungen der Parameter extrem empfindlich reagiert. ter sinken und man könnte Infektionsketten Dies bedeutet, dass die Werte der Parameter gut de- verfolgen und unterbrechen. Die an der ETH entwi- finiert sind und dazu benutzt werden können, ver- ckelte App könnte dabei hilfreich sein. Das rote Sze- schiedene Massnahmen, Situationen oder Länder nario zeigt einen Anstieg der Neuinfektionen, so miteinander zu vergleichen. dass die Phase III nicht wie geplant in Kraft treten Die Infektionszahlen betrugen am 16. März könnte. Um eine zweite Infektionswelle zu verhin- rund 4000 und zeigten eine Zunahme von knapp dern, müssten zusätzliche Massnahmen ergriffen 800 Neuinfektionen pro Tag: Der Bundesrat erklär- werden. te die «ausserordentliche Lage». Die Wirkung war Der weitere Verlauf der Reproduktionszahl glücklicherweise wie erwartet: Am 22. März (Tag 32) im Sommer wird vom Verhalten der Bevölkerung wurde der Spitzenwert mit etwa 1100 Neuinfektio- abhängen und kann nicht vorhergesagt werden. Ent- nen erreicht. Ohne die zusätzlichen Massnahmen scheidend ist die durchschnittliche Zahl der tägli- wären an diesem Tag bereits rund 6000 Neuinfek- chen Kontakte von nicht immunen Personen mit an tionen gezählt worden. Es war also höchste Zeit für COVID-19 akut erkrankten Personen, multipliziert die Notbremse! Man muss dabei beachten, dass der mit der Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Kontakt Bundesrat keine wissenschaftlichen Grundlagen eine Ansteckung erfolgt. Dabei zählen auch indirek- hatte, die ihm mit Sicherheit vorhergesagt hätten, te Kontakte wie beispielsweise die Berührung eines dass die angeordneten Massnahmen zu einer genü- Einkaufswagens oder einer Türfalle, die vorher von genden Abnahme der täglichen Neuinfektionen füh- einer kranken Person angefasst wurde. So ergeben ren würde. Er hat im «Blindflug» agieren müssen sich ohne weiteres täglich etliche Kontakte mit er- und ein gutes Resultat erreicht, ohne drastische Po- heblichem Infektionspotenzial. Da eine Infektion lizeimassnahmen zu verordnen. Dabei muss auch nicht sofort realisiert werden kann, besteht die ein- erwähnt werden, dass die Schweizer Bevölkerung zige Möglichkeit zur Minimierung von Ansteckun- (mit wenigen Ausnahmen) den Anweisungen der gen darin, die Hygienevorschriften weiterhin ein- Behören weitgehend freiwillig gefolgt ist und die zuhalten. Massnahmen gewissenhaft umgesetzt hat. Das Modell demonstriert den Erfolg der an- Wann ist die Pandemie vorüber? geordneten Massnahmen: Diese haben die Repro- Eine provisorische Antwort auf diese berechtigte duktionszahl von 3,1 auf 0,54 um rund den Faktor 6 Frage kann erst nach den Erfahrungen mit den Pha- reduziert. Wichtig war, dass die Reproduktionszahl sen II und III gegeben werden, die entscheidend vom nach rund einer Woche unterhalb von 1 zu liegen Verhalten der Bevölkerung abhängen. Ein Übergang kam, denn nur so konnten die täglichen Neuinfek- zur Situation vor der COVID-19 Pandemie wird er- tionen abnehmen. Wäre der Wert nur auf 1 zurück- möglicht, sobald ein sicherer Impfstoff in genügen- gegangen, wären die täglichen Neuinfektionen bei der Menge vorliegt. Selbst wenn es der Schweiz ge- fast 2000 konstant geblieben. lingt, die Neuinfektionen bereits vorher auf nahezu
15 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH 1200 sub-exponentiell Lockdown Phase I Phase II Phase III 1000 800 600 400 200 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 Tage nach 19.2.2020 Die Modellrechnung stimmt bis zum 30.Mai (Tag 101) mit den Werten von http://coronamap.ch (schwarze Punkte) abgesehen von Fluktuationen überein. Die Extrapolationen bis zum 6.Juli (Tag 140) sind für drei ange- nommene Szenarien wiedergegeben: Schwarz für gleichbleibende Reproduktionszahl 0,54, blau 0,9 und rot 1,2. Null zu stabilisieren, was zu hoffen ist, wäre ein frei- für R 1 den neuen Wert von 0,71 (anstelle von 0,54), er Personen- und Warenverkehr in einer Welt mit der exakt mit dem Wert der Swiss National COVID-19 vielen an COVID-19 akut erkrankten Personen (mo- Science Task Force übereinstimmt (vgl. https://ncs-tf. mentan sind es rund 3 Millionen in Brasilien, USA ch/en/situation-report). Beachtenswert ist auch, dass und weiteren Hotspots) undenkbar. Eine einzige un- die oben durch Kalibrierung bestimmte Krankheits- entdeckte kranke Person genügt, um lokal einen dauer von 16 Tagen mit diesem aus Beobachtungen neuen Ausbruch zu verursachen. Auch die Hoffnung erhaltenen Ansteckungsintervall übereinstimmt. auf die Herdenimmunität ist eine Illusion. Dafür Fritz Gassmann müsste der Grossteil der Bevölkerung immun sein, Der Autor ist Physiker mit Fachgebiet Modellierung d.h. die Krankheit durchgemacht haben. Mit bei- komplexer Systeme, ehem. Paul Scherrer Institut und FHNW Brugg-Windisch spielsweise 200 Neuinfektionen pro Tag würde dies für die Schweiz etwa ein Jahrhundert dauern. LITERATUR Infektionszahlen Schweiz und weltweit: Reproduktionszahlen sind modell- http://coronamap.ch Kermack W.O. & McKendrick A.G. 1927. A Contri- abhängig bution to the Mathematical Theory of Epidemics. Ich habe ein noch genaueres Modell entwickelt, das Proc. R. Soc. London A115: 700-721. zusätzlich berücksichtigt, dass eine infizierte Person Maier B.F. & Brockmann D. 2020. Effective nicht während der gesamten Krankheitsdauer gleich containment explains subexponential growth in recent confirmed COVID-19 cases in China. Sci. ansteckend ist: Die Ansteckungswahrscheinlichkeit Mag. 368(6492): 742-746. zeigt einen Spitzenwert 3 Tage nach der Infektion, Mathematica: https://reference.wolfram.com bevor sie innerhalb von weiteren 13 Tagen verschwin- Noll M. 2020. How does the number of infected det. Dadurch verändern sich die aus der Simulation persons N increase with time? Inst. of Molecular abgeleiteten Reproduktionszahlen und ich erhielt Life Sciences, Univ. Zürich, unveröffentlicht.
16 FO R S C H U N G — Ozeanografie In die tiefen Abgründe der Weltmeere Vor 200 Jahren erblickten unabhängig Wissenschaftler übernehmen das voneinander und beinahe gleichzeitig Ruder drei Schiffsbesatzungen aus drei ver- Die heldenhaften Entdecker und berühmten Kapi- schiedenen Ländern erstmals den ant- täne wichen also neugierigen Wissenschaftlern, die arktischen Kontinent. Der russische erfahren wollten, wie das Meerwasser zusammen- Kapitän Fabian Gottlieb von Bellings- gesetzt ist, wie tief die Ozeane sind, wie der Unter- hausen, der irisch-britische Kapitän grund der Weltmeere beschaffen ist, welche Tempe- Edward Bransfield und der amerikani- raturen in der Tiefe herrschen, welche Strömungen sche Robbenjäger Nathaniel Palmer die Wassermassen bewegen und welche Organismen wurden so im Frühjahr 1820 zu den im gigantischen Wasservolumen leben. Im Gegen- Entdeckern der sagenumwobenen satz zu anderen Forschungsgebieten, wo ein einzel- Terra Australis. Und spätestens Mitte ner Wissenschaftler einen Durchbruch erzielen kann, des 19. Jahrhunderts waren dann alle brauchte man für die Meereserkundung zwangsläu- grösseren Landmassen der Erde ent- fig eine grössere Infrastruktur. Ozeanografie war von deckt. Die romantische, abenteuerli- Beginn weg Big Science. che Zeit der marinen Forschungsreisen Allerdings begann die Geschichte der Mee- schien endgültig vorüber, die Umrisse reskunde mit – nach heutigen Massstäben – beschei- der Kontinente und Inseln vermessen den anmutenden Mitteln. Es waren bloss sechs zivile und kartiert. Zwar war die Welt unter Wissenschaftler, die an Bord der «HMS Challenger» den Wellen noch weitgehend unbekannt, (Abb. 1) zusammen mit der Besatzung der englischen man ging aber allgemein davon aus, Marine zu einer Weltumsegelung aufbrachen und dass die Tiefen des Meeres nicht weiter dabei sowohl physikalische, chemische, geologische von Interesse sind—bloss dunkel, kalt und biologische Beobachtungen anstellten, Messun- und leblos. So ahnte man noch nichts gen vornahmen und Proben sammelten. Das Budget von einer ganz neuen Phase der Er- der Expedition belief sich auf £170 000. Einer der kundung unseres Blauen Planeten, Zivilisten an Bord war Jean Jacques Wild aus Zürich einer Epoche die bis heute andauert. mit einem Jahresgehalt von £400 (Abb.2). Sie begann mit der Fahrt eines umge- bauten Segelschiffs rund um die Erde. Zentrale Figur in der Besatzung Wild, geboren 1824, war eigentlich Linguist und Das Verlegen der ersten transatlantischen Telegra- Sprachlehrer, aber seine breiten naturwissenschaft- fenkabel um 1866 machte klar, dass Kenntnisse über lichen Interessen und seine hervorragenden, weit- die Tiefsee durchaus von ökonomischem Wert – ja gehend autodidaktisch angeeigneten Fähigkeiten sogar von strategischem Interesse – sind. Und so bau- als Zeichner und Maler verhalfen ihm zu einem zen- te die britische Royal Navy in Zusammenarbeit mit tralen Posten innerhalb der Besatzung: Er diente der Royal Society schliesslich ein dreimastiges Kriegs- sowohl als Sekretär als auch als wissenschaftlicher schiff (mit 21 Kanonen, einer zweizylindrigen Hilfs- Illustrator. dampfmaschine und einer Schraube) zu einem For- Die Forschungsreise unterschied sich nicht schungsschiff um, welches am 21. Dezember 1872 in bloss durch den Fokus auf die Unterwasserwelt von Portsmouth in See stach. Am 21. Mai 1876 kehrte die früheren Forschungsreisen, wie etwa den drei Welt- Korvette dann in die Heimat zurück, nach einer Rei- umrundungen von James Cook hundert Jahre zuvor. se auf der sie 68 890 Seemeilen zurückgelegt hatte. Revolutionär war vor allem, dass man an möglichst Die Expedition der «Challenger» – so der Name des vielen Stellen nach einem streng vorgeschriebenen Schiffs – ist heute gleichbedeutend mit der Geburt Standardprogramm vorzugehen gedachte, um ver- der modernen Ozeanografie. gleichbare Datensätze zu gewinnen. Zum Einsatz
17 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH Abb. 1: Die «HMS Challenger» an den Grenzen der Belastbarkeit: Zehn Besatzungsmitglieder sterben im Verlauf der Fahrt und 61 Männer desertieren bei verschiedenen Landaufenthalten. Gemälde von William Frederick Mitchell (1858). kamen dabei zum Beispiel jeweils mehrere Schlepp- 200 Pfund an einem Hanfseil mittels Handwinde netze und Dredschen zur Probenahme. Im Verlaufe durchführt wurde, überhaupt gelang, mutet heute der Expedition wurden schliesslich an 362 Probesta- fast unglaublich an. Die tiefste Region dieses Gra- tionen Tiefen-, Strömungs- und Temperaturmessun- bens, wohin 1960 Jacques Piccard und Don Walsh gen durchgeführt und Wasser-, Sediment- und Plank- mit dem U-Boot «Trieste» vorstiessen, heisst noch tonproben entnommen. Über 4000 neue Arten konnten heute Challenger Deep. Für seine Teilnahme an der nach der Expedition aufgrund der gesammelten Be- Expedition sowie seine beiden danach veröffentlich- lege wissenschaftlich beschrieben werden. ten Bücher erhielt Wild ein Ehrendoktorat der Uni- versität Zürich. 1881 wanderte er nach Australien aus Vorstoss in ungeahnte Tiefen und starb dort im Jahr 1900. Die gesammelten Wasserproben erlaubten auch die Im Vergleich zu den wissenschaftlichen Illus- Bestätigung der Hypothese der konstanten Propor- tratoren früherer Seereisen, die das visuelle Ver- tionen, wonach die Ionen-Verhältnisse im offenen mächtnis für die Nachwelt stark geprägt haben – man Ozean unabhängig vom Salzgehalt des Wassers sind, denke an Sydney Parkinson an Bord der «HMS En- was der Genfer Chemiker und Arzt Alexandre Mar- deavour», Georg Forster an Bord der «HMS Resolu- cet bereits 1819 postuliert hatte. Am berühmtesten tion» und Ferdinand Bauer an Bord der «HMS In- ist aber wohl die Entdeckung des tiefsten Gebietes vestigator» – blieb Wild verhältnismässig unbekannt der Erdkruste in einem Graben entlang der mikro- und ist heute weitestgehend vergessen. Grund dafür nesischen Inselkette der Marianen im westlichen war namentlich auch der Beginn des Siegeszugs der Pazifik. Dass dies in den Weiten des Ozeans mit ei- Fotografie, die auf der «HMS Challenger» erstmals ner Lotung, welche jeweils mit einem Gewicht von in grösserem Umfang eingesetzt werden konnte.
18 FO R S C H U N G — Ozeanografie The Natural History Museum London Abb. 2: Ein Zürcher auf grosser Fahrt: der wissenschaftliche Illustrator Jean Jacques Wild bei einem kurzen Landaufenthalt auf der entlegenen Inselgruppe der Kerguelen. Der vielleicht nachhaltigste Einfluss der Ex- Drilling zu beproben. Das Schiff, die US-amerikani- pedition mit bloss einem halben Dutzend Wissen- sche «Glomar Challenger» (Abb. 3), war zu diesem schaftlern an Bord war aber die bahnbrechende Art Zweck mit einem 43 Meter hohen Bohrturm und mit der internationalen Zusammenarbeit bei der Aus- vier stabilisierenden Heck- und Bug-Thrustern aus- wertung der gesammelten Daten und Proben – und gerüstet worden. schliesslich bei der lückenlosen Publikation der Re- Was die Bohrleute nach zahlreichen Fehl- sultate in 50 Bänden auf 29 552 Seiten. Die beiden bohrungen schliesslich am 29. August 1970 an letzten Bände erschienen 1895, etwa 19 Jahre nach den Tag brachten (Abb. 4), sollte die Expedition in Ende der Expedition. die Meldungen der Weltmedien katapultieren und machte den Professor aus Zürich über Nacht be- Neues Schiff mit Bohrturm rühmt – und umstritten. Zum Erstaunen aller fand Die «HMS Challenger» war auf ihrer langen Fahrt man Salzablagerungen – sogenannte Evaporite aus nie ins Mittelmeer abgezweigt. Etwa hundert Jahre dem Mineral Anhydrit (wasserfreies Kalziumsul- später sollte dies 1970 ein anderes Forschungsschiff fat) – wie sie sich nur in heiss-ariden Küstenebenen nachholen und dort eine der erstaunlichsten Entde- bilden konnten, nicht wie Gips (wasserhaltiges ckungen in der Geschichte der Ozeanografie machen. Kalziumsulfat), der sich in tieferen Wasserkörpern, Mit an Bord als leitender Wissenschaftler war der wie etwa dem Toten Meer, ausscheidet. Für Hsü Sedimentologe und Geologie-Professor Ken Hsü von gab es nur eine Erklärungsmöglichkeit: Die Meer- der ETH Zürich. Kenneth Jinghwa Hsü – 1929 in Nan- enge von Gibraltar war lange geschlossen und führ- jing im östlichen China geboren – hatte vor, mehrere te zu einer messinischen Salinitätskrise vor etwa Gebiete mit der neuen Technologie des Deep Sea 6 Millionen Jahren.
19 Vierteljahrsschrift — 2 | 2020 — Jahrgang 165 — NGZH Deep Sea Drilling Project Orrin Russie Abb. 3 (links): Auf hoher See mit 7000 Metern Bohrrohren: Die «Glomar Challenger» nimmt Kurs auf das Mittelmeer. Abb. 4 (rechts): Evaporite! ETH-Professor Ken Hsü (links) und zwei Mitglieder der Besatzung mit einem soeben geborgenen Bohrkern. Über die korrekte Interpretation der Sedimente sollte noch ein bitterer Akademikerstreit entbrennen. Das Messinium – benannt nach der siziliani- Seafloor Spreading und begründeten damit die Prin- schen Stadt Messina – war 1867 durch den Privatdo- zipien der Plattentektonik. zenten Karl Mayer am damaligen Polytechnikum in Das Forschungsschiff, welches diese Erkennt- Zürich beschrieben worden. Es handelt sich dabei nisse überhaupt erst möglich gemacht hatte, exis- um die oberste (jüngste) Stufe des Miozäns und um- tierte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr: 1983 fasst nach heutigem Wissen den Zeitabschnitt vor wurde die «Glomar Challenger» nach 624 bearbei- 5,33 bis 7,25 Millionen Jahren. Kurzum: Das Mittel- teten Probestationen und 19 119 geborgenen Bohr- meer war laut Professor Hsü und seinen engsten Mit- kernen ausser Dienst gestellt und abgewrackt. Die streitern im ausgehenden Miozän eine flache, aus- grösste Penetration in den Meeresgrund war 1741 getrocknete Pfanne – eine bis etwa 3000 Meter unter Meter tief gewesen, die grösste Wassertiefe über ei- dem Meeresspiegel gelegene, heisse Salzwüste. ner Bohrstelle 7044 Meter. Doch für eine kurze Zeit sollte der Name «Challenger» noch während zehn Der Preis der Entdeckungen Fahrten um den Globus weiterleben. Im Andenken In seinem Erlebnisbericht «Das Mittelmeer war eine an den Entdeckergeist der Besatzungen der beiden Wüste» schrieb Hsü: «Da Gefühle im Spiel waren, Forschungsschiffe erhielt die NASA-Raumfähre, die wurde aus sachlichen Auseinandersetzungen, aus im April 1983 zu ihrem Jungfernflug startete, den rein intellektuellen Meinungsverschiedenheiten, Namen «Challenger» – und trug diesen bis zu ihrer nicht selten echter Streit. […] Unsere Deutung rief in tragischen Explosion im strahlend blauen Himmel der Fachwelt unterschiedliche Reaktionen hervor. über dem Atlantik zu neuen Horizonten weit über Günstige Stellungnahmen waren nicht selten, man- der Erde. che Kritiker blieben jedoch skeptisch oder waren gar Stefan Ungricht feindselig.» Die englische Originalausgabe des Buchs Der Autor ist Biologe und Vizepräsident der NGZH. erschien 1983. Und 1984 erhielt Ken Hsü dann mit Eine mit zusätzlichen Abbildungen, Internetquellen und Literaturhinweisen ergänzte Version dieses der Wollaston-Medaille von seiner Geologenzunft Artikels sowie weitere Beiträge finden Sie auf die höchste Weihe. Seine Deutung hatte sich in der unserer Webseite unter der Rubrik «Einblicke» Fachwelt durchgesetzt und laut Professor Hsü haben (www.ngzh.ch/news). die Fahrten der «Glomar Challenger» eine Revolu- tion in den Geowissenschaften beendet: Die Ergeb- nisse der Bohrungen bestätigten die Theorie des
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