Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten - Eine vergleichende Analyse der Landtagswahlen 2019 in drei ...
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Empirische Sozialforschung 12 Studie Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten Eine vergleichende Analyse der Landtagswahlen 2019 in drei ostdeutschen Bundesländern Matthias Brachert, Everhard Holtmann, Tobias Jaeck
Empirische Sozialforschung 12 Studie Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten Eine vergleichende Analyse der Landtagswahlen 2019 in drei ostdeutschen Bundesländern Matthias Brachert, Everhard Holtmann, Tobias Jaeck
Impressum ISBN 978-3-96250-554-7 Herausgegeben vom Forum Berlin Friedrich-Ebert-Stiftung Jan Niklas Engels Hiroshimastraße 17 10785 Berlin Autoren Matthias Brachert, Everhard Holtmann, Tobias Jaeck Lektorat Corina Alt, Publicate Gestaltung Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn Umsetzung Meintrup, Grafik Design Druck Druckerei Brandt GmbH, Bonn © 2020 by Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Politischer Dialog Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
Inhalt Abbildungen und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1. Perspektivenwechsel in der Wahlforschung hin zum territorialen Erklärungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1 Politisch orientierende Effekte des Lebensumfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2 Die Messung räumlicher Kontexteffekte auf das Wahlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Nachwirkungen des doppelten Transformationsschocks: politische Einstellungen und Wahlverhalten in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3. Methodische Anlage der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4. Politische Einstellungen in Gewinnerregionen und Schockregionen . . . . . . . . 13 5. Wahlergebnisse nach Gewinnerregionen und Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . 23 6. Fazit ........................................................................................... 29 Literaturnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
4 Abbildungen und Tabellen Abbildung 1 Einwohnerentwicklung in West- und Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Abbildung 2 Klassifikation der Kreise nach Bundesländern Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Brandenburg, Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Abbildung 3 Sozialer Zusammenhalt nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . 13 Abbildung 4 Verbundenheitsgefühl mit Deutschland nach Bundesländern und Schock- bzw. Gewinnerregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Abbildung 5 Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Abbildung 6 Erhalt des gerechten Anteils nach Bundesländern und Schock- bzw. Gewinnerregionen . . . . . . 16 Abbildung 7 Vertrauen in politische Parteien nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . 17 Abbildung 8 Vertrauen in Bundestag nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . 17 Abbildung 9 Politische Responsivität nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . 18 Abbildung 10 Bevorzugte Demokratieform „repräsentative Demokratie“ nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Abbildung 11 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Abbildung 12 Politische (Online-)Partizipation nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . 20 Abbildung 13 Bekundete Wahlabsicht „Grüne“ zur Bundestagswahl nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abbildung 14 Bekundete Wahlintention zur Bundestagswahl „AfD“ nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abbildung 15 Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen 2019 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Abbildung 16 Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2017 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abbildung 17 Wahlergebnisse von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Landtagswahlen seit 2009 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Abbildung 18 Wahlergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen seit 2009 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abbildung 19 Wahlergebnisse der SPD bei Landtagswahlen seit 2009 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abbildung 20 Wahlergebnisse der CDU bei Landtagswahlen seit 2009 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Abbildung 21 Wahlergebnisse der Partei Die LINKE bei Landtagswahlen seit 2009 nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
1. Perspektivenwechsel in der Wahlforschung hin zum 5 territorialen Erklärungsansatz In der Wahlforschung, die Deutschland im Blick hat, ist ein städtischen Stimmbezirken als das Ergebnis unterschiedli- doppelter Perspektivenwechsel erkennbar. Zum einen cher Raumeffekte erklären. richtet sich das Augenmerk stärker auf sozialkulturelle Konfliktlinien und deren Effekte auf das Wahlverhalten. Die Wahlforschung, deren erprobter Erklärungsansatz auf Hier wird insbesondere der Gegensatz zwischen Gewin- individuelle Merkmale von Wahlberechtigten abhebt, also nern und (gefühlten) Verlierern der Globalisierung be- auf Indikatoren wie Alter, Geschlecht, Bildung, Einkom- trachtet. Solche Analysen führen die älteren Forschungs men und Stellung im Beruf, hat sich durch die Einbezie- linien der Cleavage- und Milieukonzepte in veränderter hung der räumlichen Dimension erkennbar weiterent Weise fort, wobei beide Ansätze teilweise miteinander wickelt. So zeigt beispielsweise eine 2015 erschienene verknüpft werden (Schäfer/Vehrkamp/Gagné 2013, Vehr- regionale Studie über Nichtwähler_innen, dass gleich ge- kamp/Tillmann 2015a, 2015b und 2017, Vehrkamp/ richtete politische Orientierungen, die im näheren Lebens- Wegschaider 2017). umfeld gehäuft auftreten, auf Personen, die sich in ihrem Wahlverhalten noch nicht festgelegt haben, offenbar wie Zum anderen sind in den letzten Jahren auch die Zusam- leitkulturelle Vorgaben wirken können und möglicher menhänge zwischen kleinräumigen Lebenswelten bzw. weise eine kognitive Anpassung an den politischen Main- Wohnstandorten und dem Wahlverhalten wiederholt un- stream der näheren Umgebung befördern (Holtmann/ tersucht worden (Schäfer 2012 und 2015). Dabei liegt der Jaeck 2015). Konkret kommt diese Studie zu dem Ergeb- Fokus meist auf sozial prekären städtischen Quartieren. nis, dass sowohl in Stimmbezirken, wo die Bereitschaft, Diese Arbeiten knüpfen an klassische soziografische Stu- an der Wahl teilzunehmen, überdurchschnittlich hoch dien an, deren Grundannahme zufolge das nahräumliche ausfällt als auch in Stimmbezirken, wo der Beteiligungs- Lebensumfeld der Menschen ihr politisches Denken und wille unter dem Durchschnitt liegt, vergleichsweise viele Verhalten nicht unerheblich beeinflusst (siehe hierzu die Befragte noch unentschieden waren. Dies deutet auf ge- Pionierstudie von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1980 [1933]). genläufige Umfeldeffekte hin: In einer Umgebung, wo die Zeichen auf Teilnahme an der Wahl stehen, sind vermut- Beiden genannten Richtungen der jüngeren Wahlfor- lich mehr unsicher, die an sich zur Wahlabstinenz neigen. schung ist eines gemeinsam: ein territorialer Erklärungs- Demgegenüber sind in Nichtwähler-Hochburgen mut- ansatz, konkret ein lokaler bzw. sublokaler Standortbe- maßlich vergleichsweise viele schwankend, die eigentlich zug. Nachgewiesen wurde beispielsweise, dass die dazu neigen, wählen zu gehen (Holtmann/Jaeck 2015, Beteiligung an der Bundestagswahl 2013 in städtischen S. 18; Holtmann 2019, S. 97). Ein Konformitätsdruck Quartieren, wo prekäre Standortfaktoren (Arbeit und wahlaffiner bzw. nicht wahlaffiner Umgebungen bestä- Wohnen) und soziale Benachteiligung (etwa bei Einkom- tigt sich auch in der Auswertung der Daten der deutschen men und Bildung) verdichtet auftreten, besonders gering Langzeitstudie German Longitudinal Election Study ausfiel (Schäfer/Vehrkamp/Gagné 2013, S. 10). Ebenso (Schäfer/Schmitt-Beck 2017, S. 125). verteilen sich die Wählerpräferenzen der Mitglieder gesell- schaftlichen Großgruppen auch räumlich auf der Gemein- Die jüngste Serie der Wahlerfolge der AfD und die Tat de- und Kreisebene unterschiedlich, wenn die gesell- sache, dass die Wählergunst für diese rechtspopulistische schaftlichen Großgruppen anhand der Sinus-Typologie Partei sich geografisch erkennbar asymmetrisch verteilt, speziellen Milieus zugeordnet werden (Vehrkamp/Weg- haben die Aufmerksamkeit auf räumliche Faktoren schaider 2017). Wird das Wahlvolk nach sozialkulturellen gelenkt, die das Wahlverhalten bedingen. In der öffentli- Eigenschaften und/oder nach Kriterien der sozialen Lage chen Diskussion blieb nicht unbeachtet, dass in im Raum klassifiziert, so lässt sich das Wahlverhalten in strukturschwachen Kreisen, die durch geringe Durch- städtischen und ländlichen Wahlkreisen sowie in inner schnittseinkommen, Abwanderung, Alterung und wirt- EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
6 schaftlichen Strukturwandel gekennzeichnet sind, die Erwartungen der Menschen angemessen sichergestellt Demokratiezufriedenheit stärker sinkt als andernorts und wird oder nicht. Zu einem Politikum wird der Umfeldfak- dass gerade hier die AfD als rechtspopulistische Protest- tor Infrastruktur in der Regel dann, wenn in einer Gegend und Weltanschauungspartei überdurchschnittlich starke die Versorgungsdichte und -qualität nach Einschätzung Gewinne einfahren kann (Meisner 2019, Kritikos 2019 derer, die dort leben, merklich abnimmt. Laut einer Um- und Endt 2019). Auf diese Umschichtung der Wählerland- frage vor der Landtagswahl 2019 in Thüringen gaben 13 schaft, die unter räumlichen Vorzeichen stattfindet, hat Prozent der Befragten an, die Lebensbedingungen im die Wahlforschung mit einem Perspektivenwechsel re- Wohnumfeld hätten sich „insgesamt verschlechtert“. 41 agiert. Seither werden vermehrt strukturelle und sozialkul- Prozent beklagten Mängel in der ärztlichen Versorgung, turelle Eigenheiten kleiner räumlicher Formate als Erklä- 38 Prozent beim öffentlichen Nahverkehr, 31 Prozent bei rungsgrößen des Wahlverhaltens in den Blick genommen. der öffentlichen Sichtbarkeit der Polizei, 24 Prozent bei Ämtern und Behörden sowie je 20 Prozent bei Schulen, Kindertagesstätten und Einkaufsmöglichkeiten (Infratest 1.1 Politisch orientierende Effekte des Lebens- dimap 2019a). Eine Stimmungslage, die eine ähnliche umfelds räumliche Benachteiligung signalisiert, wurde auch schon vor den Landtagswahlen in Sachsen gemessen. Befragte, Die Annahme, dass räumliche Gegebenheiten und dazu die in kleinen Gemeinden wohnen, gaben an, die Situati- gehörende gesellschaftliche Beziehungen die Menschen on habe sich in den Bereichen öffentlicher Personennah- in besonderer Weise einhegen und ihr soziales und politi- verkehr (43 Prozent), ärztliche Versorgung (41 Prozent), sches Verhalten sowie ihre verhaltensleitenden Einstellun- Präsenz der Polizei (41 Prozent), Einkaufsmöglichkeiten gen beeinflussen, gehört seit gut einem Jahrhundert zum (28 Prozent) sowie Schulen und Kitas (22 Prozent) ver- Wissenskanon der Soziologie und der empirischen Sozial- schlechtert (Infratest dimap 2019b). forschung (so schon Weber 1976 [1922] und Jahoda/ Lazarsfeld/Zeisel 1980 [1933]). Obgleich sich in den indivi- Die überdurchschnittlichen Erfolge der AfD bei den Wah- duellen Erfahrungshorizonten globale, nationale, len in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, regionale und lokale Einwirkungen immer überlagern, Brandenburg und Thüringen 2019 – gerade im ländlichen sind im näheren Lebensumfeld der Gemeinde und des Raum1 – belegen: Die Bedingungen des Umfelds, in dem Kreises besondere soziale Stabilisatoren wirksam. Im loka- die Menschen leben, beeinflussen die Einstellungen zur len Radius sozialer Beziehungen an welche Bürger_innen Politik und das Wahlverhalten. Dabei spielt nicht nur ein über Familie, Freunde, Peergroups, Nachbarschaften, über als unzureichend bewertetes Infrastrukturangebot eine die Arbeitsstelle und kommunale Angebote Anschluss fin- Rolle, sondern bedeutsam sind auch die Auswirkungen den, werden Verhaltensnormen vermittelt, werden Erfah- eines strukturellen Wandels, denen die Menschen in ihrer rungen ausgetauscht, wird Vertrauen aufgebaut oder ent- näheren Umgebung tagtäglich begegnen. Dazu gehören täuscht, wird Solidarität erfahren ebenso wie Distanz und etwa Abwanderung, Überalterung und wirtschaftliche soziale Kontrolle. Vor Ort baut sich auch subjektive politi- Stagnation. Dies erzeugt ein Grundgefühl struktureller Be- sche Kompetenz („Ich verstehe, was vorgeht, und traue nachteiligung und politischer Vernachlässigung und ver- mir zu, mich einzumischen“) auf oder ab, was wiederum stärkt den Eindruck, dass die eigene Region zurückbleibt. Parteisympathien festigen oder verändern kann. Damit wird die Beteiligung an Wahlen und das Fernbleiben von Der Zusammenhang zwischen raumbezogenen Lage- der Wahlurne mitgesteuert. Bürgerschaftliches Engage- merkmalen, subjektiven Lebensgefühlen und politischer ment und politische Partizipation entwickeln und äußern sich in unterschiedlichen lokalen Lebensumfeldern auf der Gemeinde- und Kreisebene auf verschiedene Weise (Holt- mann 2019). 1 Eine entsprechende Varianz wird bereits in den Ergebnissen der Bun- destagswahl 2013 für den Osten Deutschlands, im Gegensatz zu Westdeutschland, erkennbar: Mit sinkender Gemeindegröße steigen Für die Alltagserfahrung grundlegend ist der lokale Aus- die Stimmenanteile der AfD. Die Spreizung der Stimmenanteile zwi- tattungsgrad der öffentlichen Infrastruktur. Im Kern geht schen Großstädten und Landgemeinden betrug rund 6 Prozentpunk- es darum, ob die Grundversorgung im Einklang mit den te (Holtmann 2019, S. 195). Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
Partizipation wird mittlerweile auch in der Auftragswahl- Dieses methodische Dilemma zeigen auch drei Untersu- 7 forschung stärker berücksichtigt. Die in Deutschland füh- chungen, die als beispielhaft für den Forschungsstand im renden Institute haben sich von der methodischen Be- Feld von Kontextanalysen des Wahlverhaltens angesehen schränkung des klassischen Michigan-Erklärungsmodells, werden können. Giebler/Regel (2017) erklären die wech- wonach strukturelle Kontextfaktoren ausgeblendet wer- selnden AfD-Stimmenanteile bei Landtagswahlen von den (vgl. Gabriel/Keil 2005, S. 579, S. 587 ff., S. 603), ver- 2014 bis 2016 mit Unterschieden der räumlichen Lebens- abschiedet. So haben Fragen, die auf die Bewertung der umfelder. Dabei untersuchten sie insgesamt 156 Stadt- öffentlichen Infrastruktur am Wohnort zielen, in Vor- und und Landkreisen anhand der vier strukturellen Indikatoren Nachwahlumfragen Eingang gefunden. Auch das Auf- Arbeitslosenrate, Ausländeranteil, Haushaltseinkommen schlüsseln der AfD-Stimmenanteile nach wachsenden, und Anteil formal höher Gebildeter. Der Befund lautet, leicht und stark schrumpfenden Wahlkreisen (gemessen dass die Wahlchancen der AfD mit höherer Arbeitslosig- an der Zu- und Abnahme der Zahl der Wahlberechtigten), keit, geringerer Ausländerquote und niedrigerem Bil- wie dies Infratest dimap bei seiner Analyse der Landtags- dungsniveau steigen (Giebler/Regel 2017, S. 16). Im zwei- wahlen in Brandenburg und Sachsen vorgeführt hat ten Teil der Untersuchung werden zwar auch (Meisner 2019), zeigt, dass sich das Augenmerk der Wahl- Einstellungsdaten ausgewertet, jedoch nicht mit der kreis- forschung hin zu einer strukturellen Erklärung des Wahl- bezogenen Strukturdatenanalyse verknüpft. verhaltens verschiebt. Die Studie von Franz/Fratzscher/Kritikos (2018) des Deut- schen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die ein 1.2 Die Messung räumlicher Kontexteffekte auf Jahr später erschien, geht ähnlich vor. Für sämtliche 299 das Wahlverhalten Bundestagswahlkreise werden die Zusammenhänge zwi- schen den AfD-Stimmenanteilen und insgesamt sieben Verglichen mit dem erprobten Instrumentarium der tradi- Strukturfaktoren (hier zusätzlich Handwerksdichte, Be- tionellen Wahlforschung, deren Prognosen auf einer bun- schäftigtenanteil verarbeitendes Gewerbe, Anteil über des- bzw. landesweiten Gesamtheit repräsentativ ausge- 60-Jähriger) untersucht. Auch hier werden Kontexteffekte wählter Stimmbezirke basieren und die außerdem bestätigt und zugleich Ost-West-Unterschiede erkennbar: individuelle Daten aus Vorwahl- und Nachwahlumfragen In Westdeutschland erhält die AfD in Wahlkreisen, die zu Parteipräferenzen sowie deren soziodemografischen eine hohe Industriedichte und geringere Einkommens- Hintergründen heranzieht, sind die methodischen Heraus- kraft aufweisen, höheren Wählerzuspruch, in Ostdeutsch- forderungen für sozialökologische Wahlanalysen, die Um- land ist dies hingegen in überalterten Gebieten mit vielen feldeffekte auf der Gemeinde- oder Kreisebene untersu- Handwerksbetrieben der Fall. Letzteres ist strukturtypisch chen, komplexer. Wo lokale Umfragedaten nicht besonders für ländliche Räume, die wiederum in Ost- flächendeckend verfügbar sind (sie werden aus Kosten- deutschland überwiegen. Nach Auffassung der Autoren gründen in der Regel allenfalls punktuell erhoben), kön- sind es auch diese „Lebensumstände“ (Franz/Fratzscher/ nen sie auch nicht mit lokalen Strukturdaten direkt analy- Kritikos 2018, S. 137), welche die regional unterschiedli- tisch verknüpft werden. So ergab sich für die che politische Psychologie und die verschiedenen Wahler- Wahlforschung der Nachteil, dass sich auf der unteren gebnisse erklären – ohne dass Umfragedaten einbezogen Ebene des politisch-administrativen Systems aggregierte werden. Es bestehe Anlass zu der Vermutung, „dass die Wahldaten bisher nicht mit einstellungsbezogenen Indivi- demografische Entwicklung in den weniger verdichteten dualdaten kombinieren ließen, wie dies bei den auf der Räumen auch ein Gefühl der Perspektivlosigkeit mit sich Bundes- und Landesebene angesiedelten Analysen längst bringt, wodurch Vertrauen in etablierte Parteien zu ero- gängige Praxis ist. Kurz gesagt: Subregionalen Struktur- dieren droht“ (Franz/Fratzscher/Kritikos 2018, S. 136, analysen des Wahlverhaltens mangelt es zumeist an Um- S. 144). fragedaten des gleichen räumlichen Formats. Wenn aber kleinräumige Aggregatanalysen auf Umfragedaten zu- Methodisch recht aufwendig geht eine im Jahr 2017 pub- rückgreifen können, fragen sie nicht nach der „reinen“ lizierte Studie der Bertelsmann-Stiftung daran, die oben Erklärungskraft von Strukturfaktoren der gleichen Gebiet- beschriebene Forschungslücke zu schließen (Vehrkamp/ seinheiten. Wegschaider 2017). Dafür werden Aggregatdaten auf der EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
8 Ebene der örtlichen Stimmbezirke, die Informationen über die Gesamtheit der dortigen Bevölkerung enthalten, mit umfragebasierten Individualdaten zusammengeführt. Hier wird herausgearbeitet, wie sich die Sinus-Geo-Mili- eus2 auf die für Deutschland repräsentativ ausgewählten Stimmbezirke verteilen und wie sich das Gefälle bei der Wahlbeteiligung und bei Parteivorlieben in Verbindung mit bezirklichen „Milieu-Profilen“, die ihrerseits unter- schiedliche lokale Lebensumfelder (entweder sozial stabile oder prekäre) abbilden, darstellt (Vehrkamp/Wegschaider 2017, S. 6, S. 18 ff., S. 21, S. 34 ff.). Gegenüber den Vorgängerstudien des eigenen Hauses (Schäfer/Vehrkamp/Gagné 2013, Vehrkamp/Tillmann 2015a und 2015b) bringt diese neueste Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung einen zusätzlichen Erkenntnis- gewinn: Nunmehr ist genauer erkennbar, wie sich – reprä- sentativ für die Bundesrepublik – die Sinus-Milieus auf Wahlkreis- und Stimmbezirksebene anteilig verteilen und wie sie sich milieuspezifisch dort auf die Wahlbeteiligung und die Wählerpräferenzen auswirken. Indes wird keine direkte Erklärungslinie von kleinräumigen Kontextfakto- ren zu individuellen Einstellungen bzw. Wählerentschei- dungen gezogen. Wohl werden in den Sinus-Milieus auch sozioökonomische Lagemerkmale wie Haushaltseinkom- men, Bildung und Berufsstand berücksichtigt (Vehrkamp/ Wegschaider 2017, S. 21). In der Signatur der jeweiligen Milieus werden jedoch die objektiven Lagemerkmale mit subjektiven Einstellungen und Wertüberzeugungen zu- sammengefasst. Dadurch werden Strukturfaktoren, wel- che die nahräumlichen Lebensbedingungen in spezieller Weise beeinflussen, nicht als erklärende Variablen für sich betrachtet und nicht mit politischen Einstellungen und dem Wahlverhalten analytisch gesondert verknüpft. 2 Das Sinus-Institut hat insgesamt 10 unterschiedliche gesellschaftliche Milieus auf der Basis einer Kombination von Merkmalen der sozialen Lage (Haushaltseinkommen, Bildung, Beruf, Alter, Geschlecht, Ar- beitslosigkeit) und von Grundorientierungen (Lebensstile, Selbst- und Weltbilder, von traditionell bis modern) erstellt. Diesen Sinus-Milieus werden zurzeit jeweils zwischen 7 und 14 Prozent der wahlberech- tigten Bevölkerung zugerechnet (Vehrkamp/Wegschaider 2017, S. 33–35). Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
2. Nachwirkungen des doppelten Transformationsschocks: 9 politische Einstellungen und Wahlverhalten in Ostdeutschland Diese Leerstelle besetzt die vorliegende Untersuchung. Ihr sorgungsangebote, die es schon seit Jahrzehnten gibt, liegt die Annahme zugrunde, dass die gesellschaftliche haben sich vor allem in ländlichen Regionen räumlich Grundstimmung in Ostdeutschland von einem doppelten strukturwirksam verfestigt. Transformationsschock geprägt wird. Die Transformati- onskrise während der ersten Hälfte der 1990er-Jahre löste Obgleich es eine langsame wirtschaftliche Erholung gibt den ersten Schock aus: Die dem Systemwechsel von und sich die materiellen Lebensbedingungen unüberseh- 1989/90 folgenden Strukturbrüche führten millionenfach bar verbessern, weist die Entwicklung der Wirtschaft seit zu tiefgehenden Einschnitten in gewohnte Arbeits- und dem Strukturbruch aufgrund der Wiedervereinigung Lebensbedingungen (Best/Holtmann 2012, Böick/Lorke Merkmale von Stagnation und fortdauernder Rückstände 2019). Eine zweite Schockwelle baute sich in der globalen gegenüber dem Westen Deutschlands auf (Institut für Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 auf. Zwar kam es Wirtschaftsforschung Halle 2014 und 2019). Das hat dazu dabei, anders als in den frühen 1990er-Jahren, nicht ein- geführt, dass die Ausläufer der transformationsbedingten mal ansatzweise zu vergleichbaren Betriebsschließungen, Schockwellen im Alltagsbewusstsein der Menschen über- Massenentlassungen, sozialen Statusverlusten und Ent- dauern. In deren Lebensumfeldern blieben trotz verbes- wertungen persönlicher Entwicklungsguthaben. Doch serter Lebensqualität häufig Unzufriedenheit, Existenz- reichte allein die mögliche Wiederholung einmal erlebter ängste, Zukunftssorgen und Resignation gegenwärtig. wirtschaftlicher und sozialer Abstiegs- und Verlusterfah- rungen aus, um unterschwellig fortbestehende Ängste, Teile der ostdeutschen Gesellschaft nahmen die mentalen Unsicherheiten und Vorbehalte wiederzubeleben. Das Züge einer „müden Gemeinschaft“ (Jahoda/Lazarsfeld/ zweifache Schockerlebnis verstetigte sich im Osten Zeisel 1980 S. 57f.) an, in welcher sich zugleich Politikver- Deutschlands als Grundgefühl einer „entsicherten Gesell- drossenheit ausbreitete. Psychologische Langzeit-Untersu- schaft“. chungen zeigen, dass sich in chronisch strukturschwachen Regionen nach industriellem Niedergang eine Historisie- Für unsere Untersuchung gingen wir davon aus, dass die rung des Krisengefühls einstellen kann (Obschonka u. a. Schockeffekte nicht lediglich punktuell auftraten und 2017). In Ostdeutschland kommt hinzu, dass die hohen ebenso plötzlich verpufft sind, sondern dass sie eine Lang- Erwartungen an die helfende und vorsorgende Hand, an zeitwirkung bis heute haben: weil die Ursachen der die „Staatswohlfahrt“, enttäuscht worden sind, nicht zu- schockhaften Krisenerlebnisse, die persönlich zu verarbei- letzt durch wohlfahrtsstaatliche Reformen, die Leistungs- ten waren, zu dauerhaften Strukturen geworden sind. Die kürzungen beinhalten. Entwicklung der Migration zeigt exemplarisch, wie einer vergleichsweise kurzen Phase, in der das Problem sich Diese Grundstimmung äußerte sich lange Zeit in einer Ab- deutlich verstärkte, eine lange Periode der Verstetigung kehr von Politik und einer ausgeprägten Wahlenthaltung. des Problems nachfolgte: Während in den 25 Jahren von Erst als sich in Folge der „Flüchtlingskrise“ des Jahres 1989 bis 2015 1,9 Millionen Menschen mehr aus Ost- 2015 ein kollektives Bedrohungsgefühl Bahn brach, deutschland ab- als dorthin zuwanderten, fand mehr als schlug Beteiligungsmüdigkeit um in die Versammlungs die Hälfte dieser Nettoabwanderung in den vier Jahren demagogie einer „Empörungsbewegung“ (Vorländer/ von 1989 bis 1992 statt (Institut für Wirtschaftsforschung Herold/Schäller 2016) namens Pegida und mündete bei Halle 2019, S. 13; siehe auch Abbildung 1 in Kapitel 3). Landtags- und Bundestagswahlen in eine breitere Wahl- Industrielle Entkernung und Erwerbslosigkeit, die Abwan- unterstützung für die rechtspopulistische Protestpartei derung vornehmlich jüngerer, beruflich gut qualifizierter AfD. und motivierter Personen, zunehmend überalternde örtli- che Gemeinschaften sowie schrumpfende öffentliche Ver- EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
10 3. Methodische Anlage der Untersuchung Um die Annahme eines doppelten Transformations- (Rösel 2019: Während in Westdeutschland die Bevölke- schocks zu überprüfen, sind wir methodisch folgender- rung anschließend wuchs, setzt sich der demografische maßen vorgegangen. Unsere Analyse verknüpft regionale Abwärtstrend in Ostdeutschland fort (Abbildung 1). Strukturdaten der Kreisebene mit individuellen Einstel- lungsdaten. Die Schockthese wurde anhand zweier struk- Für die räumliche Überprüfung der Schockthese3 werden tureller Indikatoren operationalisiert, nämlich der langfris- drei Regionstypen unterschieden. Regionen mit ausge- tigen Einwohnerentwicklung der Stadt- und Landkreise wachsenen Transformationsschocks – kurz Schockregionen von 1990 bis 2016 sowie der Entwicklung der Beschäftig- – sind solche Kreise, die nach ihrer Bevölkerungsentwick- tenzahl von 2007 bis 2016. Für diese Indikatoren spricht, lung (in den Jahren 1990 ff.) und ihrer Erwerbstätigenent- dass durch die dauerhafte Vergegenwärtigung der Scho- wicklung (in den Jahren 2007 ff.) sich in Brandenburg, ckereignisse (Strukturbrüche der Wiedervereinigung und Finanzkrise mit deren Nachwirkungen) sich die Teilungs lücke in Bezug auf die Bevölkerungszahlen zwischen Ost- 3 An anderer Stelle haben wir die bipolaren Begriffe „Schockregio- und Westdeutschland vertieft hat. Im Zuge der Wieder nen“ und „Gewinnerregionen“ auch für einen Ost-West-Vergleich einigung verließen Millionen Ostdeutsche ihre verwendet (Holtmann 2019, S. 251 ff.). Dagegen ließe sich einwen- Herkunftsregionen, getrieben von Massenarbeitslosigkeit den, dass zumindest der erste Transformationsschock ein ostdeut- und Perspektivlosigkeit in diesen Regionen. Aktuelle For- sches Alleinstellungsmerkmal sei. Unseres Erachtens wäre ein solcher Einwand deshalb unbegründet, weil die räumlichen Effekte des lang schungen des Ifo-Instituts Dresden zeigen, dass sich die anhaltenden Strukturwandels, die wir mit unseren Indikatoren mes- Teilungslücke im Zuge der Finanzkrise weiter verstärkte sen, in Ost- und Westdeutschland vergleichbar auftreten. Abbildung 1: Einwohnerentwicklung in West- und Ostdeutschland (1936 = 100%) 180% Westdeutschland (Westberlin) 160% Ostdeutschland (Ostberlin) 140% Ende II. Weltkrieg 120% „Teilungslücke“ 100% Gründung 80% der DDR 1936 (100) Mauerfall 60% 40% 20% 0% 1911 2011 1871 1876 1881 1886 1891 1896 1901 1906 1916 1921 1926 1931 1936 1941 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2006 2016 Quelle: Rösel (2019). Eigene Darstellung. Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
Sachsen und Thüringen jeweils dem unteren Drittel (Terzil) den erhoben worden sind.4 Um die möglichen Folgen des 11 zuordnen lassen. Als Transformationsgewinnerregionen – Transformationsschocks auf individuelle politische Einstel- kurz Gewinnerregionen – gelten jene Kreise, die bei beiden lungs- und Verhaltensmuster zu untersuchen, wird in den Indikatoren im oberen Drittel (Terzil) liegen. Alle übrigen nachfolgenden Kapiteln die sozialräumliche Differenzie- Kreise werden in einer mittleren Kategorie zusammenge- rung nach Gewinner- und Schockregionen betrachtet. fasst, die hier nicht aufgeführt wird, da wir uns für eine kontrastierende Darstellung entschieden haben. Gemäß dieser Klassifikation verteilen sich in den drei hier einbezo- genen ostdeutschen Bundesländern die Stadt- und Land- kreise auf die Kreistypen wie in Tabelle 1 dargestellt. Als Individualdaten, die über politische Einstellungen Aus- 4 Primärforschung: aproxima Gesellschaft für Markt- und Sozial forschung Weimar mbH, Erhebungsmethode: CATI (computer kunft geben und zugleich die räumliche Differenzierung gestützte telefonische Interviews), Auswahlverfahren: deutschland- der Gemeindeebene abbilden, standen die Länderanteile weite Zufallsauswahl disproportional geschichtet nach Ost/West und der Daten einer bundesweiten Bevölkerungsumfrage aus 5 Gemeindegrößenklassen (Großstädte, Mittelstädte, größere und dem Jahr 2018 zur Verfügung, die repräsentativ in den kleinere Landstädte, Landgemeinden), Grundgesamtheit: deutsche Wohnbevölkerung ab 16 Jahren, Stichprobe: N = 5.400 (disproporti- fünf Ortsgrößenklassen der Großstädte, Mittelstädte, grö- onal geschichtet: 3.000 in Ost- und 2.400 in Westdeutschland), Feld- ßeren und kleineren Kleinstädte sowie der Landgemein- phase: 19. Februar bis 3. Juli 2018. Abbildung 2: Klassifikation der Kreise nach Bundesländern Sachsen Nordsachsen Leipzig, Stadt Bautzen Görlitz Meißen Leipzig Dresden, Stadt Mittelsachsen SächsischeSchweiz- Osterzgebirge Chemnitz, Stadt Zwickau Erzgebirgskreis Gewinnerregion Vogtlandkreis Mittelregion Schockregion EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
12 Brandenburg Uckermark Prignitz Ostprignitz-Ruppin Oberhavel Barnim Havelland Märkisch-Oderland Potsdam, Stadt Frankfurt(Oder), Stadt Oder-Spree Potsdam-Mittelmark Gewinnerregion Teltow-Fläming Mittelregion Dahme-Spreewald Schockregion Cottbus, Stadt Elbe-Elster Spree-Neiße Thüringen Oberspreewald- Lausitz Nordhausen Eichsfeld Kyffhäuserkreis Unstrut-Hainich- Sömmerda Kreis WeimarerLand Eisenach, Erfurt, Weimar, Saale- Stadt Stadt Stadt Jena, Holzland- AltenburgerLand Gotha Stadt Kreis Gera, Wartburgkreis Stadt Ilm-Kreis Greiz Schmalkalden- Meiningen Saalfeld- Rudolstadt Saale-Orla- Suhl, Kreis Stadt Hildburghausen Sonneberg Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
4. Politische Einstellungen in Gewinnerregionen 13 und Schockregionen Es sind vergleichsweise große Gebietszuschnitte, die von seit dem Systemumbruch 1989 (Schockregion bzw. Ge- uns als „Gewinner“ und „Verlierer“ klassifiziert werden winnerregion) und die sich daraus ergebenden Einflüsse (Tabelle 1). Dazu haben auch Kreisgebietsreformen ge- (Kontexteffekte) auf politische Einstellungen und politi- führt, die in den ostdeutschen Ländern seit 1990 in meh- sches Verhalten. reren Stufen durchgeführt worden sind. Weil die betroffe- ne Bevölkerung sie häufig als unerwünschte Eingriffe in Eine erklärende politische Hintergrundvariable ist der emp- gewohnte Lebensumfelder empfindet, werden diese fundene soziale Zusammenhalt im Wohnumfeld. Dieser Reformen in der Regeln von heftigen Protesten begleitet, wurde über die Zustimmung und Ablehnung dreier vorge- wie zuletzt bei den schließlich abgeblasenen Vorhaben in gebener Aussagen gemessen, die im Rahmen der genann- Brandenburg und Thüringen (vgl. Holtmann 2017). Eine ten Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2018 erhoben weitere kleinräumige Differenzierung innerhalb von wurden. Die drei folgenden Antwortvarianten wurden für Schock- oder Gewinnerregionen ist mit den hier verwen- die Auswertung zu einem Gradmesser für den sozialen Zu- deten Daten nicht möglich. Dennoch ist davon auszuge- sammenhalt zusammengefasst: hen, dass es auch in Schockregionen Gebiete gibt, die nicht von Einwohnerverlust und prekärer Beschäftigungssi- pp „Die Leute hier kommen gut miteinander aus.“ tuation geprägt sind, und dass dies umgekehrt ebenso auf pp „Man kann den Leuten hier vertrauen.“ Gewinnerregionen zutrifft. Im Folgenden konzentrieren pp „Wenn es darauf ankommt, halten die Menschen hier wir uns also auf die überwiegende Prägung auf Kreisebene zusammen.“ Abbildung 3: Sozialer Zusammenhalt nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „sehr stark“ bis 5 „sehr schwach“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 1.97 Schockregion 2.23 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 2.00 Schockregion 2.03 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 2.04 Schockregion 2.14 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
14 Abbildung 4: Verbundenheitsgefühl mit Deutschland nach Bundesländern und Schock- bzw. Gewinner regionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „sehr verbunden“ bis 5 „überhaupt nicht“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 1.91 Schockregion 2.52 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 2.17 Schockregion 2.25 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 2.28 Schockregion 2.41 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant In allen drei Bundesländern ist der soziale Zusammenhalt keit und der subjektiv bewerteten Zukunftsfähigkeit einer aus Sicht der Bürger_innen ähnlich stabil. Werden aber Re- Kommune gelten kann (Gabriel/Holtmann/Jaeck u. a. gionen isoliert betrachtet, die überwiegend von den Trans- 2015, S. 184). formationsschocks betroffen waren bzw. sind, so zeigt sich, dass dort der soziale Zusammenhalt vor Ort als weni- Generell fällt die Verbundenheit mit Deutschland in den ger gefestigt empfunden wird. In Thüringen ist dies stärker ostdeutschen Bundesländern vergleichsweise niedrig aus der Fall als in Sachsen und Brandenburg (Abbildung 3). (Holtmann/Jaeck/Völkl 2018, S. 27 ff.). Hier identifizieren sich die Menschen neben ihrem Wohnort häufiger noch Auf die subjektive Verbundenheit mit dem Wohnort und mit Ostdeutschland als mit der gesamten Bundesrepublik. mit der Region, in der man lebt, scheinen sich die nach Die Ostbindung ist demzufolge auch 30 Jahre nach der Kreisen unterschiedlichen ökonomischen und demografi- Wiedervereinigung noch präsent und sie wird offenbar schen Entwicklungen seit der Wiedervereinigung nur durch eine demografisch wie ökonomisch nachteilige geringfügig auszuwirken (ohne Abbildung). Betrachtet Regionalentwicklung weiter verstetigt. man jedoch die empfundene Verbundenheit mit der Bundesrepublik, so zeigen sich signifikante Abweichungen Eine derartige raumbezogene Nachteilserfahrung bereitet (Abbildung 4). Insbesondere in Thüringen bekunden die den Boden für eine relative Deprivation, also das subjektive Einwohner_innen von aufstrebenden Regionen eine höhe- Gefühl, gemessen an anderen Menschen zu kurz zu kom- re Verbundenheit mit Deutschland; in Schockregionen fällt men. Dabei wird theoretisch angenommen, dass individu- das Meinungsbild völlig anders aus. Zwischen Gewinner- elle Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit der eigenen und Verliererregionen liegen hierbei über 0,6 Skalenpunk- Lebenslage nicht ausschließlich durch die isolierte Bewer- te. Dieser Effekt lässt sich in abgeschwächter Form in allen tung der eigenen, meist materiellen Ressourcen zustande Gebieten feststellen. Das regionale Gefälle ist problema- kommt, sondern dadurch, dass die eigene Situation oder tisch, da räumliche Verbundenheit als Ausdruck von die der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt (z. B. „Ost- Lebensqualität, von Antriebskraft für persönliche Selbstbe- deutscher“, „Wendegewinner oder -verlierer“, „Bürger stimmung (Empowerment), von kollektiver Selbstwirksam- zweiter Klasse“) im Verhältnis zu anderen Personen oder Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
Abbildung 5: Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schock 15 regionen (Nennungen „Ja, gerecht“ in Prozent) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 56 Schockregion 40 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 50 Schockregion 43 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 56 Schockregion 33 0 25 50 75 100 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant Gruppen betrachtet wird.5 So kann ein Missverhältnis nen staatlichen Daseinsvorsorge und der Erwartung einer empfunden werden zwischen dem, was man (bekommen) „sittlichen Ökonomie“ in der privatwirtschaftlichen Sphäre hat, und dem, was einem nach eigener Einschätzung ei- (hierzu aus historischer Sicht Thompson 1979). Beide Male gentlich zusteht bzw. − wie im Fall des doppelten Transfor- geht es um die gerechte Verteilung (Allokation) materieller mationsschocks − einem verwehrt oder vorbehalten wor- und immaterieller Güter, wobei der Politik eine zentrale den ist. Lenkungsfunktion zukommt. Empfundene Ungerechtig- keit und Benachteiligung kann sich in Einstellungen mani- Das Erklärungsmodell ist empirisch inzwischen gut belegt. festieren, welche sich gegen diejenigen richten, die für die Für die Überprüfung der Deprivations-Hypothese haben eigene Zurücksetzung verantwortlich gemacht werden. wir in der Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2018 erho- Das können gesellschaftliche Großgruppen wie „West- ben, ob die Befragten glauben, in Deutschland gehe es deutsche“ oder Zuwanderer sowie − gerade in einem tra- „alles in allem gerecht zu“, und ob sie der Ansicht sind, im ditionellen Sozialstaat wie Deutschland − politische Institu- Vergleich mit anderen in Deutschland lebenden Menschen tionen und Akteure wie Politiker, Parlamente oder Parteien persönlich den gerechten Anteil zu erhalten. sein. Wo das Gerechtigkeitsempfinden schwindet, sinkt auch die Systemlegitimation. Die Gerechtigkeitsgarantie, die einem politischen System und dessen Wirtschaftsordnung zugeschrieben wird, setzt Dass es in Deutschland gerecht zugeht, glaubt in den drei sich aus einer doppelten Erwartungshaltung zusammen: ostdeutschen Bundesländern mit etwa 48 Prozent jeweils der moralisch begründeten Erwartung einer angemesse- knapp die Hälfte der Befragten. In Schockregionen wird diese Marge deutlich unterschritten. In Brandenburg be- stätigt nur rund jede(r) Dritte gerechte Zustände, in Thürin- gen und Sachsen sind es um die 40 Prozent (Abbildung 5). 5 Dabei wird zwischen Individuen und Gruppen unterschieden: „egois- In Gewinnerregionen liegt die Gerechtigkeitsvermutung je tische“ versus „fraternalistische“ relative Deprivation. Vgl. Runciman, W. G. (1966): Relative Deprivation and Social Justice: a Study of Atti- nach Bundesland mehr (wie in Brandenburg und Thürin- tudes to Social Inequality, London: Routledge & Kegan Paul. gen) oder weniger deutlich (wie in Sachsen) höher. EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
16 Abbildung 6: Erhalt des gerechten Anteils nach Bundesländern und Schock- bzw. Gewinnerregionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „viel mehr“ bis 5 „viel weniger“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 2.92 Schockregion 3.38 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 3.12 Schockregion 3.34 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 3.13 Schockregion 3.39 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant Ähnlich verteilt, aber statistisch noch etwas aussagekräfti- Drei-Länder-Vergleich zeigen sich jedoch auch innerregio- ger fällt das Einstellungsmuster aus, wenn von der subjek- nale Abweichungen: In Thüringen ist das Gefälle zwischen tiven Bewertung der allgemeinen Systemgerechtigkeit in Gewinner- und Schockregionen beim Institutionenvertrau- Deutschland auf die Ebene persönlicher Gerechtigkeits- en am stärksten ausgeprägt. Brandenburg weist beim Ver- guthaben gewechselt wird. Hier zeigt sich in allen drei trauen in politische Parteien so gut wie keine regionsspezi- Bundesländern, dass in Gewinnerregionen mehr Men- fischen Unterschiede auf. schen davon überzeugt sind, im Vergleich mit ihren Mit- menschen in angemessener Weise bedacht zu werden, Die Untersuchung der Einstellungen zur relativen Depriva- also ihren persönlich gerechten Anteil zu erhalten. In tion und zum Institutionenvertrauen hat unsere These er- Schockregionen fällt die Gerechtigkeitsnote schlechter härtet, dass der doppelte Transformationsschock sich in aus. Unterschiede zwischen Thüringen, Brandenburg und den ostdeutschen Regionen, die davon besonders stark Sachsen lassen sich hier nicht feststellen (Abbildung 6). betroffen sind, auch deutlicher politisch destabilisierend auswirkt. Dafür, dass das eigene sozialräumliche Lebens- Das Vertrauen in das politische System Deutschlands wur- umfeld als unwirtlich und wenig für die Zukunft gerüstet de mittels der üblichen Fragen nach dem Vertrauen in he- erfahren wird, wird die Politik, vor allem die Bundespolitik rausgehobene Institutionen und Akteure gemessen: hier verantwortlich gemacht. Das ist nicht überraschend, da im Bundestag, Bundesregierung, politische Parteien im Allge- östlichen Teil des Landes die an den Staat gerichtete Leis- meinen sowie die Partei, der man sich verbunden fühlt. tungserwartung auch 30 Jahre nach der Wiedervereini- Dabei ergibt sich im Gesamtbild, dass die Vertrauensfrage gung immer noch höher ist als im Westen der Bundesrepu- in den Schockregionen häufiger negativ beantwortet wird, blik (Holtmann 2019, S. 114; vgl. auch Gabriel u. a. 2017, also in Regionen, die nach ökonomischen und demografi- S. 143 ff.). schen Maßstäben in den letzten Jahrzehnten sich ver- gleichsweise nachteilig entwickelt haben (Abbildung 7 Neben dem Vertrauen in politische Institutionen spielt und Abbildung 8 zeigen die Ergebnisse bezüglich des Ver- auch die Bewertung der Offenheit des politischen Systems trauens in politische Parteien und in den Bundestag). Im für dessen Stabilität eine wichtige Rolle. In der Politikwis- Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
Abbildung 7: Vertrauen in politische Parteien nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen 17 (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „voll und ganz“ bis 5 „überhaupt nicht“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 2.89 Schockregion 3.43 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 3.14 Schockregion 3.30 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 3.22 Schockregion 3.25 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant Abbildung 8: Vertrauen in Bundestag nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „voll und ganz“ bis 5 „überhaupt nicht“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 2.65 Schockregion 3.23 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 2.81 Schockregion 2.99 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 2.89 Schockregion 3.04 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
18 Abbildung 9: Politische Responsivität nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von –2 „minimale“ bis +2 „maximale“ Responsivität) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion -0.11 Schockregion -0.51 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion -0.34 Schockregion -0.46 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion -0.43 Schockregion -0.75 -2.00 -1.50 -1.00 -0.50 0.00 0.50 1.00 1.50 2.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant senschaft wird die Gewissheit der Bürger_innen, dass die pp „Politiker bemühen sich um einen engen Kontakt zur gewählten politischen Repräsentanten für ihre Anliegen Bevölkerung.“ aufgeschlossen sind und auf diese sensibel reagieren, als pp „Politiker nehmen sich mehr Rechte heraus als normale Responsivität des politischen Systems bezeichnet. Dass Bürger.“ Politik als responsiv erfahren wird, ist eine Grundvoraus setzung dafür, dass die repräsentative Demokratie in Abbildung 9 zeigt, dass das Vertrauen in die Offenheit und Deutschland in der Bevölkerung verankert ist. Der Vertrau- Rückkopplungsfähigkeit des politischen Systems und sei- ensvorschuss, den die Bevölkerung den Politikern durch ner Repräsentanten nicht nur generell niedrig ausfällt, son- ihre Wahl gewährt, kann nachhaltig untergraben werden, dern besonders in den Regionen gestört ist, welche in den wenn die Responsivität des politischen Systems als gering letzten 30 Jahren von demografischem Wandel und öko- eingeschätzt wird. nomischer Stagnation vergleichsweise stärker betroffen waren. Dieser Kontexteffekt wirkt sich auf die wahrge- Wir haben Responsivität über vier Aussagen zu Parteien nommene Responsivität in Thüringen und Brandenburg und Politikern gemessen, wobei die jeweiligen Antworten deutlicher, in Sachsen etwas weniger aus. In den Schock- in der Skala „politische Responsivität“ von minus 2 (sehr regionen der drei untersuchten Bundesländer zeigen sich geringe Responsivität) bis plus 2 (sehr hohe Responsivität) die Bürger_innen weniger davon überzeugt, dass ihre Be- zusammengefasst werden. Diese Skala liefert einen zu- dürfnisse und Erwartungen bei den gewählten politischen sätzlichen Indikator für das Vertrauen, das Politikern und Entscheidern Berücksichtigung finden. dem politischen System entgegengebracht wird. Die Ant- wortvarianten lauten: Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass nur eine Minderheit von Bürger_innen in den drei Bundeslän- pp „Die Parteien und Politiker wollen nur die Stimmen der dern einer repräsentativen Demokratie den Vorzug gibt. Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht.“ Die Präferenz für das plebiszitäre Modell, die in Ost- pp „Politiker kümmert es nicht, was die einfachen Leute deutschland seit 1990 durchgehend höher rangiert (Holt- denken.“ mann 2019, S. 89), schwankt im Spiegel der 2018 erhobe- Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
Abbildung 10: Bevorzugte Demokratieform „repräsentative Demokratie“ nach Bundesländern und 19 Gewinner- bzw. Schockregionen (Nennungen in Prozent) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 42 Schockregion 29 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 45 Schockregion 34 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 41 Schockregion 29 0 10 20 30 40 50 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant nen Daten zwischen 34 Prozent in Thüringen und knapp sentativ oder plebiszitär) sowie das allgemeine Vertrauen 40 Prozent in Sachsen (Abbildung 10). Gerade in den un- in politische Institutionen – liefern eher indirekte Nachwei- tersuchten Schockregionen sind Sympathien für die plebis- se für die Unterstützung des politischen Systems in zitäre Demokratie, bei der die politischen Entscheidungen Deutschland. Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der unmittelbar vom Volk (z. B. durch Volksabstimmungen) Demokratie im Land misst hingegen die subjektive Ein- getroffen werden, mehrheitsfähig und die Anhänger des schätzung der konkreten Leistungsfähigkeit (Performanz) repräsentativen Systems sind in der Minderheit. In Ge- des politischen Systems, vorrangig der Regierung. Dieses winnerregionen ist der Anteil derer, die sich für eine parla- Urteil fällt, anders als die abstrakte Bewertung der Idee der mentarische Demokratie mit gewählten Volksvertretern Demokratie, in der Regel kritischer aus (Holtmann 2019, aussprechen, mit durchschnittlich 10 Prozentpunkten S. 46; Holtmann/Jaeck/Völkl 2018, S. 60 f.). mehr deutlich größer. Für alle drei Bundesländer zeigen sich zwischen beiden Regionstypen signifikante Unter- Auch bei dieser Frage unterscheiden sich die Einschätzun- schiede. gen in den Gewinner- und Verliererregionen der drei un- tersuchten Bundesländer signifikant. So fällt die Demokra- Derselbe Zusammenhang lässt sich, wenngleich etwas tiezufriedenheit in allen Schockregionen deutlich schlechter weniger stark, auch für ländliche und urbane Räume fest- aus. Die Polarisierung zwischen den Regionstypen ist be- stellen (ohne Abbildung). In ländlichen Gebieten nimmt sonders in Thüringen und Brandenburg nachweisbar, für die Zustimmung zur repräsentativen Demokratie im Sachsen in abgeschwächter Form (Abbildung 11). In Thü- Gegensatz zu städtisch geprägten Gebieten ab. Dabei ist ringen und Brandenburg beträgt die Spannweite der Un- zu berücksichtigen, dass ländliche Räume in der Regel terschiede, bei einer Skalenbreite von 1 bis 5, etwa 0,4 auch stärker vom Transformationsschock betroffen sind als Punkte. Der länderübergreifende Gesamtwert liegt bei ca. überwiegend urban geprägte Gebiete oder Großstädte. 3,2 Punkten und somit im leicht negativen Bereich. Die bisher betrachteten Faktoren – die wahrgenommene Responsivität, das bevorzugte Demokratiemodell (reprä- EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG 12
20 Abbildung 11: Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen (Mittelwertvergleich auf einer Skala von 1 „sehr zufrieden“ bis 5 „sehr unzufrieden“) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 2.88 Schockregion 3.27 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 3.04 Schockregion 3.24 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 3.19 Schockregion 3.55 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant Abbildung 12: Politische (Online-)Partizipation nach Bundesländern und Gewinner- bzw. Schockregionen (Mittelwertvergleich von 0 bis 6 möglichen Partizipationsformen) Insgesamt Thüringen* Gewinnerregion 0.74 Schockregion 0.53 Insgesamt Sachsen Gewinnerregion 0.87 Schockregion 0.58 Insgesamt Brandenburg Gewinnerregion 0.88 Schockregion 0.57 0.00 0.50 1.00 1.50 2.00 2.50 3.00 3.50 4.00 4.50 5.00 5.50 6.00 Quelle: Eigener Datensatz (Bevölkerungsumfrage 2018), * Gruppenunterschiede signifikant Einflüsse des Lebensumfelds auf politische Einstellungen und Wahlverhalten
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