#6 - Bildungsstätte Anne Frank

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#6 - Bildungsstätte Anne Frank
PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK

                                       #6
                                       JAHRGANG
                                       2020/2021

  Monate später                   „Das war ein                               #Black
und noch ganz am                   Weckruf“                                   Lives
     Anfang                                                                  Matter
    Der Anschlag von              Der Anschlag von Halle und das   Warum die antirassistischen Proteste
         Hanau                            Leben danach                    alle etwas angehen
          S. 4                                 S. 11                              S. 16
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
Liebe Leser*innen,

                                                                                                                —
                      die Namen jener neun jungen Menschen, die am 19. Februar in Hanau aus ras-
                      sistischen Motiven ermordet wurden, klingen nach. Das größte terroristische
                      Attentat in der hessischen Landesgeschichte hat die Zeit für uns aufgeteilt:
                      Es gibt eine Zeit vor Hanau und nach Hanau.
                      Wir alle kennen die Kontinuität rechter Gewalt in Hessen: den Mord an Halit Yozgat
                      durch den NSU, den Mord an Walter Lübcke, die Drohungen des
                      NSU 2.0 gegen die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Komikerin Idil Baydar
                      und die Politikerin Janine Wissler. Hanau markiert einen traurigen Gipfel-
                      punkt dieser Kontinuität.
                      Unsere Mitarbeiter*innen waren von Anfang an in der Nachsorge tätig,
                      betreuten und berieten Opfer und Angehörige des Anschlags – und stellten an
                      die Politik konkrete Forderungen. Doch scheint es, dass kein rassistisches Ver-
                      brechen groß genug sein kann, um nicht doch als Randnotiz, als unvorherseh-
                      barer Ausbruch eines verwirrten Einzeltäters gekennzeichnet zu werden.

Ferhat Unvar,         Vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie musste schließlich auch
                      Hanau, scheinbar zwangsläufig, verblassen, waren die Prioritäten der hessi-
                      schen Landespolitik wieder einmal andere, wurden unsere Forderungen auf die
                      lange Bank geschoben. Ich frage mich ehrlich gesagt, warum. Wie wohl

Gökhan Gültekin,
                      kein anderes Phänomen hat Corona existierende Widersprüche offengelegt – und
                      befeuerte antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen, wie
                      sie auch der Attentäter von Hanau teilte. Wir haben Zehntausende gesehen, die
                      unter Reichsflaggen, mit bizarren Parodien von Judensternen, mit Lügen über

                                                                                                                VORWORT
                      George Soros gegen die Corona-Politik auf die Straße gegangen sind. Wann,

Hamza Kurtović,
                      wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt, jene Ideologien zu bekämpfen, die Taten
                      wie die von Hanau möglich gemacht haben? Die Bekämpfung von Rassismus und
                      Antisemitismus ist kein „Luxusproblem“, das vor der unmittelbaren Bekämpfung
                      der Pandemie-Folgen zurückzustehen hätte – es ist untrennbar mit ihr verwoben.

Said Nesar Hashemi,
                      Mit dieser Ansicht stehen wir erfreulicherweise nicht allein. Selten zuvor hat sich die
                      Zivilgesellschaft so stark organisiert wie heute. Die „Black Lives Matter“-
                      Bewegung hat nach dem Tod von George Floyd weltweit die Frage nach Polizei-
                      gewalt, antischwarzem Alltagsrassismus und der Auseinandersetzung mit dem
                      kolonialen Erbe neu gestellt. Statuen wackeln, Straßen werden umbenannt – alles

Mercedes Kierpacz,
                      inmitten einer Pandemie. Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass manche Probleme
                      nicht mit Corona vom Tisch gewischt werden können.
                      Auch wir versuchen, unseren Teil beizutragen. Unser digitales Bildungsprogramm
                      trägt den ausgefallenen Präsenzveranstaltungen und der in der Pandemie einge-

Sedat Gürbüz,
                      schränkten Mobilität Rechnung. Hunderte haben an unseren neuen Online-Semina-
                      ren teilgenommen, Tausende folgten digital unserer Diskussionsreihe „Tuesday-
                      Talks“ – und vor allem unseren digitalen Zeitzeug*innengesprächen mit Zvi Cohen
                      und Eva Szepesi. Mit „Hessen schaut hin“ haben wir 2020 eine Online-Meldestelle
                      für rassistische Vorfälle geschaffen. Nicht zuletzt haben uns in der Video-Reihe

Kaloyan Velkov,
                      „Fensterblick“ zahlreiche bekannte Künstler*innen und Autor*innen
                      in der Zeit des Lockdowns mit literarischen und philosophischen Betrachtungen
                      berührt.
                      Das alles wäre nicht zu schaffen gewesen ohne die Beharrlichkeit und das Enga-

Fatih Saraçoğlu und
                      gement unseres inzwischen fast 50-köpfigen Teams, das sich nicht einschüchtern
                      lässt – und unter schwierigen Bedingungen mit daran arbeitet, dass Fehlentwick-
                      lungen dieser Gesellschaft nicht unwidersprochen bleiben.

Vili Viorel Păun.     Ihr Dr. Meron Mendel
                      Direktor der Bildungsstätte Anne Frank

                                                    Other Stories #6
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK

                                                                                                                                                                                                INHALT
                                                                                                                       Aus unseren                                              Anhang
                                                                                                                       Bildungsprojekten

                                                                                                                                                                           64   Publikationen
                                                                                                                                                                                Impressum

#6
                                                                                                                                                                              ack
                                                                                                                                                                            Bl es
                                                                                                                                                                           # iv er
      Im Fokus:                                                 Other                                                                                                       L att
      Rechtsterrorismus                                         Stories
                                                                                                                                                                            M
                                                                                                                                                                           #BlackLives             16
 4    Hanau: Monate später und                            16    #BlackLivesMatter
      noch ganz am Anfang                                       Warum die antirassistischen Proteste alle
                                                                                                                       Deutschrap: Teil                               48   Matter
                                                                etwas angehen
      Die Fachberatungsstelle response steht
      Betroffenen von rechtem Terror zur Seite                                                                         des Problems oder
                                                          20   „Die Botschaft ist dieselbe“
                                                                                                                       Teil der Lösung?
 8    Von Worten und Taten
      Der Journalist Martín Steinhagen
                                                                Herausforderung ländlicher Raum: Maria Seip
                                                                über die Zweigstelle Kassel der Bildungsstätte
                                                                Anne Frank
      berichtet vom Lübcke-Prozess

 11   „Das war ein Weckruf“                               22    Das umgedrehte Klassenzimmer
      Der Anschlag von Halle und das Leben danach –
      Interview mit Anastassia Pletoukhina
                                                                Herausforderungen für die politische Bildung im
                                                                Zeitalter der Digitalisierung                     44   Realitätsabgleich
                                                                                                                       Was Verschwörungstheorien
                                                                                                                       alles nicht sind
                                                          26    Blick aus dem Fenster
                                                                Künstler*innen reflektieren über den Alltag
                                                                in der Pandemie                                   46   Über Generationen hinweg
                                                                                                                       Wie Geschichten zu Geschichte werden:
                                                                                                                       Empowerment durch Storytelling
                                                          30    Bürgerkrieg im Wartezimmer

                                                                                                                  48
                                                                Die Normalisierungsstrategie der AfD-Haus-
                                                                zeitschrift „Tichys Einblick“ geht voll auf
                                                                                                                       Deutschrap: Teil des Problems
                                                                                                                       oder Teil der Lösung?

                                                          36    Wie extremistisch ist der
                                                                Extremismusansatz?
                                                                                                                       Warum es Sinn hat, Hip-Hop in die politische
                                                                                                                       Bildungsarbeit zu integrieren

                                                                Rassismus und Antisemitismus im Verständnis
                                                                führender Vertreter des Hufeisen-Modells
                                                                                                                  50   „Hessen schaut hin“
                                                                                                                       Die ersten Monate des Meldeportals in Zahlen

                                                          40    Ausstellen? Abstellen!
                                                                Die Ausstellung „Hingucker?“ will Kolonial-
                                                                rassismus ausstellen, ohne koloniale Logiken      52   „Seid gut zueinander!“
                                                                                                                       Das Projekt „was unternehmen!“ fördert
                                                                zu reproduzieren
                                                                                                                       Antidiskriminierung in Betrieben

 Hanau: Monate später                                 4                                                           54   Plakatwettbewerb:                                   Ausstellen?             40
                                                                                                                       Hart an der Grenze                                  Abstellen!
 und noch ganz am Anfang                                                                                               Der Kunstwettbewerb der Bildungsstätte
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
Hanau:
                                                                                         Zurück bleiben Familien, Freund*innen, Überle-
                                                                                         bende, Zeug*innen. Schätzungsweise hundert
                                                                                         Menschen betrifft der Terroranschlag direkt oder
                                                                                         indirekt. response berät und begleitet viele von

                                  Monate später
                                                                                         ihnen. Neben den vielen Gruppen, die vor Ort wich-
                                                                                         tige Arbeit leisten, handelt es sich bei response
                                                                                                                                                                                       Kaloyan
                                                                                         um die einzige Fachberatungsstelle für Betroffene                                             Velkov
                                                                                         rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

                                  und noch ganz
                                                                                         „Unser spezifischer Auftrag basiert auf der Erfah-
                                                                                         rung mit der Mordserie des rechtsterroristischen
                                                                                         NSU. Damals gab es für die Betroffenen leider
                                                                                         keine professionellen Ansprechpersonen“, erklärt
                                                                                         die Leiterin Olivia Sarma.

                                   am Anfang                                                                                                       Unser spezifischer
                                                                                                                                                     Auftrag basiert
                                                                                                                                                   auf der Erfahrung
                                    Die Fachberatungsstelle                                                                                      mit der Mordserie des
                                 response steht Betroffenen von                                                                                  rechtsterroristischen
                                    rechtem Terror zur Seite                                                                                        NSU. Damals gab
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                     IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                                                                                                                                 es für die Betroffenen
                                                                                                                            Gökhan                leider keine profes-
                                                                                                                                                  sionellen Ansprech-
                                                                                                                            Gültekin
                                    Mercedes                                             Immer mehr Menschen
                                    Kierpacz                                             melden sich

                                                                                         response zeichnet sich durch „aufsuchende
                                                                                                                                                        personen
                                                                                         Beratung“ aus: Das Team geht von sich aus auf
                                                                                         Betroffene zu, bietet Unterstützung an. Etwa
                                                                           Vili Viorel   im Jugendzentrum des Hanauer Stadtteils Kessel-
                                                                           Păun          stadt, den Räumen der Hanauer Hilfe sowie
                                                                                         des „Ladens“, den die „Initiative 19. Februar“ eröff-
                                                                                         net hat. Zum Zeitpunkt der Drucklegung berät
                                                                                         response rund vierzig der Betroffenen – und stetig
                                                                                         kommen weitere dazu. „Vielen Menschen geht es
                                                                                         jetzt, ein halbes Jahr später, schlechter als direkt
                                                                                         nach der Tat“, beobachtet response-Mitarbeiterin
                                                                                         Draupadi Fitz. Während der Terroranschlag für die
                                Was sich am 19. Februar 2020 in Hanau ereignet hat,      weiße Mehrheitsgesellschaft bereits in Vergessen-                                               Hamza
                                                                                         heit zu geraten droht, steht die Arbeit von response                                            Kurtović
                                  bleibt auch Monate später unfassbar. Kein Wort         eher erst am Anfang. Die Psychologin Fitz kennt
                                                                                         die Gründe, aus denen viele sich erst nach und nach
                               scheint stark genug, das Leid zu beschreiben, das an      melden: „Wenn Menschen etwas unfassbar Schlimmes        worum es geht, nur auf deren Wunsch hin aktiv“,
                                                                                         erlebt haben, spaltet die Seele dieses Erlebnis ab.“    betont Fitz. In den Gesprächen höre sie vor allem
                              diesem Tag über die Menschen kam. Ein Rechtsextremist      Erkennbar sei dies auch an sogenannten Trauma-          zu, stelle gelegentlich eine Frage oder skizziere
                                ermordete neun Menschen aus rassistischen Motiven        folgesymptomen: Albträumen, Anspannung, Angst,
                                                                                         Wut und Flashbacks. „Solche Symptome sind
                                                                                                                                                 Möglichkeiten. Zum Beispiel: einen Therapieplatz
                                                                                                                                                 zur Traumabewältigung suchen, einen Antrag auf
                                 und am Ende die eigene Mutter: Gökhan Gültekin,         normale Reaktionen auf ein nicht aushaltbares Er-
                                                                                         eignis“, erklärt die Beraterin Betroffenen häufig.
                                                                                                                                                 Entschädigung stellen, einen Umzug organisieren,
                                                                                                                                                 einen neuen Job suchen – oder einfach Trauer er-
                              Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz,       Bevor Wunden heilen, ist es sehr wichtig, weitere       möglichen. Ob sie etwas tun und was, entscheiden
                                                                                         Verletzungen zu verhindern. Oberste Maxime in           allein die Beratungsnehmenden. „In einem Gefühl
                                  Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu,     der Beratung von response sind daher Sicherheit,        absoluter Ohnmacht gilt es, gemeinsam Handlungs-
                                                                                         Schutz und Selbstbestimmung. „Wir stehen par-           spielräume zu erkennen und Erfahrungen der
                                Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen.       teiisch an der Seite der Betroffenen und werden, egal   Selbstwirksamkeit zu ermöglichen“, so Sarma.

  4                                                                                                                                              Other Stories #6                                    5
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
Fatih
                                                                                         In einem Gefühl                                                                                           19. Februar Hanau“, der Amadeu Antonio Stiftung,
                                                                                                                                                                                                   dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene
                              Saraçoğlu
                                                                                       absoluter Ohnmacht                                                                                          von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt,
                                                                                                                                                                                                   sowie dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

                                                                                        gilt es, gemeinsam                                                                                         Konflikt mit dem geldgebenden
                                                                                      Handlungsspielräume                                                                                          Innenministerium

                                                                                         zu erkennen und                                                                                           Als sei nach der Gewalttat das unendliche Leid der
                                                                                                                                                                                                   Menschen nicht schlimm genug, sorgte das hes-
                                                                                         Erfahrungen der                                                                                           sische Innenministerium im Hinblick auf die Geldfrage
                                                                                                                                                                                                   für weitere Probleme. Bis knapp zum Redaktions-
                                                                                      Selbstwirksamkeit zu                                                                                         schluss dieses Hefts verweigerte es die Auszahlung
                                                                                                                                                                                                   von 50.000 Euro für Personalkosten, die bei
                                                                                           ermöglichen                                                                               Sedat
                                                                                                                                                                                                   response anfallen, um die Betroffenen aus Hanau
                                                                                                                                                                                                   unterstützen zu können. Diese Blockade sorgte
                                                                                                                                                                                     Gürbüz
                                                                                                                                                                                                   hessenweit für Aufregung, Sarma spricht klar von
                                                                                                                                           Gipfel des Versagens                                    „Schikane“. Immerhin war es die Beratungsstelle
                              Kein Fall ist typisch
                                                                                                                                                                                                   response selbst, die nach Hanau den Bedarf be-
                                                                                                                                           Dabei stellt das Verhalten der Behörde am               nannt und das benötigte Geld erfolgreich beim Bund
                              Der eine typische Beratungsfall aus Hanau lässt
                                                                                                                                           19. Februar nur einen Teil des Versagens der hes-       eingeworben hatte. Erst nach monatelanger
                              sich nicht beschreiben. „Die Beratungsanliegen,
                                                                                                                                           sischen Polizei dar. „Beratungsnehmende be-             öffentlicher Debatte konnten sich response und das
                              die Ziele und die Lebenssituationen der Beratungs-
                                                                                                                                           richten uns ständig, dass sie von der Polizei nicht     Landesministerium einigen.
                              nehmenden unterscheiden sich stark“, sind Sarma
                                                                                                                                           ernst genommen wurden, Anzeigen wegen Be-
                              und Fitz sich einig. Über einzelne Beratungen wird
                                                                                                                                           drohung und Beleidigung oft folgenlos eingestellt       Zusätzlich hat die Corona-Pandemie die Lage
                              auch nicht gesprochen. Für die nötige Atmosphäre
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                                                                                IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                                                                                                                           werden oder sie regelmäßig rassistische Polizei-        erschwert. Unter Verweis auf die Ansteckungsgefahr
                              von Sicherheit und Vertraulichkeit in der Beratung
                                                                                                                                           kontrollen erleben“, so Fitz. „Das bedeutet eine Er-    machten es die staatlichen Verordnungen den
                              ist es wichtig, dass die Betroffenen wissen: Für
                                                                                                                                           fahrung der Schutzlosigkeit.“ Es sind diese nega-       Trauernden schwer, sich zu treffen, auszutauschen
                              das Beratungsteam herrscht nach außen absolute
                                                                                                                                           tiven Vorerfahrungen – von täglichen Mikroaggres-       und gegenseitig Halt zu geben. Und das, während
                              Schweigepflicht. „Wenn Betroffene sich mit ihren
                                                                                                                                           sionen bis zu fundamentalen Rechtsverletzungen –        Zusammenkünfte in anderen Kontexten, etwa zum
                              Erlebnissen zum Beispiel an die Presse wenden wollen,
                                                                                                                                           die es zu berücksichtigen gilt, um die Besonderheit     Zweck der Lohnarbeit, erlaubt waren. Auch viele
                              so muss auch dieser Wunsch von ihnen selbst
                                                                                                                                           rassistischer Gewalt zu verstehen. Je mehr Schlimmes    Beratungsgespräche wurden anfangs telefonisch oder
                              kommen“, unterstreicht Sarma. Dazu entschieden
                                                                                                                                           ein Mensch erlebt hat, desto höher ist nach Gewalt-     digital statt persönlich geführt. Mit Blick auf Corona
                              hat sich unter anderen Dominique Baltas, der als
                                                                                                                                           taten wie der in Hanau das Risiko von dauerhaften       sagt der Überlebende Dominique Baltas: „Ich glaube,
                              Musiker der Band „Feuerherz“ bekannt ist. Er war
                                                                                                                                           Folgen.                                                 jeder hat verstanden, wie gefährlich es sein kann,
                              am 19. Februar mit Freunden in der Bar „Midnight“
                                                                                                                                                                                                   was für Ausmaße es hat und welche Sicherheitsvor-
                              am Heumarkt und hat das Attentat nur durch Zufall
                                                                                                                                           Viele der Betroffenen in Hanau erinnern sich wieder     kehrungen nötig sind.“ Doch könne er die schlechten
                              überlebt. Seither leidet er an Schlafstörungen,
                                                                                                                        Said Nesar         an rassistische Vorfälle aus Ihrer Biographie: Erfah-   Nachrichten „einfach nicht mehr hören“. Stattdessen
                              kann nicht regelmäßig essen. Im Podcast der Organi-
                                                                                                                        Hashemi            rungen bei der Arbeit, im Alltag und bei Behörden.      wünscht er sich mehr Berichte über engagierte
                              sation NSU-Watch sagt er: „Das Wichtigste ist,
                                                                                                                                           Hinterbliebene und Überlebende organisieren sich,       Einzelpersonen, etwa über die Künstler*innen, die
                              dass wir solche Taten nicht vergessen.“ Zu schnell
                                                                                                                                           veranstalten Kundgebungen und Demonstrationen.          Benefizkonzerte in Hanau geplant oder einen Rap-
                              sei es nach dem 19. Februar in den Medien wieder
                                                                                      Der Rest der Welt                                    Sie fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat,         Song aufgenommen haben. Zwar ginge all das auf
                              um andere Themen gegangen.
                                                                                                                                           politische Konsequenzen – und dass die Namen ihrer      schlimme Geschehnisse zurück, aber diese Menschen
                                                                                      Damit die Katastrophe verarbeitet werden kann,       Kinder, Brüder, Schwestern und Mütter nicht ver-        versuchten, etwas Positives daraus zu ziehen, anderen
                                                                                      komme es auch darauf an, dass der Rest der Welt      gessen werden, so Fitz.                                 Mut zu machen und ein Zeichen zu setzen: „Wir halten
                              Ferhat                                                  versteht, was passiert ist und wie es Betroffenen                                                            zusammen, egal, was passiert.“
                              Unvar
                                                                                      geht, betont Fitz: „Entscheidend ist, dass andere    Eine weitere Folge der Gewalt ist bei vielen der
                                                                                      anerkennen, was ihnen zugestoßen ist.“ Diese         Gewaltbetroffenen auch blanke finanzielle
                                                                                      Anerkennung müsse auf verschiedenen Ebenen statt-    Not. „Wovon soll ich jetzt leben? Die Person, die
                                                                                      finden, etwa auch durch die Sicherheitsbehörden.     gestorben ist, hat maßgeblich zu unserem Le-                                     RESPONSE.
                                                                                                                                                                                                                            Beratung für Betroffene von
                                                                                      „Ob das Bundeskriminalamt anerkennt, dass ein        bensunterhalt beigetragen!“ ist ebenso Thema                                     rechter, rassistischer und anti-
                                                                                      rassistisches Tatmotiv vorlag, macht auch aus        wie: „Ich kann an dem Ort, an dem ich die Schüsse                                semitischer Gewalt
                                                                                      traumapsychologischer Perspektive einen großen       gehört habe, nicht mehr arbeiten!“ response                                      response wird im Rahmen des
                                                                                      Unterschied.“ Doch gerade die Polizei hat sich       hilft deshalb zusammen mit der Sozialrechtsanwältin                              Bundesprogramms „Demokratie
                                                                                                                                                                                                                            leben!“ durch das Bundesfamilien-
                                                                                      in Hanau als eine herbe Enttäuschung erwiesen.       Katrin Kirstein bei Anträgen für staatliche                                      ministerium sowie des Landespro-
                                                                                      Vier Anrufe des kurz darauf ermordeten Vili Viorel   Entschädigungsleistungen. Diese unterliegen                                      gramms „Hessen – aktiv für Demo-
                                                                                      Păun soll sie unbeantwortet gelassen haben. Als      jedoch sehr engen Kriterien, die nicht alle Bedürf-                              kratie und gegen Extremismus“
                                                                                                                                                                                                                            durch das Hessische Innenministe-
                                                                                      die Polizei am Tatort angekommen sei, so Baltas,     tigen erfüllen. Um neben den Angehörigen auch                                    rium gefördert.
                                                                                      habe sie ihn einfach weggeschickt, obwohl            diese Menschen zu unterstützen, wurden mehr             János Erkens
                                                                                      der bewaffnete Täter zu diesem Zeitpunkt noch frei   als 100.000 Euro gesammelt. Den Spendenaufruf           Presse- und              → response-hessen.de
                                                                                                                                                                                                   Öffentlichkeitsarbeit,
                                                                                      herumlief.                                           startete response zusammen mit der „Initiative          Pädagogisches Team

  6                                                                                                                                                                                                Other Stories #6                                             7
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
Von
                                                                                  Schon vor Prozessbeginn hatte Stephan Ernst              seit dem „Sommer der Flucht“ 2015. Beide Opfer
                                                                                  Schwierigkeiten, einen Richter zu überzeugen. Noch       stehen für Feindbilder des rechtsradikalen Milieus
                                                                                  im Januar diesen Jahres saß der Untersuchungs-           weit über die Neonazi-Szene hinaus. So, wie sie in
                                                                                  häftling Ernst in Fußfesseln und schwarzer Trainings-    der Anklage beschrieben sind, machen beide Fälle

                                  Worten und
                                                                                  jacke in einem Verhörraum im Polizeipräsidium            auf erschreckende Art deutlich, wie aus Worten
                                                                                  Nordhessen. Seine Aussage vor einem Ermittlungs-         Taten werden.
                                                                                  richter des Bundesgerichtshofs wurde auf Video
                                                                                  festgehalten.                                            Aufgrund des großen Interesses und der Corona-
                                                                                                                                           Einschränkungen gibt es beim Oberlandesgericht
                                                                                  Monate später wird die Aufnahme im Saal 165-C            Frankfurt nur 19 Plätze im Saal für Journalist*innen

                                    Taten
                                                                                  des Frankfurter Oberlandesgerichts gezeigt. Die          und 18 weitere für Zuschauer*innen. Wer rein
                                                                                  Stimme des Ermittlungsrichters ist nur aus dem Off       will, muss Schlange stehen und früh aufstehen.
                                                                                  zu hören: „Ich glaube Ihnen das heute nicht“, sagt       Beobachtet wird der Prozess aber nicht nur von
                                                                                  er zu Ernst, der sich seit Mitte Juni wegen des Mordes   Medien, sondern auch aus der Zivilgesellschaft:
                                                                                  an Walter Lübcke und dem Mordversuch an einem            „Aufklärung braucht kritische Öffentlichkeit“,
                                                                                  jungen irakischen Geflüchteten verantworten muss.        twitterte die Gruppe „NSU-Watch Hessen“ dazu.
                                                                                                                                           Der Beginn des Prozesses und der Beweisaufnahme
                                                                                                                                           in dem holzvertäfelten Saal, der nur über eine
                                                                                                                                           große Milchglasscheibe etwas Tageslicht ab-

                                                                                        „Ich glaube Ihnen                                  bekommt, war geprägt von den Videos der beiden
                                                                                                                                           widersprüchlichen Aussagen – und dann von

                                                                                         das heute nicht“                                  Geständnis Nummer drei.

                                                                                  Ernst hatte in dieser Vernehmung eine andere
                                                                                                                                                    Aufklärung
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                  IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                                                                  Version der Ereignisse jener Nacht präsentiert, in
                                                                                  der Walter Lübcke starb, und damit ein früheres
                                                                                  Geständnis widerrufen. Kurz nach seiner Festnahme              braucht kritische
                                                                                  hatte Ernst (am Hemd des ermordeten Regierungs-
                                                                                  präsidenten war seine DNA gefunden worden) die                  Öffentlichkeit
                                                                                  Tat noch eingeräumt: Detailliert schilderte er, wie
                                                                                  sich sein Hass auf Lübcke über die Jahre potenzierte,
                                                                                  wie er ihn ausspähte, wie er ihm aus nächster Nähe       Der 46-Jährige vertrete eine „von Rassismus und
                                                                                  mit einem Revolver Kaliber „.38 Special“ in den Kopf     Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-natio-
                                                                                  schoss – angeblich allein und ohne Mitwisser. Auch       nalistische Grundhaltung“, heißt es gleich im ersten
                                                                                  von dieser Aussage gibt es ein Video.                    Satz der am ersten Prozesstag verlesenen An-
                                                                                                                                           klage. Er sei zur Umsetzung seiner „Vorstellung von
                                                                                  Dem Ermittlungsrichter aber erzählte Ernst dann im       einer ethnisch und kulturell homogenen Volks-
                                                                                  Januar, nicht er sei für den Tod Lübckes verantwort-     gemeinschaft“ auch bereit, schwere Gewalttaten
                                                                                  lich, sondern sein früherer Kamerad und inzwischen       zu begehen. Er fürchte eine „Überfremdung“,
                                                                                  Mitangeklagter, Markus H. Gemeinsam seien sie            eine „Ausrottung der Deutschen“. Genau wie Markus
                                                                                  zu Lübcke gefahren, hätten ihm einen „Denkzettel“        H., dem Beihilfe zu dem Mord vorgeworfen wird.
                                                                                  verpassen wollen: der tödliche Schuss – nur ein          Er habe mit Ernst an Schusswaffen trainiert und ihm
                                                                                  Versehen. Auch die ermittelnde Bundesanwaltschaft        etwa durch den gemeinsamen Besuch von AfD-
                                                                                  glaubt das nicht und klagte Ernst wegen Mordes           Veranstaltungen „Zuspruch und Sicherheit“ für die
                                                                                  an. Vor Gericht hat der Angeklagte inzwischen ein        Tat vermittelt.
                                                                                  drittes Geständnis abgelegt: Er selbst habe ge-
                                     In Frankfurt hat der wichtigste Rechts-      schossen, das Attentat aber mit Markus H. geplant,       Den Angriff auf Ahmed I. hat Ernst allein verübt,
                              terrorismus-Prozess seit dem NSU-Urteil begonnen:   der auch am Tatort gewesen sei.                          davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt.
                                                                                                                                           Er habe mit der Tat „seinen rechtsextremistischen
                                Es geht um den Mord am Kasseler Regierungs-       Das Verfahren gegen die beiden Männer, die aus
                                                                                  der Kasseler Neonaziszene stammen, ist neben
                                                                                                                                           Hass auf Flüchtlinge“ ausführen und durch die
                                                                                                                                           willkürliche Auswahl seines Opfers „Angst unter
                               präsidenten Walter Lübcke und den Mordversuch      jenem gegen den Attentäter von Halle der wichtigste      den in der Bundesrepublik Deutschland Schutz
                                                                                  Rechtsterrorismus-Prozess seit dem NSU-Urteil –          suchenden Menschen fremder Herkunft“ verbreiten
                                 an Ahmed I. Gleich drei Geständnisse hat der     und das aus mehreren Gründen: Es geht um den wohl        wollen. Wichtigstes Beweisstück in diesem Fall
                                                                                  ersten rechtsterroristischen Mord an einem hohen         ist ein Messer, das im Sommer vergangenen Jahres
                               Hauptangeklagte abgelegt – für die Nebenklage      Amtsträger seit Gründung der Bundesrepublik. Der         in Ernsts Keller gefunden wurde. Daran wurden
                                                                                  brutale Angriff auf Ahmed I. im Januar 2016 steht        Spuren entdeckt, die zur DNA von Ahmed I. passen.
                                       ist das mitunter schwer zu ertragen.       auch für die Welle der Gewalt gegen Geflüchtete          Ernst bestreitet die Tat.

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#6 - Bildungsstätte Anne Frank
„Das war ein
                              Bis dahin war der Fall viele Jahre lang unaufgeklärt,
                              die Akten lagen schon im Archiv der Kasseler Staats-
                              anwaltschaft. Die Arbeit der hessischen Behörden             THEMENHEFT Geschichtsrevisionismus
                              dürften im Prozess und vor allem im Untersuchungs-                                      Martín Steinhagen ist freier
                                                                                             Wie die

                                                                                                                                                                                  Weckruf“
                              ausschuss des Landtags eine Rolle spielen. Der Fall                                     Journalist mit dem Schwer-
                              könnte zum Gradmesser für den Umgang mit ras-                  Rechten die              punkt extreme Rechte. Er war
                              sistischen Taten nach dem NSU werden: Wurde ein
                                                                                             Geschichte               Teil der Redaktion des
                                                                                             umdeuten                 2019 bei der Bildungsstätte
                              mögliches politisches Motiv ausreichend geprüft?

                                                                                                                                 EIN THEMENHEFT DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK
                                                                                                                      erschienenen Themen-
                              Wie gingen die Ermittler vor, und wie gingen sie mit           Geschichtsrevisionismus
                                                                                             und Antisemitismus       hefts „Wie die Rechten die
                                                                                                                      Geschichte umdeuten –
                              dem Betroffenen um?                                                                     Geschichtsrevisionismus
                                                                                                                      und Antisemitismus“. Es gibt
                              Ahmed I. hat sich der Anklage der Bundesanwalt-                                         einen Überblick über aktuelle

                                                                                                                                                                                            Der Anschlag
                                                                                                                      Formen von Geschichts-
                              schaft als Nebenkläger angeschlossen und den                                            revisionismus, benennt wich-
                              Beginn des Prozesses im Gericht verfolgt. „Ich kann          tige Akteur*innen und deren typische Argumentations-

                                                                                                                                                                                          von Halle und das
                              nicht an jedem Verhandlungstag im Gericht sein“,             figuren und zeigt, an welche gesellschaftlichen Ein-
                                                                                           stellungen sie anknüpfen. Schließlich gibt das Themen-
                              teilte er später mit. Das hat auch mit den Folgen des        heft Anregungen, geschichtsrevisionistischen Positionen
                              Messerangriffs zu tun: „Ich habe Schmerzen im
                                                                                                                                                                                            Leben danach
                                                                                           argumentativ oder praktisch entgegenzutreten. Mit
                              Rücken und im Bein. Das lange Sitzen ist für mich            Beiträgen von Natascha Strobl, Stella Hindemith, Max
                                                                                           Czollek, Volker Weiß u.v.a.
                              schwer und schmerzhaft.“ Er stehe im engen Aus-
                              tausch mit seinem Anwalt und vertraue den Richtern
                              und den Vertretern der Bundesanwaltschaft.

                              „Wir dürfen nicht ver-
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                                                      IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                stummen, sondern
                               müssen klar Position                                                                                                                                  Es waren Bilder wie aus einem Alptraum:
                                    beziehen“                                                                                                                                   Am 9. Oktober 2019, Jom Kippur, versuchte ein
                                                                                                                                                                                     bewaffneter Mann, die Synagoge in Halle
                                                                                                                                                                                zu stürmen, scheiterte jedoch an der Sicherheits-
                              Auch die Angehörigen von Walter Lübcke sind an
                              dem Prozess als Nebenkläger*innen beteiligt.
                                                                                      Geflüchteten gegen rechte Zwischenrufer verteidigt.
                                                                                      Mit einem kurzen, auf Youtube veröffentlichten Aus-
                                                                                                                                                                                    tür. Daraufhin tötete er zwei Passant*innen
                              „Wir dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar       schnitt machte der Angeklagte H. seinerzeit Lübcke                                            und verletzte zwei weitere, bevor er von der
                              Position beziehen“, hatten sie vorab mitgeteilt.        bundesweit zur Hassfigur im rechten Milieu. Als
                              Walter Lübckes Witwe und seine beiden erwachsenen       das Video abbricht, drückt Sohn Jan-Hendrik Lübcke                                        Polizei gefasst wurde. An diesem Tag hielt sich in
                              Söhne sitzen an vielen Prozesstagen im Saal –           auf den Knopf an seinem Mikrofon und ergreift das
                              genau gegenüber der Anklagebank. Für die Familie        Wort: „Ich bin echt stolz auf meinen Papa“, sagt er.                                          der Halleschen Synagoge auch die Berliner
                              sei es „kaum zu verkraften“, dass Ernst sein Ge-
                              ständnis vor Gericht mit „ausufernden Erklärungen
                                                                                      „Alles, was er gesagt hat, hat er richtig gesagt, und
                                                                                      er hat immer noch recht.“                                                                   Sozialpädagogin Anastassia Pletoukhina zum
                              zu einer schweren Kindheit“ und zur vermeintlichen
                              Radikalisierung durch den Mitangeklagten ver-
                                                                                                                                                                                    Jom-Kippur-Gebet auf. Im Rahmen unserer
                              bunden habe, ganz so als ob er das Opfer sei. Für
                              die Nebenklage stehe aber seitdem fest, dass
                                                                                                                                                                                 TuesdayTalks hat sie mit dem Filmemacher und
                              beide Angeklagte die Tat „aus ihrem Hass heraus                                                                                                     Moderator Adrian Oeser darüber gesprochen,
                              seit langem gemeinsam geplant“ und auch ge-
                              meinsam umgesetzt hätten, fügte ihr Anwalt Holger                                                                                                 wie sie den Anschlag erlebt hat, welche Folgen er
                              Matt damals hinzu.
                                                                                                                                                                                  für das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen
                              Die Stimme von Walter Lübcke selbst ist im Gerichts-
                              saal an einem Tag noch einmal zu hören. Es wird                                                                                                    in Deutschland hat und was ihr in ihrer eigenen
                              ein Handy-Video von einer Bürgerversammlung aus
                              dem Jahr 2015 abgespielt. Der Kasseler Regie-
                                                                                                                                                                                   pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus
                              rungspräsident hatte damals die Aufnahme von
                                                                                                                       Martín Steinhagen
                                                                                                                       Journalist                                                                    wichtig ist.

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#6 - Bildungsstätte Anne Frank
AO          Adrian Oeser: Der Anschlag in            Denn wir fasten an dem Tag, und               zu rammen, und dann darauf                         aber gleichzeitig versucht, das
                                          Halle war eine besonders gewalt-         das Gebet ist sehr lang. Außerdem             schießt. Auch er konnte sich in dem                als bloßen Streich zu relativieren.
                                          volle Form des Antisemitismus.
                                          Hattest Du vorher bereits schon
                                                                                   war der Chasan, der Vorbeter,                 Moment überhaupt nicht artiku-                     Das eigentliche Ausmaß haben
                                          einmal in Deutschland Antisemi-          ein enger Freund von uns, und wir             lieren, weil es ja nichts ist, was man             wir erst Stunden später so richtig
                                          tismus erlebt – in der Schule, an        kannten diese Gemeinde seit                   aus dem Alltag kennt und benen-                    verstanden, als wir von den Toten
                                          der Uni, im Alltag?                      vielen Jahren durch die Arbeit mit            nen kann. Er sagte nur: „Jemand                    und dem Video des Täters erfahren
                                                                                   der Jewish Agency.                            versucht, rein zu kommen!“, und                    haben.
                              AP   Anastassia Pletoukhina: Vor 15                          Wir waren etwas unter                 dann: „Jemand ist tot umgefallen!“
                                   Jahren hätte ich diese Frage noch               zwanzig Leuten, die als Gäste nach                     Die amerikanischen                 AO                 Es dauerte zehn Minuten, bis
                                   verneint – was bizarr ist, weil es                                                                                                                           der erste Streifenwagen kam. In
                                                                                   Halle gefahren sind: darunter                 Bürger*innen sind sofort auf den                               dieser Zeit hat der Täter vor der
                                   allein in meiner Heimatstadt Lübeck             einige amerikanische Staatsbür-               Boden gegangen und haben                                       Synagoge Jana L. erschossen. Wie
                                   einen brutalen Angriff mit Molotow-             ger*innen, Deutsche und Öster-                sich in Sicherheit gebracht, aber                              hast du das Verhalten der Polizei
                                   Cocktails 1994/95 gab. Mittlerweile             reicher*innen. Einige sprachen nur            bei den deutschen ist sehr langsam                             an dem Tag erlebt?
                                   habe ich aber so viele Menschen                 deutsch, einige nur russisch,                 angekommen, dass das gerade
                                   getroffen, die Antisemitismus erlebt            einige englisch. Es war ganz durch-
                                   haben, und mich damit beschäf-                  mischt, und es war schon am
                                   tigt, was Antisemitismus eigentlich             Vortag ein schöner Start in den
                                   ist, dass mir jetzt doch retrospektiv           Jom Kippur.                              „Wir haben einen Knall gehört, aber nicht
                                   diverse antisemitische Aussagen,
                                   Floskeln und Witze einfallen. Die          AO           Wie war die Stimmung in der
                                                                                                                            so wirklich verstanden, was passiert“
                                   meisten davon wurden von Men-                           Synagoge, und wann habt
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                                                     IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                                                                           ihr mitbekommen, dass etwas
                                   schen gemacht, die sich selbst nie                      nicht stimmt, dass draußen vor
                                   als Antisemit*innen bezeichnen                          der Tür etwas passiert?               ein Anschlag ist. Ich glaube, dass          AP     Für mich war das selbstverständlich,
                                   würden, aber deren Sprachpraxis                                                               das ein Schutzmechanismus war,                     dass Polizei irgendwie zum Fassden-
                                   eindeutig antisemitisch ist.                    Jom Kippur ist ein Tag, an dem wir            das abzuwehren: „Nein, das kann                    bild einer Synagoge gehört, und
                                                                              AP
                                            Ich habe aber glücklicher-             auch in uns selbst schauen sollen,            nicht sein. In Deutschland? Niemals!“              es gab mir immer ein Gefühl von
                                   weise das Gefühl, antisemitische                weshalb uns eine ruhige Stadt wie                                                                Sicherheit: Egal was ist, in der Syn-
                                   Äußerungen ansprechen und prob-                 Halle besonders geeignet erschien.       AO           Nach diesem ersten Schutz-                 agoge sind wir geschützt, die Polizei
                                   lematisieren zu können – manchmal                                                                     mechanismus, das nicht glauben
                                                                                   Obwohl es ein Wochentag war, war                      zu wollen, habt ihr es dann
                                                                                                                                                                                    ist innerhalb kürzester Zeit da. Ich
                                   reicht es schon, sich offen zum                 es ziemlich leise. Die Sonne schien,                  doch realisiert, denn ihr habt ja          war sehr erschrocken darüber, dass
                                   eigenen Judentum zu bekennen, und               um halb neun Uhr morgens haben wir                    dann die Türen verbarrikadiert …           das in Halle nicht der Fall war. Ich
                                   schon werden antisemitische Aus-                die erste Meditation gemacht und                                                                 frage mich, warum dem Wunsch
                                   sagen nicht mehr einfach so dahin-              dann noch ein paar Texte gelesen.        AP   Vielleicht ging es auch nur mir so,                der Gemeinde nach permanentem
                                   gesagt, vielleicht sogar antisemi-              Zum Zeitpunkt des Anschlags haben             und bei anderen hat es viel schneller              Polizeischutz nicht nachgekommen
                                   tische Gedanken hinterfragt. Das ist            wir die Thora gelesen – zum Glück war         „klick“ gemacht. Die Synagoge ist                  wurde und auch, warum die Polizei
                                   eine gute Erfahrung.                            gerade niemand draußen, um bei-               sehr klein, und diejenigen, die näher              in einer so kleinen Stadt wie Halle so
                                                                                   spielsweise frische Luft zu schnappen!        an der Tür waren, der Sicherheits-                 lange gebraucht hat.
                              AO          Du lebst seit zehn Jahren
                                                                                            Wir haben einen Knall                mann, der gerade Schicht hatte, und
                                          mit deinem Mann in Berlin. Am
                                          9. Oktober 2019 wart Ihr in              gehört, aber nicht so wirklich ver-           ein paar andere Menschen standen            AO                 Was hat das emotional
                                          Halle, um Jom Kippur zu feiern –         standen, was passiert. Es gab ein             vor diesem kleinen Bildschirm und                              bei dir bewirkt?
                                          wie kam es dazu?                         Überwachungsfenster und eine oder             haben versucht zu verstehen, was
                                                                                   zwei Überwachungskameras, die                 los ist.                                    AP     Ich habe mich ausgeliefert gefühlt:
                              AP   Diese Reise hatte viele Hintergründe.           von der Gemeinde über Spenden                          Der Gemeindevorsitzende                   Wenn schon die Polizei uns nicht
                                   In Berlin sind die Synagogen an                 selbst installiert worden waren. Und          hat sofort die Polizei verständigt                 schützen kann, wer kann uns dann
                                   den Feiertagen proppenvoll, was                 der Security-Beauftragte, eigent-             und alle anderen Menschen haben                    schützen? Es wirft auch Fragen
                                   einerseits schön ist, aber auch                 lich auch ein Stammbeter, hat gese-           sich im hinteren Teil der Synagoge                 nach den unterschiedlichen Aus-
                                   anstrengend sein kann, vor allem,               hen, dass da vor der Tür was passiert,        versteckt. Da haben wir dann schon                 drucksformen von Antisemitismus
                                   wenn man keinen Sitzplatz hat:                  dass da jemand versucht, die Tür              eine antisemitische Attacke vermutet,              auf: Wie stark werden wir als jüdische

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#6 - Bildungsstätte Anne Frank
„Wie stark werden wir als jüdische Gemein-                                                            mitischen Aussagen wie „Juden
                                                                                                                                    ins Gas!“ führte, was ja dann schon
                                                                                                                                                                                 AP     Ich glaube, dass sich Menschen, die
                                                                                                                                                                                        sich als jüdisch verstehen, an
                              schaft als Teil der Gesellschaft gesehen                                                              nichts mehr mit Israel zu tun hatte,                irgendeinem Punkt im Leben fragen:

                              und wie sehr bleiben wir die unbekannten                                                              und „Kindermörder Israel!“, das
                                                                                                                                    auf einen mittelalterlichen antisemi-
                                                                                                                                                                                        „Kann ich hier leben? Fühle ich
                                                                                                                                                                                        mich sicher?“ Und es gibt sehr viele
                              Nachbarn, die exotisiert werden?“                                                                     tischen Topos zurückgeht. Es wurde                  Faktoren, die dabei eine Rolle spie-
                                                                                                                                    Kritik an der Politik von Israel                    len. Meine Großeltern haben sich in
                                                                                                                                    vermischt mit einem europäischen                    ihrem Geburtsland, der Sowjetunion,
                                   Gemeinschaft als Teil der Gesell-                geben, sondern beispielsweise als               antisemitischen Gedankengut. Für                    nicht sicher gefühlt, und wir haben
                                   schaft gesehen und wie sehr bleiben              Pädagog*innen jüdischen Glau-                   viele war das ein Weckruf, zu sagen:                auch in Deutschland genügend An-
                                   wir die unbekannten Nachbarn,                    bens Präventionsarbeit leisten. Es ist          „Moment mal, ich mag vielleicht                     lässe, uns diese Frage zu stellen:
                                   die exotisiert werden? Zum Beispiel              wichtig anzusprechen, dass Aus-                 nicht religiös sein, ich gehe vielleicht            Zum Beispiel 2014, zum Beispiel 2015
                                   hieß es nach dem Anschlag, es                    sagen oder Bilder antisemitisch sein
                                   seien „auch Deutsche“ gestorben –                können, ohne dass zwangsläufig
                                   und es war klar, dass damit nicht
                                   deutsche Jüdinnen und Juden ge-
                                                                                    die Menschen, die sich dieser Bilder
                                                                                    oder Aussagen bedienen, selbst
                                                                                                                               „Und ich werde an meinem Arbeitsplatz oder
                                   meint waren. Dabei sind wir doch                 Antisemit*innen sind. Ich glaube, dass     in meinem Studium von Leuten angesprochen
                                   auch Deutsche!                                   ist die größte Angst von einer*m
                                                                                    sogenannten Deutschen, als Antise-         und werde gefragt: Ja, was sagst du denn zu
                                          Einerseits gibt es ja das deutsche
                                          Selbstverständnis, dass Jüdinnen
                                                                                    mit*in betitelt zu werden.                 dem, was ihr da in Israel macht?“
                              AO
IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS

                                                                                                                                                                                                                                                     IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS
                                          und Juden in Deutschland sicher
                                                                                            Was hat der Anschlag in den
                                          sein sollen, andererseits hat euch
                                                                                            Gemeinden bewirkt?
                                          letztlich nur eine Tür gerettet.     AO                                                   nicht in die Synagoge, aber genau                   und auch nach dem Anschlag in
                                          Fallen Anspruch und Wirklichkeit                                                          das hat etwas mit mir zu tun.“ Und                  Halle. Ich habe die Entscheidung
                                          auseinander?                              Wie in Halle haben nun viele vor                ich werde an meinem Arbeitsplatz                    hierzubleiben jedes Mal bewusst
                                                                               AP   allem kleinere jüdische Gemeinden               oder in meinem Studium von Leuten                   getroffen, weil ich Deutschland als
                                   Meine Perspektive als Pädagogin ist,             die Sicherheit bekommen, um                     angesprochen und werde gefragt:                     mein Zuhause betrachte und glaube,
                              AP   dass wir mehr im Bildungskontext                 die sie die Stadt oder die Polizei lange        „Ja, was sagst du denn zu dem, was                  hier etwas verändern zu können.
                                   machen müssen und dass auch die                  gebeten haben, weil dafür von                   ihr da in Israel macht?“ Ich glaube,                Ich denke, so ähnlich geht es vielen
                                   Medien mit dem Thema anders                      den Bundesländern Budget freige-                die teilweise brutale Demonstration                 jüdischen jungen Erwachsenen.
                                   umgehen sollten. Als Vorsitzende des             geben wurde. Vor allem in Halle                 2014 und auch der Anschlag in Halle
                                   Jüdischen Studierendenverbands                   hat die Gemeinde unfassbar viel                 sind für viele ein Faktor, um sich
                                   in Berlin habe ich viele Interviews              Aufmerksamkeit bekommen: Es gab                 nicht zu verstecken, sondern zur eige-
                                   gegeben, und jedes Mal war die                   viele Solidaritätsbekundungen                   nen jüdischen Identität zu stehen
                                   Angst vor antisemitischen Übergrif-              und Angebote für Kooperationen. Ich             und Räume zu schaffen, in denen
                                   fen Leitthema. Wenn ich von an-                  kann mir vorstellen, dass jetzt                 jüdische junge Erwachsene sich
                                   deren Themen gesprochen habe, die                neue gemeinsame Projekte entstehen,             sicher fühlen und gemeinsam Akzen-
                                   Jüdinnen und Juden abgesehen                     die auch nochmal einen anderen                  te jüdischen Lebens setzen können.
                                   von Antisemitismus beschäftigen,                 Fokus haben und andere Akzente
                                   wurde das selten veröffentlicht. Ich             setzen: Antisemitische Übergriffe wie                   Ich habe gelesen, dass der An-                                                     Anastassia
                                   finde das problematisch, weil                    beispielsweise 2014 die Demon-                          schlag von Halle in vielen Gemein-                                                 Pletoukhina

                                   Antisemitismus zwar ein wichtiger                strationen gegen Israel und die isra-
                                                                                                                               AO           den auch als Zäsur wahrge-                  Anastassia Pletoukhina, geboren in Russland, kam in
                                                                                                                                            nommen wurde: Es war der erste              den 1990er Jahren als Zwölfjährige nach Deutschland
                                   Faktor ist, aber es macht nicht                  elische Politik haben bewirkt, dass                     antisemitische Anschlag, bei                und lebt heute in Berlin. Die Sozialpädagogin gründete
                                   unser jüdisches Leben, unsere All-               viele junge Leute unbedingt etwas                       dem es zu sehr vielen Toten hätte
                                                                                                                                                                                        die jüdische Studierendeninitiative Studentim, arbeitet
                                                                                                                                                                                        bei der Jewish Agency Berlin und promoviert in Frank-
                                   tagsrealität aus.                                dagegen machen möchten. Bei                             kommen können. Viele Menschen               furt in Soziologie.
                                            Ich glaube aber, dass sich              diesen Demonstrationen ging es                          haben sich gefragt, ob sie als
                                                                                                                                                                                        Der vorliegende Text ist eine gekürzte und von Anastassia
                                                                                                                                            Juden und Jüdinnen* in Deutsch-
                                   das gerade verändert, weil wir uns               ganz schnell gegen Israel als Staat,                    land noch sicher sind …
                                                                                                                                                                                        Pletoukhina durchgesehene Fassung des ursprüng-
                                                                                                                                                                                        lichen Interviews.
                                   nicht nur in eine Opferrolle be-                 was zu wirklich sehr blanken antise-

14                                                                                                                                                                               Other Stories #6                                                   15
#6 - Bildungsstätte Anne Frank
#Blac                  Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George

                      k
                                       Floyd rückte Rassismus gegen Schwarze Menschen ver-
                                       stärkt ins öffentliche Bewusstsein. Auf die ersten Proteste

                 Lives
                                       in den USA folgten Demonstrationen an vielen anderen
                                       Orten, und spätestens seit Sommer 2020 ist „Black Lives
                                       Matter“ eine globale Protestbewegung.

                Matte
                                       Dabei ist die zum Hashtag gewordene Forderung            #Gegenwart
                                       „Black Lives Matter“ mehr als eine politische Be-
                                       wegung, mehr als ein Slogan, der auf Demos gerufen       Der Kolonialismus existiert offiziell nicht mehr, und

                     r
                                       und auf T-Shirts gedruckt wird: Black Lives Matter       die Versklavung von Menschen ist verboten. Doch
                                       reicht zurück in die Zeit der Versklavung und Unter-     auf wirtschaftlicher und politischer Ebene wurden
                                       drückung Schwarzer Menschen in Nord- und Süd-            kolonial- und sklav*innenähnliche Beziehungen bis
                                       amerika und auch auf dem afrikanischen Kontinent.        heute aufrechterhalten. Ebenso aufrechterhalten
                                       Ein Blick in diese koloniale Vergangenheit macht         geblieben sind die Bilder über Schwarze Menschen,
                                       deutlich, wie die jahrhundertelange Ausbeutung und       die in den Zeiten des Kolonialismus und der Ver-
                                       Unterdrückung Schwarzer Menschen ideologisch             sklavung entstanden sind. Diese Bilder haben sich
                                       untermauert und gerechtfertigt wurde. Und er ist not-    seitdem weiterhin in unsere westliche weiße Ge-
                                       wendig, um Rassismus gegen Schwarze Menschen             sellschaft und Geschichtsschreibung eingebrannt.
                                       heute zu verstehen.                                      Ob in Kinderliedern, Schulbüchern, Filmen und
                                                                                                TV-Serien oder der Werbung: Schwarze Menschen
                                                                                                werden als dumm und unfähig dargestellt, Afro-
                                       #Geschichte                                              haare werden als unzivilisiert und Wucherfrisur
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                               d
                              m -i e   Koloniales Denken existierte bereits, bevor die ersten   mit Affenlauten beschimpft und von Afrika wird so

                            u
                                       Kolonien überhaupt entstanden: Schon der Begriff         gesprochen, als sei es ein einziges Land, bewohnt

                        a r
                                       „Kolonialismus“ (von lat. „colonia“: besiedeln, urbar    von „Afrikanern“. Dadurch wird die Vielfalt eines

                      W r a ss i s
                                       machen, bebauen), der die Besetzung afrikanischer        gesamten Kontinents unsichtbar gemacht. Außerdem
                                       Länder durch europäische Kräfte bezeichnet, enthält      sind Erzählungen vom Afrikanischen Kontinent

                       anti Proteste
                                       nämlich die Vorstellung, die zu kolonisierten Gebiete    überwiegend solche der Armut, des Hungers und der
                                       seien unzivilisiert. Zudem bildeten die Wissenschaft     Kriege. All diese Erzählungen und Bilder von Schwarzen
                                       und das Zeitalter der „Aufklärung“ (dominante            Menschen wirken sich real auf den Lebensalltag

                        h e n          Erzählung von Erkenntnistheorien, Emanzipation,          dieser in Deutschland (und anderen mehrheitlich

                    tisc le etwas
                                       Befreiung …) eine wesentliche Grundlage für              weißen westlichen Gesellschaften) aus: in der Schul-
                                       Rassentheorien und somit auch für den bis heute an-      laufbahn und dem Zugang zu guter schulischer Bil-

                        al ehen
                                       dauernden Rassismus gegen Schwarze Menschen.             dung, dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.
                                       Diese „wissenschaftlichen Rassentheorien“, die

                         a ng
                                       Menschen hierarchisierten, sprachen Schwarzen
                                       Menschen ihr Menschsein ab. Sie waren ideologische       #rassistische Gewalt
                                       Grundlage und Legitimation für die Versklavung,          #Polizeigewalt
                                       Kolonisierung und Ausbeutung Schwarzer Menschen,
                                       der Ausbeutung von natürlichen und menschlichen          Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen ist nicht
                                       Ressourcen, der Zerstörung von Kulturen, Sprache,        nur in den USA ein Thema, sondern gehört auch
                                       Religionen – Gesellschaften durch die westliche,         in Deutschland für viele Schwarze Menschen und
                                       weiße „Hochkultur“.                                      Menschen of Color zum Alltag – zum Beispiel durch
                                                                                                Racial profiling. Da Racial profiling offiziell verboten
                                       Noch heute zeigt sich die Vorstellung, dass              ist, gibt es seitens des Bundes keine eigens erhobe-
                                       Weiße ganz selbstverständlich über Schwarze Men-         nen Daten dazu. Die Initiative „Death in Custody“
                                       schen und deren Körper verfügen dürfen darin,            (Tod in Polizeigewahrsam) zählte zwischen 1990
                                       dass Schwarze Menschen oft ungefragt an Haut und         und 2020 159 Fälle von BPoC, die in Polizeigewahr-
                                       Haaren angefasst werden, dass die Errungen-              sam oder durch rassistische Polizeigewalt ums Leben
                                       schaften Schwarzer Kulturen wie selbstverständlich       gekommen sind.
                                       von weißen angeeignet werden, ohne deren Ur-
                                       sprung zu nennen, und nicht zuletzt in körperlicher
                                       Gewalt gegen Schwarze Menschen.

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#Sprache

                Vielen Menschen ist mittlerweile bewusst, dass das
                N-Wort oder auch das M-Wort problematisch ist,
                trotzdem werden beide Begriffe noch immer häufig
                benutzt: Als Beleidigung, aus Gewohnheit, als
                Zitat, aber auch als vermeintlich „ganz normale“
                Bezeichnung für Schwarze Menschen. Wer viel
                englischsprachigen Rap, Hip-Hop und R’n’B hört, kann
                angesichts der Leichtigkeit, mit der Schwarze
                Musiker*innen das N-Wort benutzen, den Eindruck
                gewinnen, der Begriff sei unproblematisch.

                Bei dem N-Wort handelt es sich um eine zutiefst
                verletzende und gewaltvolle Beleidigung, die
                benutzt wurde (und wird), um Schwarze Menschen
                zu stigmatisieren. Er ist verknüpft mit Lynchgewalt
                und in unzähligen Witzen, Liedern und Cartoons
                zu finden, die die Abwertung Schwarzer Menschen
                widerspiegeln. Innerhalb Schwarzer Communities
                ist umstritten, ob das N-Wort in empowernder
                Absicht als Selbstbezeichnung verwendet werden
                sollte oder ob es ganz aus dem Wortschatz ver-
                schwinden sollte.

                Weiße Menschen und Menschen of color jeden-
                falls sollten das Wort aus unserer Sicht unter keinen
                Umständen benutzen – auch nicht als Zitat.
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                #BlackLivesMatter                                         Bilder der Fotokünstlerin Ana Paula dos
                                                                          Santos dokumentieren die BLM-Proteste
                                                                          in Frankfurt 2020
                Vor dem Hintergrund der Rassismuserfahrungen,
                die dezidiert Schwarze Menschen erleben, ist
                #BlackLivesMatter eine Forderung nach Anerkennung
                der kolonialen Kontinuitäten und der noch immer
                bestehenden strukturellen Gewaltverhältnisse – eine
                Gegenbewegung, die „All Lives Matter“ (alle Leben
                zählen) fordert, übersieht diese Strukturen – oder will
                sie absichtlich unsichtbar machen und die „Black
                Lives Matter“-Forderungen delegitimieren. Es ist aber
                wichtig anzuerkennen, dass Rassismus tief in den
                gesellschaftlichen Strukturen und damit in jedem
                Menschen verankert ist, um ihn wirksam bekämpfen
                zu können.
                                                                                                Aisha Camara
                „Black Lives Matter“ ist deshalb nicht nur eine Auf-                            Team Beratung
                forderung zur Solidarität innerhalb der Schwarzen
                Community und ein Aufruf zum Aktivismus, sondern
                auch eine Forderung an die nicht-schwarze Gesell-
                schaft, sich mit dem eigenen Rassismus auseinander-
                zusetzen und an ihm zu arbeiten.
                                                                                                Folasade Farinde
                                                                                                Bildungsreferentin
                Denn die kompromisslose Anerkennung von
                Geschichte, Gegenwart und Alltag Schwarzer
                Menschen ist die Voraussetzung für Freiheit,
                Gerechtigkeit und Gleichberechtigung Schwarzer
                Menschen – in Deutschland und überall.
                                                                                                Siraad Wiedenroth
                                                                                                Pädagogisches Team
                                                                                                & Veranstaltungsmanagement

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„Die Botschaft
                                                                               Vor acht Jahren ist die promovierte Diplom-                dass mitunter „Integration“ eher noch als „Assimi-
                                                                               Psychologin nach Kassel gekommen. „Da musste               lation“ verstanden wird. „Wo stehen die Leute,
                                                                               ich mir auch viele Sprüche anhören – ‚ab nach              und wo kann man sie abholen“, formuliert das Seip.
                                                                               Kassel‘ ist ja nur der bekannteste.“ Die alte Abnei-       Die Fragen seien etwas andere als in Frankfurt:

                     ist dieselbe“
                                                                               gung zwischen den Städten, gibt es sie noch                Was für Strukturen sind schon vor Ort? Welche Initi-
                                                                               immer? „Natürlich fühlen sich die Kasseler*innen           ativen gibt es, und welche Unterstützung benötigen
                                                                               im Vergleich zu den Frankfurt*innen immer ein              sie? Wo sind wir anschlussfähig?
                                                                               bisschen abgehängt.“ Aber der Kulturunterschied
                                                                               sei auch real spürbar: „Frankfurt ist ja selbst            Nicht zuletzt hat Kassel auch traurige Berühmtheit
                                                                               nicht besonders groß, aber hat das Flair einer Welt-       erlangt: Es ist die Stadt des Mords an Halit
                                                                               stadt, das ergibt sich einfach aus der Geschichte.“        Yozgat, die Region des Attentats auf Walter Lübcke.
                                                                               Frankfurt war schon immer Handelsstadt und damit           Rechte, rassistische Gewalt gibt es in Kassel und
                                                                               auch Knotenpunkt für Migration – „mit allem,               der Region seit Jahrzenten. Zu oft ist sie unbemerkt
                                                                               was dazugehört“. Kassel hingegen sei aristokratisch        und unaufgeklärt geblieben. „Natürlich gibt es
                        Seit einem Jahr ist Maria Seip Leiterin                geprägt, als Residenz- und Garnisonsstadt:                 den ‚braunen Sumpf‘, von dem hier oft die Rede ist“,
                   der Kasseler Zweigstelle der Bildungsstätte. Mit            „Wir haben das Weltkulturerbe, das Schloss, die
                                                                               Orangerie.“ Migration sei in Kassel erst mit der
                                                                                                                                          sagt Seip. Aber gleichzeitig sei die Stadtgesell-
                                                                                                                                          schaft seit dem Mord an den Regierungspräsidenten
                    „Other Stories“ sprach sie über innerhessische             Ansiedlung der Hugenotten im 16. Jahrhundert und
                                                                               dann seit den Fünfzigern so wirklich Thema ge-
                                                                                                                                          auch alarmiert. Rechte Demos würden nun von
                                                                                                                                          einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis kon-
                      Kulturunterschiede, die Beziehungen zum                  worden, mit dem Zuzug von „Gastarbeitern“ für VW.          frontiert: „Da ist jetzt eine Wachheit da, die er-
                                                                                                                                          halten bleiben muss.“ Gleichzeitig spüre sie im Fall
                   Frankfurter Haupthaus und Herausforderungen                 Mittlerweile wird Kassel der Bildungsstätte zu klein,      Yozgat, dass sich die Stadt noch schwertue, ein
                                                                               wenn auch in anderer Hinsicht: Die Büroräume               öffentliches Gedenken so zu unterstützen, wie sich
                                 im ländlichen Raum.                           in der Kleinen Rosenstr. 3 reichen nicht mehr ganz         das die Familie und migrantische Communities
                                                                               aus für die sechs Personen, die hier nun arbeiten.         wünschten – „eine Ambivalenz, die ich in der Stadt
                                                                               Vieles findet derzeit im „Beratungsraum“ statt: digi-      sehr stark wahrnehme“.
                                                                               tale Formate, Videokonferenzen, Teamtreffen –
                                                                               neben der Beratung selbst, die in Kassel bislang
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                                                                               arbeiter*innen ist im Beratungsteam, auch die Anti-             Kassel macht sich
                                                                               diskriminierungsberatung ist mit einer Stelle
                                                                               vertreten. Aus historischer Entwicklung: Die Arbeit               auf den Weg
                                                                               der Bildungsstätte in Kassel begann mit Beratung
                                                                               durch response. „In der Kasseler Öffentlichkeit
                                                                               werden wir deshalb nach wie vor oft ‚nur‘ als              Der Anspruch geht natürlich weit über Kassel
                  Wenn über die Bildungsstätte Anne Frank gesprochen           Beratungsstelle wahrgenommen“, sagt Seip. „Wir             hinaus – in der Tendenz will das Büro den ganzen
                                                                               versuchen deswegen, mit Veranstaltungen, vor               Raum Nord- und Osthessen abdecken. „Wir
                wird, denken die meisten zuerst an Frankfurt am Main.          allem Fortbildungen, den zweiten, pädagogischen            sind ein Kasseler Büro, natürlich. Aber allein AdiNet

                  Dabei ist die Bildungsstätte laut Selbstverständnis ein      Schwerpunkt zu setzen.“ Dabei sei es noch
                                                                               immer recht anstrengend, die Kasseler Presse für
                                                                                                                                          ist in fünf Landkreisen aktiv. Das ist auch eine
                                                                                                                                          große Herausforderung, aus einer Stadt heraus –
                „Zentrum für politische Bildung und Beratung in Hessen“ –      die Events der Bildungsstätte zu begeistern.               wenn auch aus einer kleineren – die Bedarfe auf
                                                                                                                                          dem Land abzudecken.“ Soeben hat das Antidis-
                 und nicht nur für „Südhessen“, wie der Frankfurter Raum       Eine weitere Herausforderung: die Zusammenarbeit
                                                                               mit den vielen Initiativen, die in Kassel schon seit
                                                                                                                                          kriminierungsnetzwerk, das von der Bildungsstätte
                                                                                                                                          in Kassel koordiniert wird, öffentlichkeitswirk-
                  in Kassel scherzhaft genannt wird. Seit drei Jahren          langem politische Bildung und Beratung machen. Hier        same Veranstaltungen zur Diskriminierung auf dem
                                                                               müsse sie dem Gefühl begegnen, als der große               Wohnungsmarkt ausgerichtet.
                gibt es hier eine offizielle Zweigstelle der Bildungsstätte.   Player aus Südhessen in Erscheinung zu treten, der
                                                                               sich nun in Nordhessen ausbreiten wolle: „In               Seip empfindet die Kasseler Besonderheiten nicht
                  Geleitet wird sie seit einem Jahr von Dr. Maria Seip. Wie    solchen Fällen müssen wir erklären: Nein, wir wollen       als nachteilig: „Das ist, was unseren Alltag

                die Bildungsstätte selbst ist sie ein Frankfurter Gewächs.     was zusammen mit euch machen.“ Der Geist ist ins-
                                                                               gesamt eher ein kooperativer, vermittelnder. In
                                                                                                                                          herausfordernd und spannend macht.“ Ein opti-
                                                                                                                                          mistisches Grundgefühl, das sie aus der Stadt
                In der Bankenmetropole hat sie studiert und gearbeitet –       Frankfurt falle es leicht, avantgardistisch aufzutreten:
                                                                               Das Publikum ist vorhanden, ist mitgewachsen –
                                                                                                                                          insgesamt mitnehme: Kassel macht sich auf den Weg.

                  „hauptsächlich im universitären Kontext, im Bereich          nicht zuletzt ist die Bildungsstätte auch aus der
                                                                               Stadtgesellschaft, aus privaten Initiativen entstanden.
                der pädagogischen Psychologie“, sagt sie. „Aber schon          „Die Botschaft der Bildungsstätte in Kassel ist
                                                                               natürlich dieselbe, aber der Ansatz ist ein anderer.“
                  damals war ich nebenbei auch viel in der Beratung und        Veranstaltungen dürften nicht ausschließlich auf                        Maria Seip
                                                                                                                                                       Leiterin Büro Nord-
                                                                                                                                                                                      János Erkens
                                                                                                                                                                                      Presse- und
                                                                               ein eher akademisches Publikum ausgerichtet wer-
                                        Bildung tätig.“                        den; bei Kooperationen müsse man berücksichtigen,
                                                                                                                                                       und Osthessen in
                                                                                                                                                       Kassel
                                                                                                                                                                                      Öffentlichkeitsarbeit,
                                                                                                                                                                                      Pädagogisches Team

 20                                                                                                                                       Other Stories #6                                            21
Das umgedrehte
                Klassenzimmer
                Herausforderungen für die
                politische Bildung im
                Zeitalter der Digitalisierung
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                                                                               Frank. Morgen mehr.“ der Bildungsstätte.
                                                                               Junge Erwachsene können das Versteck von
                                                                               Anne Frank und ihrer Familie virtuell erkunden

                                                                               Diese Erfahrung steht paradigmatisch für die
                                                                               grundlegenden Herausforderungen, mit denen die                  Auf aktuelle
                Eigentlich wäre                          nach dem rassisti-
                                                                               politische Bildung gegenwärtig konfrontiert ist:
                                                                               Auf aktuelle gesellschaftliche und politische Ereig-       gesellschaftliche und
                schen Terror- 		                         anschlag von
                                                                               nisse muss schnell mit niedrigschwelligen Ange-
                                                                               boten reagiert werden, die ihre Empfänger*innen            politische Ereignisse
                Hanau im Feb-                            ruar 2020 eine Zeit   überall dort erreichen, wo sie sich nun einmal
                                                                               gerade aufhalten. Kurz: Die politische Bildung muss          muss schnell mit
                des Trauerns                             und Gedenkens         sich zunehmend digitalisieren, um den Lebens-
                                                                               realitäten der Digital Natives und jener, die mit ihnen     niedrigschwelligen
                angemessen                               gewesen. Doch         arbeiten, gerecht zu werden.
                                                                                                                                           Angeboten reagiert
                tatsächlich schuf der Anschlag auch eine pädagogische          Diese Entwicklung ist freilich nicht neu. Spätestens
                                                                                                                                             werden, die ihre
                                                                               seit 2018 beschäftigt sich auch die Bildungsstätte
                Notfallsituation: Binnen weniger Stunden erreichten die        verstärkt mit digitalen Formaten in der politischen
                                                                               Bildung: Das interaktive Lernlabor „Anne Frank.              Empfänger*innen
                Bildungsstätte zahlreiche Anfragen von Lehrer*innen aus        Morgen mehr.“ beispielsweise basiert auf einem so-
                                                                                                                                               überall dort
                dem gesamten Bundesgebiet, die sich Unterstützung              genannten mixed-reality-Ansatz, einer Kombination

                dabei wünschten, mit ihren Schüler*innen angemessen über
                                                                               aus digitalen und analogen Elementen. Mit dem
                                                                               „virtuellen Hinterhaus“ bietet es ein augmented-             erreichen, wo sie
                Hanau und Rechtsterrorismus zu sprechen. Es waren so
                                                                               reality-Format an, bei dem die Besucher*innen mit-
                                                                               hilfe von Tablets das Hinterhaus erkunden können,         sich nun einmal gerade
                viele, dass wir diesen Bedarf innerhalb so kurzer Zeit nicht
                                                                               in dem Anne Frank und die sieben anderen Versteck-
                                                                               ten so lange Zeit leben mussten.                                 aufhalten
                mit Fortbildungen hätten decken können. Die Lösung war         Doch unterm Druck der diesjährigen Ereignisse wurde
                                                                               die Digitalisierung der gesamten Angebotspalette
                unser erstes Online-Seminar.                                   dringlicher: Neben dem Anschlag von Hanau war es

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