WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis

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WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
polis aktuell   2/2022

WAHLEN|WÄHLEN
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER!

2007 hat Österreich als erstes Land in Europa das ak-         Instrumente der politischen Partizipation wieder ver-
tive Wahlrecht auf 16 und das passive Wahlrecht auf           mehrt in den Mittelpunkt zu rücken und über ihre
18 Jahre gesenkt. Damit hat Österreich eine Vorreiter-        Wichtigkeit ebenso wie über die Notwendigkeit, sie
rolle in Europe eingenommen und eine zentrale Forde-          weiterzuentwickeln, zu reflektieren.
rung der UN-Kinderrechtskonvention nach adäquater
politischer Partizipation von Jugendlichen erfüllt. Die          Wie immer enthält das Heft Ideen für den Unterricht
Wahlaltersenkung wurde u.a. mit einer Lehrplanreform          sowie Link- und Literaturtipps. Wir wünschen Ihnen viel
zur Stärkung der Politischen Bildung begleitet. Wir           Freude bei der Umsetzung des Themas.
haben in einem Spezial zum 15-Jahr-Jubiläum dieser
Reform nachgefragt, wie Organisationen, die mit und für           Ihr Team von Zentrum polis
Jugendliche arbeiten, die Entwicklungen seither einord-           > service@politik-lernen.at
nen.
    Wahlen stellen eine der zentralen Möglichkeiten der
politischen Mitgestaltung und Mitentscheidung dar.
Die vorliegende Ausgabe von polis aktuell gibt daher
                                                                  INHALT
auch einen Überblick über die nationalen Wahlen auf
Bundes-, Landes- und Gemeindeebene sowie über die              1 Warum wählen? ........................................... 3
Europawahl. Weitere Themen sind die Unterschiede               2 Wie Politik lernen? ....................................... 4
zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht am Bei-            3 Wahlen in Österreich ..................................... 5
spiel der Präsidentschaftswahl in den USA, E-Democracy,          Spezial: 15 Jahre Wählen ab 16 ................... 11
Ausschlüsse am Beispiel der Pass-Egal-Wahl, Wahlkampf          4 Verhältnis- versus Mehrheitswahlrecht ........... 19
und Wahlprognosen. Außerdem wird in einem Beitrag              5 Elektronisch wählen ................................... 20
der Initiative Wahlbeobachtung.org die Bedeutung von           6 Wahlrecht für alle in Österreich? ................... 21
Wahlbeobachtung dargestellt.                                   7 Wahlbeobachtung in Österreich .................... 23
    Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in                8 Wahlkampf und Wahlprognosen .................... 24
Politik und Demokratie in vielfältiger Weise auf die Probe     9 Link- und Materialientipps ........................... 27
gestellt wird, ist es wichtig, auch die klassischen

    PARTIZIPATION VON KINDERN                  DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS                          EUROPA MITGESTALTEN
        UND JUGENDLICHEN                         polis aktuell 1/2019                          polis aktuell 8/2018
        polis aktuell 4/2021
                                              > www.politik-lernen.at/                     > www.politik-lernen.at/
    > www.politik-lernen.at/                    pa_demokratieverstaendnis                     pa_europamitgestalten
      pa_partizipation

2                                                                                                       polis aktuell 2/2022
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
1 WARUM WÄHLEN?
  Junge Menschen gehen auf die Straße, kämpfen für das
  Klima, engagieren sich in Initiativen und NGOs gegen
  Rassismus. Eine aktuelle Jugendstudie unter 14- bis                                >WEITERLESEN
  24-Jährigen zeigt, dass fast jede/r Zweite mit dem                                    Entwicklung des Wahlrechts in Österreich
  Leben unzufrieden ist, jede/r Dritte macht sich Sorgen                                Männer erlangten das allgemeine Wahlrecht in
  um die Zukunft. Laut Umfrage sieht die große Mehrheit                                 Österreich 1907. Das Wahlrecht für Frauen trat
  der Jugendlichen den Klimawandel als Hauptbedrohung                                   erst 1918 in Österreich in Kraft.
  in den nächsten 20 Jahren.1
                                                                                        www.demokratiezentrum.org/bildung/ressour-
  Jugendliche sind grundsätzlich an politischen Fragen                                  cen/timelines/wahlrechtsentwicklung-in-oester-
  interessiert. Viele (junge) Menschen fragen sich aber:                                reich-1848-bis-heute
     Macht es überhaupt Sinn, meine Stimme abzugeben?                                   www.parlament.gv.at/PERK/HIS/WAHL/RECHT/
     Sind die antretenden Parteien vertrauenswürdig,                                    index.shtml
     werden sie die Probleme und Fragen der Zeit lösen
                                                                                        www.politik-lexikon.at/oe1918plus/1919
     können?
  Der Österreichische Demokratiemonitor zeigt, wie die
  Bevölkerung zunehmend das Vertrauen in die Partei-
  politik verliert. Bereits 58 % der Befragten meinen, dass                      wurde, kann informieren, welche Parteien für wel-
  das politische System nicht gut funktioniert.                                  che Inhalte stehen – und wie sie diese real umsetzen.
                                                                                 Allgemein über das Wahlrecht zu sprechen, wird jun-
  Immerhin denken 88 % der ÖsterreicherInnen nach wie                            ge WählerInnen kaum motivieren, zur Wahlurne zu
  vor, dass die Demokratie die beste Staatsform ist.2 Diese                      gehen. Wenn Politische Bildung klar vermittelt, wie
  gilt es durch eine hohe Wahlbeteiligung zu stärken. Poli-                      Wählen unsere Demokratie stärkt und populistischer
  tische Bildung kann u.a. vermitteln, dass das Wahlrecht                        Politik entgegenzutreten vermag, sind Jugendliche
  keine Selbstverständlichkeit ist, sondern hart erkämpft                        dafür zu gewinnen. Denn sie wollen mitbestimmen,
                                                                                                     welche politischen Kräfte ihre Zu-
                                                                                                     kunft gestalten werden.

                                                                                                            Die Teilnahme an Schuldemokratie
                                                                                                            und die Auseinandersetzung mit
                                                                                                            dem Thema „Wählen ab 16“ spie-
                                                                                                            len in der Entscheidung, erstmals
                                                                                                            wählen zu gehen, eine wichtige
                                                                                                            Rolle. Didaktisch gut vorbereite-
                                                                                                            te politische Diskussionen regen
                                                                                                            dazu an, sich nachhaltig für Poli-
                                                                                                            tik und Wahlen zu interessieren.3
                                                                                                            Politische Bildung stellt klar: An-
                                                                                                            gesichts sogenannter „illiberaler
                                                                                                            Demokratien“ in Europa zählt jede
                                                                                                            Stimme; extremistischen Stimmen,
                                                                                                            wie aktuell in der Corona-Krise
  Quelle: SORA                                                                                              deutlich vernehmbar, ist entschie-
  www.demokratiemonitor.at/ergebnis/systemvertrauen-auf-tiefpunkt                                           den entgegenzutreten.

1 Allianz Jugendstudie 2021, Juni 2021 https://docplayer.org/216273859-Allianz-jugendstudie-2021.html
2 Der Demokratie Monitor befragt seit 2018 einmal pro Jahr Menschen in Österreich, wie sie das politische System bewerten und wie sie sich an politi-
  schen Diskussionen und Entscheidungen beteiligen. Ein besonderer Fokus liegt auf den jungen Menschen. www.demokratiemonitor.at
3 Sylvia Kritzinger, Markus Wagner und Josef Glavanovits: Wählen mit 16 – ErstwählerInnen bei der Nationalratswahl 2017. Wien, 2018.
  www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Endbericht_NRW_2017_final.pdf

   polis aktuell 2/2022                                                                                                                                  3
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
2 WIE POLITIK LERNEN?
                                                                 Um das Interesse der Jugendlichen an Partizipation
                 „Ich kann sowieso                            über die Schule hinaus zu wecken und den Erkenntnis-
                nichts verändern“,                            prozess zu verselbständigen, bedarf es einer speziellen
           sagen Jugendliche gelegent-                        Lernatmosphäre in der Politischen Bildung. Diese wird
          lich, wenn sie gefragt werden,                      durch Materialien und Methoden befördert, die veran-
          ob sie wählen gehen. Oder sie                       schaulichen und vertiefen sollen. Gruppenarbeiten, Re-
            meinen: „Alle Parteien sind                       cherchen und Diskussionen sind wesentliche Elemente
                 gleich, es ist egal,                         Politischer Bildung. Zentral ist dabei eine Lehrperson,
                    wer regiert.“                             die ermutigt, sich mit komplexen Inhalten zu beschäfti-
                                                              gen, und den Raum für Meinungsfreiheit und Interesse
                                                              schafft.

Was kann Politische Bildung dem entgegensetzen?
    Einerseits Informationen darüber vermitteln, wie
    Wahlergebnisse Politik verändern können,
                                                                 >TIPP LINK
                                                                    Demokratiebildung
    und andererseits persönlichen Bezug zu politischen              gegen antidemokra­
    Themen herstellen.                                              tische Tendenzen
Beides bedarf eines längeren Zeitraums, in dem Schüler              Markus Pausch, Patricia Hladschik, Filip
und Schülerinnen die Möglichkeit haben, ihr Interesse               Pazderski, Rasha Nagem. Salzburg, Strasbourg,
an Politik zu entdecken, Zusammenhänge zu erkennen                  Toulouse, Wien, Warschau, 2021.
und Positionen zu beziehen.                                         52 Seiten. ISBN 978-83-7689-393-8
    Der Politischen Bildung stehen heute, nicht zuletzt
aufgrund einer coronabedingten beschleunigten Digita-               www.politik-lernen.at/demokratiebildung-
lisierung, viele Tools zur Verfügung, um spielerische und           gegen-antidemokratische-tendenzen
kreative Zugänge zu ermöglichen.

    Eine ehemalige Schülerin erinnert sich viele Jahre später: „Wir haben uns Dienstag nachmittags getroffen, eine
    Art Wahlfach oder Neigungsgruppe, die Lehrerin trat mit Schwung ein, öffnete ihre Aktentasche und warf einen
    Stapel Zeitungen auf den Tisch. Kronenzeitung, es war einfach zu lesen. Im Laufe eines Schuljahres lasen wir
    über den Falklandkrieg, den Terrorangriff auf den jüdischen Stadttempel in Wien, die Demonstrationen gegen
    Atomkraft und erfuhren über Aids. Wir stellten Fragen, redeten durcheinander, diskutierten und fühlten uns
    mit einem Mal erwachsen. Unsere Meinung wurde gehört, ohne dass eine weitere Erwartung damit ver­
    bunden wurde. Wir interessierten uns für die Welt, stellten Zusammenhänge her, entwickelten Theorien, wurden
    Feministinnen. Es gab keinen Zwang zur Mitarbeit und doch gab es niemanden, der sich nicht zu Wort meldete.
    Manchmal erzählte die Lehrerin eine Geschichte aus ihrem Leben, gelegentlich brachte sie Fotos mit oder proji-
    zierte Statistiken an die Wand. Sie kritzelte auf die Folie des Overheadprojektors, erläuterte den Zusammenhang
    von Hunger und Kolonialismus und machte kein Hehl aus ihrer Abneigung ausländerfeindlichen Parteien gegen-
    über. Hat sie uns politisiert? Ja. War sie jemals neutral? Nein. Seit damals engagiere ich mich politisch, sie
    hat mich mit ihrer Politischen Bildung angesteckt.“

    Was darf Politische Bildung?             Podcast Richtig & Falsch:                Politik wagen,
    Phillip Mittnik, Georg Lauss,            Keine Angst vor                          ein Argumentationstraining.
    Stefan Schmid-Heher. Wien:               Spontaneität                             Wochenschau Verlag, 2016.
    Zentrum für Politische Bildung,          Wie gehen Lehrkräfte mit                 Christian Boeser-Schnebel,
    2018.                                    Kontroversen in der Klasse               Klaus-Peter Hufer u.a.:
    Eine Handreichung für Lehr-              um? Ist es falsch, neutral               Das Buch hilft, die eigene
    kräfte für den Unterricht in             sein zu wollen?                          politische Urteilsfähigkeit
    Politischer Bildung                      www.politik-lernen.at/pilot-             weiterzuentwickeln und die
    www.politik-lernen.at/was-               folge_richtigundfalsch                   individuelle politische Hand-
    darfpb                                                                            lungsfähigkeit auszubauen.

4                                                                                                 polis aktuell 2/2022
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
3 WAHLEN IN ÖSTERREICH
                           Um SchülerInnen zu motivieren,
                                                                                     WAHLGRUNDSÄTZE
                           sich für Wahlen zu interessie-
                                                                                     Wahlen sind ein wichtiges Instrument der Demokra-
                          ren, ist ein Überblick „wann und
                                                                                     tie, für das klare Grundsätze gelten, die eingehalten
                          was kann ich denn überhaupt
                                                                                     werden müssen. Diese sind im Bundes-Verfassungs-
                         wählen“ wichtig. So ist die Aus-
                                                                                     gesetz festgelegt.4
                         wirkung einer Stimmabgabe bei
                     einer Gemeinderatswahl näher an der                             Allgemeines Wahlrecht: Alle Personen mit österrei-
   Lebensrealität der jungen WählerInnen als bei der Wahl                            chischer Staatsbürgerschaft, die am Wahltag min-
   des Europäischen Parlaments.                                                      destens 16 Jahre alt sind, haben grundsätzlich das
                                                                                     Recht zu wählen (aktives Wahlrecht) und gewählt zu
   In Österreich gibt es Wahlen zu folgenden politischen                             werden (passives Wahlrecht5). Nicht österreichische
   Institutionen bzw. Ämtern:                                                        EU-BürgerInnen haben das Recht, an Gemeinderats-
   • Nationalrat (alle fünf Jahre)                                                   wahlen bzw. in Wien an Bezirksvertretungswahlen
   • Landtag (alle fünf Jahre, in OÖ alle sechs Jahre)                               sowie an Europawahlen teilzunehmen. Vom Wahl-
   • Gemeinderat (alle fünf Jahre bzw. sechs Jahre)                                  recht ausgeschlossen werden kann man aufgrund
   • BundespräsidentIn (alle sechs Jahre)                                            einer gerichtlichen Verurteilung.6
   • Europäisches Parlament (alle fünf Jahre)                                        In Österreich besteht keine Wahlpflicht.
                                                                                     Gleiches Wahlrecht: Jeder wahlberechtigten Staats-
   Darüber hinaus finden in Österreich Wahlen zu ver-                                bürgerin und jedem wahlberechtigten Staatsbürger
   schiedenen Interessenvertretungen statt. Jugendliche                              kommt eine Stimme zu und jede Stimme hat den
   können sich als KandidatInnen teilweise selbst daran                              gleichen Wert.
   beteiligen. Beispiele:
      Vertretungen im Rahmen der Schuldemokratie                                     Persönliches Wahlrecht: Das Wahlrecht muss
      (Klassen- und SchulsprecherInnen, Schulgemein-                                 persönlich ausgeübt werden, d.h. die Wählenden
      schaftsausschuss, Schulparlament etc.)                                         können sich nicht vertreten lassen. Eine Ausnahme
      Vertretetungen der Österreichischen HochschülerIn-                             bilden körper- oder sinnesbehinderte Menschen, die
      nenschaft (ÖH)                                                                 zum Ausfüllen des Stimmzettels auf fremde Hilfe
      VertreterInnen in Betrieben bzw. in den Kammern                                angewiesen sind. Sie können sich von einer Person
      (Arbeiter-, Wirtschafts-, Landwirtschaftskammer)                               ihres Vertrauens unterstützen lassen.
      Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbe-                                  Freies Wahlrecht: Es ist gewährleistet, dass jede
      fragungen sind Mittel der „direkten Demokratie“,                               Wahlentscheidung ohne Zwang oder Behinderung
      durch welche BürgerInnen ihre Anliegen äußern                                  getroffen werden kann.
      bzw. Entscheidungen treffen können.
                                                                                     Geheimes Wahlrecht: Durch Maßnahmen wie Wahl-
                                                                                     zelle, Wahlkuvert und Wahlurne wird sichergestellt,

      >TIPP LINKS                                                                    dass die Wahlentscheidung geheim gehalten wird.
                                                                                     Unmittelbares Wahlrecht: Die Abgeordneten
          Wann wird wo gewählt? SORA-Wahlkalender
                                                                                     werden direkt vom Volk gewählt (und nicht durch
          www.sora.at/suche-download/wahlkalender.html
                                                                                     Wahlmänner oder Wahlfrauen wie z.B. in den USA).
          Überblick über das Wahlrecht in Österreich                                 Durch die Abgabe einer Vorzugsstimme kann außer-
          auf der Seite des Innenministeriums                                        dem eine Kandidatin bzw. ein Kandidat hervorgeho-
          www.bmi.gv.at/412                                                          ben werden.

4 Siehe dazu Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), Artikel 26 und 27 www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzes num-
  mer=10000138 sowie oesterreich.gv.at > Wahlgrundsätze www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/1/ Seite.320220.html
5 Bzgl. Altersregelung siehe www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/1/Seite.320210.html
6 Gerichte entscheiden im Einzelfall, ob Personen, die rechtskräftig zu einer mehr als fünfjährigen Freiheitsstrafe bzw. bei bestimmten Delikten zu einer
  mehr als einjährigen Freiheitsstrafe (z.B. Landesverrat, Wahlbetrug, bestimmte Fälle von Amtsmissbrauch, NS-Wiederbetätigung, Terror, organisierte
  Kriminalität) rechtskräftig verurteilt wurden, von der Wahl ausgeschlossen werden.

   polis aktuell 2/2022                                                                                                                                     5
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
3.1 NATIONALRATSWAHL                                                        leicht zu nehmen. Außerdem muss jede wahlwerbende
   Die Gesetzgebungsperiode des Nationalrats beginnt mit                       Gruppe eine Liste von Personen hinterlegen, die bereit
   der konstituierenden Sitzung und endet, sofern es keine                     sind, ein erworbenes Mandat auszuüben.
   vorgezogene Neuwahl gibt, nach fünf Jahren.7

   WER HAT DAS RECHT ZU WÄHLEN?
   Wählen können alle österreichischen StaatsbürgerIn-
                                                                                   >TIPP METHODE
                                                                                   Wer soll das Volk vertreten?
   nen, die am Wahltag mindestens 16 Jahre alt geworden                            Die SchülerInnen überlegen in Kleingruppen, wel-
   sind. Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft,                         che Eigenschaften und Kompetenzen ihrer Meinung
   die am Wahltag mindestens 18 Jahre alt sind, verfügen,                          nach Personen haben sollten, die sich für ein po-
   sofern sie nicht wegen einer gerichtlichen Verurteilung                         litisches Amt bewerben. Gibt es Persönlichkeiten,
   vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, über das passive                             die besonders geeignet wären? Warum? Diskutieren
   Wahlrecht.8                                                                     Sie die Ergebnisse in der Klasse.
      AuslandsösterreicherInnen sowie Personen, die sich                           Ziel: Reflexion über Berufsethos und Kompetenzen
   zum Zeitpunkt der Wahl nicht an ihrem Wohnsitz auf-                             von VolksvertreterInnen.
   halten bzw. bettlägerig oder nicht geh- und transport-
   fähig sind, können vor dem Wahltermin schriftlich eine
   Wahlkarte beantragen.9 Darüber hinaus gibt es soge-                         WIE GRÜNDET MAN EINE POLITISCHE PARTEI?
   nannte „fliegende Wahlbehörden“, die beispielsweise in                      Die Gründung einer politischen Partei ist relativ einfach.
   Krankenhäuser oder Pflegeheime kommen.10                                    Es bedarf Satzungen, die veröffentlicht sowie beim Bun-
                                                                               desministerium für Inneres hinterlegt werden müssen.
                                                                               Damit erlangt eine politische Partei die Rechtspersön-
       >TIPP LINK                                                              lichkeit. Die Gründung politischer Parteien ist grund-
                                                                               sätzlich frei, sofern damit nicht gegen das Verbotsgesetz
          Demokratiewebstatt des
                                                                               verstoßen wird, das eine nationalsozialistische Wieder-
          Österreichischen Parlaments.
                                                                               betätigung verbietet.12 Ende Jänner 2022 umfasste das
          Informationen zum Thema Wählen und Wahl-
          recht in leicht verständlicher Sprache.                              Parteiverzeichnis 1241 Parteien.13

          www.demokratiewebstatt.at/thema/thema-
          wahlen
                                                                                   >TIPP LINKS
                                                                                       Politiklexikon für junge Leute
                                                                                       www.politik-lexikon.at/wahlrecht
   WELCHE GRUPPIERUNGEN KÖNNEN BEI DER
   NATIONALRATSWAHL ANTRETEN?                                                          Unterrichtsbeispiel Praxisbörse
   Um zur Wahl zugelassen zu werden, muss von der wahl-                                www.politik-lernen.at/werdarfwaehlen
   werbenden Gruppe eine Hürde genommen werden. Das soll                               meineabgeordneten.at
   verhindern, dass sich eine unübersichtlich große Anzahl                             Transparenzplattform, die öffent-
   an Gruppen einer Wahl stellt. So muss die wahlwerbende                              liche Daten zu den österreichi-
   Gruppe eine bestimmte Zahl an Unterstützungserklärun-                               schen Landtags-, Nationalrats- und Europa-
   gen11 vorlegen. Alternativ dazu kann die wahlwerbende                               abgeordneten, den Mitgliedern der Bundes-
   Gruppe auch die Unterstützung von mindestens drei Na-                               regierung und des Bundesrats etc. bereitstellt.
   tionalratsabgeordneten nachweisen. Für Parteien, die be-                            www.meineabgeordneten.at | @MeineAbg
   reits im Nationalrat vertreten sind, ist diese Hürde meist

7 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), Artikel 26 und 27 www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzes nummer=10000138
8 oesterreich.gv.at > Nationalratswahl: www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/5/Seite.320610.html
9 oesterreich.gv.at > Wahlkarte/Stimmkarte (gilt für alle Wahlen) www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/6/ Seite.320520.html
10 oesterreich.gv.at > Besuch durch die „fliegende Wahlkommission“ www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/6/ Seite.320530.html
11 Dies sind für einen Landeswahlvorschlag in Wien und Niederösterreich jeweils 500, in Oberösterreich und der Steiermark je 400, in Kärnten, Salzburg
   und Tirol je 200 und im Burgenland und in Vorarlberg je 100 Unterstützungserklärungen. Für eine bundesweite Kandidatur sind mindestens 2.600 Unter-
   stützungserklärungen nötig. Vgl. Bundesministerium für Inneres. Wie kann man bei einer Nationalratswahl kandidieren? www.bmi.gv.at/412/National-
   ratswahlen/Wie_kann_man_bei_einer_ Nationalratswahl_kandidieren.aspx
12 Österreichisches Parlament > Wie gründet man eine Partei?: www.parlament.gv.at/PERK/FAQ/PART/index.shtml
13 www.bmi.gv.at/405/start.aspx

   6                                                                                                                       polis aktuell 2/2022
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
Quelle: SORA und Haus der Geschichte Österreich, www.sora.at/wahlen/index.html

      >TIPP RECHERCHE                                                               >TIPP LINK
      Auf der Website von SORA gibt es ein interaktives                               Von der Stimme zum Mandat
      Tool über das Wahlverhalten der letzten 100                                     Wahlkreise und Mandatsberechnung bei National-
      Jahre in Österreich, anhand dessen die                                          ratswahlen (Addendum)
      WählerInnenströme der einzelnen Nationalrats-                                   https://vis.strategieanalysen.at/mandate
      wahlen abgerufen werden können.
      www.sora.at/wahlen/index.html
      Die SchülerInnen recherchieren in Gruppen, wie
      sich das Wahlverhalten in den letzten 10, 20, 30                              >TIPP RECHERCHE
      etc. Jahren verändert hat. Wann waren Parteien                                Politische Partizipation von Frauen
      besonders stark oder verloren dann wieder Stim-                               Die SchülerInnen recherchieren die Entwicklung
      men? Wann konnten sich neue Parteien profilieren                              des Frauenwahlrechts in Österreich und die
      und welche Gründe könnten dafür vorliegen?                                    Repräsentanz von Frauen im Nationalrat im Lauf
                                                                                    der Jahrzehnte. Wie sieht es in anderen Ländern
                                                                                    aus? Welche Vor- und Nachteile hat die Einführung
   MANDATSVERTEILUNG                                                                einer Quotenregelung?
   Die Nationalratswahl erfolgt nach den Grundsätzen der                            Vertiefung: Welche anderen Gruppen sollten sicht-
   Verhältniswahl. Das heißt, die Mandate werden ent-                               bar im Parlament vertreten sein?
   sprechend dem prozentuellen Stimmenanteil an die
   wahlwerbenden Gruppen vergeben. Wie viele Stimmen                                  polis aktuell 2/2021: Frauenrechte
   jeweils für das Erreichen eines Mandats nötig sind, wird                           www.politik-lernen.at/pa_frauenrechte
   durch die „Wahlzahl“ ermittelt. Um in den Nationalrat                              Erster Wiener Protestwanderweg
   einzuziehen, müssen die Parteien bundesweit mehr als                               Station Parlament/Kapitel 4 Frauenwahlrecht
   vier Prozent der Stimmen oder ein sogenanntes Grund-                               www.protestwanderweg.at/parlm/parlament_07.
   mandat in einem der Wahlkreise erreichen.14 Die Vergabe                            php
   der Mandate an einzelne Personen richtet sich nach der
                                                                                      Mediathek des Österreichischen Parlaments
   Reihenfolge der KandidatInnen auf den Wahllisten. Je
                                                                                      Podcast und Erklärvideos, z.B. Folge 8 des Pod-
   weiter vorne jemand auf der Liste steht, desto größer                              casts zum Frauenwahlrecht
   ist die Chance, ein Mandat zu erreichen. Mittels der Ver-                          www.parlament.gv.at/MEDIA/POD/FOLGE8/in-
   gabe von Vorzugsstimmen können die Wählenden diese                                 dex.shtml
   Reihung beeinflussen.15

14 Österreichisches Parlament > Wahlen: www.parlament.gv.at/PERK/ FAQ/WAHL sowie www.parlament.gv.at/PERK/FAQ/WAHL/ERMNRWAHL
15 Vgl. www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/1/Seite.320260.html

   polis aktuell 2/2022                                                                                                                 7
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
3.2 BUNDESPRÄSIDENTSCHAFTSWAHL
Der/die BundespräsidentIn ist das Oberhaupt der Repu-
blik Österreich und wird alle sechs Jahre für maximal
                                                            >TIPP DISKUSSION                       BRIEFWAHL

                                                            Die vergangenen Wahlen haben
zwei Funktionsperioden von den BürgerInnen direkt ge-       aufgrund der Covid-19-Pandemie
wählt. WählerInnen müssen am Wahltag das 16. Lebens-        in vielen Staaten einen hohen
jahr vollendet haben, österreichische StaatsbürgerInnen     Anstieg von BriefwählerInnen mit
sein und das Wahlrecht zum Nationalrat besitzen.            sich gebracht. Inwieweit steht die
    Zur Kandidatur berechtigt sind alle österreichischen    Briefwahl in einem Spannungsverhältnis zu den
StaatsbürgerInnen, die am Wahltag mindestens 35 Jahre       Grundsätzen der freien und geheimen Wahl?
alt sind, sofern kein Ausschließungsgrund vorliegt. Für
die Kandidatur muss ein Wahlvorschlag eingebracht wer-        Die ungelösten Probleme der Briefwahl
den. Dieser ist nur rechtsgültig, wenn mindestens 6.000       (Standard, 5. März 2021)
Unterstützungserklärungen vorliegen.                          www.derstandard.at/story/2000124675514/die-
                                                              ungeloesten-probleme-der-briefwahl
Zu den Aufgaben des Bundespräsidenten zählen unter
anderem die Vertretung der Republik nach außen, der
Oberbefehl über das Bundesheer sowie die Beurkundung
der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen. Bisher
gab es in Österreich noch keine Bundespräsidentin.
                                                            >TIPP LINKS
Um zur Bundespräsidentin oder zum Bundespräsiden-             Informationen zur Bundespräsidentschaftswahl:
ten gewählt zu werden, ist das Erreichen von mehr als         www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oester-
der Hälfte aller gültigen Stimmen erforderlich. Erlangt       reich/wahlen/5/Seite.320611.html
keineR der BewerberInnen eine solche Mehrheit, so fin-        Infos zur Bundespräsidentschaftswahl 2016:
det vier Wochen nach dem ersten Wahlgang ein zweiter          www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen
Wahlgang statt, bei dem die beiden stimmenstärksten
                                                              Österreichisches Wort des Jahres 2016: „Bundes-
KandidatInnen in einer Stichwahl gegeneinander antre-
                                                              präsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung“
ten.
                                                              www.politik-lexikon.at/oesterreich1918plus/2016
BUNDESPRÄSIDENTSCHAFTSWAHL 2016                               Manfried Welan: Die Wahl zum Bundespräsiden-
                           Die letzte Bundespräsiden-         ten/Bundespräsidentin, aus: IzPB 41, 2017, S. 14
                           schaftswahl    ging    knapp       bis 22)
                           aus. Alexander Van der             https://bit.ly/36q78l0
                           Bellen    (Grüne),     erhielt
                           50,35 %, Norbert Hofer (FPÖ)
                           49,64 % der gültigen Stim-
                           men, die Wahlbeteiligung be­-
                           trug 72,7 %.                     >TIPP METHODE
                           Der    Verfassungsgerichtshof    Wen will ich wählen?
                           entschied bei der Stichwahl,     Die Klasse arbeitet in Kleingruppen: Am Beispiel
Wikimedia Commons
                           dass diese aufgrund von          einer bevorstehenden Wahl (z.B. Bundespräsident-
                           Formfehlern und einer nicht      schaftswahl 2022) werden dringende Anliegen an
korrekten Abwicklung des Wahlvorgangs wiederholt            das künftige Staatsoberhaupt formuliert. Anschlie-
werden musste. Auch die Wiederholung der Stichwahl          ßend werden die Arbeitsergebnisse verglichen, ein
lief nicht reibungslos ab, so musste der festgelegte Ter-   Ranking wird erstellt. Dann wird geklärt: Ist der/
min am 2. Oktober aufgrund von fehlerhaften Wahlkar-        die BundespräsidentIn für die Wünsche der Schüle-
ten auf den 4. Dezember 2016 verschoben werden.             rInnen überhaupt zuständig?

   Die nächste Funktionsperiode nach der Wahl im
Herbst 2022 beginnt mit der Angelobung vor der Bun-
desversammlung am 26. Jänner 2023.

8                                                                                          polis aktuell 2/2022
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
3.3 LANDTAGS­ UND GEMEINDERATSWAHLEN
   Die Landtage sind die Parlamente der einzelnen Bundes-         GEMEINDERATSWAHL WAIDHOFEN AN DER YBBS
   länder. Sie beschließen Gesetze und kontrollieren die          Am 30. Jänner 2022 wurde in Waidhofen an der
   Landesregierungen. Die Landtagsabgeordneten werden             Ybbs der neue Gemeinderat gewählt. Die Partei
   in den Bundesländern nach dem Prinzip des gleichen,            Menschen – Freiheit – Grundrechte (MFG), die
   unmittelbaren, geheimen und persönlichen Verhältnis-           Coronaschutzmaßnahmen und die Impfpflicht
   wahlrechts gewählt.                                            ablehnt und 2021 gegründet wurde, trat zum
       Die Gesetzgebungsperiode in den Landtagen ist nicht        ersten Mal an, erlangte auf Anhieb 17 % und
   in allen Ländern gleich, sie beträgt fünf oder sechs Jah-      wurde somit drittstärkste Partei nach der WVP
   re. Aktiv wahlberechtigt sind Personen, die am Wahltag         (= Waidhofner Volkspartei) und SPÖ. Besonders
   mindestens 16 Jahre alt und österreichische Staatsbür-         die ÖVP musste große Verluste hinnehmen
   gerInnen sind sowie grundsätzlich ihren Hauptwohnsitz          (von 60 % auf 41 %).16
   im jeweiligen Bundesland haben.                                     Das Ergebnis in Waidhofen überraschte auch
       Bei der Gemeinderatswahl sind alle österreichischen             die Wahlsiegerin MFG (Standard, 31. Jänner
   StaatsbürgerInnen sowie nicht österreichische EU-Bür-               2022)
   gerInnen, die in der jeweiligen Gemeinde ihren Haupt-               www.derstandard.at/story/2000132988465/
   wohnsitz haben und am Wahltag mindestens 16 Jahre                   das-ergebnis-in-waidhofen-ueberraschte-
   alt sind, wahlberechtigt. Bei BürgermeisterInnenwahlen              auch-die-wahlsiegerin-mfg
   gilt das Mehrheitswahlrecht. Falls eine Person im ersten
   Wahlgang nicht die absolute Mehrheit erreicht, findet               Waidhofner Gemeinderatswahl sorgt für Über-
   eine Stichwahl statt.                                               raschungen (Tips Ybbstal, 31. Jänner 2022)
                                                                       www.tips.at/nachrichten/ybbstal/wirtschaft-
                                                                       politik/556884-waidhofner-gemeinderats-

      >TIPP LINK                                                       wahl-sorgt-fuer-ueberraschungen

         Informationen zu Wahlen auf Landes- und                  Diskutieren Sie mit den SchülerInnen am Beispiel
         Gemeindeebene:                                           der Waidhofner Gemeinderatswahl 2022 die Moti-
         www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oester-            ve, warum Wählerinnen und Wähler ihre Stimme
         reich/wahlen/5/Seite.320620.html                         einer neuen Partei geben.
         www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oester-
         reich/wahlen/5/Seite.320621.html
                                                               polis aktuell 1/2021:
                                                               DIE GEMEINDE ALS POLITISCHE AKTEURIN
                                                               Die Gemeinde ist jene politische Akteurin, die am
                                                               nächsten an der Lebenswelt der SchülerInnen andockt.
                                                               Das Heft enthält einen einführenden Teil zu Aufga-
      Die Online-Politikorientierungshilfe ermöglicht es,
                                                               ben, Organen und Finanzierung von Gemeinden sowie
      die eigenen Positionen mit den Standpunkten der
                                                               Blitzlichter mit Daten
      politischen Parteien abzugleichen. Für den Einsatz
                                                               und Fakten zu österrei-
      im Unterricht werden begleitend Materialien für
                                                               chischen Gemeinden. Ein
      die Vor- und Nachbereitung zur Verfügung gestellt.
                                                               zweiter Teil widmet sich
      www.wahlkabine.at
                                                               den partizipativen Ansät-
      www.wahlkabine.at/material
                                                               zen einer lebensweltlich
                                                               orientierten Politischen
                                                               Bildung am Beispiel kom-

      >TIPP LINK                                               munaler     Beteiligungs-
                                                               möglichkeiten.
         Politiklexikon für junge Leute                        www.politik-lernen.at/
         www.politik-lexikon.at/gemeinderat                    pa_gemeinde

16 https://waidhofen.at/gemeinderatswahl-2022

   polis aktuell 2/2022                                                                                              9
WAHLEN|WÄHLEN polis aktuell 2/2022 - Zentrum polis
3.4 EUROPAWAHL                                                           nen. Speziell junge Menschen konnten motiviert wer-
                                                                            den, wählen zu gehen. Laut Eurobaromterumfrage
                                                                            haben unter anderem ein stärkeres Bewusstsein für die
                                                                            Pflichten als Bürgerinnen und Bürger sowie ein positi-
                                                                            veres Bild über die EU zu einer höheren Wahlbeteiligung
                                                                            beigetragen.17

                                                                                >TIPP RECHERCHE
                                                                                Die SchülerInnen recherchieren, welche Gründe
                                                                                genannt wurden, warum die Wahlbeteiligung bei
                                                                                der letzten Europawahl gestiegen ist und welche
                                                                                WählerInnengruppen besonders motiviert werden
   Parlamentsgebäude in Straßburg © Europäisches Parlament                      konnten. Gibt es Unterschiede in den einzelnen
                                                                                EU-Mitgliedstaaten? Woran kann das liegen? Wel-
   Das Europäische Parlament vertritt alle Bürgerinnen und                      che Themen wurden im Wahlkampf angesprochen
   Bürger der EU-Mitgliedstaaten, somit auch Österreichs.                       und welche Fraktionen konnten überzeugen?
   Gemeinsam mit dem Rat der EU ist es u.a. für die Ge-                         www.bpb.de/themen/europawahlen/et-wahlmoni-
   setzgebung verantwortlich und spielt eine aktive Rolle                       tor-2019/292009/europawahl-wer-gewinnt-wer-
   bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften. Zahlreiche                      verliert
   Kontrollinstrumente ermöglichen es dem Europäischen
   Parlament, andere EU-Institutionen zu überwachen und
   zu prüfen.
      Alle fünf Jahre findet die Wahl zum Europäischen Par-
   lament statt. Wahlberechtigt sind alle Personen, die am                      >TIPP LINK
   Wahltag mindestens 16 Jahre alt sind, die österreichi-                          Lernecke EU
   sche Staatsbürgerschaft besitzen sowie nicht österreichi-                       Zahlreiche Unterrichtsmaterialien zu diversen
   sche EU-BürgerInnen mit Wohnsitz in Österreich.                                 EU-Themen.
      Die Europawahl ist eine Direktwahl, bei der die                              https://learning-corner.learning.europa.eu/
   Stimme für eine kandidierende Partei abgegeben wird.                            learning-corner_de
   Sie erfolgt nach dem Verhältniswahlrecht. Derzeit ist
   Österreich durch 19 Abgeordnete (von insgesamt 705)
   im Europäischen Parlament vertreten.

        >TIPP LINK                                                               Themenvorschläge für vorwissenschaftliche
                                                                                 Arbeiten und Diplomarbeiten
          Infos zu Europawahlen
          www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oester-                          Verhältnis- versus Mehrheitswahlrecht: Darstellung
          reich/wahlen/5/1.html                                                  am Beispiel der österreichischen Nationalratswahl
          www.europarl.europa.eu/at-your-service/de/be-                          sowie der Präsidentschaftswahl in den USA (Vor-
          heard/elections                                                        teile und Nachteile)
                                                                                 Einfluss von Wahlbeobachtungen auf die Wahler-
                                                                                 gebnisse anhand ausgewählter Länder, ein Ver-
   EUROPAWAHL 2019                                                               gleich
   Bei der letzten Europawahl 2019
                                                                                 Beeinflusst der Wahlrechtsausschluss aufgrund
   betrug die Wahlbeteiligung
                                                                                 fehlender Staatsbürgerschaft das politische und
   50,6 % und war somit gesamt ge-
                                                                                 gesellschaftliche Engagement junger Menschen?
   sehen um acht Prozentpunkte
                                                                                 Wahlkampf in den sozialen Medien: Analyse von
   höher als 2014. In Österreich lag sie sogar bei 59,8 %
                                                                                 Strategien, AkteurInnen und Zielgruppen
   und konnte somit eine Steigerung um 14 % verzeich-

17 www.europarl.europa.eu/at-your-service/de/be-heard/eurobarometer/2019-european-elections-entered-a-new-dimension

   10                                                                                                                 polis aktuell 2/2022
WA H L A LT E R

               SPEZIAL:
       15 JAHRE „WÄHLEN AB 16“
Der Nationalrat stimmte 2007 der Senkung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre für bundesweite Wahlen
   zu. In Österreich durften damit als erstem europäischen Land Jugendliche ab 16 Jahren auf allen Ebenen
 (Gemeinde-, Landtags-, Nationalrats-, Bundespräsidentschafts- und Europawahlen) das aktive Wahlrecht aus-
  üben. Das passive Wahlalter wurde gleichzeitig von 19 auf 18 Jahre gesenkt. 2008 konnten österreichische
                  16- und 17-Jährige erstmals ihre Stimme bei einer Nationalratswahl abgeben.
         Österreich kam mit der Wahlaltersenkung u.a. der Forderung österreichischer und europäischer
      JugendvertreterInnen nach, Jugendliche formell stärker in politische Entscheidungen einzubinden.
 Auch in vielen anderen europäischen Staaten wird die Senkung des Wahlalters für junge Menschen diskutiert.
  Malta hat 2018 als zweites europäisches Land das Wahlalter auf allen Ebenen von 18 auf 16 Jahre gesenkt.

          Wir haben aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums der Wahlaltersenkung vier Organisationen
                                um eine Einordnung aus ihrer Sicht gebeten.

 Die Organisationen                          Die Fragen
    akzente Salzburg – Initiativen              Argumente für eine Wahlaltersenkung?
    für junge Leute                             Verstärkt die Wahlaltersenkung das politische Interesse
    beteiligung.st                              der Jugendlichen?
    Bundesjugendvertretung                      Wurde die Wahlaltersenkung gut begleitet?
    jugendornbirn                               Wäre eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre denkbar?

 Impulsfragen für die Beschäftigung mit den Texten sowie mit dem Thema „Wählen“ im Unterricht
   Welche Bedeutung hat „Wählen gehen“ für euch?
   Fühlt ihr euch gut vorbereitet, um informierte Wahlentscheidungen zu treffen?
   Welche Kompetenzen sind für informierte Wahlentscheidungen erforderlich?
   Welche Politikbereiche sind für euch besonders wichtig und wo wollt ihr mehr eingebunden sein?
   Welche Positionen nehmen die vier befragten Organisationen ein? Gibt es Unterschiede in der Einschätzung?
   Wie ist eure Einschätzung zum Thema „Wählen ab 14“?

 polis aktuell 2/2022                                                                                     11
AKZENTE SALZBURG –
INITIATIVEN FÜR JUNGE LEUTE!
www.akzente.net

Was waren/sind die stärksten Argumente für             konkreter Handlungsmöglichkeit verknüpft werden
eine Wahlaltersenkung?                                 und somit ein nachhaltiges Lernergebnis erzielt
Durch das Wahlrecht erhalten Jugendliche ein           werden.
echtes Mitbestimmungsrecht und können so ihre
Zukunft selbst mitgestalten. Viele politische          Wir gehen davon aus, dass die Wahlberechtigung
Entscheidungen sind weitreichend und zum Teil          bei Jugendlichen zu einer höheren Identifikation
irreversibel. Ohne die Absenkung des Wahlalters        mit der Demokratie und zur stärkeren Teilnahme
müssen Jugendliche in ihrem Erwachsenenleben           am politischen Leben führt. Denn wer in den po-
die Konsequenzen von Entscheidungen tragen, an         litischen Entscheidungsprozess einbezogen wird,
denen sie nicht teilhaben konnten.                     der weiß, dass er etwas bewegen kann. Somit ist
                                                       die Absenkung des Wahlalters ein Weg, der Politik-
Unsere Gesellschaft wird im Durchschnitt immer         verdrossenheit entgegenzutreten.
älter; somit verlagern sich Entscheidungen über
die Zukunft unserer Gesellschaft verstärkt auf         Wählen, und damit verbunden eine Einbindung
ältere Menschen. Insofern kann Wählen ab 16            in die Politik, fällt durch das Wahlalter 16 mitten
als eine Gegenmaßnahme zu dieser Entwicklung           in die Übergangsphase vom Jugendlichen zum
gewertet werden.                                       Erwachsenwerden. Junge Menschen werden früher
                                                       in die Gesellschaft eingebunden, anstatt immer
Ein weiteres Argument für ein niedrigeres Wahl-        nur mitgedacht zu werden. Ihnen wird die große
alter ist, dass auch Jugendliche, z.B. als Auszu-      Verantwortung zuteil, selbst mitzubestimmen. Sie
bildende, Steuern zahlen müssen und deshalb            allein sind es, die in der Wahlkabine eine geheime
auch mitentscheiden sollten, was mit dem Geld          und ganz persönliche Entscheidung treffen. Im
passiert.                                              Gegensatz zu anderen Dingen, wie etwa großen
                                                       Investitionen, brauchen sie dazu keine Zustim-
Das Recht der Jugendlichen, sich an Wahlen zu          mung der Erziehungsberechtigten. Wählen ab 16
beteiligen, sollte sich positiv auf die Politik aus-   beinhaltet somit auch eine fürs Erwachsenwerden
wirken. PolitikerInnen sollten die Jugendlichen als    unabdingbare, emanzipatorische Komponente, mit
potenzielle WählerInnen verstärkt ernst nehmen         der Jugendliche zu selbstbestimmten und mitbe-
und deshalb die Interessen der Jugendlichen            stimmenden BürgerInnen werden.
besser vertreten.
                                                       Neben der zugedachten Verantwortung, die
Wählen ab 16 ist zudem eine gute Chance für die        Jugendliche beim Erwachsenwerden übernehmen
Politische Bildung innerhalb und außerhalb der         wollen, bedeutet das Recht zu Wählen zudem eine
Schule. Jugendliche können in einem neutralen          große Wertschätzung der Jugend gegenüber. Sie
Raum über Politik und Wahlen reden und sich            wird bei der Wahl als gleichsam wichtiger und
informieren. Außerdem können Lerninhalte mit           gleichberechtigter Teil der Gesellschaft anerkannt.

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Die meisten Jugendlichen mit 16 Jahren verfügen      lichkeit, an der Wahl teilnehmen zu können, in
bereits über ein wenig Arbeitserfahrung, aber be-    der individuellen Auseinandersetzung mit Politik
finden sich dennoch in Ausbildung. Mit Ablauf der    sowie mit politischen Inhalten und Konzepten.
Schulpflicht haben sie zudem eine wegweisende
Entscheidung zur Berufswahl getroffen. Sie haben     Inwieweit es gelungen ist, dass die politische
dadurch einen Blick für ihre (auch persönliche)      Ebene die jungen Menschen als potenzielle Wähler
Zukunft. Zugleich sind sie ExpertInnen, die aus      und Wählerinnen erkannt hat und verstärkt auf
erster Hand über politisch höchst relevante und      diese zugeht, ist schwierig zu beurteilen.
beeinflusste Bereiche wie Bildung oder Infra-        Gerade aber bei den für jungen Menschen wichti-
struktur berichten können. Das niedrige Wahlalter    gen Themen wie etwa Klima- und Umweltschutz,
ermöglicht außerdem ein nahtloses Anknüpfen an       Politische Bildung oder Öffentlicher Verkehr gibt
die in Schulen vorhandenen demokratischen Struk-     es sicherlich noch einigen Aufholbedarf.
turen mit KlassensprecherInnen, SchülerInnenver-
tretung. Hinzu kommt, dass sie mit dem Ende der      Unbestritten ist, dass durch das Wahlrecht ab 16
Schulpflicht eine wichtige Entscheidung über ihre    mehr Jugendliche politisches Interesse zeigen.
ganz persönliche Zukunft individuell treffen muss-   Selbst wenn man von einem im Durchschnitt ge-
ten. Umfassende rechtliche Befugnisse bewirken,      ringeren Politikinteresse bei den 16- bis 18-Jäh-
dass sich die meisten auch im privaten Bereich       rigen als dem Rest der Gesellschaft ausgeht,
bereits in Eigenständigkeit erprobt haben.           bedeutet eine Miteinbeziehung mehr Wahlbe-
                                                     rechtigte, mehr politikengagierte Menschen und
Von der Wahlrechtsreform hat man sich                dadurch eine breiter gestützte Repräsentation der
erwartet, dass Jugendliche durch die frühere         Gesellschaft im demokratischen Sinne. Untersu-
Einbindung in den politischen Prozess mehr           chungen zeigen ein positives Bild: Das Interesse
politisches Interesse zeigen: Ist diese              bei 18- bis 21-Jährigen ist im europäischen Ver-
Erwartung eingetroffen?                              gleich ähnlich hoch wie bei den 16- bis 18-Jähri-
Österreich war das erste Land in der Europäischen    gen ÖsterreicherInnen. Das bedeutet, dass jungen
Union, in dem man auf allen politischen Ebenen       Menschen in Österreich ein Hindernis auf dem Weg
ab 16 Jahren wählen darf. 15 Jahre nach der          zur politischen Mündigkeit genommen wurde und
Herabsetzung des Wahlalters konnte man erste         sie diese Chance auch nutzen.
Erkenntnisse gewinnen: Es ist zwar das Ziel einer
kontinuierlich hohen Wahlbeteiligung junger          Haben Schule und Gesellschaft ausreichend
Menschen in Österreich noch nicht erreicht, den-     auf die Wahlaltersenkung reagiert? Was
noch zeichnet sich im Hinblick auf das politische    würden Sie sich wünschen, damit Jugendliche
Interesse und die Wahlbeteiligung ein positiver      ihre demokratischen Kompetenzen gut
Trend ab. Laut aktuellen Studien liegt die Wahl-     entwickeln?
beteiligung von jungen WählerInnen bei ihrer         Unabhängig von der Absenkung des Wahlalters
ersten Wahl über jener der anderen Altersgrup-       sehen sich junge Menschen mit gesellschaftspoli-
pen; leider sinkt diese später wieder (leicht) ab.   tischen Herausforderungen (z.B. Fake News) und
Um diesen anfänglichen Trend weiter zu fördern,      den demokratiepolitischen Implikationen konfron-
wäre es notwendig, eine nachhaltige Strategie zur    tiert. Politisches Interesse und Engagement sind
dauerhaften Einbindung von Jugendlichen in den       die Grundlage einer Demokratie. Sie entwickeln
politischen Prozess zu entwickeln.                   sich auf Basis und als Teil demokratischer Kompe-
                                                     tenzen. Doch von welchen Kompetenzen sprechen
Natürlich bekommt Politische Bildung vor dem         wir? Dazu zählen besonders Einstellungen und
Hintergrund der Wahlaltersenkung eine sehr große     Werte, praktische Handlungsfertigkeiten und
Bedeutung. Es ist aber sehr wichtig, Politik         Wissen und kritisches Denken aber natürlich
nicht nur „zu lernen“, sondern auch „zu er-          auch Konfliktfähigkeit und die Fähigkeit zur
leben“. Für Jugendliche ist es von Bedeutung,        Perspektivenübernahme.
einen Ankerpunkt zu haben: in Form der Mög-

polis aktuell 2/2022                                                                                13
Besonders wünschenswert wäre, wenn Bildungs-
einrichtungen wie Schulen noch intensiver mit
außerschulischen PartnerInnen projektbezogen
zusammenarbeiten und zeitgemäße Formen der
Demokratiebildung erproben. Es geht darum,
Demokratie als gesellschaftlichen Aushandlungs-
und Gestaltungsprozess erfahrbar zu machen und
Jugendlichen möglichst facettenreich und über-
greifend zu ermöglichen, Demokratie zu erleben,
zu erlernen und selbst zu gestalten.
                                                      angepasst werden, könnten die Tendenzen zur
Eine umfassende Vorbereitung auf den Moment           Ungleichheit verstärkt werden: Politische Infor-
der ersten Wahl ist sehr wichtig. Sie soll Interes-   miertheit und das Interesse für politische Vor-
se schaffen und den Wert einer demokratischen         gänge hängen auch vom Bildungsstand der Eltern
Gesellschaft in den Vordergrund stellen. Hilfreich    und dem sozialen Umfeld ab: Wird zu Hause oder
ist die bestehende Darstellung von Politik als Teil   mit FreundInnen überhaupt über Politik geredet?
des täglichen Lebens. Diese wird jedoch unglaub-      Wenn ja, wie? Schon heute ist die Wahlbeteiligung
würdig, wenn die Vorbereitung durch Veranstal-        bei Erst- und JungwählerInnen besonders gering,
tungen, Workshops oder im Unterricht immer nur        wenn sie aus sozial benachteiligten Familien kom-
gebündelt vor großen Wahlen stattfindet. Eine         men. Dies könnte vielleicht gerade in der beson-
Ausweitung der Vorbereitung, was es bedeutet, in      ders wichtigen Gruppe der sozial nicht so privile-
einer Demokratie zu leben, beispielsweise durch       gierten jungen Menschen nicht den gewünschten
die Schaffung eines eigenen Unterrichtsfachs          Effekt nach mehr Beteiligung bewirken.
„Politische Bildung“ oder durch mehr Möglichkei-
ten zu Info- und Partizipationsveranstaltungen        Auch wenn 14-Jährige nicht in absehbarer Zeit
wäre wünschenswert für nachhaltiges politisches       in den Genuss einer Wahlaltersenkung kommen,
Engagement. Es wäre dem nachhaltigen Politi-          bedeutet es jedoch nicht, dass 14-Jährige nicht
kengagement dienlich, wenn diese Fortbildungen        in die Politik eingebunden werden sollen. Ihr oft
auch in Jahren ohne Wahlen in großer Anzahl           unvoreingenommener Blick bringt eine wertvolle,
stattfinden können, da Politikinteresse und           alternative Perspektive ein und soll daher mit
Politikbewusstsein auch abseits des politischen       gewisser Unterstützung in Ideenfindungsprozessen
Großevents Neuwahl gefördert werden.                  berücksichtigt werden, ab 16 Jahren dann auch
                                                      in Entscheidungsfindungsprozessen. Nicht zuletzt
Wäre eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre               dient eine aktive Einbindung der Jugend, unge-
denkbar? Welche Rahmenbedingungen würde               achtet des Alters, dazu, sie an die Politik heranzu-
es dafür brauchen?                                    führen und für die Demokratie zu begeistern.
Mit Vollendung des 14. Lebensjahres ist die
Schwelle des Kindseins überschritten: Junge Men-
schen sind deliktsfähig und strafmündig, können
nun ihre Religionszugehörigkeit selbst wählen,
haben ein Mitspracherecht beim Sorgerecht, kön-
nen eine Lehre beginnen oder können Mitglied der
meisten Parteien werden. Man sieht, dass junge
Menschen bereits vor Erreichen der Volljährigkeit
viel Eigenverantwortung tragen. Dennoch könn-
te das 14. Lebensjahr insofern zu früh sein, als
die Lücke zwischen aktivem und passivem Wahl-
recht relativ groß zu werden scheint. Wenn nicht
die Rahmenbedingungen (Politische Bildung)

 14                                                                                  polis aktuell 2/2022
BETEILIGUNG.ST
www.beteiligung.st

Was waren/sind die stärksten Argumente für            In der Öffentlichkeit werden oft parteipolitische
eine Wahlaltersenkung?                                Geschehnisse und Skandale wahrgenommen.
Kinder und Jugendliche sowie ihre Bedürfnis-          So sprechen wir mittlerweile eher von einer
se ernst zu nehmen, gehen Hand in Hand mit            PolitikerInnenverdrossenheit. Das wirkt sich nicht
Überlegungen zum Wahlalter. Beteiligungsmög-          besonders förderlich aus. Wie gut sich Jugendliche
lichkeiten gab es seit vielen Jahren auf lokaler      vertreten fühlen oder ihre Themen Eingang in die
und internationaler Ebene. Partizipation ist in       Bundespolitik finden, sei ebenso dahingestellt. Die
der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben.        Frage: „Wofür soll ich wählen gehen, wer ver­tritt
Jugendliche wollen mitentscheiden. Österreich hat     mich und meine Anliegen?“ scheint wohl auch
2007 richtig entschieden und definitiv eine Vorrei-   eine berechtigte Frage der Jugendlichen zu sein.
terrolle (nach wie vor) eingenommen, um dieser
Forderung nachzukommen.                               Haben Schule und Gesellschaft ausreichend
                                                      auf die Wahlaltersenkung reagiert? Was wür­
Damit verbunden wäre es ebenso wichtig, den As-       den Sie sich wünschen, damit Jugendliche ihre
pekt ernst zu nehmen, dass sich junge Menschen        demokratischen Kompetenzen gut entwickeln?
unzureichend auf die Wahl vorbereitet fühlen. Da-     In der Steiermark gab es 2007 eine Demokratie-
her ist die Frage bedeutend, wie Ermutigung und       Offensive: Auf Landesebene wurde die Wahlalter­
Vorbereitung, Information und die Befähigung,         senkung zum Anlass genommen, verstärkt
das Wahlrecht wahrnehmen zu können, konzeptio-        Angebote im Bereich der Politischen Bildung
nell und strukturell gesichert sein können.           außerschulisch anzubieten. Bis heute gibt es
                                                      Strukturen und Angebote, die sich ergänzend zum
Von der Wahlrechtsreform hat man sich                 Schulunterricht verstehen.
erwartet, dass Jugendliche durch die frühere
Einbindung in den politischen Prozess mehr            Im Unterricht, so eine Forderung der SchülerInnen
politisches Interesse zeigen: Ist diese Erwar­        selbst (u.a. in diversen Jugendlandtagen) und
tung eingetroffen?                                    auch der Politischen BildnerInnen, wie der Inter-
Die Forderung nach mehr Mitsprache und in poli-       essengemeinschaft Politische Bildung, müsste es
tische Prozesse eingebunden zu sein, ist für viele    ein eigenes Fach Politische Bildung geben.
junge Menschen weiterhin aktuell und mit der
Wahlrechtsreform nicht ausreichend abgedeckt.         Kritisches Denken, Reflexionsvermögen aufzubau-
Wählen zu gehen, kann nur eine Form der Einbin-       en und das Erkennen von seriösen Informationen
dung und Mitbestimmung darstellen. Die Wahlal-        wären wünschenswert. Es gibt Jugendliche, die
tersenkung ist und war ein wichtiges Signal, dass     besonders interessiert sind und Ressourcen haben,
junge Menschen Teil der Gesellschaft und somit        sich mit politischen Themen mehrdimensional aus-
wahlberechtigt sind. Es gibt aber auch viele junge    einanderzusetzen; die mit ihren Anliegen in der
Menschen, die nicht wahlberechtigt sind, obwohl       Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sich arti-
ihr Lebensmittelpunkt in Österreich liegt. Wählen     kulieren können und Handlungsspielräume haben.
gehen zu dürfen, ist ein wichtiger Teil der gesell-   Andere Jugendliche haben diese Zugänge nicht.
schaftlichen und politischen Partizipation.           Umso wichtiger wäre es, Jugendliche zu fördern,

polis aktuell 2/2022                                                                                  15
jeden jungen Menschen im Sinne einer „Demo-              Sich darüber bewusst zu sein, ist keine Rahmenbe-
kratiefitness“ zu begleiten und übers Wählen             dingung, doch kann das Thema in pädagogischen
hinaus Partizipationsmöglichkeiten anzubieten.           Ausbildungen (elementare Bildungseinrichtungen,
                                                         Primarstufe, Sek. I und II) einen Platz bekommen,
Wäre eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre                  damit Politische Bildung und Demokratiebildung
denkbar? Welche Rahmenbedingungen würde                  vorstellbar und didaktisch umsetzbar werden. Eine
es brauchen?                                             altersgerechte Aufbereitung von Inhalten, ein re-
Grundsätzlich ist es denkbar, dass auch jünge-           spektvoller Umgang miteinander, Reflexionsräume
re Jugendliche (und warum nicht auch Kinder)             und Diskussionsräume zu eröffnen, wären beson-
ein verbrieftes Mitbestimmungsrecht haben.               ders wichtig. Durch Einbindung und Gestaltungs-
Dafür braucht es allerdings fundierte Konzepte,          möglichkeiten erleben junge Leute Wertschätzung
Strukturen und Ressourcen. Angebote, die junge           und Selbstwirksamkeit, demokratische Prozesse
Menschen auf diesem Weg begleiten, in denen              sind erlern- und vielmehr erfahrbar. Und das ganz
Grundsätze der Politischen Bildung die Basis             unabhängig von einer Wahlaltersenkung.
bilden (Kontroversitätsgebot, Überwältigungsver-
bot …).

BUNDESJUGENDVERTRETUNG
www.bjv.at

Was waren/sind die stärksten Argumente für                Erste Untersuchungen haben diesen erhofften
eine Wahlaltersenkung?                                    Effekt bestätigt. Allerdings muss dabei berücksich-
Junge Menschen sind in der Lage, verantwortlich           tigt werden, dass es unmittelbar nach der Senkung
zu handeln und ihr Verhalten zu reflektieren. Stu-        des Wahlalters einen leichten Boom an Angeboten
dien zeigen, dass sie (anders als das oft behauptet       Politischer Bildung gab. Als dieser nachließ, ließ
wird) ihre Entscheidungen vorrangig aufgrund von          auch die Wirkung bei jungen WählerInnen – also
Informationen treffen. Werden junge Menschen              dass sie sich im Vergleich zu anderen Altersgrup-
richtig adressiert, sind sie definitiv interessiert an    pen sogar überdurchschnittlich stark an Wahlen
Politik und vor allem an verlässlichen Informati-         beteiligten – etwas nach.
onen. Der triftigste Grund für eine Senkung des
Wahlalters ist und war aber aus Sicht der BJV, dass       Haben Schule und Gesellschaft ausreichend
junge Menschen analog zu ihren Pflichten mit              auf die Wahlaltersenkung reagiert? Was wür­
adäquaten Rechten ausgestattet sein sollten.              den Sie sich wünschen, damit Jugendliche ihre
                                                          demokratischen Kompetenzen gut entwickeln?
Von der Wahlrechtsreform hat man sich                     Nach wie vor gibt es kein flächendeckendes Fach
erwartet, dass Jugendliche durch die frühere              „Politische Bildung“ an Österreichs Schulen und
Einbindung in den politischen Prozess mehr                keine ausreichende Ausbildung für alle Pädago-
politisches Interesse zeigen: Ist diese Erwar­            gInnen. Die BJV fordert deshalb seit langem die
tung eingetroffen?                                        Einführung eines eigenen Fachs Politische Bildung

16                                                                                     polis aktuell 2/2022
in allen Schultypen ab der 5. Schulstufe. Ebenso
müsste dem Unterrichtsprinzip Politische Bildung,
das für ALLE Schulstufen gilt, endlich durch eine
entsprechende Berücksichtigung bei der Aus-
bildung von PädagogInnen Rechnung getragen
werden.

Wäre eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre
denkbar? Welche Rahmenbedingungen würde
es brauchen?
Auch wenn viele junge Menschen bereits ab 14
Jahren weitreichende Entscheidungen treffen und
Verantwortung übernehmen, wäre es aus Sicht der
BJV zuerst notwendig, umfassende Maßnahmen
im Bereich Politische Bildung umzusetzen, damit
auch sichergestellt werden kann, dass alle jungen
Menschen rechtzeitig mit den entsprechenden          Logo der damaligen Demokratie-Initiative (2007/08) der
                                                     Österreichischen Bundesregierung, um die Einführung der
Kompetenzen ausgestattet werden.                     Wahlaltersenkung in der Schule mit begleitenden Maßnahmen
                                                     zu unterstützen.

JUGENDORNBIRN – MEINE STIMME ZÄHLT
www.jugendornbirn.at

Was waren/sind die stärksten Argumente für           und Jugendliche interessieren sich stärker für
eine Wahlaltersenkung?                               (Alltags)Politik.
Die demografische Entwicklung unserer Gesell-
schaft. Ältere werden immer mehr, es gibt anteils-   Von der Wahlrechtsreform hat man sich
mäßig zu wenig Jugendliche. Dadurch verschiebt       erwartet, dass Jugendliche durch die frühere
sich das politische Momentum auf die Bedürfnisse     Einbindung in den politischen Prozess mehr
älterer Menschen. Interessen Jugendlicher drohen,    politisches Interesse zeigen: Ist diese Erwar­
nicht berücksichtigt zu werden.                      tung eingetroffen?
                                                     Jugendliche sind weitgehend politisch interes-
Die Jugend wird, besonders in den Gemeinden          siert. Sie engagieren sich oft in ihrem Umfeld wie
und Städten, für die handelnden PolitikerInnen       Schule und Freizeit, aber nicht in der klassischen
wahrnehmbarer. Der Wunsch nach einem Mädchen-        Parteipolitik.
treff oder Jugendplatz bekommt dann eine andere      Jugendliche nehmen ihr politisches Handeln
Bedeutung, weil es dann auch um WählerInnen-         anders wahr. Wenn sie sich z.B. in ihrer Schule
stimmen geht. Stärkung der Politischen Bildung       für eine Verbesserung einsetzen, geht es um die

polis aktuell 2/2022                                                                                         17
Verbesserung an sich und sie erkennen nicht, dass      nen Unterrichtsfach wird immer wieder laut,
sie dadurch „politisch handeln“.                       jedoch nicht umgesetzt. Hier scheint dringender
                                                       Handlungsbedarf zu sein, ein eigenständiges
Politik wird von den Jugendlichen oftmals ver-         Unterrichtsfach ab der 6. Schulstufe mit gut
bunden mit „langweiligen Sitzungen“, „endlosen         ausgebildeten Lehrpersonen einzuführen.
Besprechungen“, „viel zu viel reden, zu langsames
Handeln“ …                                            Wäre eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre
                                                      denkbar? Welche Rahmenbedingungen würde
Haben Schule und Gesellschaft ausreichend             es dafür brauchen?
auf die Wahlaltersenkung reagiert? Was wür­           Eine Wahlaltersenkung auf 14 Jahre wird im Verein
den Sie sich wünschen, damit Jugendliche ihre         jugendornbirn kontrovers diskutiert. Es sprechen
demokratischen Kompetenzen gut entwickeln?            Argumente dafür, manche dagegen.
• Stärkung der Schuldemokratie und Förderung
  von Partizipationsprojekten in Städten, Gemein-     Jedenfalls regen wir an, das passive Wahlalter auf
  den, Vereinen ...                                   16 Jahre zu senken. Dieses liegt nach wie vor bei
• Aktionen vor Wahlen sind sehr wichtig, Beispiel     18 Jahren. Dadurch wäre es bereits 16-jährigen
  „Wahlen sind keine Tiere“ von www.jugendorn-        möglich, die Stadt bzw. Gemeinde, das Bundesland
  birn.at.                                            und den Staat aktiv mitzugestalten. Somit tragen
• An den verschiedenen Schultypen ist Politische      Jugendliche verstärkt Verantwortung für ihre
  Bildung nach wie vor ein fächerübergreifendes       Stimme.
  Unterrichtsprinzip. Der Ruf nach einem eige-

LINKTIPPS:
• Wählen mit 16 Jahren (Bundeskanzleramt)
  www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/jugend/beteiligung-und-engagement/waehlen-mit-16.html
• Wählen ab … (Bayrischer Jugendring)
  www.bjr.de/junggerecht/wahlalter-senken.html
• Wählen ab 16 in Österreich – ein Erfolgsmodell für ganz Europa? (ÖGfE Policy Brief 06/2018)
  www.oegfe.at/policy-briefs/waehlen-ab-16

METHODENTIPPS:

     Wählen ab 14                                       Wahlalter in Europa
     Zielsetzungen: Auseinandersetzung mit der          Die SchülerInnen arbeiten in Kleingruppen,
     Frage, aus welchen Motiven und mit welchen         wählen jeweils ein EU-Land aus und recher-
     Argumenten die Diskussion um eine Wahlalter-       chieren, welches Wahlalter in diesem Staat
     senkung geführt wird; Reflexion über Kompe-        auf europäischer, nationaler, regionaler und
     tenzen, die ein Wähler bzw. eine Wählerin auf-     kommunaler Ebene gilt. In welchen dieser
     weisen sollte, um am demokratischen Prozess        Staaten werden Diskussionen darüber geführt,
     mitwirken zu können.                               das Wahlalter zu senken? Welche Argumente
     Die gesamte Übung kann in der Praxisbörse          werden dafür, welche dagegen angeführt?
     von Zentrum polis abgerufen werden.
     www.politik-lernen.at/waehlenab14

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