#6 - Bildungsstätte Anne Frank
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PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK #6 JAHRGANG 2020/2021 Monate später „Das war ein #Black und noch ganz am Weckruf“ Lives Anfang Matter Der Anschlag von Der Anschlag von Halle und das Warum die antirassistischen Proteste Hanau Leben danach alle etwas angehen S. 4 S. 11 S. 16
Liebe Leser*innen, — die Namen jener neun jungen Menschen, die am 19. Februar in Hanau aus ras- sistischen Motiven ermordet wurden, klingen nach. Das größte terroristische Attentat in der hessischen Landesgeschichte hat die Zeit für uns aufgeteilt: Es gibt eine Zeit vor Hanau und nach Hanau. Wir alle kennen die Kontinuität rechter Gewalt in Hessen: den Mord an Halit Yozgat durch den NSU, den Mord an Walter Lübcke, die Drohungen des NSU 2.0 gegen die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die Komikerin Idil Baydar und die Politikerin Janine Wissler. Hanau markiert einen traurigen Gipfel- punkt dieser Kontinuität. Unsere Mitarbeiter*innen waren von Anfang an in der Nachsorge tätig, betreuten und berieten Opfer und Angehörige des Anschlags – und stellten an die Politik konkrete Forderungen. Doch scheint es, dass kein rassistisches Ver- brechen groß genug sein kann, um nicht doch als Randnotiz, als unvorherseh- barer Ausbruch eines verwirrten Einzeltäters gekennzeichnet zu werden. Ferhat Unvar, Vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie musste schließlich auch Hanau, scheinbar zwangsläufig, verblassen, waren die Prioritäten der hessi- schen Landespolitik wieder einmal andere, wurden unsere Forderungen auf die lange Bank geschoben. Ich frage mich ehrlich gesagt, warum. Wie wohl Gökhan Gültekin, kein anderes Phänomen hat Corona existierende Widersprüche offengelegt – und befeuerte antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen, wie sie auch der Attentäter von Hanau teilte. Wir haben Zehntausende gesehen, die unter Reichsflaggen, mit bizarren Parodien von Judensternen, mit Lügen über VORWORT George Soros gegen die Corona-Politik auf die Straße gegangen sind. Wann, Hamza Kurtović, wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt, jene Ideologien zu bekämpfen, die Taten wie die von Hanau möglich gemacht haben? Die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus ist kein „Luxusproblem“, das vor der unmittelbaren Bekämpfung der Pandemie-Folgen zurückzustehen hätte – es ist untrennbar mit ihr verwoben. Said Nesar Hashemi, Mit dieser Ansicht stehen wir erfreulicherweise nicht allein. Selten zuvor hat sich die Zivilgesellschaft so stark organisiert wie heute. Die „Black Lives Matter“- Bewegung hat nach dem Tod von George Floyd weltweit die Frage nach Polizei- gewalt, antischwarzem Alltagsrassismus und der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe neu gestellt. Statuen wackeln, Straßen werden umbenannt – alles Mercedes Kierpacz, inmitten einer Pandemie. Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass manche Probleme nicht mit Corona vom Tisch gewischt werden können. Auch wir versuchen, unseren Teil beizutragen. Unser digitales Bildungsprogramm trägt den ausgefallenen Präsenzveranstaltungen und der in der Pandemie einge- Sedat Gürbüz, schränkten Mobilität Rechnung. Hunderte haben an unseren neuen Online-Semina- ren teilgenommen, Tausende folgten digital unserer Diskussionsreihe „Tuesday- Talks“ – und vor allem unseren digitalen Zeitzeug*innengesprächen mit Zvi Cohen und Eva Szepesi. Mit „Hessen schaut hin“ haben wir 2020 eine Online-Meldestelle für rassistische Vorfälle geschaffen. Nicht zuletzt haben uns in der Video-Reihe Kaloyan Velkov, „Fensterblick“ zahlreiche bekannte Künstler*innen und Autor*innen in der Zeit des Lockdowns mit literarischen und philosophischen Betrachtungen berührt. Das alles wäre nicht zu schaffen gewesen ohne die Beharrlichkeit und das Enga- Fatih Saraçoğlu und gement unseres inzwischen fast 50-köpfigen Teams, das sich nicht einschüchtern lässt – und unter schwierigen Bedingungen mit daran arbeitet, dass Fehlentwick- lungen dieser Gesellschaft nicht unwidersprochen bleiben. Vili Viorel Păun. Ihr Dr. Meron Mendel Direktor der Bildungsstätte Anne Frank Other Stories #6
PERSPEKTIVEN DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK INHALT Aus unseren Anhang Bildungsprojekten 64 Publikationen Impressum #6 ack Bl es # iv er Im Fokus: Other L att Rechtsterrorismus Stories M #BlackLives 16 4 Hanau: Monate später und 16 #BlackLivesMatter noch ganz am Anfang Warum die antirassistischen Proteste alle Deutschrap: Teil 48 Matter etwas angehen Die Fachberatungsstelle response steht Betroffenen von rechtem Terror zur Seite des Problems oder 20 „Die Botschaft ist dieselbe“ Teil der Lösung? 8 Von Worten und Taten Der Journalist Martín Steinhagen Herausforderung ländlicher Raum: Maria Seip über die Zweigstelle Kassel der Bildungsstätte Anne Frank berichtet vom Lübcke-Prozess 11 „Das war ein Weckruf“ 22 Das umgedrehte Klassenzimmer Der Anschlag von Halle und das Leben danach – Interview mit Anastassia Pletoukhina Herausforderungen für die politische Bildung im Zeitalter der Digitalisierung 44 Realitätsabgleich Was Verschwörungstheorien alles nicht sind 26 Blick aus dem Fenster Künstler*innen reflektieren über den Alltag in der Pandemie 46 Über Generationen hinweg Wie Geschichten zu Geschichte werden: Empowerment durch Storytelling 30 Bürgerkrieg im Wartezimmer 48 Die Normalisierungsstrategie der AfD-Haus- zeitschrift „Tichys Einblick“ geht voll auf Deutschrap: Teil des Problems oder Teil der Lösung? 36 Wie extremistisch ist der Extremismusansatz? Warum es Sinn hat, Hip-Hop in die politische Bildungsarbeit zu integrieren Rassismus und Antisemitismus im Verständnis führender Vertreter des Hufeisen-Modells 50 „Hessen schaut hin“ Die ersten Monate des Meldeportals in Zahlen 40 Ausstellen? Abstellen! Die Ausstellung „Hingucker?“ will Kolonial- rassismus ausstellen, ohne koloniale Logiken 52 „Seid gut zueinander!“ Das Projekt „was unternehmen!“ fördert zu reproduzieren Antidiskriminierung in Betrieben Hanau: Monate später 4 54 Plakatwettbewerb: Ausstellen? 40 Hart an der Grenze Abstellen! und noch ganz am Anfang Der Kunstwettbewerb der Bildungsstätte
Hanau: Zurück bleiben Familien, Freund*innen, Überle- bende, Zeug*innen. Schätzungsweise hundert Menschen betrifft der Terroranschlag direkt oder indirekt. response berät und begleitet viele von Monate später ihnen. Neben den vielen Gruppen, die vor Ort wich- tige Arbeit leisten, handelt es sich bei response Kaloyan um die einzige Fachberatungsstelle für Betroffene Velkov rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. und noch ganz „Unser spezifischer Auftrag basiert auf der Erfah- rung mit der Mordserie des rechtsterroristischen NSU. Damals gab es für die Betroffenen leider keine professionellen Ansprechpersonen“, erklärt die Leiterin Olivia Sarma. am Anfang Unser spezifischer Auftrag basiert auf der Erfahrung Die Fachberatungsstelle mit der Mordserie des response steht Betroffenen von rechtsterroristischen rechtem Terror zur Seite NSU. Damals gab IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS es für die Betroffenen Gökhan leider keine profes- sionellen Ansprech- Gültekin Mercedes Immer mehr Menschen Kierpacz melden sich response zeichnet sich durch „aufsuchende personen Beratung“ aus: Das Team geht von sich aus auf Betroffene zu, bietet Unterstützung an. Etwa Vili Viorel im Jugendzentrum des Hanauer Stadtteils Kessel- Păun stadt, den Räumen der Hanauer Hilfe sowie des „Ladens“, den die „Initiative 19. Februar“ eröff- net hat. Zum Zeitpunkt der Drucklegung berät response rund vierzig der Betroffenen – und stetig kommen weitere dazu. „Vielen Menschen geht es jetzt, ein halbes Jahr später, schlechter als direkt nach der Tat“, beobachtet response-Mitarbeiterin Draupadi Fitz. Während der Terroranschlag für die Was sich am 19. Februar 2020 in Hanau ereignet hat, weiße Mehrheitsgesellschaft bereits in Vergessen- Hamza heit zu geraten droht, steht die Arbeit von response Kurtović bleibt auch Monate später unfassbar. Kein Wort eher erst am Anfang. Die Psychologin Fitz kennt die Gründe, aus denen viele sich erst nach und nach scheint stark genug, das Leid zu beschreiben, das an melden: „Wenn Menschen etwas unfassbar Schlimmes worum es geht, nur auf deren Wunsch hin aktiv“, erlebt haben, spaltet die Seele dieses Erlebnis ab.“ betont Fitz. In den Gesprächen höre sie vor allem diesem Tag über die Menschen kam. Ein Rechtsextremist Erkennbar sei dies auch an sogenannten Trauma- zu, stelle gelegentlich eine Frage oder skizziere ermordete neun Menschen aus rassistischen Motiven folgesymptomen: Albträumen, Anspannung, Angst, Wut und Flashbacks. „Solche Symptome sind Möglichkeiten. Zum Beispiel: einen Therapieplatz zur Traumabewältigung suchen, einen Antrag auf und am Ende die eigene Mutter: Gökhan Gültekin, normale Reaktionen auf ein nicht aushaltbares Er- eignis“, erklärt die Beraterin Betroffenen häufig. Entschädigung stellen, einen Umzug organisieren, einen neuen Job suchen – oder einfach Trauer er- Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Bevor Wunden heilen, ist es sehr wichtig, weitere möglichen. Ob sie etwas tun und was, entscheiden Verletzungen zu verhindern. Oberste Maxime in allein die Beratungsnehmenden. „In einem Gefühl Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, der Beratung von response sind daher Sicherheit, absoluter Ohnmacht gilt es, gemeinsam Handlungs- Schutz und Selbstbestimmung. „Wir stehen par- spielräume zu erkennen und Erfahrungen der Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen. teiisch an der Seite der Betroffenen und werden, egal Selbstwirksamkeit zu ermöglichen“, so Sarma. 4 Other Stories #6 5
Fatih In einem Gefühl 19. Februar Hanau“, der Amadeu Antonio Stiftung, dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene Saraçoğlu absoluter Ohnmacht von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, sowie dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. gilt es, gemeinsam Konflikt mit dem geldgebenden Handlungsspielräume Innenministerium zu erkennen und Als sei nach der Gewalttat das unendliche Leid der Menschen nicht schlimm genug, sorgte das hes- Erfahrungen der sische Innenministerium im Hinblick auf die Geldfrage für weitere Probleme. Bis knapp zum Redaktions- Selbstwirksamkeit zu schluss dieses Hefts verweigerte es die Auszahlung von 50.000 Euro für Personalkosten, die bei ermöglichen Sedat response anfallen, um die Betroffenen aus Hanau unterstützen zu können. Diese Blockade sorgte Gürbüz hessenweit für Aufregung, Sarma spricht klar von Gipfel des Versagens „Schikane“. Immerhin war es die Beratungsstelle Kein Fall ist typisch response selbst, die nach Hanau den Bedarf be- Dabei stellt das Verhalten der Behörde am nannt und das benötigte Geld erfolgreich beim Bund Der eine typische Beratungsfall aus Hanau lässt 19. Februar nur einen Teil des Versagens der hes- eingeworben hatte. Erst nach monatelanger sich nicht beschreiben. „Die Beratungsanliegen, sischen Polizei dar. „Beratungsnehmende be- öffentlicher Debatte konnten sich response und das die Ziele und die Lebenssituationen der Beratungs- richten uns ständig, dass sie von der Polizei nicht Landesministerium einigen. nehmenden unterscheiden sich stark“, sind Sarma ernst genommen wurden, Anzeigen wegen Be- und Fitz sich einig. Über einzelne Beratungen wird drohung und Beleidigung oft folgenlos eingestellt Zusätzlich hat die Corona-Pandemie die Lage auch nicht gesprochen. Für die nötige Atmosphäre IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS werden oder sie regelmäßig rassistische Polizei- erschwert. Unter Verweis auf die Ansteckungsgefahr von Sicherheit und Vertraulichkeit in der Beratung kontrollen erleben“, so Fitz. „Das bedeutet eine Er- machten es die staatlichen Verordnungen den ist es wichtig, dass die Betroffenen wissen: Für fahrung der Schutzlosigkeit.“ Es sind diese nega- Trauernden schwer, sich zu treffen, auszutauschen das Beratungsteam herrscht nach außen absolute tiven Vorerfahrungen – von täglichen Mikroaggres- und gegenseitig Halt zu geben. Und das, während Schweigepflicht. „Wenn Betroffene sich mit ihren sionen bis zu fundamentalen Rechtsverletzungen – Zusammenkünfte in anderen Kontexten, etwa zum Erlebnissen zum Beispiel an die Presse wenden wollen, die es zu berücksichtigen gilt, um die Besonderheit Zweck der Lohnarbeit, erlaubt waren. Auch viele so muss auch dieser Wunsch von ihnen selbst rassistischer Gewalt zu verstehen. Je mehr Schlimmes Beratungsgespräche wurden anfangs telefonisch oder kommen“, unterstreicht Sarma. Dazu entschieden ein Mensch erlebt hat, desto höher ist nach Gewalt- digital statt persönlich geführt. Mit Blick auf Corona hat sich unter anderen Dominique Baltas, der als taten wie der in Hanau das Risiko von dauerhaften sagt der Überlebende Dominique Baltas: „Ich glaube, Musiker der Band „Feuerherz“ bekannt ist. Er war Folgen. jeder hat verstanden, wie gefährlich es sein kann, am 19. Februar mit Freunden in der Bar „Midnight“ was für Ausmaße es hat und welche Sicherheitsvor- am Heumarkt und hat das Attentat nur durch Zufall Viele der Betroffenen in Hanau erinnern sich wieder kehrungen nötig sind.“ Doch könne er die schlechten überlebt. Seither leidet er an Schlafstörungen, Said Nesar an rassistische Vorfälle aus Ihrer Biographie: Erfah- Nachrichten „einfach nicht mehr hören“. Stattdessen kann nicht regelmäßig essen. Im Podcast der Organi- Hashemi rungen bei der Arbeit, im Alltag und bei Behörden. wünscht er sich mehr Berichte über engagierte sation NSU-Watch sagt er: „Das Wichtigste ist, Hinterbliebene und Überlebende organisieren sich, Einzelpersonen, etwa über die Künstler*innen, die dass wir solche Taten nicht vergessen.“ Zu schnell veranstalten Kundgebungen und Demonstrationen. Benefizkonzerte in Hanau geplant oder einen Rap- sei es nach dem 19. Februar in den Medien wieder Der Rest der Welt Sie fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat, Song aufgenommen haben. Zwar ginge all das auf um andere Themen gegangen. politische Konsequenzen – und dass die Namen ihrer schlimme Geschehnisse zurück, aber diese Menschen Damit die Katastrophe verarbeitet werden kann, Kinder, Brüder, Schwestern und Mütter nicht ver- versuchten, etwas Positives daraus zu ziehen, anderen komme es auch darauf an, dass der Rest der Welt gessen werden, so Fitz. Mut zu machen und ein Zeichen zu setzen: „Wir halten Ferhat versteht, was passiert ist und wie es Betroffenen zusammen, egal, was passiert.“ Unvar geht, betont Fitz: „Entscheidend ist, dass andere Eine weitere Folge der Gewalt ist bei vielen der anerkennen, was ihnen zugestoßen ist.“ Diese Gewaltbetroffenen auch blanke finanzielle Anerkennung müsse auf verschiedenen Ebenen statt- Not. „Wovon soll ich jetzt leben? Die Person, die finden, etwa auch durch die Sicherheitsbehörden. gestorben ist, hat maßgeblich zu unserem Le- RESPONSE. Beratung für Betroffene von „Ob das Bundeskriminalamt anerkennt, dass ein bensunterhalt beigetragen!“ ist ebenso Thema rechter, rassistischer und anti- rassistisches Tatmotiv vorlag, macht auch aus wie: „Ich kann an dem Ort, an dem ich die Schüsse semitischer Gewalt traumapsychologischer Perspektive einen großen gehört habe, nicht mehr arbeiten!“ response response wird im Rahmen des Unterschied.“ Doch gerade die Polizei hat sich hilft deshalb zusammen mit der Sozialrechtsanwältin Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Bundesfamilien- in Hanau als eine herbe Enttäuschung erwiesen. Katrin Kirstein bei Anträgen für staatliche ministerium sowie des Landespro- Vier Anrufe des kurz darauf ermordeten Vili Viorel Entschädigungsleistungen. Diese unterliegen gramms „Hessen – aktiv für Demo- Păun soll sie unbeantwortet gelassen haben. Als jedoch sehr engen Kriterien, die nicht alle Bedürf- kratie und gegen Extremismus“ durch das Hessische Innenministe- die Polizei am Tatort angekommen sei, so Baltas, tigen erfüllen. Um neben den Angehörigen auch rium gefördert. habe sie ihn einfach weggeschickt, obwohl diese Menschen zu unterstützen, wurden mehr János Erkens der bewaffnete Täter zu diesem Zeitpunkt noch frei als 100.000 Euro gesammelt. Den Spendenaufruf Presse- und → response-hessen.de Öffentlichkeitsarbeit, herumlief. startete response zusammen mit der „Initiative Pädagogisches Team 6 Other Stories #6 7
Von Schon vor Prozessbeginn hatte Stephan Ernst seit dem „Sommer der Flucht“ 2015. Beide Opfer Schwierigkeiten, einen Richter zu überzeugen. Noch stehen für Feindbilder des rechtsradikalen Milieus im Januar diesen Jahres saß der Untersuchungs- weit über die Neonazi-Szene hinaus. So, wie sie in häftling Ernst in Fußfesseln und schwarzer Trainings- der Anklage beschrieben sind, machen beide Fälle Worten und jacke in einem Verhörraum im Polizeipräsidium auf erschreckende Art deutlich, wie aus Worten Nordhessen. Seine Aussage vor einem Ermittlungs- Taten werden. richter des Bundesgerichtshofs wurde auf Video festgehalten. Aufgrund des großen Interesses und der Corona- Einschränkungen gibt es beim Oberlandesgericht Monate später wird die Aufnahme im Saal 165-C Frankfurt nur 19 Plätze im Saal für Journalist*innen Taten des Frankfurter Oberlandesgerichts gezeigt. Die und 18 weitere für Zuschauer*innen. Wer rein Stimme des Ermittlungsrichters ist nur aus dem Off will, muss Schlange stehen und früh aufstehen. zu hören: „Ich glaube Ihnen das heute nicht“, sagt Beobachtet wird der Prozess aber nicht nur von er zu Ernst, der sich seit Mitte Juni wegen des Mordes Medien, sondern auch aus der Zivilgesellschaft: an Walter Lübcke und dem Mordversuch an einem „Aufklärung braucht kritische Öffentlichkeit“, jungen irakischen Geflüchteten verantworten muss. twitterte die Gruppe „NSU-Watch Hessen“ dazu. Der Beginn des Prozesses und der Beweisaufnahme in dem holzvertäfelten Saal, der nur über eine große Milchglasscheibe etwas Tageslicht ab- „Ich glaube Ihnen bekommt, war geprägt von den Videos der beiden widersprüchlichen Aussagen – und dann von das heute nicht“ Geständnis Nummer drei. Ernst hatte in dieser Vernehmung eine andere Aufklärung IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS Version der Ereignisse jener Nacht präsentiert, in der Walter Lübcke starb, und damit ein früheres Geständnis widerrufen. Kurz nach seiner Festnahme braucht kritische hatte Ernst (am Hemd des ermordeten Regierungs- präsidenten war seine DNA gefunden worden) die Öffentlichkeit Tat noch eingeräumt: Detailliert schilderte er, wie sich sein Hass auf Lübcke über die Jahre potenzierte, wie er ihn ausspähte, wie er ihm aus nächster Nähe Der 46-Jährige vertrete eine „von Rassismus und mit einem Revolver Kaliber „.38 Special“ in den Kopf Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-natio- schoss – angeblich allein und ohne Mitwisser. Auch nalistische Grundhaltung“, heißt es gleich im ersten von dieser Aussage gibt es ein Video. Satz der am ersten Prozesstag verlesenen An- klage. Er sei zur Umsetzung seiner „Vorstellung von Dem Ermittlungsrichter aber erzählte Ernst dann im einer ethnisch und kulturell homogenen Volks- Januar, nicht er sei für den Tod Lübckes verantwort- gemeinschaft“ auch bereit, schwere Gewalttaten lich, sondern sein früherer Kamerad und inzwischen zu begehen. Er fürchte eine „Überfremdung“, Mitangeklagter, Markus H. Gemeinsam seien sie eine „Ausrottung der Deutschen“. Genau wie Markus zu Lübcke gefahren, hätten ihm einen „Denkzettel“ H., dem Beihilfe zu dem Mord vorgeworfen wird. verpassen wollen: der tödliche Schuss – nur ein Er habe mit Ernst an Schusswaffen trainiert und ihm Versehen. Auch die ermittelnde Bundesanwaltschaft etwa durch den gemeinsamen Besuch von AfD- glaubt das nicht und klagte Ernst wegen Mordes Veranstaltungen „Zuspruch und Sicherheit“ für die an. Vor Gericht hat der Angeklagte inzwischen ein Tat vermittelt. drittes Geständnis abgelegt: Er selbst habe ge- In Frankfurt hat der wichtigste Rechts- schossen, das Attentat aber mit Markus H. geplant, Den Angriff auf Ahmed I. hat Ernst allein verübt, terrorismus-Prozess seit dem NSU-Urteil begonnen: der auch am Tatort gewesen sei. davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt. Er habe mit der Tat „seinen rechtsextremistischen Es geht um den Mord am Kasseler Regierungs- Das Verfahren gegen die beiden Männer, die aus der Kasseler Neonaziszene stammen, ist neben Hass auf Flüchtlinge“ ausführen und durch die willkürliche Auswahl seines Opfers „Angst unter präsidenten Walter Lübcke und den Mordversuch jenem gegen den Attentäter von Halle der wichtigste den in der Bundesrepublik Deutschland Schutz Rechtsterrorismus-Prozess seit dem NSU-Urteil – suchenden Menschen fremder Herkunft“ verbreiten an Ahmed I. Gleich drei Geständnisse hat der und das aus mehreren Gründen: Es geht um den wohl wollen. Wichtigstes Beweisstück in diesem Fall ersten rechtsterroristischen Mord an einem hohen ist ein Messer, das im Sommer vergangenen Jahres Hauptangeklagte abgelegt – für die Nebenklage Amtsträger seit Gründung der Bundesrepublik. Der in Ernsts Keller gefunden wurde. Daran wurden brutale Angriff auf Ahmed I. im Januar 2016 steht Spuren entdeckt, die zur DNA von Ahmed I. passen. ist das mitunter schwer zu ertragen. auch für die Welle der Gewalt gegen Geflüchtete Ernst bestreitet die Tat. 8 9
„Das war ein Bis dahin war der Fall viele Jahre lang unaufgeklärt, die Akten lagen schon im Archiv der Kasseler Staats- anwaltschaft. Die Arbeit der hessischen Behörden THEMENHEFT Geschichtsrevisionismus dürften im Prozess und vor allem im Untersuchungs- Martín Steinhagen ist freier Wie die Weckruf“ ausschuss des Landtags eine Rolle spielen. Der Fall Journalist mit dem Schwer- könnte zum Gradmesser für den Umgang mit ras- Rechten die punkt extreme Rechte. Er war sistischen Taten nach dem NSU werden: Wurde ein Geschichte Teil der Redaktion des umdeuten 2019 bei der Bildungsstätte mögliches politisches Motiv ausreichend geprüft? EIN THEMENHEFT DER BILDUNGSSTÄTTE ANNE FRANK erschienenen Themen- Wie gingen die Ermittler vor, und wie gingen sie mit Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus hefts „Wie die Rechten die Geschichte umdeuten – dem Betroffenen um? Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus“. Es gibt Ahmed I. hat sich der Anklage der Bundesanwalt- einen Überblick über aktuelle Der Anschlag Formen von Geschichts- schaft als Nebenkläger angeschlossen und den revisionismus, benennt wich- Beginn des Prozesses im Gericht verfolgt. „Ich kann tige Akteur*innen und deren typische Argumentations- von Halle und das nicht an jedem Verhandlungstag im Gericht sein“, figuren und zeigt, an welche gesellschaftlichen Ein- stellungen sie anknüpfen. Schließlich gibt das Themen- teilte er später mit. Das hat auch mit den Folgen des heft Anregungen, geschichtsrevisionistischen Positionen Messerangriffs zu tun: „Ich habe Schmerzen im Leben danach argumentativ oder praktisch entgegenzutreten. Mit Rücken und im Bein. Das lange Sitzen ist für mich Beiträgen von Natascha Strobl, Stella Hindemith, Max Czollek, Volker Weiß u.v.a. schwer und schmerzhaft.“ Er stehe im engen Aus- tausch mit seinem Anwalt und vertraue den Richtern und den Vertretern der Bundesanwaltschaft. „Wir dürfen nicht ver- IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS stummen, sondern müssen klar Position Es waren Bilder wie aus einem Alptraum: beziehen“ Am 9. Oktober 2019, Jom Kippur, versuchte ein bewaffneter Mann, die Synagoge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an der Sicherheits- Auch die Angehörigen von Walter Lübcke sind an dem Prozess als Nebenkläger*innen beteiligt. Geflüchteten gegen rechte Zwischenrufer verteidigt. Mit einem kurzen, auf Youtube veröffentlichten Aus- tür. Daraufhin tötete er zwei Passant*innen „Wir dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar schnitt machte der Angeklagte H. seinerzeit Lübcke und verletzte zwei weitere, bevor er von der Position beziehen“, hatten sie vorab mitgeteilt. bundesweit zur Hassfigur im rechten Milieu. Als Walter Lübckes Witwe und seine beiden erwachsenen das Video abbricht, drückt Sohn Jan-Hendrik Lübcke Polizei gefasst wurde. An diesem Tag hielt sich in Söhne sitzen an vielen Prozesstagen im Saal – auf den Knopf an seinem Mikrofon und ergreift das genau gegenüber der Anklagebank. Für die Familie Wort: „Ich bin echt stolz auf meinen Papa“, sagt er. der Halleschen Synagoge auch die Berliner sei es „kaum zu verkraften“, dass Ernst sein Ge- ständnis vor Gericht mit „ausufernden Erklärungen „Alles, was er gesagt hat, hat er richtig gesagt, und er hat immer noch recht.“ Sozialpädagogin Anastassia Pletoukhina zum zu einer schweren Kindheit“ und zur vermeintlichen Radikalisierung durch den Mitangeklagten ver- Jom-Kippur-Gebet auf. Im Rahmen unserer bunden habe, ganz so als ob er das Opfer sei. Für die Nebenklage stehe aber seitdem fest, dass TuesdayTalks hat sie mit dem Filmemacher und beide Angeklagte die Tat „aus ihrem Hass heraus Moderator Adrian Oeser darüber gesprochen, seit langem gemeinsam geplant“ und auch ge- meinsam umgesetzt hätten, fügte ihr Anwalt Holger wie sie den Anschlag erlebt hat, welche Folgen er Matt damals hinzu. für das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen Die Stimme von Walter Lübcke selbst ist im Gerichts- saal an einem Tag noch einmal zu hören. Es wird in Deutschland hat und was ihr in ihrer eigenen ein Handy-Video von einer Bürgerversammlung aus dem Jahr 2015 abgespielt. Der Kasseler Regie- pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus rungspräsident hatte damals die Aufnahme von Martín Steinhagen Journalist wichtig ist. 10 11
AO Adrian Oeser: Der Anschlag in Denn wir fasten an dem Tag, und zu rammen, und dann darauf aber gleichzeitig versucht, das Halle war eine besonders gewalt- das Gebet ist sehr lang. Außerdem schießt. Auch er konnte sich in dem als bloßen Streich zu relativieren. volle Form des Antisemitismus. Hattest Du vorher bereits schon war der Chasan, der Vorbeter, Moment überhaupt nicht artiku- Das eigentliche Ausmaß haben einmal in Deutschland Antisemi- ein enger Freund von uns, und wir lieren, weil es ja nichts ist, was man wir erst Stunden später so richtig tismus erlebt – in der Schule, an kannten diese Gemeinde seit aus dem Alltag kennt und benen- verstanden, als wir von den Toten der Uni, im Alltag? vielen Jahren durch die Arbeit mit nen kann. Er sagte nur: „Jemand und dem Video des Täters erfahren der Jewish Agency. versucht, rein zu kommen!“, und haben. AP Anastassia Pletoukhina: Vor 15 Wir waren etwas unter dann: „Jemand ist tot umgefallen!“ Jahren hätte ich diese Frage noch zwanzig Leuten, die als Gäste nach Die amerikanischen AO Es dauerte zehn Minuten, bis verneint – was bizarr ist, weil es der erste Streifenwagen kam. In Halle gefahren sind: darunter Bürger*innen sind sofort auf den dieser Zeit hat der Täter vor der allein in meiner Heimatstadt Lübeck einige amerikanische Staatsbür- Boden gegangen und haben Synagoge Jana L. erschossen. Wie einen brutalen Angriff mit Molotow- ger*innen, Deutsche und Öster- sich in Sicherheit gebracht, aber hast du das Verhalten der Polizei Cocktails 1994/95 gab. Mittlerweile reicher*innen. Einige sprachen nur bei den deutschen ist sehr langsam an dem Tag erlebt? habe ich aber so viele Menschen deutsch, einige nur russisch, angekommen, dass das gerade getroffen, die Antisemitismus erlebt einige englisch. Es war ganz durch- haben, und mich damit beschäf- mischt, und es war schon am tigt, was Antisemitismus eigentlich Vortag ein schöner Start in den ist, dass mir jetzt doch retrospektiv Jom Kippur. „Wir haben einen Knall gehört, aber nicht diverse antisemitische Aussagen, Floskeln und Witze einfallen. Die AO Wie war die Stimmung in der so wirklich verstanden, was passiert“ meisten davon wurden von Men- Synagoge, und wann habt IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS ihr mitbekommen, dass etwas schen gemacht, die sich selbst nie nicht stimmt, dass draußen vor als Antisemit*innen bezeichnen der Tür etwas passiert? ein Anschlag ist. Ich glaube, dass AP Für mich war das selbstverständlich, würden, aber deren Sprachpraxis das ein Schutzmechanismus war, dass Polizei irgendwie zum Fassden- eindeutig antisemitisch ist. Jom Kippur ist ein Tag, an dem wir das abzuwehren: „Nein, das kann bild einer Synagoge gehört, und AP Ich habe aber glücklicher- auch in uns selbst schauen sollen, nicht sein. In Deutschland? Niemals!“ es gab mir immer ein Gefühl von weise das Gefühl, antisemitische weshalb uns eine ruhige Stadt wie Sicherheit: Egal was ist, in der Syn- Äußerungen ansprechen und prob- Halle besonders geeignet erschien. AO Nach diesem ersten Schutz- agoge sind wir geschützt, die Polizei lematisieren zu können – manchmal mechanismus, das nicht glauben Obwohl es ein Wochentag war, war zu wollen, habt ihr es dann ist innerhalb kürzester Zeit da. Ich reicht es schon, sich offen zum es ziemlich leise. Die Sonne schien, doch realisiert, denn ihr habt ja war sehr erschrocken darüber, dass eigenen Judentum zu bekennen, und um halb neun Uhr morgens haben wir dann die Türen verbarrikadiert … das in Halle nicht der Fall war. Ich schon werden antisemitische Aus- die erste Meditation gemacht und frage mich, warum dem Wunsch sagen nicht mehr einfach so dahin- dann noch ein paar Texte gelesen. AP Vielleicht ging es auch nur mir so, der Gemeinde nach permanentem gesagt, vielleicht sogar antisemi- Zum Zeitpunkt des Anschlags haben und bei anderen hat es viel schneller Polizeischutz nicht nachgekommen tische Gedanken hinterfragt. Das ist wir die Thora gelesen – zum Glück war „klick“ gemacht. Die Synagoge ist wurde und auch, warum die Polizei eine gute Erfahrung. gerade niemand draußen, um bei- sehr klein, und diejenigen, die näher in einer so kleinen Stadt wie Halle so spielsweise frische Luft zu schnappen! an der Tür waren, der Sicherheits- lange gebraucht hat. AO Du lebst seit zehn Jahren Wir haben einen Knall mann, der gerade Schicht hatte, und mit deinem Mann in Berlin. Am 9. Oktober 2019 wart Ihr in gehört, aber nicht so wirklich ver- ein paar andere Menschen standen AO Was hat das emotional Halle, um Jom Kippur zu feiern – standen, was passiert. Es gab ein vor diesem kleinen Bildschirm und bei dir bewirkt? wie kam es dazu? Überwachungsfenster und eine oder haben versucht zu verstehen, was zwei Überwachungskameras, die los ist. AP Ich habe mich ausgeliefert gefühlt: AP Diese Reise hatte viele Hintergründe. von der Gemeinde über Spenden Der Gemeindevorsitzende Wenn schon die Polizei uns nicht In Berlin sind die Synagogen an selbst installiert worden waren. Und hat sofort die Polizei verständigt schützen kann, wer kann uns dann den Feiertagen proppenvoll, was der Security-Beauftragte, eigent- und alle anderen Menschen haben schützen? Es wirft auch Fragen einerseits schön ist, aber auch lich auch ein Stammbeter, hat gese- sich im hinteren Teil der Synagoge nach den unterschiedlichen Aus- anstrengend sein kann, vor allem, hen, dass da vor der Tür was passiert, versteckt. Da haben wir dann schon drucksformen von Antisemitismus wenn man keinen Sitzplatz hat: dass da jemand versucht, die Tür eine antisemitische Attacke vermutet, auf: Wie stark werden wir als jüdische 12 Other Stories #6 13
„Wie stark werden wir als jüdische Gemein- mitischen Aussagen wie „Juden ins Gas!“ führte, was ja dann schon AP Ich glaube, dass sich Menschen, die sich als jüdisch verstehen, an schaft als Teil der Gesellschaft gesehen nichts mehr mit Israel zu tun hatte, irgendeinem Punkt im Leben fragen: und wie sehr bleiben wir die unbekannten und „Kindermörder Israel!“, das auf einen mittelalterlichen antisemi- „Kann ich hier leben? Fühle ich mich sicher?“ Und es gibt sehr viele Nachbarn, die exotisiert werden?“ tischen Topos zurückgeht. Es wurde Faktoren, die dabei eine Rolle spie- Kritik an der Politik von Israel len. Meine Großeltern haben sich in vermischt mit einem europäischen ihrem Geburtsland, der Sowjetunion, Gemeinschaft als Teil der Gesell- geben, sondern beispielsweise als antisemitischen Gedankengut. Für nicht sicher gefühlt, und wir haben schaft gesehen und wie sehr bleiben Pädagog*innen jüdischen Glau- viele war das ein Weckruf, zu sagen: auch in Deutschland genügend An- wir die unbekannten Nachbarn, bens Präventionsarbeit leisten. Es ist „Moment mal, ich mag vielleicht lässe, uns diese Frage zu stellen: die exotisiert werden? Zum Beispiel wichtig anzusprechen, dass Aus- nicht religiös sein, ich gehe vielleicht Zum Beispiel 2014, zum Beispiel 2015 hieß es nach dem Anschlag, es sagen oder Bilder antisemitisch sein seien „auch Deutsche“ gestorben – können, ohne dass zwangsläufig und es war klar, dass damit nicht deutsche Jüdinnen und Juden ge- die Menschen, die sich dieser Bilder oder Aussagen bedienen, selbst „Und ich werde an meinem Arbeitsplatz oder meint waren. Dabei sind wir doch Antisemit*innen sind. Ich glaube, dass in meinem Studium von Leuten angesprochen auch Deutsche! ist die größte Angst von einer*m sogenannten Deutschen, als Antise- und werde gefragt: Ja, was sagst du denn zu Einerseits gibt es ja das deutsche Selbstverständnis, dass Jüdinnen mit*in betitelt zu werden. dem, was ihr da in Israel macht?“ AO IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS IM FOKUS: RECHTSTERRORISMUS und Juden in Deutschland sicher Was hat der Anschlag in den sein sollen, andererseits hat euch Gemeinden bewirkt? letztlich nur eine Tür gerettet. AO nicht in die Synagoge, aber genau und auch nach dem Anschlag in Fallen Anspruch und Wirklichkeit das hat etwas mit mir zu tun.“ Und Halle. Ich habe die Entscheidung auseinander? Wie in Halle haben nun viele vor ich werde an meinem Arbeitsplatz hierzubleiben jedes Mal bewusst AP allem kleinere jüdische Gemeinden oder in meinem Studium von Leuten getroffen, weil ich Deutschland als Meine Perspektive als Pädagogin ist, die Sicherheit bekommen, um angesprochen und werde gefragt: mein Zuhause betrachte und glaube, AP dass wir mehr im Bildungskontext die sie die Stadt oder die Polizei lange „Ja, was sagst du denn zu dem, was hier etwas verändern zu können. machen müssen und dass auch die gebeten haben, weil dafür von ihr da in Israel macht?“ Ich glaube, Ich denke, so ähnlich geht es vielen Medien mit dem Thema anders den Bundesländern Budget freige- die teilweise brutale Demonstration jüdischen jungen Erwachsenen. umgehen sollten. Als Vorsitzende des geben wurde. Vor allem in Halle 2014 und auch der Anschlag in Halle Jüdischen Studierendenverbands hat die Gemeinde unfassbar viel sind für viele ein Faktor, um sich in Berlin habe ich viele Interviews Aufmerksamkeit bekommen: Es gab nicht zu verstecken, sondern zur eige- gegeben, und jedes Mal war die viele Solidaritätsbekundungen nen jüdischen Identität zu stehen Angst vor antisemitischen Übergrif- und Angebote für Kooperationen. Ich und Räume zu schaffen, in denen fen Leitthema. Wenn ich von an- kann mir vorstellen, dass jetzt jüdische junge Erwachsene sich deren Themen gesprochen habe, die neue gemeinsame Projekte entstehen, sicher fühlen und gemeinsam Akzen- Jüdinnen und Juden abgesehen die auch nochmal einen anderen te jüdischen Lebens setzen können. von Antisemitismus beschäftigen, Fokus haben und andere Akzente wurde das selten veröffentlicht. Ich setzen: Antisemitische Übergriffe wie Ich habe gelesen, dass der An- Anastassia finde das problematisch, weil beispielsweise 2014 die Demon- schlag von Halle in vielen Gemein- Pletoukhina Antisemitismus zwar ein wichtiger strationen gegen Israel und die isra- AO den auch als Zäsur wahrge- Anastassia Pletoukhina, geboren in Russland, kam in nommen wurde: Es war der erste den 1990er Jahren als Zwölfjährige nach Deutschland Faktor ist, aber es macht nicht elische Politik haben bewirkt, dass antisemitische Anschlag, bei und lebt heute in Berlin. Die Sozialpädagogin gründete unser jüdisches Leben, unsere All- viele junge Leute unbedingt etwas dem es zu sehr vielen Toten hätte die jüdische Studierendeninitiative Studentim, arbeitet bei der Jewish Agency Berlin und promoviert in Frank- tagsrealität aus. dagegen machen möchten. Bei kommen können. Viele Menschen furt in Soziologie. Ich glaube aber, dass sich diesen Demonstrationen ging es haben sich gefragt, ob sie als Der vorliegende Text ist eine gekürzte und von Anastassia Juden und Jüdinnen* in Deutsch- das gerade verändert, weil wir uns ganz schnell gegen Israel als Staat, land noch sicher sind … Pletoukhina durchgesehene Fassung des ursprüng- lichen Interviews. nicht nur in eine Opferrolle be- was zu wirklich sehr blanken antise- 14 Other Stories #6 15
#Blac Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George k Floyd rückte Rassismus gegen Schwarze Menschen ver- stärkt ins öffentliche Bewusstsein. Auf die ersten Proteste Lives in den USA folgten Demonstrationen an vielen anderen Orten, und spätestens seit Sommer 2020 ist „Black Lives Matter“ eine globale Protestbewegung. Matte Dabei ist die zum Hashtag gewordene Forderung #Gegenwart „Black Lives Matter“ mehr als eine politische Be- wegung, mehr als ein Slogan, der auf Demos gerufen Der Kolonialismus existiert offiziell nicht mehr, und r und auf T-Shirts gedruckt wird: Black Lives Matter die Versklavung von Menschen ist verboten. Doch reicht zurück in die Zeit der Versklavung und Unter- auf wirtschaftlicher und politischer Ebene wurden drückung Schwarzer Menschen in Nord- und Süd- kolonial- und sklav*innenähnliche Beziehungen bis amerika und auch auf dem afrikanischen Kontinent. heute aufrechterhalten. Ebenso aufrechterhalten Ein Blick in diese koloniale Vergangenheit macht geblieben sind die Bilder über Schwarze Menschen, deutlich, wie die jahrhundertelange Ausbeutung und die in den Zeiten des Kolonialismus und der Ver- Unterdrückung Schwarzer Menschen ideologisch sklavung entstanden sind. Diese Bilder haben sich untermauert und gerechtfertigt wurde. Und er ist not- seitdem weiterhin in unsere westliche weiße Ge- wendig, um Rassismus gegen Schwarze Menschen sellschaft und Geschichtsschreibung eingebrannt. heute zu verstehen. Ob in Kinderliedern, Schulbüchern, Filmen und TV-Serien oder der Werbung: Schwarze Menschen werden als dumm und unfähig dargestellt, Afro- #Geschichte haare werden als unzivilisiert und Wucherfrisur OTHER STORIES OTHER STORIES betitelt, Schwarze Fußballspieler*innen werden d m -i e Koloniales Denken existierte bereits, bevor die ersten mit Affenlauten beschimpft und von Afrika wird so u Kolonien überhaupt entstanden: Schon der Begriff gesprochen, als sei es ein einziges Land, bewohnt a r „Kolonialismus“ (von lat. „colonia“: besiedeln, urbar von „Afrikanern“. Dadurch wird die Vielfalt eines W r a ss i s machen, bebauen), der die Besetzung afrikanischer gesamten Kontinents unsichtbar gemacht. Außerdem Länder durch europäische Kräfte bezeichnet, enthält sind Erzählungen vom Afrikanischen Kontinent anti Proteste nämlich die Vorstellung, die zu kolonisierten Gebiete überwiegend solche der Armut, des Hungers und der seien unzivilisiert. Zudem bildeten die Wissenschaft Kriege. All diese Erzählungen und Bilder von Schwarzen und das Zeitalter der „Aufklärung“ (dominante Menschen wirken sich real auf den Lebensalltag h e n Erzählung von Erkenntnistheorien, Emanzipation, dieser in Deutschland (und anderen mehrheitlich tisc le etwas Befreiung …) eine wesentliche Grundlage für weißen westlichen Gesellschaften) aus: in der Schul- Rassentheorien und somit auch für den bis heute an- laufbahn und dem Zugang zu guter schulischer Bil- al ehen dauernden Rassismus gegen Schwarze Menschen. dung, dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Diese „wissenschaftlichen Rassentheorien“, die a ng Menschen hierarchisierten, sprachen Schwarzen Menschen ihr Menschsein ab. Sie waren ideologische #rassistische Gewalt Grundlage und Legitimation für die Versklavung, #Polizeigewalt Kolonisierung und Ausbeutung Schwarzer Menschen, der Ausbeutung von natürlichen und menschlichen Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen ist nicht Ressourcen, der Zerstörung von Kulturen, Sprache, nur in den USA ein Thema, sondern gehört auch Religionen – Gesellschaften durch die westliche, in Deutschland für viele Schwarze Menschen und weiße „Hochkultur“. Menschen of Color zum Alltag – zum Beispiel durch Racial profiling. Da Racial profiling offiziell verboten Noch heute zeigt sich die Vorstellung, dass ist, gibt es seitens des Bundes keine eigens erhobe- Weiße ganz selbstverständlich über Schwarze Men- nen Daten dazu. Die Initiative „Death in Custody“ schen und deren Körper verfügen dürfen darin, (Tod in Polizeigewahrsam) zählte zwischen 1990 dass Schwarze Menschen oft ungefragt an Haut und und 2020 159 Fälle von BPoC, die in Polizeigewahr- Haaren angefasst werden, dass die Errungen- sam oder durch rassistische Polizeigewalt ums Leben schaften Schwarzer Kulturen wie selbstverständlich gekommen sind. von weißen angeeignet werden, ohne deren Ur- sprung zu nennen, und nicht zuletzt in körperlicher Gewalt gegen Schwarze Menschen. 16 Other Stories #6 17
#Sprache Vielen Menschen ist mittlerweile bewusst, dass das N-Wort oder auch das M-Wort problematisch ist, trotzdem werden beide Begriffe noch immer häufig benutzt: Als Beleidigung, aus Gewohnheit, als Zitat, aber auch als vermeintlich „ganz normale“ Bezeichnung für Schwarze Menschen. Wer viel englischsprachigen Rap, Hip-Hop und R’n’B hört, kann angesichts der Leichtigkeit, mit der Schwarze Musiker*innen das N-Wort benutzen, den Eindruck gewinnen, der Begriff sei unproblematisch. Bei dem N-Wort handelt es sich um eine zutiefst verletzende und gewaltvolle Beleidigung, die benutzt wurde (und wird), um Schwarze Menschen zu stigmatisieren. Er ist verknüpft mit Lynchgewalt und in unzähligen Witzen, Liedern und Cartoons zu finden, die die Abwertung Schwarzer Menschen widerspiegeln. Innerhalb Schwarzer Communities ist umstritten, ob das N-Wort in empowernder Absicht als Selbstbezeichnung verwendet werden sollte oder ob es ganz aus dem Wortschatz ver- schwinden sollte. Weiße Menschen und Menschen of color jeden- falls sollten das Wort aus unserer Sicht unter keinen Umständen benutzen – auch nicht als Zitat. OTHER STORIES OTHER STORIES #BlackLivesMatter Bilder der Fotokünstlerin Ana Paula dos Santos dokumentieren die BLM-Proteste in Frankfurt 2020 Vor dem Hintergrund der Rassismuserfahrungen, die dezidiert Schwarze Menschen erleben, ist #BlackLivesMatter eine Forderung nach Anerkennung der kolonialen Kontinuitäten und der noch immer bestehenden strukturellen Gewaltverhältnisse – eine Gegenbewegung, die „All Lives Matter“ (alle Leben zählen) fordert, übersieht diese Strukturen – oder will sie absichtlich unsichtbar machen und die „Black Lives Matter“-Forderungen delegitimieren. Es ist aber wichtig anzuerkennen, dass Rassismus tief in den gesellschaftlichen Strukturen und damit in jedem Menschen verankert ist, um ihn wirksam bekämpfen zu können. Aisha Camara „Black Lives Matter“ ist deshalb nicht nur eine Auf- Team Beratung forderung zur Solidarität innerhalb der Schwarzen Community und ein Aufruf zum Aktivismus, sondern auch eine Forderung an die nicht-schwarze Gesell- schaft, sich mit dem eigenen Rassismus auseinander- zusetzen und an ihm zu arbeiten. Folasade Farinde Bildungsreferentin Denn die kompromisslose Anerkennung von Geschichte, Gegenwart und Alltag Schwarzer Menschen ist die Voraussetzung für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung Schwarzer Menschen – in Deutschland und überall. Siraad Wiedenroth Pädagogisches Team & Veranstaltungsmanagement 18 Other Stories #6 19
„Die Botschaft Vor acht Jahren ist die promovierte Diplom- dass mitunter „Integration“ eher noch als „Assimi- Psychologin nach Kassel gekommen. „Da musste lation“ verstanden wird. „Wo stehen die Leute, ich mir auch viele Sprüche anhören – ‚ab nach und wo kann man sie abholen“, formuliert das Seip. Kassel‘ ist ja nur der bekannteste.“ Die alte Abnei- Die Fragen seien etwas andere als in Frankfurt: ist dieselbe“ gung zwischen den Städten, gibt es sie noch Was für Strukturen sind schon vor Ort? Welche Initi- immer? „Natürlich fühlen sich die Kasseler*innen ativen gibt es, und welche Unterstützung benötigen im Vergleich zu den Frankfurt*innen immer ein sie? Wo sind wir anschlussfähig? bisschen abgehängt.“ Aber der Kulturunterschied sei auch real spürbar: „Frankfurt ist ja selbst Nicht zuletzt hat Kassel auch traurige Berühmtheit nicht besonders groß, aber hat das Flair einer Welt- erlangt: Es ist die Stadt des Mords an Halit stadt, das ergibt sich einfach aus der Geschichte.“ Yozgat, die Region des Attentats auf Walter Lübcke. Frankfurt war schon immer Handelsstadt und damit Rechte, rassistische Gewalt gibt es in Kassel und auch Knotenpunkt für Migration – „mit allem, der Region seit Jahrzenten. Zu oft ist sie unbemerkt was dazugehört“. Kassel hingegen sei aristokratisch und unaufgeklärt geblieben. „Natürlich gibt es Seit einem Jahr ist Maria Seip Leiterin geprägt, als Residenz- und Garnisonsstadt: den ‚braunen Sumpf‘, von dem hier oft die Rede ist“, der Kasseler Zweigstelle der Bildungsstätte. Mit „Wir haben das Weltkulturerbe, das Schloss, die Orangerie.“ Migration sei in Kassel erst mit der sagt Seip. Aber gleichzeitig sei die Stadtgesell- schaft seit dem Mord an den Regierungspräsidenten „Other Stories“ sprach sie über innerhessische Ansiedlung der Hugenotten im 16. Jahrhundert und dann seit den Fünfzigern so wirklich Thema ge- auch alarmiert. Rechte Demos würden nun von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis kon- Kulturunterschiede, die Beziehungen zum worden, mit dem Zuzug von „Gastarbeitern“ für VW. frontiert: „Da ist jetzt eine Wachheit da, die er- halten bleiben muss.“ Gleichzeitig spüre sie im Fall Frankfurter Haupthaus und Herausforderungen Mittlerweile wird Kassel der Bildungsstätte zu klein, Yozgat, dass sich die Stadt noch schwertue, ein wenn auch in anderer Hinsicht: Die Büroräume öffentliches Gedenken so zu unterstützen, wie sich im ländlichen Raum. in der Kleinen Rosenstr. 3 reichen nicht mehr ganz das die Familie und migrantische Communities aus für die sechs Personen, die hier nun arbeiten. wünschten – „eine Ambivalenz, die ich in der Stadt Vieles findet derzeit im „Beratungsraum“ statt: digi- sehr stark wahrnehme“. tale Formate, Videokonferenzen, Teamtreffen – neben der Beratung selbst, die in Kassel bislang OTHER STORIES OTHER STORIES noch im Vordergrund steht. Die Hälfte der Mit- arbeiter*innen ist im Beratungsteam, auch die Anti- Kassel macht sich diskriminierungsberatung ist mit einer Stelle vertreten. Aus historischer Entwicklung: Die Arbeit auf den Weg der Bildungsstätte in Kassel begann mit Beratung durch response. „In der Kasseler Öffentlichkeit werden wir deshalb nach wie vor oft ‚nur‘ als Der Anspruch geht natürlich weit über Kassel Wenn über die Bildungsstätte Anne Frank gesprochen Beratungsstelle wahrgenommen“, sagt Seip. „Wir hinaus – in der Tendenz will das Büro den ganzen versuchen deswegen, mit Veranstaltungen, vor Raum Nord- und Osthessen abdecken. „Wir wird, denken die meisten zuerst an Frankfurt am Main. allem Fortbildungen, den zweiten, pädagogischen sind ein Kasseler Büro, natürlich. Aber allein AdiNet Dabei ist die Bildungsstätte laut Selbstverständnis ein Schwerpunkt zu setzen.“ Dabei sei es noch immer recht anstrengend, die Kasseler Presse für ist in fünf Landkreisen aktiv. Das ist auch eine große Herausforderung, aus einer Stadt heraus – „Zentrum für politische Bildung und Beratung in Hessen“ – die Events der Bildungsstätte zu begeistern. wenn auch aus einer kleineren – die Bedarfe auf dem Land abzudecken.“ Soeben hat das Antidis- und nicht nur für „Südhessen“, wie der Frankfurter Raum Eine weitere Herausforderung: die Zusammenarbeit mit den vielen Initiativen, die in Kassel schon seit kriminierungsnetzwerk, das von der Bildungsstätte in Kassel koordiniert wird, öffentlichkeitswirk- in Kassel scherzhaft genannt wird. Seit drei Jahren langem politische Bildung und Beratung machen. Hier same Veranstaltungen zur Diskriminierung auf dem müsse sie dem Gefühl begegnen, als der große Wohnungsmarkt ausgerichtet. gibt es hier eine offizielle Zweigstelle der Bildungsstätte. Player aus Südhessen in Erscheinung zu treten, der sich nun in Nordhessen ausbreiten wolle: „In Seip empfindet die Kasseler Besonderheiten nicht Geleitet wird sie seit einem Jahr von Dr. Maria Seip. Wie solchen Fällen müssen wir erklären: Nein, wir wollen als nachteilig: „Das ist, was unseren Alltag die Bildungsstätte selbst ist sie ein Frankfurter Gewächs. was zusammen mit euch machen.“ Der Geist ist ins- gesamt eher ein kooperativer, vermittelnder. In herausfordernd und spannend macht.“ Ein opti- mistisches Grundgefühl, das sie aus der Stadt In der Bankenmetropole hat sie studiert und gearbeitet – Frankfurt falle es leicht, avantgardistisch aufzutreten: Das Publikum ist vorhanden, ist mitgewachsen – insgesamt mitnehme: Kassel macht sich auf den Weg. „hauptsächlich im universitären Kontext, im Bereich nicht zuletzt ist die Bildungsstätte auch aus der Stadtgesellschaft, aus privaten Initiativen entstanden. der pädagogischen Psychologie“, sagt sie. „Aber schon „Die Botschaft der Bildungsstätte in Kassel ist natürlich dieselbe, aber der Ansatz ist ein anderer.“ damals war ich nebenbei auch viel in der Beratung und Veranstaltungen dürften nicht ausschließlich auf Maria Seip Leiterin Büro Nord- János Erkens Presse- und ein eher akademisches Publikum ausgerichtet wer- Bildung tätig.“ den; bei Kooperationen müsse man berücksichtigen, und Osthessen in Kassel Öffentlichkeitsarbeit, Pädagogisches Team 20 Other Stories #6 21
Das umgedrehte Klassenzimmer Herausforderungen für die politische Bildung im Zeitalter der Digitalisierung OTHER STORIES OTHER STORIES Der Mixed-Reality-Ansatz im Lernlabor „Anne Frank. Morgen mehr.“ der Bildungsstätte. Junge Erwachsene können das Versteck von Anne Frank und ihrer Familie virtuell erkunden Diese Erfahrung steht paradigmatisch für die grundlegenden Herausforderungen, mit denen die Auf aktuelle Eigentlich wäre nach dem rassisti- politische Bildung gegenwärtig konfrontiert ist: Auf aktuelle gesellschaftliche und politische Ereig- gesellschaftliche und schen Terror- anschlag von nisse muss schnell mit niedrigschwelligen Ange- boten reagiert werden, die ihre Empfänger*innen politische Ereignisse Hanau im Feb- ruar 2020 eine Zeit überall dort erreichen, wo sie sich nun einmal gerade aufhalten. Kurz: Die politische Bildung muss muss schnell mit des Trauerns und Gedenkens sich zunehmend digitalisieren, um den Lebens- realitäten der Digital Natives und jener, die mit ihnen niedrigschwelligen angemessen gewesen. Doch arbeiten, gerecht zu werden. Angeboten reagiert tatsächlich schuf der Anschlag auch eine pädagogische Diese Entwicklung ist freilich nicht neu. Spätestens werden, die ihre seit 2018 beschäftigt sich auch die Bildungsstätte Notfallsituation: Binnen weniger Stunden erreichten die verstärkt mit digitalen Formaten in der politischen Bildung: Das interaktive Lernlabor „Anne Frank. Empfänger*innen Bildungsstätte zahlreiche Anfragen von Lehrer*innen aus Morgen mehr.“ beispielsweise basiert auf einem so- überall dort dem gesamten Bundesgebiet, die sich Unterstützung genannten mixed-reality-Ansatz, einer Kombination dabei wünschten, mit ihren Schüler*innen angemessen über aus digitalen und analogen Elementen. Mit dem „virtuellen Hinterhaus“ bietet es ein augmented- erreichen, wo sie Hanau und Rechtsterrorismus zu sprechen. Es waren so reality-Format an, bei dem die Besucher*innen mit- hilfe von Tablets das Hinterhaus erkunden können, sich nun einmal gerade viele, dass wir diesen Bedarf innerhalb so kurzer Zeit nicht in dem Anne Frank und die sieben anderen Versteck- ten so lange Zeit leben mussten. aufhalten mit Fortbildungen hätten decken können. Die Lösung war Doch unterm Druck der diesjährigen Ereignisse wurde die Digitalisierung der gesamten Angebotspalette unser erstes Online-Seminar. dringlicher: Neben dem Anschlag von Hanau war es 22 Other Stories #6 23
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