Weißenburger Blätter Geschichte . Heimatkunde . Kultur - Januar 2020 - Weißenburger Blätter

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Weißenburger Blätter Geschichte . Heimatkunde . Kultur - Januar 2020 - Weißenburger Blätter
nostra 1/2020   Weißenburger Blätter
                Geschichte . Heimatkunde . Kultur
                                             Januar 2020
villa
Weißenburger Blätter Geschichte . Heimatkunde . Kultur - Januar 2020 - Weißenburger Blätter
Impressum:                                             1/2020
                                                           Herausgeber: Große Kreisstadt Weißenburg i. Bay.,
Inhalt:                                                     Neues Rathaus, 91780 Weißenburg i. Bay.,
                                                            Tel.: 09141/907102, Fax: 09141/907138
Thomas Wägemann:                                            (Büro des Oberbürgermeisters)
Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus               E-Mail: stadt@weissenburg.de
Weißenburg – Konstrukteur eines „Papierdrachens“            Internet: http://www.weissenburg.de
oder Schöpfer der „V2“?
S. 5                                                       Erscheinungsweise: dreimal jährlich (Januar, Mai, September)
                                                           Auflage: 2500
Ulrich Heiß:
LogoLogo … alles Logo??                                    Schriftleitung v.i.S.d.P.: Dipl.-Archivar (FH) Reiner Kammerl,
S. 29                                                        Stadtarchiv, Neues Rathaus, Tel.: 09141/907222,
                                                             Fax: 09141/907227, E-Mail: stadtarchiv@weissenburg.de
                                                           Redaktion und Konzeption: Reiner Kammerl, Jürgen Schröppel
Titelbild:                                                 Beiträge: Ulrich Heiß, Thomas Wägemann

Bronzebüste von Rudolf Nebel in der Staatlichen            Fotos und Zeichnungen: Privatbesitz, „Weißenburger Tagblatt“,
                                                             und (nicht eigens angegeben): Stadtarchiv Weißenburg i. Bay.
Realschule Weißenburg, von Wolf (Wolfgang) Ritz
                                                             Zu den abgebildeten Logos (S. 29 ff.) vgl. die im Text angege-
(1920-2008), Maler und Bildhauer in Aachen. Als Au-          benen Grafiker.
todidakt, der nie Kunst studiert hat, zählte Ritz zu den
bedeutendsten Porträtmalern seiner Zeit und hat eine       Satz und Druck: Buch- und Offsetdruckerei Braun & Elbel,
                                                             Weißenburg i. Bay.
ganze Reihe bedeutender Persönlichkeiten des 20. Jahr-
hunderts porträtiert.                                      Die „villa nostra – Weißenburger Blätter“ sind kostenlos erhält-
                                                           lich in den bekannten Verteilerstellen der Stadtverwaltung (u. a.
  Die Anschaffung hatte der „Elternbeirat der Rudolf-
                                                           Neues Rathaus, Amt für Kultur und Touristik, Stadtbibliothek),
Nebel-Realschule“ am 14. April 1970 initiiert und mit-     im Weißenburger Museumsshop, im Kundenzentrum der Stadt-
finanziert. Die Stadt als damaliger Träger der Schule      werke GmbH, in den Weißenburger Geschäftsstellen der Spar-
hat gut die Hälfte der Kosten übernommen. „Wenn man        kasse sowie den örtlichen Buchhandlungen und Banken.
schon die Realschule nach Professor (!) Nebel benannt      Bei Bedarf, soweit von Institutionen oder Gewerbebetrieben
habe, so könne man auch die Anschaffung einer Büste        Exemplare zur Auslage in Wartezimmern o. Ä. gewünscht, oder
für das Schulgebäude nicht ablehnen“, begründete           auch falls frühere Ausgaben ganz oder teilweise benötigt werden,
Weißenburgs Oberbürgermeister Dr. Horst Lenz seine         wenden Sie sich bitte an das Stadtarchiv oder das OB-Büro.
Zustimmung in der Stadtratssitzung vom 18. Juni 1970.
                                                           © Stadt Weißenburg bzw. Verfasser der Beiträge.
                 (Foto: Stadtarchiv Weißenburg i. Bay.)

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„Doch um die Früchte seiner Pionierarbeit sah sich der Ingenieur, der am 21. März 1894 geboren
wurde, geprellt.“

Zu seinem 125. Geburtstag am 21. März 2019 würdigte       Der zweite Beitrag in diesem Heft stellt das neue Stadt-
der Deutschlandfunk Rudolf Nebel als „Pionier der         logo vor, das nach anfänglichen Startschwierigkeiten
Raketentechnik“. Ausgehend von seinen grundlegen-         erst in den letzten Wochen abschließend auf den Weg
den Arbeiten bei der Entwicklung der modernen Rake-       gebracht worden ist.
tentechnik stellte der Beitrag v. a. Nebels Kampf um        Ulrich Heiß, der im Stadtbauamt (Sachgebiet Stadt-
Anerkennung in den Vordergrund. Aus diesem Bericht        entwicklung) maßgeblich für die Entwicklung und Um-
stammt auch das Zitat in der Kopfzeile.                   setzung zuständig war, hinterfragt das mit dem einem
  Wie schwer es ist, aus heutiger Sicht nicht nur die     hintergründigen „Alles Logo??“
Leistungen, sondern auch den Menschen Rudolf Nebel          Die jetzt erfolgte Einführung des neuen Stadtlogos
zu beurteilen, wenn doch selbst seine Zeitgenossen und    haben wir (Redaktion) zum Anlass genommen, zum
Mitstreiter ihn recht widersprüchlich gesehen haben,      Vergleich – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
zeigt der vorliegende Beitrag von Thomas Wägemann.        einen kleinen Überblick über ältere Stadtlogos anzufü-
  Unbestritten sind seine Verdienste um die Entwick-      gen.
lung der Raketentechnik, auch wenn er nach anfänglich
spektakulären Erfolgen von der Weiterentwicklung ab-      Wir wünschen Ihnen zum Jahreswechsel alles Gute für
geschnitten wurde.                                        das Jahr 2020.
  Nebel war ein glänzender Organisator, der es wie
kaum ein anderer verstanden hat, die Öffentlichkeit für
seine Forschungen zu interessieren und Mittel für seine   Ihr                                Ihr
Projekte zu beschaffen. Er sollte uns in Erinnerung
bleiben als ein hochbegabter, bis zu seinem Tod von Vi-
sionen geleiteter Ingenieur und einer der Wegbereiter     Jürgen Schröppel                   Reiner Kammerl
der modernen Weltraumforschung – und gleichzeitig         Oberbürgermeister                  Stadtarchivar
auch als ein weltweit bekannter Sohn der Stadt Wei-
ßenburg; er stammt (mütterlicherseits) aus der altein-
gesessenen Familie Staudinger.

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                 1/2020

     Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg
     – Konstrukteur eines „Papierdrachens“ oder Schöpfer der „V2“?
                                            Thomas Wägemann
Nach dem gebürtigen Weißenburger wurde zu Lebzei-             Krieg von 1870/71 eine wichtige Verbesserung zum da-
ten eine Straße und ein Schulgebäude in seiner Heimat-        maligen Zündnadelgewehr erfunden haben.5 Nebel
stadt benannt. Dennoch ist relativ wenig über das             schreibt in seinem autobiografischen Buch, seine
Wirken und Leben dieses Mannes bekannt. Gibt man              Großmutter 6 habe ihm erzählt, wie sie es selbst erlebt
den Namen Rudolf Nebel in eine der bekannten Such-            habe, dass auf dem Dachboden des elterlichen Hauses
maschinen im Internet ein, erhält man eine Fülle von          „die Taler und Goldstücke in Wäschekörben“ abge-
Angaben, die häufig schlichtweg falsch sind. So wird          stellt wurden.7
er z. B. schon mal als promovierter Ingenieur oder gar          Bereits 1899 zog es den Vater aus beruflichen Grün-
als Professor bezeichnet, dem weltweit der erste Start        den nach München.8 Trotz der relativ wenigen Kind-
einer Flüssigkeitsrakete gelang. Ein anderes Mal wird         heitsjahre in Weißenburg hatte Nebel, wie er selbst
ihm die Erfindung des sogenannten „Nebelwerfers“
                                                           1 Johann Joseph Nebel, Kaufmann (geb. 19.03.1853 Koblenz, gest. 24.12.
oder gar der „V2“ zugeschrieben. Wer dieser berühmte         1946 Nürnberg). Am 01.01.1895 meldet Joseph Nebel ein „Kommissions-
Sohn Weißenburgs wirklich war bzw. welches seine             geschäft“ an. Der Eintrag im Gewerberegister wird aber wieder gestrichen
Verdienste um die Raketenforschung wirklich waren            - mit dem Vermerk „weil nicht betrieben“ (Stadtarchiv Weißenburg i. Bay.,
                                                             im Folgenden: StadtA Wßbg., Rep. III 1512/2).
und was im Laufe der Zeit zum Mythos verklärt wurde,       2 Behördlich angemeldet haben sich die Eltern in Weißenburg nicht. Somit
versucht dieser Bericht aufzuzeigen.                         fehlt jeder Nachweis über die Aufenthaltszeit, und die am 24.03.1894 nach-
                                                             träglich ausgestellte Geburtsanzeige ist der einzige amtliche Nachweis der
                                                             Wohnung (StadtA Wßbg., Geburtsregister 53/1894) .
Kindheit in Weißenburg 1894-1899                           3 Emma Mathilde Hewig Nebel, geb. Staudinger (geb. 17.07.1873 Nürnberg;
Rudolf Willy Nebel wurde am 21. März 1894 in Wei-            Angaben zu Todeszeitpunkt und -ort liegen nicht vor).
ßenburg geboren. Sein Vater war der aus Koblenz stam-      4 Ernst Eugen Staudinger (geb. 27.02.1836 Weißenburg i. Bay., gest. 25.01.
                                                             1918 Weißenburg i. Bay.), Schlosser, Eisenhändler, Büchsenmacher. Die alt-
mende Kaufmann Johann Joseph Nebel 1. Die Familie            eingesessene Familie Staudinger ist seit dem ausgehenden 17. Jh. Besitzer
wohnte eine Zeit lang in Weißenburg am Marktplatz im         des stattlichen Anwesens Marktplatz 3.
Haus Nr. 6 (vgl. Abb. 1); dort wurde Rudolf Nebel auch     5 Rudolf Nebel, Die Narren von Tegel. Ein Pionier der Raumfahrt erzählt,
                                                             Düsseldorf 1972, S. 21.
geboren.2 Der Umgang mit Schwarzpulver und explo-            Weder beim Deutschen Patent- und Markenamt München noch beim gleich-
siven Materialien lag dem späteren Forscher und Er-          namigen Amt in Berlin konnten Nebels Angaben bestätigt werden.
finder wohl schon im Blut, war doch seine Mutter           6 Louise Staudinger, geb. Preu (geb. 05.07.1838 Weißenburg i. Bay., gest.
                                                             29.11.1919 Weißenburg i. Bay.).
Emma3 eine Tochter des Weißenburger Büchsenma-
                                                           7 Nebel, a. a. O., S. 21.
chers Ernst Staudinger (vgl. Abb. 2).4 Dieser soll, laut   8 Er wurde dort, so Nebel, Prokurist einer neu gegründeten Fabrik für Ketten-
Aussage von Rudolf Nebel, im Deutsch-Französischen           fahrräder (Nebel, a. a. O., S. 21).

                                                                                                                                  5
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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                    1/2020

schreibt, schon hier seine erste Berührung mit der              (Nr. 178) bei der „Königlich Bayerischen Inspektion
Technik. Sein Onkel Ernst Staudinger 9 war nämlich              der Luft- und Kraftfahrtruppen“ in München erhielt
„Mitglied im Veloziped-Club 10 und fuhr stolz mit sei-          Rudolf Nebel erst danach, nämlich am 15. August
nem Hochrad durch die Stadt“.11                                 1912.17

Wege zur Technik                                                Erster Weltkrieg 18
Über München führte der Weg der Familie Nebel wie-              Vom 1. Oktober 1912 bis 30. September 1913 leistete
der zurück in fränkische Gefilde nach Nürnberg. Dort            Nebel seinen Militärdienst (Freiwilligen-Jahr) beim
wurde Rudolf 1903 eingeschult. Der technikbegeisterte           „Königlich Bayerischen Telegraphenbataillon“ in
Schüler verschlang wie viele seiner Altersgenossen die          München ab und wurde als Offiziersanwärter entlassen.
Bücher von Jules Verne, war fasziniert von den Flug-        9 Ernst Staudinger, Fabrikant (geb. 29.07.1862 Weißenburg i. Bay., gest.
pionieren Lilienthal oder den Wrights und teilte die all-      31.01.1927 Weißenburg i. Bay.). Zu der von ihm errichteten „Weißenburger
gemeine Begeisterung für die Ideen des Grafen                  Email- und Blechwarenfabrik“ an der Schulhausstraße vgl. Reiner Kammerl,
                                                               Zwischen Ellinger Tor und Schwärzgasse, in: „villa nostra“ 1/2017, S. 19 f.
Zeppelin. Als er schließlich erfuhr, dass es in der Nähe    10 Der 1885 gegründete „Weissenburger Veloziped-Club“ war der erste Rad-
von Berlin „Fliegende Menschen“ geben solle, war der           fahrverein in der Stadt (1933 gleichgeschaltet). Er hatte sich auch gesell-
Junge nicht mehr zu halten. Von seinem Weißenburger            schaftlichen Aspekten verschrieben (StadtA Wßbg., Rep. III 982/1).
                                                            11 Nebel, a. a. O., S. 21.
Onkel Ernst 12 bekam er Fahrradteile geschenkt. Rudolf
                                                            12 Der angegebene Onkel Ernst Staudinger (vgl. Anm. 9) war Schlosser und
baute sich daraus ein Rad zusammen und machte sich             dann Fabrikant. Den traditionellen Familienbetrieb, Marktplatz 3, übernahm
in den Sommerferien 1909 auf den Weg nach Berlin.              der jüngere Bruder Wilhelm Staudinger (geb. 10.03.1867 Weißenburg i. Bay.,
In Berlin-Johannisthal angekommen, sah er erstmals in          gest. 04.02.1956 Weißenburg i. Bay.).
                                                               Das „Adreß- und Geschäftshandbuch der Königl. Stadt Weißenburg in Bay-
seinem Leben Flugzeuge in Aktion und änderte sofort            ern“ von 1906 (StadtA Wßbg., Slg. I.4.6) führt unter den „Fahrradhand-
sein Berufsziel von „Pferdebahnkutscher“ in „Aviati-           lungen“ (a. a. O., S. 64) richtig „Staudinger Ernst (Inhaber Staudinger
ker“ 13.                                                       Wilhelm)“. Eine ganzseitige Anzeige (a. a. O., Anhang 14) beschreibt das
                                                               Staudingersche Geschäft als „Spezialgeschäft für Haus- und Küchengeräte,
  Zurück in Nürnberg experimentierte er zunächst mit           Spielwaren, Fahrräder“ (vgl. Abb. 2).
selbst gebauten Flugdrachen. Dabei kam er auf die           13 Nebel, a. a. O., S. 25.
Idee, diese, wie heutzutage Drohnen, mit einer Kamera       14 Recherchen im Stadtarchiv Nürnberg ergaben keine Bestätigung zu Nebels
                                                               Luftbildern.
zu bestücken. Auf die Art und Weise kamen angeblich         15 Die „Libelle“ war ein leichter Eindecker mit Hängemattensitz. Die von dem
die ersten Luftbilder Nürnbergs 14 zustande. Praktischer       deutschen Ingenieurs und Unternehmer Hans Grade (1879-1946) ab 1908
Nebeneffekt war, dass Nebel damit auch Geld ver-               gebaute Maschine gilt als das erste wirklich flugfähige deutsche Motorflug-
                                                               zeug. Die Konstruktion des Flugzeuges ging auf den Brasilianischen Mo-
diente. Dieses investierte er sogleich in einen Bauplan        torflugpionier Alberto Santos Dumont zurück (www.wikipedia.org; Aufruf
für ein Flugzeug.                                              vom 11.11.2019).
  Am 17. Juli 1912 war es so weit. Die „Libelle“ 15,        16 Montage und Flugübungen erfolgten auf dem Exerzierplatz des 14. Infante-
                                                               rie-Regiments in Hainberg bei Nürnberg (Nebel, a. a. O., S. 28).
Nebels selbst gebautes Flugzeug erhob sich erstmals
                                                            17 Nebel, a. a. O., S. 30.
aus eigener Kraft vom Boden.16 Pilot war natürlich          18 Quelle für die nachfolgenden biografischen Angaben: Nebel, a. a. O.,
Rudolf Nebel selbst. Den offiziellen Pilotenschein             S. 32 ff.

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                        1/2020

Abb. 1: Das Geburtshaus von Rudolf Nebel, Marktplatz 6 (Bild-
mitte), in einer Aufnahme um 1890.
Die Aufschrift („BRAUEREI C. AUERNHEIMER“) an der Fassa-
de bezeichnet die ehemalige Brauerei und Gastwirtschaft „Zum
Goldenen Greifen“ – beides wurde zum 28. März 1893 eingestellt.

Als Maschinenbau-Student war er gerade im vierten
Semester an der Technischen Hochschule München, als
der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Offiziersanwärter                         Abb. 2: Anzeige zu Ernst Staudingers „Spezialgeschäft“
und Pilot kam aber nicht etwa zur Fliegertruppe, son-                               im „Adreß- und Geschäftshandbuch“ von 1906.
dern zur Infanterie an die Front nach Lothringen.
                                                                  19 Das Flugzeug galt, im Gegensatz zum Luftschiff, eher als technische Spie-
  Die militärische Bedeutung von Flugzeugen wurde                    lerei. Anders in Frankreich, wo deren Wert zur Artilleriebeobachtung oder
in Deutschland zu Beginn des Krieges nicht erkannt,                  Gefechtsaufklärung frühzeitig erkannt und wo daher auch frühzeitig und
die Ausstattung der wenigen fliegenden Einheiten mit                 zielstrebig mit dem Ausbau einer Luftstreitmacht begonnen wurde (vgl. Hans
                                                                     Schmidt, Föderalismus und Zentralismus im Deutschen Heerwesen des Kai-
tauglichen Maschinen daher auch sträflich vernachläs-                serreichs. Die Königlich-Bayerische Fliegertruppe 1912-1919, in: Zeitschr.
sigt.19                                                              f. bayer. Landesgeschichte Bd. 52, München 1989, Heft 1, S. 107-130.

                                                                                                                                         7
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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                   1/2020

Im Mai 1915 überlebte Nebel einen der ersten Gasan-           Nebel schoss sich nämlich bei seinem nächsten Einsatz
griffe bei Arras 20 und wurde mit dem Eisernen Kreuz          selbst damit ab. Die Rakete löste sich nicht aus der Hal-
II. Klasse ausgezeichnet. Durch Zufall kam er mit dem         terung und explodierte deshalb unter der Tragfläche.
Kommandeur einer bei Arras liegenden Feldfliegerab-           Die Maschine stürzte ab und Nebel konnte gerade noch
teilung ins Gespräch. Da die Bedeutung des Flugzeu-           aus dem brennenden Wrack geborgen werden. Er er-
ges nun auch von den deutschen Militärs eingesehen            hielt für seine Luftsiege das „Eiserne Kreuz I. Klasse“.
wurde, war der Weg für Rudolf Nebel vom Grabenkrie-           Weitere Einsätze oder Experimente wurden ihm von
ger zum Jagdflieger frei. Am 27. Januar 1916 wurde er         höchster Stelle jedoch untersagt. Mit dem im Zweiten
an die Fliegerersatzabteilung nach Schleißheim (vgl.          Weltkrieg zu einer gewissen Berühmtheit gelangten
Abb. 3) bei München abkommandiert, zum Jagdflieger            „Nebelwerfer“ 23 hat Rudolf Nebel – auch wenn ihm
ausgebildet, im August 1916 als „frontreif“ von der           wegen der Namensübereinstimmung die Erfindung die-
Ausbildung entlassen und zur Jagdstaffel 5 komman-            ser Waffe immer wieder zuschrieben wird – definitiv
diert. Einer seiner Staffelkameraden war der spätere          nichts zu tun.24
Reichsmarschall Hermann Göring 21.                              Das Kriegsende erlebte Nebel in Nürnberg. Nach Er-
                                                              halt seines Demobilmachungsbefehls setzte er ab De-
Signalraketen und „Nebelwerfer“                               zember 1918 sein Studium an der Technischen Hoch-
Nach einem misslungenem Luftkampf im Dezember                 schule in München fort und legte im März 1919 auch
1916 in der Nähe von Cambrai 22 – Nebel wurde von             sein Vorexamen ab.
einem Engländer abgeschossen – hatte der Flieger an-
schließend im Lazarett Zeit, sich über die lebensgefähr-   20 Stadt in Nordfrankreich mit flämischen Stadtbild, Verwaltungssitz des Dé-
                                                              partements Pas-de-Calais (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
liche Kurbelei mit dem Gegner Gedanken zu machen.          21 Hermann Göring (1893-1946), Reichsmarschall und Ministerpräsident, im
Vor allem die Nähe zum feindlichen Flugzeug (Luft-            Ersten Weltkrieg letzter Kommandeur des Jagdgeschwaders Richthofen; vgl.
kämpfe spielten sich meist in einer Entfernung um die         Hermann Weiß (Hrsg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frank-
                                                              furt a. M. 2002, S. 156 ff.
30 m ab) machte ihm Sorgen. Nebel sann also folge-         22 Cambrai, Stadt im Nordosten Frankreichs, nahe der belgischen Grenze
richtig nach Möglichkeiten, den Gegner aus größeren           (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
Distanzen erfolgreich zu bekämpfen. Er kam auf die         23 „Nebelwerfer“: Raketenwerfer mit dem Kaliber 15 cm, 21cm und 30 cm.
                                                              Die Entstehung des „Nebelwerfers“ geht auf General Walter Dornberger
Idee, an seinem Flugzeug Signalraketen zu installieren,       (1895-1980) zurück. Die Bezeichnung selbst war eine in der Entwicklung von
die er vom Sitz aus elektrisch zünden konnte. Tatsäch-        Waffen übliche Tarnbezeichnung und hat ihren Ursprung in der starken Rauch-
lich funktionierte die simple Einrichtung zunächst ganz       spur der Schwarzpulverraketen (vgl. Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen
                                                              des deutschen Heeres 1933-1945, Band 1, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 22).
gut. Nebel schoss damit auf eine Distanz von ca.100 m      24 Hintergrund ist wohl die Tatsache, dass seine Signalraketen-Versuche von
einen Engländer ab und zwang eine zweite (unbeschä-           seiner Flugzeugstaffel im Ersten Weltkrieg als „Nebelwerfer“ bezeichnet
digte) Maschine mit einem völlig verschreckten Piloten        wurden (www.deutsche-biographie.de; Aufruf vom 11.11.2019). Ob ihm
zur Landung. Der Weißenburger hatte so im Prinzip die         selbst die Gefahr einer Verwechslung mit den späteren Raketenwerfern (vgl.
                                                              Anm. 23) bewusst war, lässt sich ohne tiefergehende Recherchen nicht klä-
erste „Luft-Luft-Rakete“ erfunden, installiert und er-        ren. Jedenfalls wurde er in seinen Vorträgen vereinzelt auch als Erfinder der
folgreich eingesetzt. Die Sache hatte nur einen Haken.        Nebelwerfer angekündigt (vgl. Anm. 88).

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                 1/2020

Abb. 3: Rudolf Nebel in Weißenburg.
 Dieses Foto hat Rudolf Nebel seiner
 Neujahrsglückwunschkarte 1978 an
    Oberbürgermeister Dr. Günter W.
  Zwanzig beigefügt. Es zeigt ihn vor
einer Militärmaschine, mit der er am
      16. Mai 1916 auf dem Flug von
     Schleißheim nach Nürnberg und
   zurück in seiner Vaterstadt (an der
    Hagenau) zwischengelandet war.
Im Hintergrund, so hat Rudolf Nebel
 ergänzt, sind „Großvater Staudinger
   und Inkel und Tante Staudinger in
               Weißenburg“ zu sehen.

In den Wirren der Münchner Nachkriegszeit, er war        25 Eine Abordnung des Corps war bei Nebels Beerdigung in Weißenburg. An-
                                                            fragen des Verf. bei dem Corps zu Nebels Rolle in der Studentenverbindung
mittlerweile Mitglied in der dortigen Studentenverbin-      und im Heimatschutzbund blieben leider unbeantwortet. Er selbst gibt an,
dung „Corps Cisaria“ 25 und hatte die Führung einer         dass er „Chargierter“ der Cisaria geworden war und „für kurze Zeit die Füh-
Gruppe des Münchner Heimatschutzbundes 26 über-             rung einer Gruppe des Münchner Heimatschutzbundes übernehmen“ musste
                                                            (Nebel, a. a. O., S. 43).
nommen, wurde Nebel von den Kommunisten verhaf-             Das „Corps Cisaria“ wurde 1851 in Augsburg gestiftet, wechselte 1853
tet. Er konnte jedoch mithilfe eines Kameraden aus          nach München, wo es 1912 im „Weinheimer Senioren-Convent“ aufgegan-
dem Gefängnis nach Nürnberg fliehen.27 Als sich die         gen ist. Die 1935 aufgelöste Verbindung hat sich bereits 1944 (im Verborge-
                                                            nen) wiedergegründet (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
Lage beruhigt hatte, kehrte er im Oktober 1919 nach      26 Die aus München geflohene bayer. Regierung Hoffmann rief nach den re-
München zurück und legte sein Hauptexamen ab.               volutionären Unruhen im April 1919 zur Bildung einer Einwohnerwehr in
  Die folgenden Jahre verbrachte Nebel als Ingenieur        München auf, „zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung“. Am
                                                            27.06.1921 lösten sich die inzwischen zentral organisierten bayerischen Ein-
bei Siemens in München (ab 1919) bzw. in Berlin (ab         wohnerwehren wieder auf (www.wikipeia.org/Einwohnerwehr; Aufruf vom
1927) und zwischendurch bei einer Deutsch-Schwedi-          11.11.2019).
schen Kugellagergesellschaft (SKF-Norma GmbH),           27 Seine Verhaftung „als Geisel“ sah Nebel als Reaktion der Kommunisten auf
die ein Ingenieurbüro in Nürnberg unterhielt.28             die Ermordung Kurt Eisners am 21.02.1919. Einem alten Bekannten aus der
                                                            Militärzeit verdankte er seine Befreiung. „Unter Kohlen versteckt“ konnte
  Die Rakete jedoch ließ ihn nicht mehr los. So expe-       er in einem Güterzug nach Nürnberg fliehen (Nebel, a. a. O., S. 44).
rimentierte er nebenbei weiter mit Pulverraketen und     28 Nebel, a. a. O., S. 44.

                                                                                                                                  9
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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                1/2020

war sogar Teilhaber an einer Feuerwerksfabrik im säch-        Nebels Rolle in dem UFA-Film „Frau im Mond” 32
sischen Pulsnitz (1923-1927).29                               1928/1929
                                                              Die Werbewirksamkeit der Rakete wollte sich auch
Raketenfieber                                                 eine Branche sichern, die mit Raketentechnik ursprüng-
Im Deutschland der späten Zwanziger Jahre, und hier           lich überhaupt nichts im Sinn hatte, nämlich die Film-
vor allem in Berlin, herrschte ein regelrechtes Raketen-      industrie. Fritz Lang, der 1927 mit „Metropolis“ ein
fieber. Zunächst war es noch ein recht wilder Haufen          Meisterwerk der Filmkunst abgeliefert hatte (gleichzei-
Einzelgänger, der zerstreut über das ganze Land mit           tig aber die Produktionsfirma UFA 33 an den Rand des
Feststoffraketen, also Schwarzpulverraketen, experi-          Ruins brachte), musste auf Druck der UFA einen neuen
mentierte. Bastler und Abenteurer, aber auch ausgebil-        Sensationsfilm abliefern. Lang konnte das Filmunter-
dete Techniker und Wissenschaftler montierten ihre            nehmen schließlich von der Produktion eines Raum-
Raketen an alles, was Räder, Tragflächen oder Kufen           fahrtfilms überzeugen; der Regisseur hatte nämlich
hatte (vgl. Abb. 4). Aber erst Opels spektakuläre Renn-       Hermann Oberths 34 1923 erschienenes Buch „Die Ra-
wagenvorführungen 30 lösten ein gewaltiges Medien-            kete zu den Planetenräumen“ gelesen und war faszi-
echo aus.                                                     niert von den technischen Möglichkeiten der Rakete.
   Jürgen Neffe 31 beschreibt in seiner Einstein-Biogra-      Kurzentschlossen engagierte er Hermann Oberth und
fie das Berliner Umfeld, in das Nebel nun eintauchte,
folgendermaßen: „Der Starkult hat nun die gesamte          29 Walther Killy/Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche Biographische Enzyklo-
Prominenz der Schauspieler, Schriftsteller und Musiker,       pädie (DBE), Band 7, München 2001, S. 354.
Sportler, Abenteurer und Technikpioniere erfasst.          30 Auf der Opel-Rennstrecke bei Rüsselsheim und dem Berliner Avus kam es
                                                              zu spektakulären und gefährlichen Vorführungen mit Raketenautos durch
Sechstagerennen und Autowettfahrten, Sportpalast,             den Industriellen Fritz von Opel und den Österreicher Max Valier. Dabei
Avus, Zeppelin und Flugzeug ... Die neue Freiheit hat         wurden bereits Geschwindigkeiten von über 230 km/h erreicht. Die erste öf-
die Republik und ihre Hauptstadt in ein Experimentier-        fentliche Fahrt eines von Pulverraketen angetriebenen Raketenautos Marke
                                                              Opel (Opel RAK. 1) fand am 12. April 1928 statt (www.wikipedia.org /Ra-
feld der Künste und Vergnügungen verwandelt.“                 ketenauto; Aufruf vom 11.11.2019).
Nur dass eben zu Zeppelin und Flugzeug nun noch die        31 Jürgen Neffe, Einstein – eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2005, S.
Rakete hinzukam. Die Rakete war laut, bot im Flug             308.
                                                           32 Der Science-Fiction-Film „Frau im Mond“ wurde 1928/1929 unter der
oder auf der Straße – bedingt durch die enorme Rauch-         Regie von Fritz Lang als einer der letzten deutschen Stummfilme nach der
fahne – einen spektakulären Anblick und war dazu              gleichnamigen Romanvorlage von Thea von Harbou gedreht (www.wikipe-
auch noch gefährlich, da sie eine unberechenbare Flug-        dia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
                                                           33 Universum Film AG, kurz UFA, gegründet 1917, Filmunternehmen mit
bahn hatte und hin und wieder explodierte. Die Rakete         Hauptsitz im Potsdamer Stadtteil Babelsberg, heute Teil des Bertelsmann
entpuppte sich plötzlich als ideales Werbemittel. Über-       Medienkonzerns (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
all dort, wo die Flugkörper präsentiert wurden, sei es     34 Hermann Oberth (geb. 25.06.1894 in Hermannstadt (Siebenbürgen), gest.
im Flug oder auch nur in Schaufenstern von Kaufhäu-           28.12.1989 in Nürnberg) gilt als einer der Begründer der modernen Raum-
                                                              fahrt. Seine Dissertation „Die Rakete zu den Planetenräumen“ sorgte für
sern, konnte sich der Veranstalter einer begeisterten         Aufsehen und gilt als eines der Standardwerke aus den Anfangsjahren der
Menge sicher sein.                                            Raumfahrtentwicklung (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                              1/2020

                                                                        Abb. 4: Raketenfieber.
                                                                        Seine Leidenschaft für die Raketen- und
                                                                        Weltraumforschung karikierte Rudolf Nebel selbst
                                                                        mit dieser Weihnachtskarte.

dessen Assistenten Willy Ley 35 als technische Berater       Rahmen von Brennversuchen ereignete sich eine Ex-
des Films und löste damit – unbewusst – ein schon fast       plosion, bei der Oberth an den Augen verletzt wurde.
schicksalhaftes Zusammentreffen Oberths mit Rudolf           Zwar konnte sein Augenlicht gerettet werden, die Stu-
Nebel aus.                                                   dioleitung erkannte aber jetzt plötzlich, dass sie sich im
  Zunächst kamen Oberth und sein Team mit ihrer Ar-          wahrsten Sinne des Wortes auf ein Spiel mit dem Feuer
beit an einer Raketenattrappe für die Studioaufnahmen        eingelassen hatte. Der Raketenstart durfte nun aus Si-
ganz gut zurecht. Dann hatte jemand vonseiten der            cherheitsgründen keinesfalls mehr in Babelsberg statt-
UFA die Idee, zum Filmstart eine echte Rakete starten        finden, sondern irgendwo weit weg, möglichst an der
zu lassen, und Oberth – möglicherweise durch die fi-         Ostseeküste.
nanziellen Möglichkeiten der UFA geblendet – sagte             Außerdem war es offensichtlich geworden, dass
den Wünschen des Studios allzu leichtfertig zu. Doch         Oberth die ihm gestellte Aufgabe nicht mehr alleine be-
der geniale Theoretiker kam schnell an die Grenze des        wältigen konnte. Über eine Zeitungsannonce 36 hoffte
technisch Machbaren. Der Termindruck auf die Rake-        35 Willy Ley (1906 Berlin – 1969 New York), Wissenschaftspublizist (verein-
tenbauer stieg immer stärker an – ausgelöst durch teil-      zelt unter dem Pseudonym Robert Wiley), Raketenkonstrukteur und Mitbe-
weise maßlos übertreibende Presseveröffentlichungen.         gründer des Berliner Raketenflugplatzes (www.wikipedia.org; Aufruf vom
                                                             11.11.2019).
  Anfang September 1929 kam es schließlich zu einem       36 Boris Rauschenbach, Hermann Oberth 1894–1989. Über die Erde hinaus.
folgenschweren Zwischenfall auf dem Filmgelände. Im          Eine Biographie, Wiesbaden 1995, S. 83 ff.

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                 1/2020

die UFA Unterstützung für Oberth zu finden. Gemeldet          einem Riesenkrach mit Oberth die Rakete und das
hat sich daraufhin auch der Weißenburger Rudolf               Startgestell wieder nach Babelsberg zurückgeschickt.
Nebel. Er empfahl sich als erfahrener Jagdflieger mit         Michael Neufeld dagegen kommt zu dem Schluss: „...
11 Abschüssen und vor allem mit seiner Erfahrung im           Frustriert von den zahlreichen Fehlschlägen platzierte
Umgang mit Raketen. Der selbstsicher und gewandt              Nebel heimlich Sprengstoff in der Rakete, damit diese
auftretende Ingenieur bekam den Zuschlag und wurde            beim Start explodierte, was sie dann auch tat. Nebel
Oberths Assistent.37                                          wusste, dass die Rakete niemals funktionieren würde,
  Zu diesem Zeitpunkt war ein Raketenstart zur Film-          wollte aber den Vertrag mit der Ufa über den Raketen-
premiere (15. Oktober 1929) – wie der Praktiker Nebel         start erfüllen.“ 40
schnell erkannte – bereits nicht mehr zu schaffen. Im           Die geplante Amerika-Premiere des Films kam indes
Gegenteil. Völlig erschöpft und mit seinen Kräften am         nicht mehr zustande. Der Tonfilm hatte Einzug im
Ende wollte der resignierte Oberth die Arbeit an der          Filmgeschäft gehalten. Fast über Nacht gehörte die
Rakete einstellen. Die UFA befragte den inzwischen zu         Stummfilmzeit samt ihrer Stars der Vergangenheit an.
Oberths Assistenten aufgestiegenen Nebel, ob er die           Nichtsdestotrotz wurde „Frau im Mond“ der erfolg-
Rakete auch alleine bauen könne – und der bejahte dies        reichste UFA-Stummfilm aller Zeiten.41
ohne zu zögern und machte sich als Erstes daran, sei-
nen Chef von einem Erholungsurlaub in dessen Heimat
Rumänien zu überzeugen.38 Der gutgläubige Oberth
willigte also ein und verlor durch diesen geschickten
                                                           37 Nebel, a. a. O., S. 62 f.
Schachzug Nebels jede Kontrolle und Einflussnahme          38 Dr. Michael J. Neufeld, Kurator für Geschichte des Zweiten Weltkrieges
auf das UFA-Raketenprojekt. Zweifellos liegt hier auch        beim National Air and Space Museum der Smithsonian Institution in Wa-
der Ursprung des lebenslangen, teilweise erbittert ge-        shington D.C. – er gilt als einer der führenden Experten in der Bewertung
                                                              der Geschichte der Technik im Dritten Reich – schreibt, dass Rudolf Nebel
führten Streits der beiden Raketenforscher.                   mehr ein Geschäftsmann und Künstler war als alles andere, und dass er sich
  Nun war es Nebel, der mit ständigen Problemen und           aufgrund seines zwar tatkräftigen, aber skrupellosen Wesens immer wieder
Explosionen zu kämpfen hatte. Erklärtes Ziel war mitt-        durchsetzte (Michael J. Neufeld, Die Rakete und das Reich. Wernher von
lerweile ein Raketenstart zur Amerika-Premiere des            Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, Berlin 1999,
                                                              S. 25).
Films. Am 3. Dezember 1929 hatte Nebel die Rakete          39 Horst (Westpommern), heute Niechorze an der polnischen Ostseeküste
schließlich so weit, dass der Start innerhalb von Tagen       (www.pl-ostsee.de/Seebad Nichorze Horst; Aufruf vom 11.11.2019).
möglich schien. Als Startplatz hatte er eine Lichtung in   40 Neufeld, a. a. O., S. 25.
                                                           41 Der 1,8 Millionen Mark teure Film spielte im wirtschaftlichen Krisenjahr
der Nähe des Ostseebades Horst 39 auserkoren. Oberth,         1929 sagenhafte 8 Millionen Mark ein. Er gilt als richtungsweisend für das
mittlerweile aus dem Genesungsurlaub zurückgekehrt,           Sience-Fiction-Genre – immerhin wurde der bis heute übliche Countdown
erkannte seine Raketenkonstruktion nicht mehr wieder          beim Start einer Rakete zu diesem Film erfunden. Der Film wurde nach der
                                                              Machtübernahme der Nationalsozialisten aus dem Vertrieb genommen und
und lehnte jede weitere Verantwortung ab.                     die Nachbildung des Raumschiffes wurde von der Gestapo zerstört. Grund
  Über das folgende Geschehen im Seebad Horst gibt            war die unglaublich realistische Darstellung des Raketenstarts und der
es zwei Versionen. Nebel selbst schreibt, er habe nach        Raketen selbst (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).

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Nebels Raketenflugplatz 1930-1933.
Geburt und Ende eines Mythos
Die Gruppe der „Raketenbastler“ um Rudolf Nebel,
der übrigens (anders als Oberth) ohne großen Schaden
an Vermögen und Ansehen aus dem UFA-Desaster he-
rauskam, hatte sich zwischenzeitlich erheblich vergrö-
ßert. In der Endphase der Arbeiten am UFA-Film war
z. B. der junge Student Wernher von Braun 42 zu Rudolf
Nebel gestoßen. Das Verhältnis der höchst unterschied-
lichen Charaktere von Braun und Nebel sollte nicht
ohne ernste Spannungen bleiben.
   Zunächst jedoch fand in diesen Wochen und Monaten
(Jahreswende 1929/1930) eine bemerkenswerte und
wichtige Veränderung in der deutschen Raketenfor-
schung statt. Durch die Konzentration von Mitarbeitern
(Bastler, Handwerker, Techniker und Forscher) um eine
Person (Nebel) wurde der Schritt von einer individu-
ellen und damit langwierigen Forschung hin zur effi-
zienten Teamarbeit vollzogen. Logische Folge dieser
Zusammenballung geistiger und technischer Kräfte war
die dringliche Notwendigkeit eines gemeinsamen For-                                 Abb. 5: Philatelistischer Erinnerungsbrief
schungsgeländes. Rudolf Nebel fand dieses schließlich                                (Europäischer Bund Freier Philatelisten)
in einem ehemaligen Schießplatz im Berliner Stadtbe-                             zum 70. Geburtstag von Rudolf Nebel 1964,
zirk Reinickendorf. Die auf dem Gelände vorhandenen                        mit Stempeln und Widmungen. Erwähnt wird auch
Erdwälle und Betonbauten (im Ersten Weltkrieg war                sein „1. Raketenflugplatz der Welt in Berlin-Reinickendorf“.
dort Munition gelagert worden) erwiesen sich als ideal
für die Forschergruppe. Am 27. September 1930 über-
reichte ein Vertreter des Amtes für Liegenschaften – die   42 Wernher von Braun (geb. 23.03.1912 Wirsitz, gest. 16.06.1977 Alexandria
symbolische Pacht betrug 10 RM – den Schlüssel für            bei Washington), Ingenieur und Raumfahrtexperte, zunächst aktiv auf Nebels
                                                              Raketenflugplatz in Tegel, dann Wechsel zur Raketenversuchsstelle Kum-
das Gelände an Rudolf Nebel. Wenig später erhielt das         mersdorf, 1934 Promotion und 1937 zum Leiter der Raketenentwicklung in
Areal von Rudolf Nebel jenen Namen, der in die Ge-            der Heeresversuchsanstalt Peenemünde ernannt. Er war maßgeblich an der
schichte der Raketentechnik und Raumfahrt eingehen            Entwicklung der „V2“ beteiligt, 1940 Eintritt in die SS, bei Kriegsende
                                                              Flucht nach Bayern und Verbringung nach Huntsville in das dortige US-Ra-
sollte: „Raketenflugplatz Berlin“ (vgl. Abb. 5 und 6).        ketenzentrum, 1955 Einbürgerung in die USA, ab 1960 maßgeblich am
                                                              Mondflugprogramm Apollo beteiligt, ab 1970 Leiter der Planungsabteilung
                                                              der NASA (Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, a. a. O., S. 59).

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Wie aus einer Abschrift 43 vom 12. Mai 1931 hervor-         Frühjahr 1931 brach das Amt jeglichen Kontakt zu
geht, war es die Abteilung für Ballistik und Munition       Nebel vorerst ab.51
des Heereswaffenamtes (HWA) 44, das im Hintergrund            Zwischenzeitliche Fortschritte machten die neue Ra-
die Fäden um die Gründung des „Raketenflugplatzes“          keten-Technologie jedoch transparenter und ein funk-
gezogen hat.45 Ein Interesse des HWA bzw. des Militärs      tionierendes Triebwerk schien jetzt möglich. Prompt
an der Raketenentwicklung war schon deshalb nahelie-        bot das HWA Nebel Verhandlungen über einen gehei-
gend, da man bei konventionellen Artilleriegeschützen       men Raketenstart auf dem Truppenübungsplatz in
mit dem „Paris-Geschütz“ 46 an der Grenze des Mach-         Kummersdorf an (ca. 40 km südlich des Berliner Stadt-
baren angelangt war. Was noch wichtiger war, Raketen        zentrums). In seiner ihm eigenen Art versicherte Nebel
und deren Entwicklung waren nicht vom „Versailler           dem HWA, dass 8 km Steighöhe kein Problem und 3,5
Vertrag“ betroffen und unterlagen daher auch keiner         km Steighöhe garantiert seien.
Kontrolle durch die alliierten Siegermächte.                  Am Morgen des 22. Juni 1932 wurde, unter strikter
   Die Zusammenarbeit mit dem HWA sollte jedoch für         Geheimhaltung, „ein merkwürdig aussehendes Ge-
Nebel äußerst negativ verlaufen. Den Bestrebungen des       rät“ 52 von Nebel und seinen Helfern, darunter auch
Amtes, dass die Raketenforschung so geheim und              Wernher von Braun, in Kummersdorf gezündet.
diskret wie nur möglich behandelt wissen wollte, kam
Rudolf Nebels „Unehrlichkeit, mangelnde Sachlich-        43 Neufeld, a. a. O., S. 27 („Notiz des Heereswaffenamtes der Reichswehr über
                                                            die Versuche Rudolf Nebels“).
keit, seine Neigung sensationslüsterne Artikel zu ver-   44 Das Heereswaffenamt (HWA) wurde am 08.11.1919 als „Waffenamt“ im
fassen und seine unverfrorene Art der Selbstdar-            Reichswehrministerium gegründet. Am 05.05.1940 erhielt es die Bezeich-
stellung“ 47 nicht gerade entgegen.                         nung „Heereswaffenamt“ und war als solches für die technische Entwick-
                                                            lung und Fertigung von Waffen, Munition und Gerät des deutschen Heeres
   Auf der Suche nach Geldgebern oder Sachspenden           zuständig (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
schoss Nebel oft über das Ziel hinaus. Er suchte Mi-     45 „Durch die Fürsprache der Abt. 1 erhielt Herr Nebel das Gelände in Tegel,
nisterien, wissenschaftliche Institutionen und Firmen       was von ihm als Raketenflugplatz Berlin bezeichnet wird“ (Neufeld, a. a. O.,
                                                            S. 27).
auf. Möglicherweise, so Neufeld 48, hat er sich dabei    46 Deutsches Fernkampfgeschütz (Kaliber 21) der Firma Krupp mit einer au-
auch Zugang zu den Büros von Albert Einstein 49 und         ßergewöhnlichen Reichweite von rund 130 km. Mit diesen Geschützen sol-
Reichsinnenminister Severing50 verschafft. Nebel            len zwischen März und August 1918 etwa 800 Granaten auf Paris abgefeuert
                                                            worden sein (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, „seinen        47 Neufeld, a. a. O., S. 28.
Raketenflugplatz“ bekannt zu machen. So schickte er      48 Neufeld, a. a. O., S. 26
z. B. einmal ein Telegramm an den sich in Deutschland    49 Albert Einstein (1879-1955), bedeutendster Physiker (Relativitätstheorie)
                                                            des 20. Jh. (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
aufhaltenden Automobilkönig Henry Ford mit dem In-       50 Carl Severing (1875-1952), sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter
halt: „anbiete erste fluessigkeitsrakete fuer fordmu-       und preußischer Innenminister (Heinrich August Winkler, Deutsche Ge-
seum. stopp. einlade zur besichtigung des ersten            schichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Re-
raketenflugplatzes in berlin-reinickendorf“. Als dann       publik, Band 2, München 2000, S. 413).
                                                         51 Frank-Erhardt Rietz, Die Magdeburger Pilotenrakete 1933. Auf dem Weg
auch noch ein französischer Bankier den Raketenflug-        zur bemannten Raumfahrt? Halle 1998, S. 48 ff.
platz besichtigte, war die Geduld im HWA zu Ende. Im     52 Neufeld, a. a. O., S. 35.

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                            Abb. 6:
40 Jahre Raketenflugplatz Berlin.
         Mit dieser Karte ehrte die
Hermann-Obert-Gesellschaft e.V.
        (H.O.G.) im Jahr 1970 die
    Verdienste von Rudolf Nebel.
       Auf dem Bild sind u. a. die
   damaligen Pioniere (von links):
          Rudolf Nebel, Dr. Franz
  Hermann Ritter, Hans Beermül-
 ler, Kurt Heinisch, Klaus Riedel,
    Hermann Oberth und Wernher
              von Braun zu sehen.
     Natürlich wurde die Karte am
 27. September abgestempelt und
                 selbstverständlich
  „MIT RAKETE BEFÖRDERT“.

Die Aktion endete in einer Katastrophe, sowohl für den       genannter Führerentscheid erklärte ausschließlich das
Versuch als auch für Rudolf Nebel. Die Rakete er-            HWA für Raketenforschung zuständig – endete die
reichte gerade mal eine Höhe von 600 m bevor sie in          Zeit der sogenannten freien Raketengruppen. Nebels
eine nahezu vertikale Flugbahn überging und dann, ca.        Versuch, seinen Raketenflugplatz als eigenständigen
1500 m vom Startplatz entfernt, auf dem Boden auf-           Verein registrieren zu lassen, um ihn so am Leben zu
schlug. Der Abschlussbericht des HWA fiel vernich-           halten, scheiterte an einer dubiosen (vorgeschobenen)
tend aus. „Es hat sich wiederum gezeigt, dass Nebel          Wasserrechnung des Flugplatzes, für die niemand mehr
unzuverlässig arbeitet und dass seinen Angaben mit           aufkommen wollte. Das Ende der „Narren von Tegel“
größtem Misstrauen zu begegnen ist.“ 53                      war damit offiziell besiegelt. Der Platz wurde im Juni
  Der misslungene Raketenstart war aber dennoch ein          1934 von den neuen Machthabern geschlossen.54
wichtiger Wendepunkt in der Raketenentwicklung. Von
nun an übernahm das HWA nämlich selbst die Ent-
wicklung von Flüssigkeitsraketen. Mit Wernher von
Braun, der zum HWA wechselte und um den 1. Dezem-
ber 1932 in Kummersdorf seine neue Arbeit aufnahm,
verlor Rudolf Nebel seinen fähigsten Mitarbeiter. Nach   53 Neufeld, a. a. O., S. 35.
                                                         54 Neufeld, a. a. O., S. 35 ff.
der Machtübernahme der Nationalsozialisten – ein so-

                                                                                                                15
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Magdeburger Zwischenspiel 1932                                 Nebel wusste nur zu gut, dass eine Rakete dieser Grö-
Die sogenannte „Magdeburger Pilotenrakete“ war Ru-             ßenordnung niemals termingerecht fertiggestellt wer-
dolf Nebels wohl abenteuerlichstes Projekt.                    den konnte. Die Magdeburger Pilotenrakete erwies sich
   Im August 1932 erschien der Magdeburger Ingenieur           als gigantischer Flop. Als Glück für Nebel erwies sich
Franz Mengering, der mit einer Rakete die sogenannte           die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten.
„Hohlwelttheorie“ 55 beweisen wollte, bei Rudolf Ne-           Magdeburgs OB Ernst Reuter wurde am 11. März 1933
bel in Berlin. Dieser war nicht etwa verschreckt von           in ein Konzentrationslager gesteckt und der Magistrat
dem Unsinn. Er setzte Mengering nicht vor die Tür,             gleichgeschaltet. Das Projekt der Magdeburger Pilo-
sondern erkannte eine neue Möglichkeit, Geldmittel für         tenrakete ging im Strudel der braunen Machtübernah-
seine Ideen flüssig zu machen. Zusammen mit Menge-             me unter und auch diesmal kam Nebel wieder unbe-
ring gelang es Nebel tatsächlich, die Magdeburger von          schadet aus der von ihm verschuldeten Misere heraus.57
ihrem utopischen Vorhaben zu überzeugen. Sie appel-
lierten an den Stolz der Magdeburger und an die Mög-           Röhm-Putsch 1934. Die Nacht der langen Messer
lichkeit aus dem übermächtigen Schatten Berlins                und wieder einmal davongekommen
herauszutreten. Gleichzeitig brächte der Start natürlich       Ab 1933 waren Raketentechnik und -entwicklung auf-
immense Vorteile für das Magdeburger Geschäftsleben.           grund verschiedener Verordnungen und Zensurbestim-
Geschickt von Nebel eingestreute Bemerkungen, wie              mungen aus den Zeitungen und damit auch aus dem
z. B.: „die Rakete in Dresden, Hamburg oder gar Ame-           Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Für den
rika starten lassen“, taten schließlich ihr Übriges. Der       Raketenforscher Nebel, der die Öffentlichkeit für seine
Magdeburger Magistrat unter Leitung von Oberbürger-            Arbeit dringend brauchte, war diese Entwicklung na-
meister Ernst Reuter 56 bewilligte eine Summe von              türlich verhängnisvoll. Also versuchte er seine Bezie-
35.000 RM. Ein entsprechender Vertrag wurde aufge-             hungen zum Reichsarbeitsminister und Stahlhelm-
setzt und an Pfingsten 1933 sollte der Start sein. Rudolf      führer Franz Seldte 58 spielen zu lassen.
Nebel verpflichtete sich, eine bemannte Rakete zu           55 Der Magdeburger Ingenieur Franz Mengering (1877-1957) war Anhänger
                                                               eines Weltbildes, das besagte, dass die Menschen im Inneren einer Hohlkugel
bauen und diese, samt Piloten, im Frühjahr 1933 vom            leben. Prophet dieser Lehre in Deutschland war ein gewisser Karl E. Neu-
Magdeburger Flughafen aus starten zu lassen. In einer          pert. Die Theorie geht zurück auf den amerikanischen Alchimisten Cyrus
Höhe von 1000 m sollte der Pilot dann mittels Fall-            Ray Teed, der im Jahre 1869 eine entsprechende Vision gehabt haben wollte.
                                                               Mit dem Raketenstart wollte Mengering die Theorie bestätigen (www.uni-
schirm abspringen; ein zweiter Fallschirm hätte die Ra-
                                                               magdburg.de/mbl/Biographien; Aufruf vom 11.11.2019; Rietz, a. a. O., S. 54).
kete nach ihrem Weiterflug schließlich sicher wieder        56 Ernst Reuter (1889-1953), deutscher Politiker (SPD) und Kommunalwissen-
zur Erde bringen sollen.                                       schaftler, Oberbürgermeister von Magdeburg (1931-1933) und Berlin (1948-
   Das Interesse der Öffentlichkeit war entsprechend           1953); (www. wikipedia org; Aufruf vom 11.11.2019).
                                                            57 Vgl. Nebel, a. a. O., S. 125 ff.
groß. Die New Yorker Monatszeitschrift „Metal Indus-        58 Franz Seldte (1882-1947), Reichsarbeitsminister, Gründer und Führer des
try“ erbat sich Informationen zu der Rakete, und „Fox          „Stahlhelm“ (vgl. Anm. 59), 1933-1934 Reichskommissar für den freiwil-
Tönende Wochenschau“ aus Berlin wollte sich die                ligen Arbeitseinsatz, SA-Obergruppenführer, im Mai 1945 Reichsarbeitsmi-
                                                               nister der Geschäftsführenden Regierung Dönitz in Flensburg (Biographi-
Filmrechte sichern.                                            sches Lexikon zum Dritten Reich, a. a. O., S. 427).

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                 1/2020

Für Rudolf Nebel, der selbst Mitglied des „Stahl-            auch Rudolf Nebel. Auch diesmal schaffte er es wieder,
helm“59 war, sollte sich dies als eher unglücklicher         mit heiler Haut davonzukommen. Ein Polizeioffizier 64,
Schachzug herausstellen. Über Seldte wollte er an den        der häufig Gast auf Nebels Raketenflugplatz gewesen
Stabschef der SA, Ernst Röhm 60, herankommen. Ob             war, erkannte ihn zufällig wieder und sorgte zunächst
Nebel mit Röhm persönlich Kontakt hatte, ist nicht be-       für eine Trennung von den anderen Häftlingen. Kurze
kannt. Zumindest aber kam ein Treffen mit SA-Ober-           Zeit später wurde Nebel aus der Haft entlassen.
gruppenführer Fritz Ritter von Kraußer 61 zustande.
                                                          59 Der „Stahlhelm“ (Bund der Frontsoldaten) war ein paramilitärisch organi-
Dieser versprach, sich bei Röhm für Nebel einzusetzen.       sierter Wehrverband, der im Dezember 1918 gegründet wurde. Offiziell als
  Rudolf Nebel setzte vermutlich deshalb auf die SA-         überparteilich geltend, trat der „Stahlhelm“ ab 1929 immer offener als re-
Karte, weil der „Stahlhelm“ seit Mitte 1933 als ein NS-      publik- und demokratiefeindlich auf. Nach der Machtergreifung erfolgte
                                                             1934 die freiwillige Gleichschaltung. Der „Stahlhelm“ galt allgemein als
Frontkämpferverband gleichgeschaltet worden war und          bewaffneter Arm der DNVP und war der stärkste paramilitärische Verband
unter der Leitung der SA stand. Außerdem war sich der        des Deutschen Reiches (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
Raketenforscher der wachsenden Feindschaft zwischen       60 Ernst Röhm (1887-1934), Stabschef der SA, Duzfreund Hitlers, Teilnehmer
                                                             am Hitlerputsch 1923, Militärberater in Bolivien, am 01.07.1934 in Stadel-
SA und Reichswehr mit Sicherheit bewusst. Wäre               heim erschossen (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019)..
Röhms Plan, die SA mit der Reichswehr zu einer            61 Friedrich Wilhelm Kraußer, ab 1917 Fritz Ritter von Kraußer (1888-1934),
„braunen Armee“ zu vereinigen (oder diese zu erset-          ab 1932 „Chef des Flugwesens der SA und SS“, ab 1933 SA-Obergruppen-
                                                             führer im Stabe des Obersten SA-Führers in München und Leiter des Füh-
zen) 62 aufgegangen, hätte Nebel automatisch auf der
                                                             rungsamtes in der Obersten SA-Führung, Stellvertreter von Ernst Röhm
richtigen Seite gestanden.                                   (Erich Stockhorst, 5000 Köpfe. Wer war was im 3. Reich, Kiel 1998, S. 250,
  Es kam jedoch ganz anders. Rudolf Nebel, der sich          und www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
der Unterstützung und des Schutzes durch die SA recht     62 Röhm sah in seiner SA das wichtigste bewaffnete Organ des Regimes und
                                                             wollte die SA mit der Reichswehr zu einem nationalsozialistischen Volks-
sicher war, ging wieder einmal an die Öffentlichkeit,        heer, einer braunen Armee, vereinigen. Bei Hitler selbst und vor allem bei
indem er ein Flugblatt mit dem Titel „Raketen-Torpe-         den höheren Offizieren der Reichswehr stieß er mit dieser Absicht auf ener-
dos“ drucken ließ. Die Flugblätter mit eindeutig mili-       gischen Widerstand, was letztlich zum „Röhm-Putsch“ (vgl. Anm. 63) führte
                                                             (vgl. Lexikon des Nationalsozialismus, a. a. O., S. 221 f.).
tärtechnischem Inhalt hätten zu keinem (für Nebel)        63 Die Führung der NSDAP nutzte im Juni 1934 einen angeblichen Putsch-
ungünstigeren Zeitpunkt (Juni 1934) veröffentlicht           versuch der SA, um gleichzeitig mit der Ermordung Röhms weitere hohe
werden können. Die Spannungen zwischen der SA und            SA-Führer und andere politische Gegner im ganzen Reich zu verhaften und
                                                             zu ermorden. Dazu gehöre z. B. auch der gebürtige Weißenburger und ehe-
der Reichswehr hatten gerade ihren Höhepunkt er-             malige bayer. Ministerpräsident Gustav Ritter von Kahr (vgl. Reinhard
reicht. Gezielt durch Göring und Himmler falsch infor-       Schwirzer, Gustav Ritter von Kahr (1862-1934), seine Familie und Weißen-
miert, ordnete und führte Hitler persönlich die Mord-        burg. Vor 70 Jahren wurde der ehemalige bayer. Ministerpräsident ermordet,
                                                             in: „villa nostra“ 2/2004, S. 30-43).
aktion gegen die in Bad Wiessee versammelte SA-              Die Ereignisse um den „Röhmputsch“ werden heute als Entscheidung im
Spitze an. Die als sogenannte „Nacht der langen Mes-         Machtkampf zwischen SA, SS und Reichswehr angesehen (Hilde Kammer/
ser“ in die Geschichte eingegangene Mordaktion war           Elisabet Bartsch, Lexikon Nationalsozialismus. Begriffe, Organisationen und
                                                             Institutionen, Hamburg 1999, Seite 221 ff.).
für die Nationalsozialisten eine willkommene Gelegen-
                                                          64 Nebel wurde laut eigenen Angaben von zwei Gestapoleuten in seinem Büro
heit, mit misslebigen Gegnern abzurechnen. Zu den            verhaftet und in das Gestapoquartier in der Prinz-Albrecht-Straße verbracht
Opfern des sogenannten „Röhm-Putsches“ 63 zählte             (Nebel, a. a. O., S. 139).

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Thomas Wägemann – Rudolf Nebel (1894-1978). Raketenforscher aus Weißenburg                                                 1/2020

1934-1943: Kein Weg nach Peenemünde                           Rudolf Nebel verschwand die nächsten Jahre in einer
Rudolf Nebel schreibt selbst, dass er nach 1934 uner-         militärtechnischen Bedeutungslosigkeit. Er kehrte zu-
müdlich versuchte, eine Chance zu bekommen, um im             nächst zu Siemens zurück und betrieb dann (ab 1937)
NS-Staat noch an Raketen arbeiten zu können. Alle             zusammen mit Karl Saur 73 ein selbstständiges Inge-
seine Bemühungen scheiterten jedoch. Um seinen Le-            nieurbüro in Berlin-Wilmersdorf. Er widmete sich so
bensunterhalt zu verdienen, nahm er im Juni 1935 eine         wichtigen Erfindungen wie z. B. aufblasbaren Wasser-
Stelle als Konstrukteur bei Siemens in Berlin an.65           skiern oder elektrischen Eierkochern.74 Selbst als der
  Nebel war daneben noch, zusammen mit Klaus Rie-             Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte man für den jetzt
del 66, einem Freund und Konstrukteur aus alten „Ra-          45-jährigen ehemaligen Jagdflieger keine Verwendung.
ketenflugplatz“-Tagen, Inhaber des Deutschen Reichs-
                                                           65 Nebel, a. a. O., S. 141.
patentes 633 667 für einen „Rückstoßmotor für flüssige
                                                           66 Klaus Riedel (1907-1944), Raketenkonstrukteur und Mitbegründer des „Ra-
Treibstoffe“.67 Wieder ging Nebel an die Öffentlichkeit.      ketenflugplatzes“ bei Berlin (www.wikipedia.org; Aufruf vom 11.11.2019).
1936 wandte er sich mit seinem Patent und verschie-           Anders als Nebel wurde Riedel in die weiteren Raketenforschungen in Kum-
denen Flugblättern, die ihn als verfolgten und verkann-       mersdorf einbezogen (Neufeld, a. a. O., S. 50).
                                                           67 Reichspatentamt Patentschrift Nr. 633-667 Klasse 46g Gruppe 1, Dipl. Ing.
ten Erfinder darstellten, an verschiedene Ämter und           Rudolf Nebel in Berlin-Wilmersdorf und Klaus Riedel in Berlin-Halensee,
Einrichtungen der NSDAP.68 Tatsächlich gewann er die          Rückstoßmotor für flüssige Treibstoffe.
Unterstützung von Fritz Todt 69, dem späteren Reichs-      68 Neufeld, a. a. O., S. 46.
                                                           69 Dr. Fritz Todt (1891-1942),1933 Generalinspektor für das deutsche Straßen-
minister für Bewaffnung und Munition. Dieser promi-           wesen, 1938 Generalbevollmächtigter für die Regelung der Bauwirtschaft,
nenten und einflussreichen Unterstützung hatte es Ne-         Gründer der paramilitärischen „Organisation Todt“ (Westwall), SA-Ober-
bel zu verdanken, dass das Heer ihm und Riedel das            gruppenführer und Generalmajor der Luftwaffe (Biographisches Lexikon
                                                              zum Dritten Reich, a. a. O., S. 461 f.).
Patent für 75.000 RM abkaufte. In dem Juli 1937 ab-        70 Um den ungeliebten Nebel auszuschalten, stimmte das Heer zu, den beiden
geschlossenen Vertrag musste sich Nebel zur Geheim-           Männern für 75.000 RM das Patent abzukaufen (Neufeld, a. a. O., S. 142).
haltung verpflichten – und wurde damit gleichzeitig        71 Rund um das Fischerdorf Peenemünde (Halbinsel Usedom) baute das HWA
                                                              1936 unter Leitung von General Dornberger und Wernher von Braun die Ra-
offiziell von der Raketenforschung ausgeschlossen.70          ketenversuchsanstalt auf. Hier wurde die „Fernrakete A-4“ („V2“) entwi-
  Besonders bitter für Rudolf Nebel dürfte es gewesen         ckelt, aber auch an anderen Raketenprojekten gearbeitet. Als britische
sein, dass fast alle seine Kollegen und Mitstreiter aus       Bomber (Unternehmen „Hydra“) vom 17. auf den 18.08.1943 große Teile
                                                              der Raketenversuchsanstalt zerstörten, wurde die Fertigung „unter Tage“ in
alten Raketenflugplatz-Tagen nach und nach den Weg
                                                              den Harz („Mittelbau“) verlegt (Reinhard Barth/Friedemann Bedürftig, Ta-
über Kummersdorf zum Raketenversuchsgelände in                schenlexikon Zweiter Weltkrieg, München 2000, S. 311 ff.).
Peenemünde 71 gefunden hatten. Nicht nur aus Nebels        72 Oberth wurde 1941 auf persönliche Initiative von Brauns unter einem Deck-
Umfeld bei Siemens kamen Kollegen in Peenemünde               namen („Fritz Hann“) nach Peenemünde gebracht. Dort arbeitete er an der
                                                              zweistufigen Fernrakete „Aggregat 9/10“ sowie an Flugabwehrraketen. Für
unter, selbst Hermann Oberth wurde auf Initiative von         Nebel konnte (oder wollte?) von Braun nichts unternehmen (Bernd Henze,
Wernher von Brauns nach Peenemünde geholt. Zwar               Hermann Oberth – Vater der Raumfahrt, Nürnberg/Feucht, S. 28 f.).
nicht direkt an den Entwicklungsarbeiten der „V2“ be-      73 Karl Saur (1902-1966), Bauingenieur (www.wikipedia.org; Aufruf vom
                                                              11.11.2019).
teiligt, konnte Oberth sich doch zumindest mit anderen     74 Undatierte Aufzeichnung von Rudolf Nebel über seine nicht ausgewerteten
Raketenprojekten 72 befassen.                                 Erfindungen (Deutsches Museum, NL 162).

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